The Project Gutenberg EBook of Alle guten Geister..., by Anna Schieber This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Alle guten Geister... Roman von Anna Schieber Author: Anna Schieber Release Date: April 1, 2017 [EBook #54469] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ALLE GUTEN GEISTER... *** Produced by Heiko Evermann, Norbert Müller and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was produced from scanned images of public domain material from the Google Books project.)
Roman
von
Anna Schieber
Vierzehnte Auflage
Verlag von Eugen Salzer in Heilbronn
1908
Christliches Verlagshaus, Buchdruckerei, Stuttgart.
Es sind allerlei Leute, die sich in diese Geschichte hereindrängen. Es ist eine ganze Versammlung von Leuten, alten und jungen, und es ist gar nicht leicht, sie alle an den richtigen Platz zu stellen. Da sind wohl solche darunter, die warten könnten, bis die Reihe an sie käme. Zum Beispiel der Rektor Cabisius, der mit seinen heitern, milden, jungen Augen durch den Garten geht und mit siebzig Jahren noch an die Freude glaubt, oder „jetzt erst recht“, wie er selber sagt. Und der Turmwächter und Schneidermeister Nössel und seine Schwester, Frau Judith, die so wunderbare Dinge sah, und der alte Hollermann, und immer noch mehrere, da nun das Tor offen ist. Da ist der alte Hirt, der dreimal über den Stock sprang, wenn er sein Morgengebet verrichten wollte, und der sinnige Küfermeister Riedel, von dem auch einiges zu sagen sein wird. Sie alle könnten wohl warten, bis die Reihe an sie kommt, denn das Warten haben sie unter andern guten Tugenden durch ein langes Leben hindurch gelernt und wenn sie gefragt würden, so würden sie sagen, wie so oft im Leben: nur immer die Jugend voran. Wir Alten gehen gern einen sachten, behaglichen Schritt, und dann: es ist auch besser, die Jungen im Aug’ zu behalten. Und die Frau Rektorin Cabisius würde nach ihrer Gewohnheit ein paar rasche, trippelnde Schritte machen, dem Mittelpunkt zu, und dann wieder stehen bleiben und ihrem Mann zunicken: so komm doch, Alter. Ich sehe nicht ein, warum du dich so hinten hältst. Und dann würde sie selber zu ihm zurücktreten und nur die kleine Gertrud vorschieben und mit bescheidenem Stolz sagen: das Kind hat heute seinen ersten Schritt gemacht; das darf nicht übergangen werden.
So soll nun die Frau Rektorin Recht behalten, und der erste Schritt in das Buch hinein soll auch von einem ersten Schritt ins Leben hinein handeln. Und die andern mögen ihm zusehen, und es wird nach und nach ein jedes seinen Platz in der Geschichte finden, die einen kommend, die andern gehend, ganz wie im Leben draußen auch. Und es wird Lichter und Schatten darin geben und zuletzt wird die Sonne über die Schatten siegen, wie das so ihre Art ist.
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Es ist wohl der Mühe wert, von dem ersten Schritt zu reden. Da ist so eine lange, lange Bahn, es ist nicht zu sagen, wieviel Schritte darauf zu tun sind. Und niemand weiß, wann er sie zum erstenmal betritt, was er auf ihr finden wird. Wo sollte sonst ein junges Menschenwesen den Mut hernehmen, sich auf die Füße zu stellen und sich auf den Weg zu machen?
Der Frühlingssonnenschein lag auf der alten Stadtmauer, auf den Giebeldächern des Städtchens und auf den Gärten, die in der Hut der Stadtmauer und der Giebeldächer lagen und sich darauf besannen, daß es ein schönes, festliches Ding um Frühling, Leben, Werden und Wachsen sei.
Die Luft war voll Schwalbengezwitscher und Starengeschwätze. Auf dem Kirchendach klapperten die Störche, in den Blüten der Frühkirschenbäume summten die Bienen wie toll vor ausgelassener Daseinsfreude. Eine Katze schnurrte auf dem Bretterzaun. Es war kein übler Zeitpunkt, den ersten Schritt zu wagen.
„Freude, Tochter aus Elysium,“ sang die Schöpfung und ließ alle Instrumente dazu klingen. Es war ihr einerlei, daß es Leute gab, die behaupteten, es sei nicht der Mühe wert, in diese Welt herein geboren zu werden.
Der Rektor Cabisius gehörte nicht zu ihnen. Er ging in den sonnigen Wegen auf und ab, besah sich seine Obstbäume, wie sie mit ausgebreiteten Armen auf ihren Frühling warteten, paffte große und nicht besonders zierliche Rauchwolken aus seiner langen Pfeife, und nahm ab und zu diese Pfeife aus dem Mund, um damit irgend eine Melodie zu taktieren, die ihm durch den Sinn zu gehen schien. Vielleicht war es dieselbe Melodie, die durch die Luft schwirrte; wer kann das wissen? Er sah nicht aus, als ob er irgend jemandem hätte den freundschaftlichen Rat erteilen mögen, nicht in diese Welt herein geboren zu werden.
Sein Haar war grau; auf der Stirn lagen ein paar tiefe Querfalten, und unter den Augen hatte er unzählige feine Fältchen, ein ganzes Heer von Fältchen.
Aber was waren das für junge Augen, warme, lebendige, ungetrübte, die zwischen den Fältchen heraus sahen, so, als ob sie sagen wollten: „Ach, das ist ja alles nur äußerlich, das Alte, Graue, Faltige, Mitgenommene. Wenn ihr da innen hinein sehen könntet, wie da Leben ist. Aber das könnet ihr nicht.“
Ihn freute der Frühling. Er nahm sich das Recht dazu, sich zu freuen trotz allerlei trübem, das ihn durchaus aus dem Winter herüber begleiten wollte. Und es ist nicht zu sagen, wieviel Trauriges ein ehrlicher Mensch, der es von Herzen mit der Freude halten will, durch sie besiegen kann. Die lieblichsten Frühlingswunder zeigt sie ihm, und ein solches zeigte sie ihm jetzt eben, als er stillstehend nach dem grünen Rasenfleck hinübersah, wo auf einem ausgebreiteten, großen Tuch ein kleines Menschenkindlein saß. Es krabbelte mit den Händchen nach den rosa Blütenblättern, die der junge Pfirsichbaum über ihm von Zeit zu Zeit niederschweben ließ. Und als sich einige davon etwas zu entfernt niederließen, da kam ihm das Verlangen, sie zu holen.
Und da geschah es, daß das Kindlein seinen ersten Schritt auf dieser Erde machte, den ersten von so vielen, die ihm zu tun vorbehalten waren.
Die runden Händchen faßten den schlanken Stamm als Stütze, und als die Füße fest standen, etwas gespreizt und unsicher freilich, aber doch wirklich und wahrhaftig auf dem Grund, da ließen die Händchen los. Und da geschah der erste Schritt.
Der Großvater sah ihm zu. Er klopfte die Pfeife aus, legte die Hände auf den Rücken und sah in das blühende Wunder hinein, still, und ein wenig bewegt, und ein wenig belustigt. Das war so etwas Selbständiges, was da vor seinen Augen geschah, da regte sich so eine junge, sichere Kraft, die etwas werden wollte. Mit ernstem Gesicht vollbrachte die kleine Enkelin ihre brave Tat.
Aber dann kam die Angst über sie. Da war solch ein großer, leerer Raum, in den sie sich hineingewagt hatte; darin war sie so allein. Sie streckte die Händchen aus und wußte nicht weiter.
Nun war es Zeit für das Alter. „Da,“ sagte der Großvater und trat vollends heran. Er streckte sein langes Pfeifenrohr aus. „Halt’s fest,“ sagte er. Da schlossen sich die kleinen Fingerchen darum, da kam nun die Sicherheit wieder, die im Alleinsein so kläglich vergangen war. Da war ja nun eine Stütze, und der unendliche Raum war liebevoll ausgefüllt durch ein Menschengesicht.
Und nun machten die beiden jungen Leute eine große, große Wanderung mitsammen, wohl fünf, sechs Schritte, und immer das Pfeifenrohr zwischen ihnen als Halt und Leiter. Dann nahm der alte Herr das kostbare, kleine Menschenwunder in die Arme, und sah zu, wie es über das ernsthafte Gesichtchen flog, wie lauter Sonne; da war ein Leuchten des Glücks zu sehen; bis unter die braunen Härchen auf dem runden, weichen Kinderkopf alles ein Lachen und ein Stolz.
„Ja, ja,“ sagte er, „ja, ja, das hätten sie sehen sollen,“ und er meinte damit nicht die Leute im Städtchen, die Nachbarn und Freunde, sondern zwei andere Menschen, die vor allen hierhergehört hätten.
„O du Symboliste,“ sagte seine kleine, heitere, behende Frau, als sie später las, was ihr Mann in das Büchlein geschrieben hatte, in dem er denkwürdige Ereignisse zu verzeichnen pflegte, „o du Symboliste,“ das sagte sie öfters, wenn er mit weitsichtigem Blick in die Lebensfernen in den kleinen Geschehnissen des Tages wie durch einen Spiegel den tiefen Sinn des Lebens sah. Das war ihm eigen, und sie war stolz auf ihn und liebte ihn, gerade so, wie er war. Aber darum konnte sie es doch nicht unterlassen, ihn zu necken. Es hätte ihm auch gefehlt, wenn sie es eines Tages nicht mehr getan hätte.
Der Eintrag in das Büchlein aber lautete:
„Das war nun der Anfang. Sie hat sich tapfer auf den Weg gemacht, allein und ohne Hilfe. Das ist gut und nötig. Es wird noch oft nötig sein, daß sie das tut. Aber, o du Kind meines Kindes, mögest du nie im Alleinsein des Lebens vergeblich die Hände ausstrecken nach einem, der dir die Leere fülle.“
Jetzt eben kam die Frau Rektorin eilfertig durch den Küchengarten geschritten und trat zu den beiden. Sie hatte graues Haar, wie ihr Gatte, und äußerlich betrachtet, hatte sie keinerlei Grund, so strahlend auszusehen, wie sie es wirklich tat. Es lag eine traurige Geschichte in dem Lebensjahr, das die kleine Gertrud schon hinter sich hatte.
War nicht ihr Vater der jüngste Sohn der beiden alten Leute und seiner Mutter Liebling gewesen? Und hatten nicht beide Eltern das junge Pflänzchen auf Erden zurückgelassen, nachdem sie es in die Hut der Alten gegeben hatten?
Was für ein wackerer Helfer ist doch ein Kinderlachen, wenn es gilt, über so viel Leid und Sorgen hinüber wieder froh und jung und hoffnungsvoll zu werden.
Es war ein Festtag heute. Die Großmutter erfuhr das fröhliche Geschehnis und wollte es auch mit ihren eigenen Augen sehen; und als das geschehen war, da stimmten die drei, wenn’s erlaubt ist, so zu sagen, ein Terzett an, das mit reinen Tönen in das Frühlingsorchester hinein klang: „Freude, schöner Götterfunken!“ Gertrud fing an. „Mama, Mama,“ rief sie, und darauf folgte allerlei Kauderwelsch, das man nicht widergeben kann.
Was die beiden Alten dazu taten, eignet sich gleichfalls nicht für den Druck, und so muß auch der Text hier verschwiegen bleiben und, zusamt der Melodie, dem Ahnungsvermögen derer überlassen werden, die gleich dem Herrn und der Frau Rektor schon die Sonne haben durch Tränentropfen hindurch scheinen sehen.
Es erkälte sich niemand, wenn unmittelbar nach diesem linden, sonnigen Tag im Frühling von Schnee und Eis, Nordostwind, knarrenden Wetterfahnen und Neujahrsglückwünschen die Rede ist. Denn man kann sich ja ebensowohl die Seele erkälten, als den Leib bei solch einem schroffen Wechsel. Und der Leser teilt nicht den Vorzug, den die Leute von Wiblingen haben, daß nämlich seit dem letztgenannten Tage alle Jahreszeiten in guter Ordnung an ihnen vorbeigezogen sind, wie das in dem Kreislauf der Dinge liegt, der sich seit den Tagen Noahs nicht geändert hat. Die Erde hat seitdem einige Male ihre gewiesene Bahn um die Sonne gemacht, und es liegt jetzt der Winter über der nördlich gemäßigten Zone.
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Unter der Tür von seines Vaters Haus stand ein Bub von zehn Jahren. Er hatte einen kurzen, steil aufstrebenden Haarschopf, blaurote Ohren und ein vergnügtes Gesicht. Die Hände hatte er in den Taschen vergraben. Er sah nicht aus, als ob er sie an diesem sicheren Zufluchtsort zu Fäusten geballt hielte.
Auf der Straße lag ein frischer Schnee, der über Nacht gefallen war. Am Himmel hing weißes, zerrissenes Gewölk und dazwischen sah ein kräftiges, reines Blau heraus. Es fuhr ein scharfer, lustiger Wind durch die Straßen. Er wirbelte einzelne Schneeflocken in der Luft umher, bis er ihnen gestattete, sich zu ihren Vorfahren zu versammeln und tat sehr herrisch, weil er zugleich mit dem neuen Jahr in Wirkung getreten war.
Dem Jungen gefiel es nicht übel bei diesem Zustand der Welt. Er ließ sich auf die Nase schneien und pfiff dazu vor sich hin. Über ihm baumelte an einem eisernen Haken die große, goldene Bretzel, die das Abzeichen des Hauses war. Der Wind spielte mit ihr und sie knarrte beim Hin- und Herschwanken wie ein ungeöltes Wagenrad. Er hieß Franz Ehrensperger und sein Vater hieß auch so, und vor ihm hatte dessen Vater und Großvater auch so geheißen. Und über ihnen allen hatte die goldene Bretzel gebaumelt und im Winde geknarrt und sie war von jeder neuen Generation frisch vergoldet worden. Die Ehrensperger hatten es dazu. Sie hatten von jeher ihr Brot zu backen gewußt, wie es sich gehörte und ihre Mitbürger erkannten das auch an. Es war zu erwarten, daß auch Franz der Junge in späteren Jahren die Bretzel neu vergolden würde; es lag gar kein Grund vor, etwas anderes anzunehmen.
Und so konnte er an diesem Neujahrsmorgen wohl mit Seelenruhe ins Wetter schauen und, wenn ihm die erfreuliche Gegenwart nicht genügte, auch in eine erfreuliche Zukunft blicken, die wie eine weiße, saubere, wohlgeebnete Landstraße vor ihm lag und an der es freundliche Rastorte zur Rechten und zur Linken gab.
Es ist nicht gesagt, daß er es getan habe. Der Erbe des Hauses Ehrensperger war nicht so veranlagt, daß er allzuweit in die Ferne gesehen hätte und mit neun Jahren pflegt man das auch nicht zu tun. Jungfer Liese tat es für ihn; und sie tat es mit Wohlgefallen, mit innerlichem Schmunzeln. Sie stand hinter dem Ladentisch und verkaufte die Neujahrsbretzeln und legte den honorigen Kunden noch eine extra obendrauf zusamt dem Prosit Neujahr, das sie mit wohlwollend zugespitztem Munde im Namen der Firma aussprach. Und lächelte breit und sonnig, wann die Kundschaft ebenfalls ihre Glückwünsche hergab und legte sie alle säuberlich auf die Seite, einen zum andern, nicht für sich, behüte, für das Haus, und für den Franz besonders. Es war eine stattliche Anzahl von Bretzeln, die sie verkauft, und von Glückwünschen, die sie eingeheimst hatte, Jungfer Liese konnte schon mit Behagen um sich blicken. Drinnen in der Ladenstube saß Franz Ehrensperger, der Ältere, und hielt einen kleinen Nicker im Großvaterstuhl. Das runde Haupt mit dem Doppelkinn ruhte auf dem Brustlatz der weißen Schürze, die Hände waren auf dem stattlichen Bauch gefaltet, er drehte noch halb im Traum die Daumen umeinander, dann hörte auch diese Bewegung auf. Über ihm an der blauen Tapetenwand hingen ein paar Öldruckbilder, ein Ritter und ein Edelfräulein; sie sahen einander mit feurigen Blicken an. Der Mann unter ihnen schlief in Gelassenheit und Jungfer Liese sah ihm durch das Guckfenster in der Zwischentür zu, es war ihr erbaulich zu Mute.
Sie war vor zwei Jahren ins Haus gekommen, eine arme Base des Hausherrn, aus einem ärmlichen, mageren Leben heraus, selbst ein leibarmes Persönchen, das, wie der Herr Vetter in einer scherzhaften Stunde sagte, „wohl hätte eine Gais zwischen den Hörnern küssen können.“ Seither war ihr außer einigen Anfängen zur körperlichen Rundung ein unbegrenzter Respekt gegen alles, was nahrhaft, wohlhabend und stattlich aussah, angewachsen. Sie bewegte sich ehrfürchtig zwischen den Mehlsäcken und Brotschränken des Hauses und wenn sie mit dem Inhalt der ledernen Geldtasche klimperte, so tat sie es verstohlen und mit Furcht vor böser Hoffart.
Es stolperte etwas die Treppe vom Oberstock herunter und dann kam ein kleiner Ehrensperger herein, der jüngere Sohn des Hauses. Er hieß Georg und seine Zukunft war noch nicht so über jeden Zweifel hinaus klar und sichergestellt wie die seines Bruders. Es hatte noch Zeit dazu, denn er war erst acht Jahre alt, aber das hinderte Jungfer Liese nicht, ihn zuweilen mit einigem Mitleid zu betrachten, weil er ja doch später einmal ins Leben hinaus mußte, Gott mochte wissen, wohin. Inzwischen tat sie ihre Pflicht an ihm. Es wäre ein anderer Grund zum Mitleid vorhanden gewesen, da nämlich die Mutter der Kinder seit Jahren fern von ihrer Familie in einer Anstalt lebte und kaum eine Aussicht war, daß sie je wieder einmal gesunden Geistes zu den Ihrigen zurückkehre. „Aber,“ sagte diese ihre Stellvertreterin, wenn die Rede drauf kam, „ein Kreuz ist ein Kreuz, der Herr Vetter muß es tragen, und er trägt es auch, das muß man ihm lassen. Die Kinder vermissen nichts. Denn erstens sind sie zu jung dazu, und zweitens bin ich da.“ Und sie spitzte den Mund zu einem bescheidenen Lächeln und schluckte alles Lobenswerte, das sie über sich selbst zu sagen gehabt hätte, hinunter, doch so, daß es der Beschauer wenigstens ahnen konnte. Georg wollte durch den Laden eilfertig ins Freie entwischen. Aber seine Ziehmutter hatte erst noch Pflichten an ihm auszuüben. „Halt,“ sagte sie und faßte ihn am Grips, „an diesem heiligen Neujahrsmorgen willst du mit Mehl am Ärmel und einem solchen Strobelkopf hinaus? Und in der Küche bist du mir gewesen und hast einen Rußfleck am Kinn.“ Und sie begann ihn zu säubern und zu bürsten, und machte des Rußflecks halber ihren Schürzenzipfel auf sehr natürliche Art feucht. Der Junge tat borstig, wie ein Igel, aber das half nichts, er mußte aushalten. „So,“ sagte Jungfer Liese und gab dem aufrechtstehenden Haar des Buben noch einen Strich nach hinten, „so, jetzt bist du sauber, um und um. Paß’ auf, verlier’ dein Sacktuch nicht wieder, wie gestern. Und ungebetet kommst du mir auch nicht hinaus. Das walte Gott der Vater und der Sohn und der heilige Geist. So leg’ doch die Hände zusammen, Bub’, es hat keine Art, dazu mit den Füßen zu trippeln.“
Es ist betrüblich zu sagen, aber Georg lief ihr unter den Händen weg, eh’ sie noch Zeit gefunden hatte, ihre Ermahnung zu beendigen.
Draußen rief eine helle Stimme seinen Namen. Da tat er einen Ruck und schlüpfte hinaus. Jungfer Liese stand und schüttelte den Kopf, und mit ihr schüttelt ihn vielleicht mancher, der es liest.
Und es ist nur zu hoffen, daß wir zu einer anderen Zeit erfahren, daß noch allerlei Gutes in dieses junge Leben hereinkam, dem es nicht unter den Händen weglief, und daß sich noch andere Hände fanden als die der braven Jungfer Liese, um es ihm darzureichen. Denn es war nicht jedermanns Meinung gleich der ihrigen, daß die Kinder der traurigen Frau, deren Geist hinter schweren Riegeln saß, keinerlei Mangel an irgend einem Gut aufzuweisen hätten.
„Georg,“ rief es noch einmal, „komm schnell, sonst kommen wir zu spät zum Läuten, es muß gleich anfangen.“
„Natürlich,“ sagte Jungfer Liese hinter ihrer Ladentür, „natürlich, ist mir doch das Mädchen, die Gertrud, schon wieder auf der Gasse, und stapft durch den Schnee wie ein Storch, in ihren roten Strümpfen. Und Röcke bis an die Knie, und alles fliegt an ihr, das Haar am meisten. Behüt’ mich. Wenn ich ihre Großmutter wär’.“ Es verlautete auch diesmal nicht alles, was sie zu sagen hatte, vielleicht versagte ihr die Phantasie, wann sie versuchte, sich an die Stelle der Frau Rektorin Cabisius zu versetzen.
Inzwischen ging die Jugend ihrer Wege und überließ das Alter seinen Betrachtungen.
Es führte eine steile, schmale Gasse gleich hinter dem Bäckerhaus in die sogenannte alte Stadt hinunter, in der die Kirche stand, ein schmuckloses, nüchternes, weißgetünchtes Bauwerk, an dem nur der Turm bemerkenswert war, der, eine viereckige, trotzige Masse, hoch, frei und stark aufstieg und über die nah herangebauten Häuser hinwegragte, wie ein großer Mann über die Menge der Durchschnittsmenschen. Auf der Höhe dieses Turmes, gleich über den Glocken, hauste der Nacht- und Feuerwächter Nössel, der auch zugleich Flickschneider war. Er hatte mehr als die Hälfte seines Lebens dort oben zugebracht. Jetzt war er ein alter Mann. Aber immer noch stieg er zweimal in der Woche seine hundertundfünfzig Treppenstufen hinunter, um die geflickten Gewänder an ihren Ort zu bringen und neue Schäden zur Heilung mit sich hinauf zu nehmen.
Wann er schlief, wußte man nicht so recht. Die Mitbürger hörten, sofern sie nicht im Schlafe lagen, mit Behagen sein halbstündliches, hellbimmelndes Glockenzeichen durch die Nacht klingen und zogen sich getrost die Decke über die Ohren, da ja außer dem Herrn im Himmel auch noch der alte Nössel auf dem Turm über die Sicherheit der Stadt wachte. Am Werktag flickte er die Löcher, die der Kampf ums Dasein in die Gewänder riß, und außerdem besorgte er an Sonn- und Feiertagen und zu den Betzeiten das Läuten der Glocken. Er saß nie unter den Andächtigen in der Kirche, sondern blieb in der Höhe bei den Glocken und streckte seinen grauen Kopf durch ein Mauerloch, das eigens zu diesem Zweck ausgehauen war, fast an der Decke des Kirchenschiffs, der Gemeinde und dem Pfarrer entgegen. Begann der letztere dann das Vaterunser, so verschwand, zur großen Befriedigung der Schuljugend, die hierauf fast mehr achtete als auf das Schlußgebet, der Kopf an der Öffnung und allsogleich begann das Läuten.
Diesem wichtigen und interessanten Mann war der Besuch der Kinder zugedacht, und es war nicht das erste Mal, daß er denselben entgegennahm. Er galt auch nicht ihm allein, sondern ebensowohl der Mitbewohnerin des Turmes, deren Bekanntschaft nicht lang mehr wird auf sich warten lassen, und deren Dasein die freundliche Fülle an lebendigen Gestalten vermehrte, die das Jugendbilderbuch der Kleinstadtkinder aufzuweisen pflegt. „Gehst du mit, Franz?“ fragte Gertrud und pflanzte sich vor dem größeren Nachbarssohn auf. „Dann komm, aber schnell.“ Franz bejahte, um aber schon an der Ecke wieder umzukehren, da ihm, wie er sagte, von Jungfer Liese ein Apfelkrapfen auf die Ofenplatte gelegt sei und derselbe sicherlich jetzt im richtigen Wärmezustand sich befinde.
Georg strebte mit langen Schritten voran; er hörte mit Wohlgefallen das leise Knirschen des leichtgefrorenen Schnees und sah die scharfumrissenen Abdrücke seiner genagelten Schuhe in der reinen weißen Decke; auch trieb ihn die Furcht, zu spät zu dem erwünschten Genuß des Läutens zu kommen, zur Eile. So blieb Gertrud, die sich mit Franz aufgehalten hatte, einen Augenblick zurück, und ihr Spielkamerad sah sich erst mahnend nach ihr um, als sich, aus einem Haus der engen Gasse kommend, ein drittes Kind zu ihr gesellte. Es war ein zierliches, feingebautes Mädchen mit rötlichblondem Haar, das in Locken unter einem hellgrünen Samtmützchen hervorquoll. Auf dem Kragen des weiten und etwas eigenartig zugeschnittenen Mäntelchens lag ein Machwerk von gelblichen Spitzen. Die ganze Erscheinung machte nicht den gewöhnlichen Eindruck, den die Bürgerskinder, auch die bessersituierten, in einem kleinen Städtchen zu machen pflegen.
Das Kind gehörte der Putzmacherin Maute, einer, wie sie selbst von sich sagte, „unglücklichen, verlassenen, aber nicht herabgekommenen Frau, die nur zu gutmütig und zu ideal für diese Welt sei.“ Man war gewöhnt, es in einem etwas ungewöhnlichen Aufputz zu sehen. Und die Leute verziehen die Abweichung von dem allgemeinen Geschmack, da ja die Frau ohnehin weder zu den Vornehmen, noch zu den Geringen so recht gehörte, und da sie mit praktischem Sinn einsahen, daß in einer solchen Hantierung, wie die Putzmacherei, doch immer Reste übrig blieben, die dann das Kind vollends auftrage. Es hieß Lore und war, obgleich im gleichen Alter wie Gertrud, viel kleiner, zarter und zierlicher als diese.
„Komm mit, Lore,“ sagte Gertrud, die eine besondere Vorliebe für alles Feine, Zarte und Schwache hatte und die „die Affenlore“ schon öfters mit Mut gegen die Angriffe der Schulkinder verteidigt hatte. „Darfst du mit auf den Turm? Erlaubt’s deine Mutter?“ Lore nickte glücklich. Sie war so viel allein und mußte sich so oft anders fühlen als die andern, daß sie es als Glück empfand, wenn gute Bürgerskinder sie als eins der ihrigen an sich zogen. Die Frau Putzmacherin nickte mit etwas struppigem Kopf aus dem Fenster, als die Kinder abzogen; Georg blieb stehen und sagte bockig und mit offener Geringschätzung: „Die soll mit? Die hat ja doch Angst vor den steilen Treppen und dann erst noch vor den Glocken.“ Er hatte noch keinen offenen Sinn für die Anmut und schätzte Größe und Kraft mehr als Zierlichkeit. Aber die Kleine wußte sich einzukaufen. Sie zog ein schwarz und weiß geflecktes Kaninchenschwänzchen aus der Manteltasche. „Da, willst du das?“ fragte sie. „Es ist ein Tintenwischer. Ich habe gar keine Angst, die Gertrud hält mich schon.“ Da nahm der Junge das Schwänzchen und dann gingen sie mitsammen durch den Schnee. „Guck einmal,“ sagte Gertrud, „meine Füße sind grad so groß wie die deinen.“ Sie setzte vergnügt ihre breiten, kräftigen Stiefelabdrücke neben die ihres Freundes und verhieß ihm, der es sich auch von ihr gefallen ließ, daß sie immer mit ihm Schritt halten würde und ebenso groß, kräftig und gescheit zu werden gedenke; „oder auch noch ein bißchen mehr,“ setzte sie hinzu, zog aber das letztere willig zurück, als Georg aufzubegehren drohte. Im Grunde war es ihr nur um die keckliche und ungeminderte Kameradschaft zu tun, nicht um den Wettbewerb. Während nun die beiden in gleichem Schritt und Tritt kräftig auszogen, trippelte Lore in ihren Fußtapfen hintendrein, flink und leicht und immer noch einen eigenen, kleinen Fußabdruck in den großen der Vorgänger hineinsetzend und kam so fast mit ihnen und ohne Schaden ihres zierlichen Schuhwerks am Fuß des Turmes an.
„Das ist nun wieder so eine Neujahrsbetrachtung.“ Meister Nössel setzte die Hornbrille mit den runden Gläsern auf und sah zu, wie eins ums andere von den blühenden Kindergesichtern aus dem dunklen, engen Treppenhaus auftauchte und ans Licht des Glockenbodens kam. Und dann wünschten sie ihm ein gutes Neujahr und er nickte ernsthaft und sagte: „Das ist wie eine Neujahrsbetrachtung, sag’ ich. Da kommet ihr so herauf zu mir und stehet da, breit und keck, und seid schon ein Stück ins Leben hineingewachsen und kaum war’s doch, daß ihr hereingekommen seid, in die Welt, mein’ ich, nackt und bloß, wie der Psalmiste sagt. Und vordem sind eure Väter da heraufgestiegen und haben mir am Läuten geholfen, und sind nun schon dahingegangen. Heißt das, deiner nicht, Georg, aber heraufsteigen tut er auch nicht mehr, er ist zu dick dazu. Und deine Mutter sitzt im Dunkeln und muß in Geduld warten, bis ihr Gott wieder das Licht ansteckt, und war ein schönes Mädchen zu ihrer Zeit und mein Sohn hätte sie gern gefreit, aber sie hat ihn nicht genommen. Und so gehen denn die Jahre dahin und man weiß nicht, was noch kommt und ist das Beste, daß unser Herrgott noch immer auf seinem Stuhle sitzt, und wollen wir denn in Gottes Namen ans Läuten gehen, und er walte das zu Anfang, Mittel und Ende.“ Damit nahm er die Brille ab und steckte sie in die Tasche, und seinen jungen Gästen, ob sie ihn gleichwohl nur halb verstanden hatten, war es zu Mute, als ob sie durch die Dachluken hindurch den lieben Gott auf seinem Stuhle sitzen sähen und wie er nun das Zeichen zum Beginn des Läutens gäbe. Sie faßten mit zager Hand nach dem Strick der beiden kleinen Glocken, indeß Meister Nössel die große anzog. Lore drückte sich in die entfernteste Ecke an die Wand. Und dann war es nicht anders, als ob hier oben die Brunnenstube des Zeitstroms sei, und die Wellen kämen aus innerem Trieb zu Tage und strömten über und zu den Schalllöchern hinaus und würden ein Meer und füllten die ganze Welt, und überall müßte man sie rauschen hören, hier oben am lautesten und fernhin leiser und leiser und bis in den Himmel hinein. Und dann schwiegen sie; leise klang noch einmal ein Ton auf, noch einer, dann verzitterte nur noch der Nachhall in der Luft.
„So und nun geht in die Stube hinauf zur Judith und wärmt euch.“ Meister Nössel klappte sein Lädchen an der Mauerluke auf und setzte sich in Positur. Drunten in der Kirche begann die Orgel zu tönen, es flogen einzelne Laute von ihr bis hierher, und dann schwoll der Gemeindegesang, der die Kirche füllte, über, und bis in die Stille hier herauf. Den Kindern war es, als ob er aus einem fernen, unsichtbaren Lande komme, demselben, in das sie vorhin zu sehen meinten, und ihre jungen Seelen regten sich und schwangen leise mit und versuchten, aufzuflattern, als ob sie irgendwo zu Hause wären, nicht hier. Aber sie wußten nicht, wo.
Und dann schlichen sie auf den Zehenspitzen die Treppe hinauf und als Lore einen ungeschickten Tritt auf einen astigen Knorren tat, der mitten auf einer ausgetretenen Stufe hervorsah, denn die Treppe war ihr noch ungewohnt, und es polterte etwas, da gab ihr Georg einen Schubs und sagte leise und eindringlich: „Du Trampelliese.“ Und das Wort war nicht aus einem streitsüchtigen Bubenherzen, sondern aus dem Bedürfnis heraus geboren, daß die Feierlichkeit des eben vergangenen Augenblicks ungestört nachhallen könne, und mangelte nur der Feinheit. Die konnte er sich aber noch erwerben.
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„Da seid ihr denn nun,“ sagte Frau Judith und öffnete ihre Stubentür, daß das helle Licht des Wintertags in breitem Strom aus der lichten Stube auf die dunkle Treppe floß. „Da seid ihr denn wieder einmal heraufgekrabbelt, und wißt ihr auch, wie lang es her ist, seit ihr das letzte Mal hier oben waret? Ganze sechs Wochen ist es her und seither war so viel zu sehen von meinen Fenstern aus, und das ist nun alles vorbei und kommt nicht mehr. Nun mögt ihr hinaussehen, so viel ihr wollt, es ist nur Schnee zu sehen, sonst nichts.“ „Ach, gar,“ sagte Gertrud und lachte ein bißchen unsicher, „laß mal sehen, Frau Judith, es muß doch sonst noch was da sein,“ und sie zog ihren Kameraden, der mit großen, erschrockenen Augen dastand, mit ans Fenster. „Siehst du, du mußts ihr auch nicht immer gleich glauben, Georg,“ rief sie in ausbrechendem Jubel, „da sind alle Häuser und Gassen und der Himmel, und die Raben auf den Bäumen! O, o, Frau Judith, der Großvater sagt’s auch immer, daß man dir nicht alles glauben soll. Und jetzt sagst du gleich, was alles noch zu sehen war, so lang wir nicht hier waren. Komm, Lore, setz’ dich nur hier auf den Schemel und nimm deine Mütze herunter, denn jetzt erzählt Frau Judith so lang fort, daß mans gar nicht sagen kann.“
„So meinst du?“ Frau Judith stand an der Krücke in der Mitte der Stube und ihr breites Gesicht glänzte vor unsäglichem Vergnügen. Sie versuchte vergeblich, zu tun, als ob sie heut nichts wüßte; Georg sah so flehentlich drein und nahm die kleinste Weigerung so ernst, daß ihr das Herz zerschmolz. Und Gertrud pflanzte sich kriegerisch vor ihr auf und ihr ehrliches, rundes Kindergesicht flammte. „So, nun setz’ dich einmal in deinen Stuhl und fang’ an,“ sagte sie. „Du kannst sagen, von was du willst, es wird doch eine Geschichte draus. Und mein Großvater kommt auch nächstens, das hat er noch extra heut morgen gesagt, und dann will er mit dir eine Reise machen, ins Jugendland, hat er gesagt und du wissest schon, wo es liege. Aber das ist ja auch bloß Spaß, du kannst ja gar nicht verreisen. So, jetzt fang an.“
Lore saß ganz still. Die beiden andern waren hier so zu Hause, das konnte sie wohl sehen, sie aber fühlte sich fremd und scheu in ihrem Putz und ihrer ganzen Art. Die Mutter hatte sie heut früh vor den Spiegel gestellt. „Herzig siehst du aus,“ hatte sie gesagt, und noch anderes. Von der Zukunft, und daß Schönheit ein Reichtum sei. Jetzt hätte sie gern den Staatsmantel ausgezogen, wenn nicht darunter ein zerrissenes Werktagskleidchen gewesen wäre.
Da strich ihr plötzlich eine große, weiche Hand sacht und leise über das Haar. Sie duckte sich wie ein Vögelchen unter der ungewohnten Berührung. „Ich kenn’ dich schon, du Kleines,“ sagte Frau Judith. „Bist noch nie bei mir gewesen, gelt. Aber ich kenn’ dich doch. Ich tu’ dir nichts, mußt dich nicht so ducken.“ Und Georg und Gertrud nickten ihr zu: „Sie tut dir nichts, natürlich nicht; mußt dich nicht so ducken,“ sagten ihre Gesichter. Da fing sie plötzlich an zu lachen, und lachte und lachte, und hielt sich die Hände vors Gesicht und die Locken fielen ihr drüber her. Und kein Mensch wußte, warum sie lachte, und sie fragten und fragten, und lachten endlich mit und wußten auch nicht, warum, und als Frau Judith ihr die Hände vom Gesicht zog, da waren sie naß, über und über.
„Behüt uns,“ sagte Frau Judith leise, und dann fing sie an, zu erzählen, was sie von ihrem Fenster aus gesehen habe all’ die Zeit daher.
Sie kam nie mehr hinunter, seit sie ein hölzernes Bein und eine Krücke hatte, das war schon 10 Jahre her. Meister Nössel war ihr Bruder. Er hatte sie sich da herauf geholt, nachdem man ihr im Krankenhaus das Bein abgenommen hatte. „Und das ist ein solches Stück Arbeit gewesen,“ sagte sie und meinte nicht ihr Unglück, sondern die Reise auf den Turm, daß ich nun hier oben bleibe, bis mich einmal die schwarzen Männer holen. Es sei denn, fügte sie hinzu, „der Turm falle vorher ein, was aber nicht wahrscheinlich ist. Da käme ich dann freilich schneller hinunter als ein Vogel fliegt.“ Sie war in diesen Jahren und bei der sitzenden Lebensweise ungeheuer in die Dicke und Breite gegangen und es war ein gruselig machender Genuß, sich auszudenken, wie das alles vor sich ging. Es war alles, wie im Märchen; man konnte nie wissen, was mit Frau Judith geschah und mit dem Meister Nössel und mit dem ganzen Turm. Unten auf ebener Erde, da ging alles seinen nüchternen Gang. Aber hier oben, es war nicht auszusagen, was man hier oben alles erleben konnte. „Ja,“ sagte Frau Judith, „und darum möchte ich auch nicht für Geld und einen neuen Fuß wieder in die Unruhe da hinunter, wo man nicht weiter sieht, als bis an die nächste Mauer. Wenn man nun zehn Jahre hinter einander hat am heiligen Abend die Christbäume im Himmel brennen sehen. Ja, im Himmel, und das ist sicher, denn von hier aus sieht man mitten hinein, wenn man rechte Augen hat und die Zeit nicht verpaßt, wo er offen ist.“
Daran war nicht zu zweifeln. Und wenn auch Gertrud hie und da den klugen Kopf schüttelte, im Grunde glaubte sie es doch. Um es recht zu sagen: es war wie im Märchen vom unsichtbaren Königreich. Die Königin ging an Krücken und kochte mühselig in irdenen Töpfen im Ofen, und der König war ein zusammengesessenes Männlein und flickte den Leuten die Hosen. Und die meisten Leute wußten nicht, daß sie ein Land hatten und ein Reich. Aber das tat nichts zur Sache. Das konnten die Leute halten, wie sie wollten. Man konnte daran nur sehen, daß sie nicht desselben Landes waren. Die beiden wußten es selber und das war die Hauptsache. Der Rektor Cabisius wußte es auch, und seine Frau, und der alte Korbmacher Hollermann. Und die Kinder, die fast am besten, obgleich sie keinen Namen dafür hatten.
Da saß denn die Frau Judith Tag für Tag an ihrem Fenster und nähte. Und dann kam die Sonne herauf und lachte, übers ganze Gesicht, zu ihr herein, und dasselbe tat Frau Judith, zu ihr hinaus. Und die Spatzen kamen, die ihr Nest an der Dachrinne hatten, und die Schwalben strichen hin und her und schwatzten von ihren Erlebnissen, und im Winter, wenn sie fort waren, hockten doch die Raben flügelschlagend auf dem Dach und holten sich mit Geschrei die Brocken, die ihnen Frau Judith zuwarf. Zuweilen kam eine große, schwarze Katze und guckte mit blanken, grünen Augen ins Fenster und machte einen Buckel und stellte den Schwanz in die Höhe. Und alle diese Geschöpfe wußten so viel zu erzählen, von den Leuten im Städtlein unten weniger, aber sonst eine ganze Menge wunderbarer Sachen, und das taten sie sonst niemanden, als nur der Frau Judith und etwa, der Verwandtschaft halber, ihrem Bruder; und daran „konnte man es mit Pelzhandschuhen greifen“, wie der Rektor Cabisius sagte, „daß etwas Besonderes an ihnen sei.“ Am Abend war es noch viel wunderbarer. Da kam der Mond und füllte die Stube bis in den letzten Winkel mit seinem Licht, „und,“ sagte Frau Judith, „wenn wir noch eine zweite hätten, dann bekämen wir die auch noch voll, aber wir haben nur die eine, und das ist gerade gut, denn dann haben wir alles näher beieinander.“ (Es war fast alles „gerade gut“, und das sei das königlichste an der Frau Judith, sagte ihr alter Freund, der Rektor, und da er sie so genau kannte, so mußte er es ja auch wissen.)
Da glänzte dann die ganze Gegend in einem silbernen Schimmer, das ganze Tal war wie ein leise wallendes Meer von geheimnisvollen, verhaltenen Lichtfluten; das Städtlein und die Wiesen und Berge und Wälder, alles ruhte auf dem klaren Grund und die Flut ging hoch darüber hin. „Und da ist es denn, als sollte man mitschwimmen,“ sagte Frau Judith zu den Kindern, „zum Fenster hinaus und ganz weich und sachte durch die Luft, nicht fliegen, schwimmen. Aber seht ihr, ich bin zu schwer dazu, das ist der einzige Grund, warum ich’s nicht tue. Aber das kommt noch.“ Und die Kinder horchten, mit großen Augen sahen sie in Frau Judiths Gesicht. Ja, die war freilich anders, als andere Leute. Man konnte nie wissen, was mit ihr noch geschehe. Sie wußten auch wohl, daß oben, ganz weit oben über den Wolken der liebe Gott sitze und, Meister Nössel hatte es gesagt, direkt durch die Fenster hier in die Stube sehe, da man sich denn freilich wohl in acht nehmen müsse, daß alles mit Ehren zugehe, weil man ihm ja doch nicht unter die Augen treten möchte mit irgend einer zweifelhaften Sache.
Ob denn, fragte Georg einmal, der liebe Gott auch in die Taschen sehe? Es war ihm nicht recht behaglich dabei, das konnte man ihm ansehen. „Natürlich,“ sagte Meister Nössel, „in die Taschen, und durch und durch.“ Da drückte sich der Bub so an der Wand hin und suchte mit guter Manier zur Tür hinaus zu kommen, und polterte die Treppen hinunter, daß er sich fast überschlagen hätte. Unten aber auf dem Kirchplatz gab er Kindern und Hunden ein Fest mit zerdrückten, verkrümmelten Eierwecken, die er sich aus der Backstube gemaust hatte und die ihm plötzlich die Taschen verbrennen wollten. Es war ihm noch nicht so ganz wohl dabei, er hätte sie am liebsten wieder nach Haus getragen. Aber wer konnte sie so noch gebrauchen? Auch war niemand da, bei dem man eine Lossprechung von dem unbehaglichen Gefühl erhoffen konnte, das sich da auf einmal eingestellt hatte. Da mußte es denn auch so gehen. Er kehrte die Taschen um, daß der liebe Gott so recht deutlich sehen konnte, es sei nichts unrechtes mehr darin, und dann ließ er sie fröhlich heraushängen und erstieg neuerdings die Höhe mit verhältnismäßig gereinigtem Gewissen.
Meister Nössel schien nichts gemerkt zu haben. Er saß auf seinem Tisch und flickte einen Arbeitskittel, und als das geschehen war, putzte er noch die Flecken heraus, mit Wasser und grüner Seife, und bügelte die Runzeln glatt, und es war nichts zu verbergen, in der ganzen Stube nicht. Und das war eine so fröhliche Sache, daß man den lieben Gott wohl einladen konnte, zuzusehen. Meister Nössel aber blinzelte zu Frau Judith hinüber, und sie zu ihm. Und er nahm die Brille ab, deren er nur in der Nähe bedurfte, und sah mit hellen Augen über sein Königreich hin. Das reichte, so weit man sehen konnte, und noch weiter, und die Beiden nahmen es niemanden weg und niemand hatte einen Schaden davon. Denn es war ihnen alles zu eigen, weil sie sich an allem zu erfreuen vermochten. Und sie „fülleten die Erde und machten sie sich untertan“ mit ihren stillen und fröhlichen Gedanken; und alle guten Geister halfen ihnen dazu.
Es saßen drei alte Männer beisammen auf dem Kanapee. Es war ein breites, geräumiges, altes Kanapee, ohne Sprungfedern und schwellende Polster, hart und zusammengesessen, und es hatte einen rot und blau gewürfelten Überzug. Die drei Männer hatten bequem Platz darauf; es tat ihnen auch in ihrem Behagen keinen Eintrag, daß sie mit den Ellenbogen zusammenstießen, wann einer sich rührte, um seine Pfeife frisch zu füllen. Sie waren alle drei Wiblinger Stadtkinder, der Rektor Cabisius, der Korbmacher Hollermann und der Meister Nössel. Einst waren sie miteinander auf einer Schulbank gesessen und hatten miteinander in den Freistunden ihre überschüssige Kraft vertobt. Dann waren sie ihrer Wege gegangen, ein jeder den seinigen, und hatten nichts mehr von einander gewußt. Und nun waren sie alte Männer und saßen eng beisammen, und waren hier zusammengekommen, um eine Reise in ihr Jugendland zu machen.
Auf dem Tisch stand Frau Judiths braune Kaffeekanne, und Frau Judith hantierte am Ofen mit den Töpfen und bereitete den Trank. Sie konnte gut mitreden, denn sie war einst als wildes Mädchen mit den drei Jungen über die Hecken gestiegen, und sie war, wie sie selbst sagte, „jetzt noch jünger, als sie alle drei zusammen.“
Die Frau Rektorin saß im Lehnstuhl und klapperte mit ihren Stricknadeln, als ob es ums Geld geschähe. Sie hatte einen kleinen Ärger zu verstricken. Denn erstens war sie kein Wiblinger Stadtkind und konnte darum die Reise nicht so recht mitmachen. Und zweitens verspürte sie einen unangenehmen Kitzel in der Nase, weil sich ihr Gemahl mitten zwischen die zwei alten Schulkameraden gesetzt hatte, und weil er nun soeben sagte: „Aber natürlich dutzen wir uns. Das wäre noch schöner. Wie, ich soll wohl Herr Hollermann sagen?“ Denn der alte Korbmacher war die ganze Zeit bisher in der Fremde gewesen und war nun vor kurzem in seine Heimat zurückgekehrt, ohne Frau und Kinder und ohne viel Habe, und wohnte in einem Häuschen ganz draußen an der alten Synagoge, die auf freiem Felde stand, und schien der Frau Rektorin ganz und gar kein Mann zu sein, mit dem sich ihr Gatte zu dutzen brauche.
Er war ihm einerlei, das wußte sie wohl, was die andern „Herren“ des Städtchens zu dem Verkehr sagen würden, er war darum doch überall beliebt. Aber das schloß nicht aus, daß es ihr nicht einerlei war. Sie hatte sonst gute Augen, die wohl geeignet waren, durch abgetragene Kleider und kümmerliche Gesichter und Gestalten hindurch zu sehen und sich die Seele eines Menschen anzuschauen und zu fragen: „Was bist du für ein Mensch? Ich meine, du selbst, dein eigentlichstes Ich. Bist du ein froher Mensch, ein wackerer, ehrlicher, tapferer? Oder schleppst du dich mit dem Leben? Und warum?“
Aber heute abend waren sie nicht so hell wie sonst. Sie war eine Dekanstochter, ihr Großvater war Oberamtsrichter gewesen. Das stieg ihr noch hie und da nackensteifend auf. Und nun saß ihr Mann hier auf dem alten Kanapee und tat, als ob er sein Leben lang als Handwerksbursche durch die Welt gezogen wäre. Er war ja doch auf Schulen gewesen. Er war ja doch akademisch gebildet und war Rektor der Lateinschule. Und nun sagte er eben: „Ach, Hollermann, weißt du noch, wie wir zu deinem Großvater auf die Weide gingen? Weißt du noch, wie sein schwarzer Schäferhund nach der Flöte tanzte, immer rundum, hinter seinem eigenen Schwanz drein?“
Sie war noch nicht recht reif für die Jugenderinnerungen. Sie hatte heiße Backen. Warum war sie auch mitgegangen? Was hatte sie keuchen müssen die engen Wendeltreppen herauf. Aber ihr Gatte hatte es gewollt. „Du wirst deine helle Freude haben, Anne,“ hatte er gesagt. „Es wird sein wie eine laterna magica, immer ein Bild nach dem andern. Wie ein leibhaftiges Stück Jugend wird es sein.“ Er war ein großes Kind. Er sah es gar nicht ein, daß er denn doch etwas anderes geworden sei, als der Flickschneider und der Korbmacher. Warum hatten sie sich nicht auch geregt? Warum waren sie nicht auch so klug? „Was,“ dachte die Frau Rektorin, „nun soll ich wohl einen Kranz mit ihnen halten, immer reihum, bei uns, und auf dem Turm, und in der Villa Hollermann, dem windschiefen Lehmhäuschen? Das könnte eines Tags mit uns umfallen und dann hieße es in der Stadt, daß wir ganz ordnungsgemäß mit unseren besten Freunden zusammen unter den Trümmern liegen.“
Die Phantasie der Frau Rektorin war im besten Zug, ins Kraut zu schießen und ganz üppige Blüten zu treiben. Die Stricknadeln klapperten dazu. „Man kann die Menschenfreundlichkeit auch zu weit treiben,“ eine Nadel; „wenn das mein Großvater wüßte,“ die zweite; „aber so ist mein Mann, immer ist er so,“ die dritte. Da fühlte die Frau Rektorin eine leichte Berührung am Arm. Sie kannte sie. Das war ihr Mann, der sie über den Tisch herüber mit der Mundspitze seines Pfeifenrohrs antippte, ganz leicht und leise. Und als sie aufsah, mit einem hellen, raschen Blick, da lagen seine Augen auf ihr; sein ganzes Gesicht fragte in das ihrige hinein und gab zugleich die Antwort, lächelnd und warm, und ein bißchen belustigt. „Ja, was ist denn, Anne? Was denkst du dir denn für krause Sachen zusammen, Weib? Bist doch sonst so klug. Ein bißchen Kastengeist, was? So, jetzt komm, jetzt laß das; jetzt paß einmal auf, was das für Leute sind, du hast ja selber deine Freude dran. Alle guten Geister, Anne. So, so.“ Er nickte ihr noch ein paarmal zu, kaum merklich, die andern sahen von dem allem nichts. Aber es war, als ob man einem Kind beschwichtigend auf den Rücken klopft, ganz sachte und gelind. Da glätteten sich die Wogen. Da fiel es ihr wieder ein, wie er sie gelehrt hatte, durch sich selbst, durch sein eigenes, ehrliches, aufgeschlossenes Wesen, all’ die Jahre daher, seit sie seine Frau war, an das unsichtbare Königreich der schlichten, frohen, kindlichen Menschen zu glauben und sie sich unter allen Hüllen herauszusuchen, und sie als Landsleute der besten Art zu begrüßen. Und sie war froh, daß nur er ihre Gedanken gelesen hatte, und nickte ihm auch zu und schüttelte sich ein wenig, als wolle sie etwas los werden. Und dann legte sie den Strickstrumpf in den Schoß und die Hände behaglich übereinander und hörte zu, wie die Bilder der Vergangenheit lebendig wurden und ins Reden kamen.
Sie tat einen suchenden Blick nach dem alten Korbmacher hin. Der hatte ein braunes, hageres Gesicht und hängte die Schultern etwas nach vorn, und über den Augen liefen die dichten, struppigen Brauen zusammen. Die Augen selbst und der Mund aber waren weich, fast kindlich, als wären sie nicht auf einer beschwerlichen, weiten Lebensreise gewesen. „Der muß wohl fromm sein,“ dachte die Frau Rektorin, „so auf eine stille, in sich gekehrte Art. Der muß wohl nicht viel wissen von den Dingen rings um ihn her. Der hat sich da innen irgend etwas aufgebaut, das wird man ja noch erfahren, was.“
Und sie war schon geneigter, ihm zu verzeihen, daß er’s im Leben nicht weiter gebracht habe.
„Ja,“ sagte er jetzt eben, „ich habe oft an ihn gedacht, draußen herum, an meinen Großvater, meine ich, den alten Schäfer Hollermann. Meinen Vater hab’ ich nie gekannt und meine Mutter war so still und gedrückt, wie meine Großmutter laut, stark und entschlossen. Da sagte er, als ich noch ein kleiner Knirps war, oft zu mir: „Komm, Bub, geh’ mit mir hinaus, das ist nichts für uns zwei. Geh’ mit mir auf die Weide.“ Da saß ich denn unter einem Weidenbusch und ringsum war die Welt ganz rund um mich her, ich saß ganz in der Mitte. Die Schafe grasten auf den Brachäckern, die Staren saßen ihnen auf den Rücken, und flogen ab und zu, und mein Großvater stand und lehnte sich auf seinen Stock und sah still um sich. Es muß im Frühling gewesen sein. Er sagte nie viel. Aber wenn er auf der Flöte blies, dann verstanden wirs Beide, der Schäferhund und ich. So war es uns auch zu Mut, gerade so. Das kann man nicht sagen. Ich habe die Flöte überkommen, ich habe sie noch.“
Er schwieg wieder und sah still vor sich hin. Da kam Frau Judith in den Kreis. „Jetzt das von dem Stock,“ sagte sie, „das war das Geheimnisvollste, was man sich denken kann, das ist ein Märchen.“
„Ja,“ sagte er, „das ist es auch, warum ich so viel an ihn dachte in der Welt draußen. Wenn die Leute so alles wußten, und sich stritten um das Wahre, und dabei so unruhig wurden und arm. Dann dachte ich an den Stock.
Mein Großvater war so, was man einen unwissenden Menschen nennt. Er konnte weder lesen, noch schreiben, und auswendig gelernt hat er nur einen einzigen Vers aus dem Lied: „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende.“ Das verdroß die Großmutter und sie hielt ihm hundert Mal vor, daß sie ihn eigentlich lieber nicht hätte nehmen sollen, „wenn er,“ sagte sie, „nicht sonst solch ein guter Kerl wäre,“ und daß er eigentlich auch gar kein rechter Christ sei. Auch sagte sie des öfteren, daß sie über seine Zukunft in jenem Leben ihre starken Zweifel habe, da er ja nicht einmal den Katechismus könne, und daß sie sich jedenfalls werde einen anderen Platz aussuchen müssen. Dazu lächelte er aber nur vor sich hin und sah so nach seinem eisenbeschlagenen Schäferstock hin, der in der Ecke stand, als ob der es besser wisse. Und das war auch so, denn der Großvater legte ihn jeden Morgen quer vor sich hin auf die Erde, wenn er draußen war bei den Schafen. Und dann legte er die Hände zusammen und sprang darüber, ein, zwei, dreimal. Er sagte nichts dazu, ich habs oft genug gesehen. Aber sein Gesicht war feierlich und festlich dabei. Ich glaube doch, daß er den Schäferstock vor unsern Herrgott hingelegt hat und nachher wieder in Gottes Namen aufgehoben.
Das ist so mit mir gegangen, und daß er dabei fröhlich war und lieb und ohne Streit. Und ich hätte manchmal sagen mögen, wenn sich einer abmühte mit Grübeln und Sorgen und dabei das Licht in seinen Augen erlosch: „Leg’ deinen Stock hin und spring’ in Gottes Namen drüber.“
Da waren sie eine Weile still und stießen große Rauchwolken aus und sahen, ein jeder, in ihre vergangenen Wege hinein und die noch kommenden derer, die sie lieb hatten, und waren eine Gemeinde untereinander. Frau Judith nickte stark und fröhlich mit dem Kopf. Das war so ihre Art, wenn ihr innerlich etwas Frohes aufging. Und die Frau Rektorin schluckte tapfer den Antrieb hinunter, den sie einen Augenblick lang hatte, zu sagen, daß der alte Schäfer doch wohl ein halber Heide gewesen sein möchte, wenn auch vielleicht ein frommer.
Ihr Töchterlein fiel ihr ein, das sie einst mit sechs Jahren in den Sarg gelegt hatte, unter lauter Blumen. Und ihr Gatte, wie der damals sagte: „Besseres kann keinem widerfahren, als nach einem Kinderleben zu sterben als ein Kind.“
Und es wurde ihr warm ums Herz; da schwieg sie.
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Sie hatten sich viel zu erzählen aus den langen Jahren ihrer Lebenswanderung. Sie blieben nicht an den Kindertagen stehen. Das hatten sie gern gewollt. Aber das Leben trat vor sie hin und sagte: und dann, und dann. Da kamen sie über die Grenzen der Jugend hinaus, und sprachen von Lehr- und Wanderjahren, von Hochzeit, Geburt und Tod. Meister Nössel hatte sein Weib verloren, und Frau Judith ihren Mann, und der Rektor Cabisius seine Kinder, und der Korbmacher hatte weder das eine noch das andere jemals besessen. Da kamen sie in ihrer Rede nach und nach darauf, daß der Mensch in das Leben hereingeboren werde als ein junger Baum, den man ins Land pflanzt, und der des Sonnenscheins bedarf und der Stürme und all’ des Wechsels von Trockenheit und Erdfeuchte, Frost und Hitze, um daran stark zu werden und fruchtbar und eigenständig, „und,“ sagte der Rektor Cabisius, „seine Wurzeln tief und fest in den Grund zu versenken, den keiner sieht und jeder bedarf“. Aber sie machten nicht viele und kluge Worte darüber, denn sie waren einfache Leute, und was das Leben sie gelehrt hatte, das war mehr in die Tiefe gegangen, als in die Breite.
Nur die Frau Rektorin sagte, aus ihrem wallenden Großmutterherzen heraus: „Aber den Kindern möchte man doch manches Harte ersparen. Wenn ich an Gertrud denke, und daß das Leben sie so rütteln sollte. Ich mag nicht daran denken. Sie ist so zur Freude geschaffen.“ „Darum wird sie auch zur Freude gelangen, das ist sicher,“ sagte ihr Mann herzlich und bot ihr über den Tisch herüber die Hand, und die andern sahen mit stillen Augen zu.
So hatte Georgs und Gertruds Freundschaft angefangen; das lag ein paar Jahre zurück.
Es war ein Drehorgelmann durchs Städtchen gezogen, ein alter Invalid mit einem lustig zwinkernden Gesicht und einem großen, roten Schnauzbart. Der rechte Ärmel hing ihm schlaff herunter, die Orgel trug er an einem Riemen, der über die Achsel ging; mit der linken Hand drehte er die Kurbel herum, da kamen die Lieder aus dem Kasten heraus, eins ums andere. Es waren deren vier. Ein Choral; da horchten die alten Leute auf und die ganz einfachen, frommen Gemüter. Sie unterbrachen ihre Hantierung, legten den schrillen, gellenden Tönen den Text unter, den sie aus dem Gesangbuch kannten und nickten beifällig. Und die alten Weiblein, die unter den knospenden Akazienbäumen des Marktplatzes ihre Enkel hüteten, summten mit, und suchten in der Rocktasche nach einem Stück Kupfergeld. Dann ein Marschlied, wie es die Soldaten singen, wann sie heimziehen vom Exerzierplatz. Da hörten die Gesellen in den Werkstätten auf zu hämmern, und den Mägden, die am Spültrog standen oder die Straße kehrten, schwellte sich die Brust. Denn mit dem Lied zogen ganze Regimenter an ihnen vorbei, junge, starke Burschen, so recht aus dem Vollen. Der Oberlehrer Hölzle in der Knabenvolksschule ging von Fenster zu Fenster und schloß alle Flügel. Denn nun schallte das dritte Lied herauf: „Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd.“ Und in der Schule wollte mit einem Mal alles jung werden. Was Geographie von Hindostan! Was Stromgebiet des Ganges! „Ins Feld, in die Freiheit gezogen.“ Die Buben rutschten hin und her und hatten nicht übel Lust, auszubrechen. Es war auch solch eine starke, frische Frühlingsluft draußen. Darum schloß Herr Hölzle die Fenster. Denn er dachte, daß fern von der Versuchung, fern von der Übertretung sei. Und dann fuhr er fort, von der Höhe des Himalaja zu sprechen. Gegenüber war die Lateinschule. Da bog sich ein grauer Kopf aus dem Fenster und ein heiteres Gesicht sah auf den Markt hinunter, wo der alte Kriegsmann seine Orgel drehte und ein immer feurigeres Tempo anschlug. Denn er war jetzt von einer ganzen Schar umgeben. Aus allen Häusern und Höfen und Nebengäßchen quoll es von Kindern, solchen, die noch in dem glücklichen, freien Alter standen. Sie drängten sich um ihn und als er weiter ging, die Hauptstraße entlang, schwärmten sie mit, stolpernd und keuchend vor Eifer, ihm ganz nah zu sein, und traten einander auf die Schuhbänder, bis einige fielen, und die Mütter hintendrein rannten, um ihre Sprößlinge unter ihre Augen zurückzuholen.
Da gab die Oper Martha noch das vierte Lied her: „Ach, so fromm, ach, so traut“. Das schmolz nur so hin. Und die Amtsdienersfrau Ramsler putzte ihrem Jüngsten das Näschen mit der Schürze und schneuzte hernach sich selbst in Rührung. Denn das Lied hatte sie einst in einem Biergarten gehört, in Blechmusik, damals, als sie mit ihrem Ramsler versprochen war, und es war schön gewesen damals.
Als der Rektor Cabisius das noch mit angesehen hatte, trat er vom Fenster zurück zu seinen Lateinern.
Er hatte vorhin seine Enkelin unter der horchenden Jugend entdeckt. Sie war mit großen Augen in dem Schwarm gestanden, die Hände auf dem Rücken, und hatte den Tönen nachgespürt, wie sie so unbegreiflich aus dem braunen Kasten kamen, eine Welle nach der andern. Da hatte er ihr zugerufen; es war ein gutes Stück vom Hause weg: „Verlauf’ dich nicht, Gertrud, hörst du?“ Und sie hatte, wie erwachend, zu ihm hinaufgesehen und dann lachend den Kopf geschüttelt. „Verlaufen? Nein, nur noch ein Stückchen mit dem Mann.“
Da war er zufrieden gewesen. Sie war fünf Jahre alt damals, und ein festes, stämmiges, kleines Mädchen. Sie stand so wacker unter all’ den andern. Das freute ihn. Er dachte nicht, daß seine Frau unter der Haustür stehe und mit der Hand über den Augen Ausschau halte, bis das Kind sein Geldstück abgegeben habe und wieder komme, um dann, „als ein nettes Kind“ im Garten zu spielen. Er war so sorglos. Es fiel ihm gar nicht ein, eine Topfpflanze aus dem Kind zu machen, und es wurde denn auch keine, obgleich die Großmutter hie und da einen Anlauf nahm, wenigstens ein Honoratiorenkind zu erziehen.
Die Drehorgel tönte ferner und ferner. Es hatten sich nur wenige Leute im Städtchen über die Musik, die sie hervorbrachte, geärgert, und diese Wenigen konnten nun aufatmen. Die andern, die sich gefreut hatten, nahmen ihre Arbeit wieder auf, und da und dort ging einem und dem andern noch eine der Melodien durch den Kopf. Draußen auf einem Grasrain setzte sich der Invalide nieder und begann das Geld, das in seiner Mütze lag, zu zählen. Da standen noch zwei Kinder vor ihm. Sie waren, jedes für sich, nicht bewußt miteinander, hinter ihm hergegangen, bis er hier anhielt. Das eine war ein Bub. Er hatte ein blasses, sommersprossiges Gesicht und ernsthafte Augen, die auf den Orgelkasten blickten, als könnten sie etwas aus ihm herausholen. „Ist es jetzt ganz aus? Ist nichts mehr da drin?“, fragte er und machte ein sehnsüchtiges Gesicht. Der Invalide lachte. „Hast du etwas?“ fragte er zurück. „Es ist schon noch etwas drin, aber nicht für nichts. Hast du Geld?“ Da schoß dem Buben das Blut ins Gesicht vor hilfloser Scham. Er wendete sich ab und suchte in seinen Taschen. Da kamen ein paar alte Brotrinden hervor, ein Stück Bindfaden und ein Stück farbiges Glas. Das Glas hielt er zögernd hin, ohne etwas zu sagen; vielleicht fand es Gnade vor dem Orgelmann, wann er es sah. Der lachte noch viel lauter. „Ha, ha,“ lachte er, „damit willst du mich wohl bezahlen? du Knirps! ha, ha, das ist gut. Du, das kann man nicht essen, das Glas.“ Da kamen dem Buben die Tränen. Er schämte sich so sehr und hätte so gerne noch etwas Musik gehört. Ganz voll Wasser standen seine Augen; da fuhr er sich mit dem Ärmel darüber und schluckte und schluckte. Das kleine Mädchen, das daneben stand, sah es. Es war auf eigene Faust hier heraus gekommen. Aber nun war es plötzlich ganz lebendig dabei. „Warum lachst du so, Mann?“ fragte es zornig. „Jetzt weint er, siehst du’s? Da, so nimm das Bildchen, es ist eine Rose drauf. Jetzt mach’ Musik, du mußt nur da herumdrehen, ich habs gut gesehen.“ Der Junge sah mit Staunen auf die Beschützerin, die ihm so unverhofft erwachsen war. Sie war nicht größer als er, aber viel kecker, so wie Kinder sind, deren fröhliche Zuversicht noch nirgends schmerzhaft beschnitten und zur Schüchternheit herabgedämpft ist. Da kam wieder ein wenig Lebensmut in seine Augen. Der Invalid lachte, daß es dröhnte. Aber es war ein wohlgefälliges Lachen. Mit der Faust schlug er auf die Drehorgel, da erhob sich ein leises Schwirren und Klingen darin. „Friß mich nicht, Kleines,“ sagte er. „Ich werd’ doch noch lachen dürfen. Wenn man bloß noch einen Arm hat und sich sein bißchen Notdurft muß zusammendudeln, und soll nicht einmal lachen dürfen. Was hat man denn sonst, he? Das sag’ mir.“
Sie sah ihn groß an. Einer, der solche Musik machen konnte, und fragte so. „Wo ist dein anderer Arm?“ fragte sie. „Laß einmal sehen, unter dem Kittel.“
„Der? liegt in Frankreich begraben,“ sagte er. „Dort liegt er und ich plage mich hier herum mit dem einen. Wenn das nicht zum Lachen ist, was denn sonst? Den hat mir eine Kugel weggerissen. Aber davon versteht ihr nichts. Oder, versteht ihr das, warum die Leute einander die Arme wegschießen und die Füße, und einander totschießen? Ich meine, Leute, die gar nichts von einander wissen, bloß so von Weitem her; bloß weil ihnen das einer befiehlt? He, versteht ihr das?“
Nein, das verstanden sie nicht. Musik wollten sie hören; das andere, das war ihnen eine dunkle Sache. Arme und Beine wegschießen? Sie waren noch nicht sehr lang in der Gegend, das will sagen, auf der Welt. Es war da noch sehr viel Fremdes, das sie noch nicht kannten.
„Ja so,“ sagte der Invalide. „Ja so, ja, ihr krieget noch ein Lied da heraus; heißt das, das Mädel kriegt eins. Du kannst dich in ein Mausloch hinein schämen, Bub, daß du dich hinstellst und heulst. So, angefangen. Aufgepaßt.“
Da drehte er seinen Handgriff herum und drehte ein Lied heraus. Noch eins. „So, das gefällt euch wohl?“ sagte er, als die Beiden horchten, wie die Mäuse. Sie nickten nur. Es war wohl jetzt unwiderbringlich zu Ende? Denn der Invalide stand auf und hängte sich seinen Kasten um.
„Da müßt ihr eben sehen, daß ihrs auch einmal so weit bringet, als ich,“ sagte er. „Das ist ein feines Leben, das könnt ihr glauben. Seht ihrs, ich habe die Taschen voll Brot. Was will man mehr? So weit könnt ihrs auch bringen.“
„Wir haben daheim den ganzen Laden voll Brot und Wecken,“ sagte der Bub, „und noch Feinbackwerk, so viel, daß mans gar nicht zählen kann.“ Er hatte einen gewaltigen Anlauf dazu genommen, um auch etwas Rechtes zu sagen; da schoß er übers Ziel hinaus und protzte. Das hatte er nicht beabsichtigt.
„Aber ich will auch Musik machen, wann ich groß bin, und dann mach ich so viel Musik, den ganzen Tag, und hör’ nicht immer gleich auf, wie du. Bis ich genug habe, so lang spiel’ ich.“ Da wurde er wieder rot. Denn der Orgelmann sah ihn so spöttisch an, daß er in seine vorige Verlegenheit zurückfiel.
„So,“ sagte er. „Aha. Da ißt du dich zuerst dicksatt und dann, wenn du noch kannst, dann kommt die Musik dran. Aha. Da setzst du dich wohl an den Backofen dazu? Bis du genug hast, so lang tust du das alles? Du Teigprotz.“
Ganz erstaunt sahen ihn die Kinder an. Da kam solch ein verbissener Grimm heraus. Sie faßten einander an der Hand. Sie verstanden nicht, daß behagliche Sattheit und ein geruhlicher Sitz in der Ofenwärme dem landfahrenden Mann ein Paradies war, in das er nie gelangen konnte, und daß seine Grobheit unwillige Bewunderung des Versagten sei. Es paßte nicht zu dem lustigen Gesicht, das der Invalid den ganzen Morgen gemacht hatte. Es war wie einer der schrillen, gellenden Nebenaustöne, die seine Orgel oft mitten in eine heitere Melodie hineinwarf. Aber die Kinder verstanden diesen Ton aus einer fremden, düsteren Welt nicht. Sie kehrten still um und ließen ihre Hände ineinander und sahen sich nur noch einmal schüchtern nach dem Mann um, wie er davonstapfte zwischen den hellbegrünten Hecken und immer noch den Kopf schüttelte und einmal mit dem Fuß aufstieß, daß der Kasten schütterte.
„So, jetzt laß ihn,“ sagte Gertrud, da der Bub blaß und still neben ihr hertrottete. „Jetzt gehen wir heim; meine Großmutter wartet. Hast du auch eine Großmutter? Dann sagst du’s ihr, das von dem Mann.“
„Nein,“ sagte er; „eine Großmutter? Nein.“
Er war kein Prahlhans. Es war ein schüchternes Kind, und hatte allen Mut zusammengenommen, um sich auch an der Unterhaltung zu beteiligen. Die Musik und das kecke kleine Mädchen hatten ihn so kühn gemacht. Nun war er gewaltig aus dem Sattel geworfen.
„Aber einen Großvater, das hast du doch?“ sagte Gertrud. Sie sagte es sehr eindringlich, denn es war ihr unbehaglich, zu fühlen, daß solch etwas durchaus Nötiges in irgend einem Leben fehle.
„Nein,“ sagte der Bub noch einmal. „Einmal, da habe ich einen gehabt, aber das ist schon lang. Da war ich noch ganz klein. Der ist gestorben.“ Es war eine durchaus kühle Mitteilung.
„Hm,“ sagte Gertrud, (das hatte sie von dem Rektor Cabisius aufgeschnappt), „gerade wie mein Vater und meine Mutter. Die sind auch gestorben, wie ich noch klein war. Sie sind im Himmel. Meine Großmutter hat’s gesagt.“
Und auch das war ohne Trauer ausgesprochen. Es fehlten zwei gute, starke Ringe an der Kette, die das Kind mit dem Leben verband. Aber es war darum nicht in steuerlosem Nachen auf der See, es war nur um so fester an das vorige Glied angebunden.
Die zwei Alten standen unter der Gartentür, als die Kinder herankamen, denn der Rektor war inzwischen aus der Schule heimgekommen, und nun mußte er mitanhören, daß das Kind anfange, auszureißen und daß er wohl ein wenig Schuld daran sei. Das Keckliche, Ungebundene, sagte die Großmutter, das habe es von ihm. Und er ließ das über sich ergehen mit seinem guten, stillen Lächeln. Da kam die Erwartete um die Ecke und zog den kleinen Buben mit sich. „Großvater,“ sagte sie, „du mußt ihm auch noch Musik machen, noch schönere, als der Orgelmann. Er hat keinen Großvater und niemand.“
„Was?“ sagte der Rektor, „niemand? Bist du nicht ein kleiner Ehrensperger? Gehörst du nicht dem Bäcker drüben am Marktplatz? Was faselst du da, Gertrud?“
Da trat seine Frau dazwischen. „Nein, laß nur, Mann,“ sagte sie, und war ganz Güte und Mütterlichkeit, „es ist doch ein armes Kind, das weiß ich. Er hat eine Mutter und doch keine. Er hat nicht umsonst solch ein freudloses Gesicht.“
Wißt ihr, wie das ist mit der Liebe? Das ist wie mit dem Apfelbaum im Garten der Frau Holle, der stand und rief: „Pflücke mich, pflücke mich, meine Äpfel sind alle miteinander reif,“ und als das Kind kam und anstieß, da rollte ihm der schwere Segen in den Schoß.
So schwer von Reichtum und Früchtesegen steht ein liebereiches Herz, und wartet, ob nicht irgend eine Leere sei, in die es seine Fülle gießen könne, und ist noch dankbar und froh, daß es wieder Raum gewinnt zu neuen Trieben. Sie hatten schon so vieles aus ihrem Leben hingegeben, das sich hatte von ihnen lieben lassen, die beiden alten, jungen Leute. Und da noch quellendes Leben in ihnen war, das lieben mußte, so kam das den anderen zugute.
Ich will nicht hoffen, daß irgend jemand absprechend den Kopf schüttelt, wann von dem warmen, weiten Herzen der Frau Rektorin die Rede ist. Etwa, weil er ihr den kleinen Hochmutsanfall vom vorigen Kapitel stark ins Wachs gedrückt hat. Trug nicht der große, alte Zwetschgenbaum in meiner Großmutter Garten alljährlich außer den süßen Früchten eine Anzahl aus der Art geschlagener merkwürdiger Knorpeln, die wir „Zwetschgennarren“ nannten? Und verspeisten wir diese säuerlichen Dinger nicht mit besonderem Behagen als eine heitere Merkwürdigkeit des Alten, um uns nachher mit umso größerer Lust an die Erzeugnisse seiner besten, süßesten Säfte zu machen?
Lächelte nicht ihr Gemahl selbst sein helles, humorvolles Lächeln zu ihren kleinen Schwächen? Und traute er ihr nicht darum doch das Beste, Reichste zu, das in dem fruchtbaren Boden eines liebreichen Herzens gedeihen kann?
Er aber mußte es doch wohl wissen.
So wunderte er sich denn auch gar nicht, daß sie den kleinen Georg von diesem Tag an ins Herz schloß, und ihm eine Heimat darin schuf. Das begab sich ganz von selbst, es war weiter nicht die Rede davon. Sie hätte sich das Kind nicht ins Haus geholt. Sie wäre nicht hingegangen und hätte gesagt: „So und so. Ich weiß wohl, daß Sie das Unglück haben mit der kranken Frau, Herr Ehrensperger. Schicken Sie mir die Kinder, oder wenigsten den Kleinen, den Georg. Man muß einander beistehen, das ist Christenpflicht.“ Das hätte sie nicht getan. Aber als der ernsthafte Bub’ so unter ihrer Gartentür stand an Gertruds Hand, und nicht recht Leben zeigte, da nahm sie ihn mit hinein. Natürlich. Was denn weiter?
„Der Drehorgelmann hat wahrscheinlich Hunger gehabt, ihr Lämmer,“ sagte sie, „nicht nach alten Brotrinden, die in seiner Tasche waren, sondern nach etwas Besserem, das ihr noch nicht so versteht; da hat er denn so ein wenig gepoltert. Wenn die Leute Hunger haben, darf man ihnen nichts übel nehmen.“ Die Beiden saßen hinter dem Tisch und bissen tief in dickgestrichene Gesälzbrote und nickten einander mit blaurot verschmierten Gesichtern zu, und waren geborgen in einem Hafen, in den weder der eine noch der andere Hunger Zutritt hatte.
Die Alten aber ließen mit Vergnügen ihre reifen Äpfel von den Zweigen fallen. „So, du möchtest gern noch mehr hören, Bub’?“ sagte der Rektor. „Das kann wohl sein.“ Und ging ans Klavier und ließ die Saiten tönen. „Ich hatt’ einen Kameraden,“ spielte er, und behielt dazu die Pfeife zwischen den Zähnen und sah sich drunterhinein nach den Kindern um. „Noch eins, Großvater,“ sagte Gertrud. Da spielte er ein altes Studentenlied: „Es hatten drei Gesellen ein fein Kollegium.“ Und es kam ihn an, daß er die Pfeife neben sich legte und dazu sang.
„Aber Mann,“ sagte seine Frau. „Ist das auch ein Kinderlied?“ Nein, so eigentlich nicht, gab er zu, aber sie hätten doch ihr helles Vergnügen daran gehabt, und ob das nicht genug auf einmal sei?
Sie kam mit Wasser und Schwamm und wusch ihnen die Gesichter ab. Und konnte es nicht lassen, den kleinen Buben in die Backe zu kneifen und nachher sänftigend darüber zu streichen. Es war ihr darum, ihm einen Kuß in sein ernsthaftes Gesicht hinein zu geben. Aber den hielt sie noch zurück. Sie wollte ihn nicht scheu machen. Das Kneifen tat auch heute denselben Dienst.
Es fing etwas an, in dem Kinderherzen auseinanderzugehen. Es war, wie wenn sich ein grünes Blättlein in der Sonne auseinanderwickelt.
Da war früher einmal, als Georg noch auf ungeschickten Füßen von einem Stuhl zum andern trippelte, eine Frau gewesen, die hatte ihn auch gewaschen und auch, — in die Backe gekniffen hatte sie ihn wohl nicht, aber ähnlich mußte es doch gewesen sein. Sie hatte später viel geweint. Es war einmal ein kleines Kindlein dagewesen, das war durch irgend einen Unfall bald wieder gestorben, und sie hatte sich ja wohl die Schuld daran zugemessen und hatte Tag und Nacht geweint. Es war oft laut dabei zugegangen. Das lag alles noch in unklaren Umrissen in dem Gedächtnis des kleinen Buben. Dann war sie eines Tages nicht mehr dagewesen. Das sei die Mutter, sagte Franz, der wußte es noch besser, der war zwei Jahre älter. Dem sagten es auch die Mägde genau. Sie sei hintersinnig geworden, sagten sie, und das sei schlimmer als tot und werde nie mehr anders. Denn sonst könnten sie eine neue Mutter bekommen und damit sei nun nichts. Der Vater sprach nie davon. Er sprach überhaupt selten etwas mit Georg, er wußte nichts mit dem stillen Kind anzufangen. Er tat ihm weder wohl noch weh. Nun war Jungfer Liese da, erst seit kurzem. Die sprach viel und hatte viel an ihm zu hantieren, zu putzen, zu flicken, zu erziehen. Sie hatte sich sozusagen mit aufgestülpten Ärmeln an ihre Aufgabe gemacht. Aber das ließ er so über sich ergehen. Seine Seele, die lag wohl noch in der Knospe, die regte sich nur so hie und da ein wenig. Aber jetzt, heute. Es war ihm so wunderlich zu Mute. Er mochte sich nicht rühren. Es war, als ob sonst alles aus wäre. Darum blieb er ruhig sitzen, bis irgendwo eine Glocke läutete und der Rektor sagte, daß das die Betglocke sei und daß er jetzt nach Haus gehen müsse. „Ja, und morgen kommst du wieder,“ sagte Gertrud, „und morgen komm’ ich wieder,“ sagte Georg, und der Rektor setzte auf dieses Versprechen einen ungeheuren Handschlag. Einen Handschlag, der an Kraft und Wärme alles übertraf, was Georg in den sechs Jahren seines Lebens in dieser Art kennen gelernt hatte und dem er seine kleine, braune Bubenhand und sein ganzes erwachende Ich ohne Widerstand auslieferte.
Es war einmal ein Mensch, der saß ganz im Dunkeln. Er hatte sich ein Haus gebaut und daran die Fenster vergessen; es war ein einfältiger Mensch. Da saß er nun und sann, wie er Licht in sein Haus bringen könne. Denn daß es draußen die Welt erfüllte, das sah er, wenn er unter seine Tür trat. Und er ging aus, nahm einen Sack mit, in den ließ er die Sonne scheinen, dann, als er voll von Licht war, band er ihn zu und trug ihn in sein Haus. So tat er eine lange Zeit und wunderte sich, daß es nicht hell werden wollte, wenn er den Sack aufband und ausleerte. „Es ist noch nicht genug,“ sagte er und ging aufs Neue, Licht hereinzutragen. Es war ein hartes Leben. Es war nur zu ertragen durch die stete Mühe, die er sich machte. Denn die Mühe hat doch immer irgend eine Hoffnung, etwas zu erreichen, sei es noch so wenig.
Da, als er eines Tages lange ausgewesen war, fand er, als er heim kam, die Wände seines Hauses eingeschlagen. Das hatte sein Feind getan. Der hatte ihm einen rechten Schabernack antun wollen. Nun konnte das Licht herein. Es strömte durch das ganze Haus und drang in alle Ecken. Ganz voll von Licht war das Haus. Aber nun war es auch zerstört. „Das schadet nichts,“ sagte der einfältige Mensch vergnügt, „wollen schon ein neues kriegen.“ Von dem neuen Haus ist nichts gesagt. Da wird er ja wohl das Licht hereingelassen haben.
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Es war ein großes, weißes Haus mit unzähligen Fenstern. Es stand abseits von dem Lärm der Gassen. Ein großer, schattiger Garten war rings darum her; die alten, hohen Bäume reichten mit ihren obersten Zweigen bis an das Dach. Aber es ging ein hoher, eiserner Zaun um den Garten; an der Eingangspforte war ein Wächter und er ließ nur hinein und heraus, wen er des Ein- und Ausgangs für berechtigt hielt. Die Fenster waren vergittert. Es waren Gefangene des Geistes, die in dem hohen Hause wohnten, Leute, die in irgend einer Art im Dunkel tappten. Sie konnten sich oder andere stoßen, wenn man sie draußen in der Weite gehen ließ. Darum hielt man sie hier verwahrt. Es war wohl der eine und der andere darunter, der nur für eine Zeitlang hier Zuflucht suchen mußte, der, so hoffte man, bald wieder hinaus konnte in das freie Licht. Aber es waren ihrer mehr, hinter denen sich das eiserne Gittertor für immer geschlossen hatte. Was man so menschlich „immer“ heißt, die Spanne Zeit, von der ein alter Dichter sagte, daß sie „dahinfahre wie ein Rauch“. Es ist nicht so weit her mit dem „immer“ eines Menschenlebens. Aber es kann doch lang währen, für den, der wartet, bis eine Zeit um die andere verstreicht, in Not der Gegenwart und Angst vor dem Künftigen.
Es war wohl viel Angst und Not in den Gemächern des Hauses. Wache, helle Pein, die sich ihrer bewußt war, und die zu Zeiten ihr Elend in lauten, starken Tönen hinausschrie, als ob es die Tür des Himmels aufstoßen müßte; dumpfe, unklare Angst, unter der sich der Geist wand, der aufwachen wollte und nicht konnte. Lächelndes, blödes Elend, das seiner selbst vergessen hatte und mit der Not spielte, wie das Kind, das in der Wolfsgrube saß unter jungen Wölfen und sie mit dem Löffel aufs Maul schlug im Spiel: „Geh weg, oder ich geb’ dir eins.“
Man kann nicht sagen, daß eins oder das andere das größte Elend von allen sei. Man darf wohl die Augen aufheben und sagen: „Sondern erlöse uns von dem Übel.“ Es ist gut, es ist wohl gewiß gut, daß das „für immer“ eines Menschenlebens nicht gar so lang währt, wenn man das betrachtet.
Da war eine Frau, eine von denen, die keine Aussicht hatten, wieder mit hellen Augen durch die Welt zu gehen. Sie war noch jung; es sollte noch ein langes Leben vor ihr liegen, wer konnte das wissen? Als sie hereingebracht worden war, hatte sie immer in die dunkelsten Ecken gesehen, ratlose Angst im Gesicht, und hatte geweint und gewimmert. „Nein, es ist nicht tot. Laßt es mich noch einmal versuchen, nur noch einmal. Ich kann nichts dafür. Nein, ich kann nichts dafür. Kann auch ein Weib ihres Kindes vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?“ Ihre Reden und ihre Gedanken gingen durcheinander. Die Krankheit hatte sich in das Gewand der Schuld verkleidet. Die saß nun neben ihr und sah sie starr an und sagte: „Das war wohl so: du warst in der Backstube, als das kleine Kind so allein in dem großen Bett lag. Das war dir wohl wichtiger, daß das Geschäft blühe? Du hattest es wohl so eilig mit dem Reichwerden? Da schrie das Kind, und kam ins Ausgleiten, das arme kleine Ding. Und kam unter das große Deckbett. Da erstickte es. Das war zu spät, daß du es aufhobst und all’ die Mühe daran wandest, ob es nicht wieder erwache. Du hättest bei ihm bleiben sollen. Was? Das litt der Mann nicht? Das Gepimpel mit dem Kleinen, sagte er? Ist er die Mutter oder du?
Es war auch noch nicht getauft, nicht wahr? Es war doch schon acht Wochen alt? Ihr hattet keine Zeit, weil Ostern so nahe war und Konfirmation und sonst noch allerlei Festliches; da blühte das Geschäft. Das ging ja vor, natürlich, man konnte es später taufen. Dazu ist es nun viel zu spät. Man kann nicht wissen, kein Mensch weiß, was aus dem kleinen Seelchen geworden ist. Und du bist schuldig. Doch, das bist du.“
So redete die Krankheit, die in dem Gewand der Schuld mit der jungen Frau hier hereingekommen war. Da schloß sie die Augen, um sie nicht zu sehen. Aber das nützte nichts. Sie drang auch durch die Lider. Sie war überall und immer wach. Es war ein dunkles, dunkles Haus, in dem die Frau saß. Da schickte sie ihre irren hilflosen Gedanken aus, um etwas Licht hereinzubringen. Aber sie verstanden es nicht. Einer kam und sagte: „Irgendwo ist Gott, du mußt beten.“ Der wußte, daß ein Licht sei. Aber er konnte es nicht hereintragen. Da fing die Frau an: „Wenn wir in großer Angst und Pein, und wissen nicht wo aus und ein, und finden weder Hilf noch Rat“; da gingen alle ihre Gedanken rundum und wußten immer nur bis zu dieser Stelle zu sagen. Das währte eine lange Zeit. Da fand sie eines Morgens die Wärterin, wie sie ein kleines Bündel aus Tüchern sorgfältig zusammenwickelte und es an die Brust drückte. „Schlaf, Kindlein, schlaf,“ sang sie leise. Das tat sie nun immer. Sie ließ das Bündel nicht mehr aus den Armen, niemand durfte es berühren. Seitdem weinte sie nicht mehr. Sie sang und lächelte, und trug das Bündel umher. Wenn sie nicht hie und da mit großen, suchenden Augen, wie in sich selbst hineinschauend gestanden wäre, so hätte man nun denken können, sie habe es aufgegeben, nach Licht auszugehen. Aber auch das kam nur noch selten vor.
Da, nach Jahren, kam einer mit einer blanken Axt, der hatte den Auftrag, ihr die Wände ihres dunklen Hauses einzuschlagen. Er zerstörte es nicht ganz und gar auf einen Hieb. Er stieß ein Loch hinein, da flog viel Staub und Lehm und Mörtel davon, und etwas Helle kam zu dem Bewohner herein. Dann wartete er ein paar Tage. Er war kein Feind, er handelte, wie schon gesagt, im Auftrag, und nun sollte er seinen letzten, stärksten Hieb noch sparen. Vielleicht wäre das Licht sonst gar zu blendend gewesen, wer kann das wissen? Also wartete der Tod noch. Es kam eine Krankheit an die junge Frau, eine von denen, die man eine Erlösung nennt, weil sie rasch und sicher die Körperkraft aufzehren, und ein sanftes Ende der Pein bringen. Sie hatte ein paar Tage im Fieber gelegen und fast nichts geredet. Nun schlug sie die Augen auf; es war mitten in der Nacht. Oder, es ging schon etwas gegen den Morgen hin. Das Fenster stand offen. Draußen in den Bäumen wehte ein sachter Wind, sie rauschten leise. Die Welt lag in tiefem Schlaf, es war ganz still ringsum. Die Kranke hob den Kopf ein wenig und wandte die Augen nach dem Fenster. Da stand der Morgenstern hoch am Himmel über den Baumkronen. Die waren in tiefem Schatten, oben aber leuchtete in der fast durchsichtigen Glocke des Sommernachthimmels der Stern in wunderbarem Glanz. Den hatte sie lang nicht gesehen. Sie hatte in den trüben Nächten ihrer Krankheitsjahre keine Augen für die Schönheiten der Welt gehabt; sie hatte immer ins Dunkel gesehen.
Sie strich sich über die Stirn. Da war so etwas Freies. War da nicht ein Band gewesen? Wo mochte das hingekommen sein? Wer war sie, und wo?
Da sah sie das Gitter am Fenster; hinten in der Stube brannte ein kleines Nachtlicht, nur eines Funkens groß. Aus dem anstoßenden Gemach, dessen Tür offen stand, verkündeten kräftige Atemzüge, daß dort jemand schlief, das war die Wärterin. Auf dem Stuhl am Bett lag ein Paket, aus Tüchern zusammengebunden, mit einem Band umwickelt. Da kamen ihr die Gedanken wieder, schreckhaft und schwer. Aber doch anders, als seit langem. Sie griff nicht nach dem Bündel. Die Furcht, die ihr ans Herz kroch, war die Furcht vor etwas Gewesenem. Ob es vorbei war? Ob das abziehende Schatten waren, die wie wogende Nebel durch ihren Kopf zogen? Abziehende und nicht kreisende, die nur einen Augenblick frei ließen, um dann wieder desto fester einzuziehen? Wie war das nur? Sie war so müde, sie konnte kaum eine Hand rühren. Aber als sie so hinaussah in die stille Sommernacht, und das milde Licht des Sterns auf ihr Lager fiel, da versuchte ihr Geist, sich zu regen. Man weiß nicht, was sie erlebte, bis der Morgen kam. Der Arzt sagte, als er die Veränderung sah, das sei von dem Fieber. Aber, sagte er draußen, das helfe nun nichts, denn die Lebenskraft sei am Erlöschen. Das sei hie und da, daß solch ein heller Schein komme vor dem Ende. Denn sie lag mit einem stillen, sanften Gesicht da, und in den Augen war geistiges Leben, kein irres Flackerlicht mehr. Und sie hatte vorhin gefragt, wie das denn sei, sie habe doch zwei kleine Buben, und, nach einigem Zögern, und einen Mann? Die lebten ja doch noch? Und klagte, mit einem Lächeln, das wie um Entschuldigung bittend war, daß sie sich auf nichts recht besinnen könne, ihr Kopf sei so müde. Da ging der Tag so hin, und gegen den Abend sagte sie, schüchtern wie ein Kind, das zaghaft eine Bitte tut, von der es denkt, daß sie ungeheuer sei, — ob das denn möglich wäre, daß die Ihrigen herkämen? Oder ob das gar zu weit sei? Denn sie wußte nicht recht, ob sie in der gleichen Welt lebe mit denen, nach denen ihr aufwachendes Ich mit seinen ersten Regungen verlangte.
Ja, sagte man ihr, das könne freilich wohl sein. Gut könne das sein, sie solle ruhig einschlafen und morgen werden sie wohl da sein, denn es gehe heut in der Nacht noch ein Brief ab.
Den folgenden Tag haben die Ehrenspergerskinder mit allen Einzelheiten im Gedächtnis behalten. Es war der Feiertag Petri und Pauli, und sie zogen so recht in der Morgenfrische aus, um den Kirschbäumen in der Wingerthalde einen Besuch zu machen. Jungfer Liese sah ihnen mit Behagen nach. Sie hatte beiden Brüdern tags zuvor das Haar glatt abgeschoren und sie heute, den Kirschbäumen zulieb, in verwaschene Drilchkleider, mit neueingesetzten Ellbogen und Hosenböden gesteckt. Es rührte sie in ihrem eigenen Busen, daß sie dem Herrn Vetter, der ja ihr Nächster unzweifelhaft war, so getreulich „sein Gut und Nahrung helfe fordern und behüten“. „Denn,“ sprach sie zu sich selbst, „wo viel ist, will mehr hinkommen,“ und meinte damit die Ehrenspergershabe, deren Vermehrung sie mit erbautem Gemüt zusah. Sie glaubte nicht befürchten zu müssen, daß ihr dieser erfreuliche Lebenszweck abhanden komme, auch nicht im Fall, daß, wie sie sagte, „unser Herrgott nun richtig ein Einsehen habe, wie das ja an der Zeit sei mit der Frau.“ Denn der Herr Vetter war allmählich ein bißchen bequem, und ein bißchen sehr korpulent geworden, und er ließ sich die brave Fürsorge der Jungfer Liese sowohl für sich selbst als für sein Haus immer behaglicher gefallen. Es muß bezeugt werden, daß sie nicht daran dachte, die Nachfolgerin der ersten Frau zu werden. So hoch verstiegen sich ihre Gedanken nicht. Das wäre ja außer aller Standesordnung gewesen und solche Durchbrechung der bürgerlichen Schranken begehrte sie nicht für sich. Auch war ihr jüngst der letzte breite Schaufelzahn, der noch ihren Oberkiefer geschmückt hatte, entfallen. Das gemahnte ans Altwerden, wie das fallende Laub an den Winterschlaf der Natur. Es sollte ihr lieb sein, wenn alles seinen Gang weiterging, und daß das geschehe, hoffte sie mit Zuversicht.
So waren die Gedanken, die sie den Söhnen des Hauses nachsandte, freundlicher und gedeihlicher Art und kamen auch nicht ans Stocken, als an der Ecke noch Gertrud und Lore sich zu den Beiden gesellten. Warum sollten sie sich nicht Gesellschaft mitnehmen? Die Kirschbäume standen zum Brechen voll, es kam auf ein paar Spatzen mehr oder weniger nicht an. Als die leuchtenden blaugrauen Flicken, das Werk ihrer Hände, verschwunden waren, kehrte sie ins Haus zurück.
Es führte ein steiler Weg zwischen Weinbergen zu der sonnigen Höhe empor, auf der das Baumgut lag. Georg wußte später noch genau, als ob ihm das lebendige Bild vor der Seele stünde, wie ihnen beim Aufsteigen die hellroten Herzkirschen aus dem grünen Laub entgegenleuchteten, gleich einem freudigen, ersprießlichen Lebenszweck, der dem Wanderer zuruft: „Hoch, immer höher, Mühe ist nichts, Schweiß ist nichts, denn hier bin ich, hier oben. Nun komm.“
Das und anderes gehörte für ihn zu dem Inhalt des Tages, der ihm in seinem Verlauf noch einmal und dann nicht wieder seine Mutter zeigte und der ihm darum kostbar vor andern Tagen war. Er konnte es die wenigen Male, die er in seinem Leben davon redete, nur schwer unterdrücken, alle Einzelheiten dazu zu erzählen.
Er mußte von diesem Tag zehren, so oft sein Herz zu seiner Mutter wollte. Da konnte er nichts entbehren, was damit zusammenhing.
Zwei Handwerksburschen ließen sich aus dem Geäst des Schwarzkirschenbaumes fallen, der weiter hinten, dem Waldrand zu, stand, als sie die Kinder kommen sahen. Vielleicht vermuteten sie ein Gefolge von Erwachsenen hinter ihnen. Da verlor einer von ihnen beim Herabgleiten seinen einen durchlöcherten Stiefel, der ihm schlapp genug um den Fuß gehangen haben mochte. Den warfen sie ihm in hellem Mutwillen nach. Dann ging es über die Kirschbäume her. Lore blieb unten stehen und zog, auf den Zehenspitzen stehend, einen niedrig hängenden Zweig um den andern zu sich heran, um ihn abzuernten. Dann setzte sie sich in den Schatten und wartete, bis ihr die andern hie und da eine Handvoll Kirschen ins Gras warfen. Es lag von Anfang an nicht in ihrer Art, auf Bäume zu steigen. Gertrud saß oben in dem großen Herzkirschenbaum, Georg gegenüber. Hoch über ihnen beiden kletterte Franz in den äußersten Zweigen, wo die süßen Früchte in der Sonne kochten. „Du,“ sagte Georg unter’s Essen hinein, „muß dir was sagen. Meine Mutter ist krank, anders, weißt du, als vorher. Sie liegt im Bett und hat immer die Augen zu. Jungfer Liese hat’s zur Frau Metzger Konz gesagt. Vielleicht stirbt sie; wahrscheinlich stirbt sie, hat sie gesagt.“ „Wie die meinige.“ Gertrud nickte sachverständig. „Guck’ einmal, da sind lauter Zwillingskirschen, die kann man sich an die Ohren hängen. Streck’ mir deinen Kopf herüber, so, noch ein bißchen näher, jetzt hast du Ohrringe. Wart’ einmal, ich hänge mir auch an.“ Da fing sie an zu lachen. „Weißt du, wer wir jetzt sind? Der Kaufmann Henne und seine Frau. Guten Morgen, Mann. Du, weißt du, warum die immer so große goldene Ohrringe tragen, er und seine Frau und seine Söhne, und glaub’ ich noch die Magd? Soll ich dir’s sagen? Ich weiß es von Frau Judith; aber man weiß nicht, ob es auch so ist. Also: da war einmal einer von ihnen, glaub’ ich, sein Großvater, der war so krank, daß ihm kein Doktor mehr helfen konnte; er mußte bald sterben und das wollte er noch nicht. Da ging er in den Wald und setzte sich unter einen Baum und seufzte ganz laut und sagte so vor sich hin: „Wenn es doch nur etwas gäbe, das mir die Krankheit aus dem Leibe zieht. Da stehen die Kräuter um mich herum und sind stark und frisch. Wer weiß, was sie für Kräfte haben? Warum muß ein Mensch krank sein? Das ist etwas Fremdes, Böses. Das ist wider die Natur.“
Da regte sich etwas neben ihm, und was er für eine große Baumwurzel gehalten hatte, war ein altes Männchen. Das stand auf und stellte sich vor ihn hin und sagte: „Da hast du recht. Krank sein muß einer nicht. Aber die Kräuter tun’s nicht. Da hilft nur das lautere Gold, das ganz tief aus der Erde kommt.“ Da griff es in seine Kitteltasche und holte ein paar große, goldene Ohrringe heraus. „Die mußt’ du in den Ohrläppchen tragen,“ sagte er. „Die ziehen dir die Krankheit aus dem Leibe. Das reine Gold verzehrt alle bösen Säfte.“
Der alte Kaufmann Henne besah sich die Ohrringe. Sie waren groß und schwer, kein Mensch trug solche. Was würden die Leute sagen zu dem sonderbaren Schmuck? Aber das war ja doch einerlei. Wenn man darum gesund wurde. Da stach er sich Löcher in die Ohren und hängte die Ringe hinein. Und, sagte Frau Judith, dann sei er ganz stramm und aufrecht nach der Stadt zurückgekehrt und habe noch lang gelebt.
Seither müssen alle Hennes solche Ringe tragen. Zuerst, wenn sie geboren werden, kleine, und dann immer größere. Wenn einer stirbt, begräbt man seine Ohrringe besonders in der Erde. Ein Jahr lang, dann sind sie wieder zu gebrauchen, dann hat die Erde alles angezogen. Da war eine Tochter von dem vorigen Henne, die wollte nicht anders sein als andere Leute und hängte sich die Ohrringe aus, wenn sie aus dem Haus ging. Die wurde krank und starb.“
„O du,“ sagte Georg, „die wäre wohl ohnehin gestorben.“ Er nahm sich den hängenden Schmuck von den Ohren und aß ihn auf. Er war ihm nicht mehr recht geheuer. „Das ist wohl nur so eine Geschichte.“
„Was für ein Unsinn,“ sagte Franz, der auch zugehört hatte, „damit ist gar nichts anzufangen. So ist’s: Als der alte Henne, der vorige, das Haus baute, da drang das Grundwasser vom Stadtbach her in den Keller. Da war alles feucht im Haus und sie kriegten alle miteinander entzündete Augen, nur der Knecht nicht, der hatte kleine, goldene Knöpfchen in den Ohren von seinem Taufpaten her.
Da sagte der alte Henne: „Ist wenig Gold gut, so ist mehr besser,“ und ließ gleich für die ganze Familie Ringe machen, wie ein guter Schlüsselring in der Größe. Da wurden sie gesund, und jetzt ist das Haus lange trocken, aber jetzt sind sie’s gewöhnt.“ „Ja, und wenn sie einer ablegt, dann zieht ihm irgend was aufs Herz. Die Entzündung,“ sagt Jungfer Liese, „und dann stirbt er.“
„Ach, das ist ja einerlei,“ sagte Gertrud. „Das sind alles so Geschichten. Willst du gleich die Steine heraustun, Franz! Wenn man einen Kirschenstein schluckt, wächst einem ein Baum im Magen. Der zersprengt einen, dann muß man sterben. Das sagt Frau Judith.“
„Ach, immer mit eurer Frau Judith. Immer mit eurem Sterben.“ Franz war ein bißchen erschrocken. Da tat er ärgerlich: „Wenn ihr sonst nichts wißt.“
„Die Mutter muß auch,“ sagte Georg. Das ging ihm heute so neben allem her. Nicht als Schmerz gerade. Er war jetzt zehn Jahre alt und als sie von ihren Kindern ging, in das dunkle Haus ihrer Seele, da war er erst zweijährig gewesen. Die paar schattenhaften Züge, die noch von ihr in seinem Herzen lebten, waren immer blässer geworden. Da hatte er angefangen, sich ein neues Bild von ihr zu schaffen; abends, wenn er im Bett lag. Das bekam von ihm alle schönen freundlichen, starken und liebenswerten Züge zugeteilt, die er irgend an andern Menschen sah. Aber auch die Menschen seiner Umgebung arbeiteten an dem Bild, und fügten traurige, mitleidenswerte, grausige und sogar schuldige Züge hinzu. Da mit einem Wort und dort mit einem. Das gab eine Mischung von Wonne und Grausen in die Gedankenwelt des kleinen Buben hinein. Es war nur ein Traumbild, das ihm sterben wollte. Aber es war ihm nun doch, als ob er nie mehr abends unter der Decke seine stillen Fäden in Furcht und Liebe zu diesem Bild hin spinnen könne. Es gab doch auch eine Leere. Er wußte nichts, das an dessen Stelle treten könne. Er konnte mit niemand davon reden; am Tag dachte er auch nur selten daran; nur heute ging der Gedanke so mit ihm. Darum fing er immer wieder davon an.
„Das kann man noch nicht wissen,“ sagte sein Bruder Franz. „Wir müssen noch Kirschen brechen zum Heimbringen. Gib einmal den Korb herauf, Lore.“
„Lore! Die schläft ja wohl?“ Nein, das tat sie nicht. Sie hatte sich aus den trockenen, harten Kirschen eine breite, prächtige Halskette gemacht, immer einen Stiel neben den andern mit rotem Garn gebunden. Die hatte sie nun umgehängt, gerade als sie gerufen wurde. Das mußte zuerst in Ordnung sein.
„Da,“ sagte sie dann. „Nein, ich schlafe gar nicht. Guckt einmal. Bin ich nicht schön?“ Sie stellte sich auf die Fußspitzen und drehte sich einmal im Kreise.
Doch, das war sie. Das sahen auch die anderen. Wie die roten, schimmernden Früchte um den weißen Hals lagen, der, gleich den Armen, entblößt war; wie die losen, rotblonden Haare auf das hellblaue Kleidchen fielen. Nein, sie wußten nicht so recht, warum Lore schön sei; sie fühlten es mehr. Sie war solch ein kleines, feines, leichtes Ding. Es tat nichts, daß sie in der Schule selten etwas recht konnte, und auch nicht, daß sie bei den Spielen immer zimpferlich tat. Sie mochten sie doch gern dabei haben. „Wißt ihr was?“ sagte Franz einmal, „zum Wegblasen ist sie. Wie Mehlstaub ist sie,“ sagte er und wählte den Vergleich aus seinem künftigen Handwerk, „man muß nur blasen, dann fliegt sie.“ „Nein,“ sagte Georg, „wie ein Löwenzahnstengel; wenn man bläst, fliegen die Samen hinaus, und so fliegt ihr Haar, aber Lore selber? Die steht doch fest auf den Füßen.“ Er war gründlicher, er konnte nicht recht solch ungenaue Vergleiche leiden.
Franz sah von seinem hohen Sitz aus wohlgefällig auf Lore herunter. „Du Krott,“ sagte er. Das sollte eine Schmeichelei sein; so faßte sie es auch auf. Sie lachte vergnügt und hüpfte ein paar Schritte gegen den Abhang zu. Da sah man den steilen Weg hinunter und weit über das Tal hin. „O,“ rief sie und drehte den Kopf zurück, „da kommt Lude. Der rennt, was er kann. Jetzt ist er an den Staffeln. So rennt kein Mensch sonst den Berg herauf. O, jetzt verliert er seinen Schlappschuh. Schon wieder! Jetzt nimmt er beide in die Hand und läuft in den Strümpfen.“
Lude war der Bäckerlehrling. Es war schon bemerkenswert, daß er es so eilig hatte, er gehörte im gewöhnlichen Leben nicht gerade zu den Hastenden. Er war klein und rund und sah meistens schläfrig aus. Er wollte sicher etwas anderes, als etwa Kirschen brechen.
Ein paar mal stand er still und schnappte nach Luft, dann trabte er vollends weiter den steilen letzten Stich herauf. Nun kam er heran. „Was ist, Lude?“ Sie fragten alle miteinander. Da stieß er unter Pusten und Schnauben heraus: „Heimkommen sollet ihr. Aber schnell; was ihr laufen könnt. Ihr müsset verreisen. Es ist, es ist, da hin, wo, wo die Frau ist. Euer Vater hat schon seine schwarzen Hosen an; er geht auch mit.“
Da waren sie schon vom Baum herunter und rannten davon. Keines von ihnen sagte ein Wort. Was war da zu sagen? Da war etwas zu erleben. Der Vater hatte die schwarzen Hosen an. Und sie sollten dorthin reisen; das war etwas Wirkliches, das war nicht mehr nur Gerede und ausgemaltes Phantasiewerk. „So wart doch, Georg,“ rief Gertrud, als sie den langen Sprüngen ihres Kameraden nicht mehr nachkam; „du rennst auch gar zu arg.“ Da blieb er stehen und sah sich um, aber nur einen Augenblick. „Du gehst ja doch nicht mit,“ sagte er, und dann rannte er weiter, bis ins Tal und bis nach Hause.
Da hatte auch Gertrud ihr Erlebnis des Tages, das sie nicht vergaß. Da war eine Sache, das nur ihn anging, sie nicht, und die sie nicht mit ihm teilen konnte.
Da hatte sie einen schweren Satz aus dem Katechismus des wirklichen Lebens zu lernen. Er handelte davon, daß kein Mensch dem andern überall hin folgen kann und daß man sich darin ergeben muß, zu Zeiten draußen zu stehen, während der andere, mit dem man gleichen Schritt halten möchte, drinnen im Haus ganz allein ein Stück weiter lebt, in Lust oder Leid, oder in Mühe, die beides in sich schließt.
Sie lernte heute nur die äußeren Umrisse davon. Es war schon dafür gesorgt, daß sie später wieder und wieder daran zu lernen hatte. Es war auch für heute ganz genug. Das geht nicht nur so wie eine Kopfarbeit. Sie stampfte mit dem Fuß auf aus einem machtlosen inneren Grimm heraus. Und dann fing sie an zu laufen, daß die Röcke flogen. Nach Haus, nach Haus. Sie wollte nicht so allein zurückbleiben. Lore? ja, die stieg behutsam hintendrein; und oben im Kirschbaum saß Lude, der sich für die vorige Eile durch einen behaglichen Schlendrian und einen Schmaus bezahlt machen wollte. Aber sie war dennoch allein.
Darum lief sie, was sie konnte, daß sie nach Hause kam.
Der Bäcker Ehrensperger hatte nicht nur die schwarzen Hosen an, die dem Lude solchen Eindruck gemacht hatten, sondern auch die Weste und den Rock. Er sah unbehaglich und hilflos genug aus in diesem feierlichen Anzug, der ihm doch von Jungfer Liese als passend und erforderlich für die heutige Fahrt aufgenötigt war. An der Weste hatte sie findig das Rückenfutter auseinandergetrennt; das klaffte nun unter dem Rock; da schlossen vorn die Knöpfe über Brust und Bäuchlein. Aber der Rock. Der war nach allen Seiten hin zu eng. Vorne stand er weit offen. Aber am Rücken und an den Schultern verspürte der Mann ein beständiges Ziehen und Drücken. Ihm war, als knacke da und dort etwas. Das waren wohl die Nähte? Es war ihm unbehaglich zu Mute. Innerlich und äußerlich. Die Reise schuf ihm auch ein Mißbehagen. Er war nicht aufs Absonderliche, Tragische angelegt. Und dies hier war absonderlicher als alles, was er bisher erlebt hatte. Denn hin und her besehen, was sollte er dort? Er hatte immer unweigerlich bezahlt, was die Sache kostete. Aber, noch einmal, persönlich gefragt, was sollte er dort? Es war ihm unzweifelhaft unbehaglich zu Mut. Da war solch’ eine fremde, andersartige Welt; so eine gewisse, geistige Macht, eine düstere, tragische. Es war ihm, als sollte er mit Geistern aus dem Jenseits in Verbindung treten. Wie sollte er sich da benehmen? Was sollte er sagen? Er hätte gern einen tüchtigen Kuchen eingepackt und sich mit dieser Gabe von der persönlichen Verpflichtung gelöst, der er sich unterworfen fühlte. Aber das war ja wohl nichts. Wie hatte es in dem Eilbrief geheißen, der vor einer Stunde in den Vormittagsnicker des Meisters hereingefallen war?
„Ihre Frau, von deren Krankheit Ihnen bereits Anzeige gemacht ist, hat, nicht ganz ungewöhnlicherweise, noch eine fast vollständige Klärung ihrer Sinne erlebt und verlangt in diesem wachen Zustand nach Mann und Kindern. Sollten Sie, wie anzunehmen ist, diesem Wunsch zu entsprechen gedenken, so wird es gut sein, dies unverzüglich zu tun, da die Kranke ihrer Auflösung in den nächsten vierundzwanzig Stunden entgegengeht.“
Diesem Ruf war nicht zu entgehen. Den letzten Wunsch eines Sterbenden muß man erfüllen. Das wurzelt tief im Volk, im Menschen überhaupt. Es ist wohl die unbewußte Hochachtung vor der Majestät des Todes. Der Mensch, der vor solch einem Gegner steht, ist ernst zu nehmen und nimmt sich selber ernst.
Ja, er mußte hin.
Da kamen die Buben an, und bekamen, mitten in der Woche, frische Hemden, und wurden mit den Sonntagsanzügen bekleidet. Und Jungfer Liese ging geschäftig hin und her und steckte ihnen noch ein Extrataschentuch ein. „Ihr werdet’s brauchen,“ sagte sie.
Dann gingen sie zur Bahn und wagten alle drei nicht umzusehen auf der Straße und gingen ungelenk dahin, wie Leute tun, die sich beobachtet fühlen. Denn unter den Türen der Werkstätten, und auf den Hausstaffeln, und unter den Fenstern erschienen die Nachbarn und stießen einander an und flüsterten vernehmlich: „Da gehen sie. Es ist eine Erlösung. Es ist eine Wohltat, daß die Frau stirbt. Aber hinreisen? Da können sie etwas Schönes erleben. Nicht für hundert Mark in so ein Haus.“ Und die andern sagten: „Da können sie nicht anders. Es stirbt eins nur einmal.“
Durch das Getuschel hindurch gingen die drei, mit verlegenen Gesichtern, und waren froh, als sie in der Bahn saßen.
Sie sprachen unterwegs nicht viel miteinander. Hie und da fing einer der Buben etwas an. Aber der Vater gab nicht recht Antwort. Wie mochte sie aussehen, seine Frau? Was konnte sie mit ihm reden wollen? Er hatte sie einst gern gehabt; sie war ein feines, blühendes Mädchen und eine fleißige, rührige, mütterliche junge Frau gewesen. Aber als das Unglück geschah und dann die Krankheit kam, ja, er hatte ihr wohl so ein bißchen Vorwürfe gemacht damals; („das hätte ein anderer auch getan,“ dachte er), da hatte er nichts mehr mit ihr anzufangen gewußt. Seitdem war sie ihm wie gestorben. Und nun lebte sie noch einmal auf und wollte mit ihm reden.
Das ging rundum mit ihm. Da konnte er nicht auf die Fragen seiner Söhne hören.
Und als, kurz vor dem Eintritt durch das eiserne Tor, schon das Haus mit den Gitterfenstern vor Augen, Franz seinen Rockflügel ergriff und sagte: „Könnte ich nicht lieber draußen warten? Ich, ich möchte lieber nicht mit hinein,“ da kam es ihm vor, als ob die Kinder doch wohl nicht recht auf den Besuch bei ihrer Mutter vorbereitet seien.
Und er wollte noch rasch seiner Pflicht Genüge tun, als Mann und Vater, und gab seinem Lieblingssohn, obgleich er ihm seinen Wunsch mehr als nur nachfühlen konnte, eine Ohrfeige, daß ihm der Hut aufs Pflaster fiel, und sagte: „Was? Draußen bleiben? Das könnte dir passen. Du gehst mit hinein, sag’ ich und besuchst deine Mutter, wie sichs gehört. Bleib’ ich vielleicht draußen?“ Und er fühlte sich nach dieser Tat und Rede sicherer und erhobener als zuvor.
Da schritten sie miteinander durch das Tor und gingen über Treppen und lange Gänge, und hörten unterwegs allerlei Töne, die sie nicht verstanden und die ihnen Herzklopfen machten, weil sie nicht wußten, von welcherlei Wesen sie kamen. Und dann tat sich ihnen eine Tür auf; helles Licht kam durch das breite, geöffnete Fenster in den Raum, den sie betraten; und Georg Ehrensperger, der Jüngste, der von allen Dreien am meisten mit Herz und Sinnen dabei war, dachte mit Staunen, daß Meister Nössel, der Flickschneider auf dem Turm, nichts Rechtes gewußt habe.
Denn er hatte gesagt, daß die Mutter im Dunkeln sitze und warten müsse, bis ihr Gott das Licht wieder anzünde.
Und hier war helles Licht.
Oder? Oder war das bereits wieder angezündet?
Aber es war helles, gewöhnliches Tageslicht, solches, in dem alle Menschen wandeln. Es war gar nichts Absonderliches dabei.
Auch die Frau, die in den weißen Kissen ruhte und ihnen entgegensah, war weder so besonders schön noch so besonders schrecklich, wie das abendliche Phantasiegebild, das die Stelle einer Mutter bei ihm vertreten hatte, wechselsweise gewesen war.
Sie hatte ein weißes, sanftes Gesicht, und Augen, in denen das ganze Leben zusammengedrängt schien, suchende, bittende, hungrige Augen; man wußte nicht, ob sie lachen oder weinen, sich fürchten oder sich freuen wollten. Es war wohl das alles miteinander, und löste sich in raschem Wechsel in ihrer Seele ab. Sie hatte gescheiteltes Haar; links und rechts hing ihr eine Flechte davon über die Schulter und lag auf ihrer Brust, blond und silbern gemischt und verlor sich unter der Bettdecke.
Die Hände hatte sie schwer auf der Decke liegen; da hob sie mit Mühe eine davon zum Willkomm, und ließ sie wieder fallen. „Da seid ihr,“ sagte sie. „Das seid ihr? ach!“ Denn sie hatte kleine, zwei- und vierjährige Kinder verlassen. Die waren ihr wieder ans Herz getreten, als ihr Ich zu sich selber kam. Nun standen ein paar sonnverbrannte, halbwüchsige Buben an ihrem Bett, und traten näher, als ihnen ihr Vater einen kleinen Puff von hinten her gab, und machten verlegene Gesichter.
„Grüß Gott,“ sagte der Kleinere und sah sie so von unten herauf an. Da fand er, daß hier nichts zu fürchten sei, und daß er schon lang mit dieser Frau zusammengelebt habe, irgendwie und wo. Und auch, daß sie sowohl mit Frau Judith, als mit der Rektorin Cabisius irgend eine Ähnlichkeit habe; er besann sich nicht, welche, er fühlte sie nur. Vor denen aber war er längst nicht mehr scheu. Da war er es auch vor ihr nicht mehr. „Ich glaube doch,“ sagte er später, als er sich selbst besser verstand, „ich glaube doch, daß mir damals einen Tag lang meine Mutter gehört hat, wie eine Mutter ihrem Kind gehört, und ich auch ihr.“
Denn es währte an jenem Tag nicht lange, da saß Georg auf dem Bettrand und hatte seine rauhe Bubenhand in die feine, weiße, heiße Hand seiner Mutter geschoben. Und sie holte die eine und andere Frage aus sich heraus, Fragen, wie ein Kind sie tut, und sah ihn an, als trinke sie etwas Langentbehrtes, Frisches aus seinem Gesicht und aus seinen Reden.
Der Bäcker Ehrensperger war froh, daß er nicht viel zu sagen brauchte. Sie waren Beide etwas hilflos, als sie versuchen wollten, einander ein Wort zu sagen. Die Frau bekam einen Augenblick eine heiße Röte in die Wangen; er war ihr fremd geworden, er war wohl nie so recht ein Teil ihres Wesens gewesen. Da setzte er sich auf einen Stuhl, der am Fenster stand und sah mit Erleichterung, daß Georg die Sache in die Hand nahm. Er ertappte sich nach einer Weile darauf, daß er die Daumen umeinander drehte. Das war ihm so zur Gewohnheit geworden; so oft er in Ruhe dasaß, tat er so. Da hörte er erschreckt auf; es war wohl nicht passend heute. Aber nach ein paar Minuten fing er wieder an. Die Uhr auf dem Türmchen, das zwischen den Bäumen herausblickte, zeigte auf ein Uhr. Da stand er auf und sagte, er wolle mit den Kindern gehen, etwas zu essen. Franz griff nach seinem Hut, er war mehr als Georg Fleisch von seines Vaters Fleisch; er wußte hier auch nicht recht etwas anzufangen. Georg rührte sich nicht. „Laß mich da,“ sagte er. Da leuchtete aus den Augen der blassen Frau ein Strahl, als ob ein helles Licht sich darin spiegele, und sie drückte in ihrer Schwachheit leise die Kinderhand, als ob sie sie festhalten wolle für immer. Ihre Gedanken gingen wohl nicht weit hinaus. Jetzt war immer.
Da ließen sie ihn sitzen und gingen.
Sie kamen lang nicht wieder.
Als sie wiederkamen, hatte Georg eine kleine Mundharmonika an den Lippen, die er meist in der Tasche bei sich trug. Er blies darauf, weich und sachte, als ob er fühle, daß hier herein keine lauten Töne paßten. Es war keine eigentliche Melodie, es war nur so ein Tonreigen, nicht tonreicher, als das Geplätscher eines Bächleins ist. Aber sie waren froh dabei, beide.
„Willst du wohl?“ sagte der Vater, „das fehlte noch, Musik machen.“
Da lächelte die Kranke. „Nein, laß ihn,“ sagte sie, freier als zuvor, „er hat mir gesagt, daß er etwas werden will, bei dem man Musik machen kann. Laß ihn.“
Dann sah sie aus, als ob sie einschlafen wollte.
Georg hielt ihre Hand und fühlte, wie die Pulse in den Fingerspitzen pochten, als ob das Leben überall da innen gegen die Wände stieße und heraus wolle. Und einmal klopfte es hart und stark unter der leichten Decke der Mutter, „klopf, klopf, klopf.“
„Mutter, was klopft so bei dir?“ fragte er.
Er sagte heute in jedem Satz „Mutter.“
„Das ist mein Herz,“ sagte sie müde.
„Laß einmal hören.“ Da legte er seinen runden Bubenkopf auf die Decke. Sie lächelte.
Sie lächelte auch noch, als die Wärterin wieder hereinkam und zu dem Mann sagte: „Sehen Sie doch,“ und den Buben von ihrer Brust wegnahm und auf den Boden stellte.
„Bst,“ sagte er, „es klopft nicht mehr. Ich habe den Kopf draufgelegt, jetzt hat es aufgehört.“
Aber er wußte nicht, was das war.
„Nein,“ sagte die Wärterin, „es klopft nicht mehr.“
Da hatte nun der Mann mit der Axt, der Tod, den letzten Hieb getan. Da hatte der Bewohner nicht mehr seines Bleibens in dem Haus. Es tat ihm auch nicht mehr not.
Er hatte heute ein freundliches Licht und eine kleine, keimende Liebe gesehen, und die Augen waren ihm davon groß und froh geworden.
Nun waren sie ja wohl stark genug, in eine Flut von Licht und in eine große, überwallende Liebe zu schauen, die in dem neuen Haus auf ihn warten mochten.
Aber unsere Sprache hat kein Wort, davon zu reden.
**
*
Die Stadtzinkenisten hatten den Trauerchoral vom Wiblinger Kirchenturm geblasen und waren eben die Treppe hinuntergepoltert, um nun auch auf dem Weg zum Kirchhof zu blasen. Es war nächstens Zeit, ans Läuten zu gehen.
Die beiden Freunde, der Korbmacher Hollermann und der Turmwächter Nössel, hatten still zugehört und in wandernden Gedanken der Lebenden und der Toten gedacht und daß sie wohl alle in guten Händen seien und alle einmal mütterlich nach Hause geleitet werden.
Sie hatten es nicht beredet; sie wußten einer des andern Gedanken auch ohne das.
Da griff der Turmwächter auf den Sims über dem einen Fenster und holte da ein Buch herunter und las, da schon auf der Straße unten der schwarze Wagen über das Pflaster rasselte, eine Stelle, die angestrichen war und bei der ein getrocknetes Kräutlein lag:
„Denn die Welt ist vor dir wie ein Stäublein an der Wage und wie ein Tropfen des Morgentaus, der auf die Erde fällt.
Aber du erbarmst dich über alles; denn du hast Gewalt über alles.
Denn du liebest alles, was da ist, und hassest nichts, das du gemacht hast; denn du hast ja nichts bereitet, dazu du Haß hättest.
Wie könnte etwas bleiben, wenn du nicht wolltest? oder wie könnte erhalten werden, das du nicht gerufen hättest?
Du schonest aber aller; denn sie sind dein, Herr, du Liebhaber des Lebens, und dein unvergänglicher Geist ist in allen!“
Als er das gelesen hatte, nickte er zufrieden mit dem Kopf und legte das Buch wieder an seinen Ort.
„Da brauchen wir uns ja nicht weiter den Kopf zu zerbrechen,“ sagte er. „Da versammeln sie sich nun allmählich, da unten um die weiße Kapelle her, und liegen ganz still, ein jedes an seinem Ort. Und haben viel Qual und Unruhe hinter sich, und Sorgen, und haben viel Umwege gemacht, da man nicht wissen könnte, ob sich auch nur eins von ihnen nach Hause findet, wenn das nicht wäre, davon hier geredet ist: „Denn sie sind dein, du Liebhaber des Lebens, und dein unvergänglicher Geist ist in allen.“
„Ja,“ sagte Hollermann und setzte die Schildkappe auf, um zu gehen, „es wird uns ja wohl zu gut gehalten werden, daß wir davon reden als einfältige Leute, die wohl wissen, daß unser Herrgott ein ganzes Stück klüger ist als wir.
Nämlich, daß wir das nicht in unser Herz hineinbringen, das mit dem großen Unterschied drüben, der nicht auszusagen sei und nicht aufhöre; und das mit dem Gedanken, daß Gott es mit etlichen seiner Kinder in alle Ewigkeit nicht mehr zurecht bringe und ohne sie leben müsse in seiner himmlischen Herrlichkeit und Pracht. Da man ihm doch zutrauen möchte, daß er sie alle herausholen möchte aus Sumpf und Feuer und dem Tod und sie endlich einmal bei sich zu Haus sein lasse, wenn’s genug ist mit der Plage.“
Der Flickschneider hatte die Brille eingeschoben und ging mit seinem alten Kameraden das Treppchen hinab zum Läuten. „Wir haben wohl nicht so den Verstand,“ sagte er. „Das liegt uns nur so im Gemüt. Etliche sagen, die Bosheit sei allzugroß, und etliche wieder anders; es sei, als ob drüben die Geister ineinander flössen, wie die Bäche in die Flüsse, und die Flüsse ins Meer, da man die Wasser nicht mehr unterscheidet und alles ein großes Wallen ist. Aber das ist uns nicht bekannt und das wird auch so recht sein, damit wir unseres Weges gehen wie die Kinder, und nicht gar so klug sein wollen.“
Da ließen sie die große Frage, die sie nicht um der Frau willen allein aufgeworfen hatten, der das Läuten galt, sondern die je und je ihre Herzen bewegte in Hoffnung und demütigem Vertrauen.
Unten bliesen die Stadtmusikanten einen Trauermarsch aus aller Kraft ihrer Lungen, und gingen die Ehrenspergersbuben hinter dem Sarg her mit neuen Kleidern und Blumensträußen, und schritt der Bäckermeister zwischen zwei Anverwandten einher, ernsthaften Gesichtes und in einem Rock, der breit und weit genug war, als ein stattlicher Witwer, und ging Jungfer Liese in der Zahl der Frauen als leidtragende Verwandte des Hauses, das Taschentuch zwischen den Händen. Es war alles, wie es sein mußte, denn das Besondere, das um die Frau her war, das hatte der Tod ausgelöscht.
Gertrud stand in der Reihe mit den singenden Schulkindern; und als sie ihren Kameraden sah, der mit einem merkwürdig erloschenen Gesicht nach dem sinkenden Sarg blickte, da war es ihr doch, als müsse sie neben ihm stehen, als gehe das gar nicht anders an. Und sie verstieß gegen alles Herkommen, wie das rasch und lebhaft empfindende Menschen zuweilen tun, und schob sich leise, einen Schritt um den andern, zwischen den Männern des Gefolges und etlichen Cypressen und Grabkreuzen durch, bis sie dicht hinter Georg stand und ihn sachte am Ärmel zupfte. Jungfer Liese warf einen vernichtenden Blick nach ihr und vergaß einen Augenblick, zu schluchzen.
Aber das schadete nichts. Darum hatten die zwei Kinder doch zu dieser Stunde einen Teil aneinander, und konnten das dunkle Kapitel des Lebens, das sie nicht recht verstanden und das hier seinen Schlußpunkt erhielt, schließen lassen, um sich nach Kinderart ihrem eigenen Weg zuzuwenden. Sie nahmen etwas von dem Vergangenen mit da hinein und holten es hie und da gesprächsweise heraus, wenn sie im Dämmer beisammen waren. Aber das Düstere daran, das ging nicht mit. Das zerfloß im Nebel, nur das Lichte, Freundliche blieb. Es war den Kindern doch später, als hätten sie einmal Mütter besessen. Das machte, daß sie das Wenige, das sie von diesem Schatz besaßen, miteinander zu teilen wußten, da wuchs es daran.
„Mutter,“ sagte Lore, das Kind der Putzmacherin Maute, „du mußt schnell was anziehen. Da kommt die Frau Rektor Cabisius aufs Haus zu. Sie macht so kurze, rasche Schritte, wie ein Mädchen geht sie und ist doch schon eine alte Frau. Das heißt, wenigstens hat sie ganz graues Haar. Und überall hält sie den Rocksaum hoch; sieh’ mal, Mutter, da ist doch tiefer Schmutz auf der Gasse, und sie hat nie ein Tüpfelchen Schmutz an sich.“ Lore saß am Fenster und sah in den kleinen Straßenspiegel, der da angebracht war und durch den man alles beobachten konnte, was draußen vorging, ohne selbst gesehen zu werden.
Ihre Mutter saß ihr gegenüber. Sie hatte die Haare auf Papilloten gewickelt und war mit einer Nachtjacke bekleidet, die, der fehlenden Knöpfe wegen, am Hals mit einer blitzenden Hutagraffe zugesteckt war. Sie hatte eben noch an einem bestellten Samthut gestichelt; nun stand sie auf und ging ins Nebenzimmer. „Sag’, wenn sie kommt, ich käme sogleich,“ sagte sie im Hineingehen. „Und, Lore, räum’ noch rasch ein bißchen auf.“ Denn es fiel ihr nun plötzlich auf, daß das Waschgeschirr noch auf dem Tisch stand und Kämme und gebrauchte Kaffeetassen sich mit Seidenbändern und Hutformen auf der Kommode breit machten. Da nahm das Mädchen einen Anlauf und trug einiges ins Nebenzimmer. Dort stellte sie es auf den Boden. Und anderes streifte sie mit rascher Hand in eine geöffnete Schublade; und fuhr mit einem Pfauenwedel über die Kommodenplatte und legte rasch eine Decke auf den Tisch. Es sah nicht mehr so übel aus im Zimmer, wenn man nicht gerade kritisch hinsah.
Da klopfte es, und als die Frau Rektorin eintrat, kam ihr Lore entgegen, frisch und zierlich, wie ein Bachstelzchen und bat, Platz zu nehmen, nur einen Augenblick zu warten, da die Mutter sogleich kommen werde. Sie habe nur etwas Notwendiges zu schaffen, das gleich erledigt sei. Darauf setzte sie sich wieder an ihren Fensterplatz und hob sittig an, zu häkeln. Irgend etwas Zartes, Zierliches, es gab einen Halskragen, das konnte man schon erkennen.
Die Uhr tickte, es war still im Zimmer. Draußen rieselte der Regen herunter und klopfte hie und da ein wenig an die Fensterscheiben. Von der nahen Kirche her hörte man vereinzelte Orgeltöne; irgend ein musikbeflissener Unterlehrer übte sich da.
Die Frau Rektorin saß und sah nachdenklich aus.
Sie sah dem Spiel der feinen Hände des Kindes da auf dem Fenstertritt zu. Es war eine wahre Freude, zuzusehen.
Warum machte sich nur Gertrud nichts aus selbstgehäkelten Halskragen? Warum war sie so ganz anders als alle Mädchen, die die Frau Rektorin kannte?
Sie saß in ihres Großvaters Studierstube und lernte Latein von ihm. Ja, Latein. Und ihre Großmutter richtete jetzt und immer die Frage an das Weltall, was ein Mädchen mit Latein zu tun habe? Aber hier war niemand, der ihr Antwort gab.
Sie, nämlich Gertrud, war groß und stark für ihr Alter und hatte ein kluges, etwas breites, offenes Gesicht, und ihre Bewegungen erinnerten etwas an die einer jungen Dogge.
Sie war die Freude der beiden Alten. Ja, unstreitig auch die ganze Freude ihrer Großmutter. Aber das verhinderte nicht, daß die Frau Rektorin in einer eifersüchtigen Regung „ihres Nächsten Schönheit“ begehrte; nicht für sich, für das Kind, und daß sie innerlich bereit war, etwas von „der unnötigen Gelehrsamkeit, mit der sie mein Mann füttert“, dafür dranzugeben.
Sie hatte jetzt nicht lang Zeit, sich den Tausch auszudenken, denn nun kam die Putzmacherin herein und fing sogleich eine wortreiche Entschuldigung an, daß sie habe warten lassen. „Es ist immer so vieles im Haushalt, wenn man alles ordentlich haben will,“ sagte sie, und vielleicht glaubte sie es in diesem Augenblick selbst, daß sie alles ordentlich haben wolle, obgleich sie soeben aus ihrer Schlafstube kam, in der das Chaos herrschte.
Und dann fing sie an, mit Hutformen, Samt und Spitzen zu hantieren und Lore verließ ihren Fensterplatz und ihre Handarbeit, um bald die Stecknadeln, bald eine Schere, bald das Metermaß zu suchen. Denn die Frau Rektorin sollte mit einer neuen Winterkopfbedeckung versehen werden. Das war aber so, daß die neue der alten immer noch ein wenig ähnlich sein mußte, und es gehörte eine gewisse Kunst dazu, einen neuen, haubenähnlichen Hut, (oder eine hutähnliche Haube, was in der Wirkung auf eins herauskommt,) zu schaffen, der weder modern noch altmodisch, weder ärmlich, noch großartig war. „Sondern der,“ sagte die Frau Rektorin, „auf meinen eigenen Kopf paßt und nicht auf den von hundert anderen Menschen.“
Ja, das war immer eine Art von Kunstwerk, so einfach es aussah und Frau Maute war die Erste und Einzige, die die schwierige Frage mit einer Art von Genialität zu lösen wußte. Es gibt allerlei Bande, die sich um die Menschen schlingen, und das Geschick der Frau Maute, einen ästhetisch befriedigenden Hut für die Frau Rektorin herzustellen, war so eine Art von Band, das die beiden Frauen nach einer gewissen Richtung hin umschloß.
Aber es war ein Band, das im Begriff war, sich zu lösen.
„Das wird nun der letzte Hut sein, den ich der Madam Cabisius mache,“ begann die Putzmacherin das Gespräch. (Sie war nicht davon abzubringen, ihre honorigeren Kundenfrauen mit Madam’ zu titulieren und die Rektorin Cabisius ließ sich das nun allmählich gefallen, weil Widerspruch nichts nützte und der Klügste nachgibt.)
„Was, den letzten?“ fragte sie. „Das muß merkwürdig zugehen. Entweder sterb’ ich bald, oder sterben Sie bald, oder, was ists? am Ende ist Maute wieder aufgetaucht und Sie gehen mit ihm und dem Kind nach Amerika, wohin er damals verschwunden sein soll?“
„Ach, Madam Cabisius scherzen. Madam Cabisius wissen wohl, daß Maute für mich abgetan ist. Und wenn er auch mit Gold überzogen käme, und kniete hier vor mir nieder, da, wo Madam Cabisius sitzen, ich ließ’ ihn knieen. Ich nähme das Kind an der Hand und sagte: „Maute, du weißt, daß du mich verlassen hast. Keine Widerrede, das hast du. Ich habe das Kind und mich ernährt und werde es ferner ernähren und brauche dein Gold nicht.“ Und dann würde ich ihm die Tür aufmachen. ‚Bitte, hier ist die Tür,‘ würde ich sagen.“
Und damit machte sie ein paar Schritte nach der Tür hin, um sie für den Abzug des imaginären Maute zu öffnen, besann sich aber und kehrte wieder um. Lore stand mit aufgestützten Armen am Tisch und sah und hörte dem Schauspiel zu, das sie offenbar nicht zum ersten mal genoß.
Die Rektorin zupfte Frau Maute am Ärmel. „Das Kind,“ sagte sie mahnend.
„Ja, das Kind, das ist noch mein Trost. Ich sag’s alle Tage: Lore, du bist mein Trost, denn ich bin eine verlassene, unglückliche Frau.
Ich bin viel zu ideal, das ist mein Hauptfehler.“
„Ja, aber warum wollen Sie mir keinen Hut mehr machen? Das möcht’ ich wissen.“
Denn die Rektorin war über diesen Punkt noch ebensowenig aufgeklärt, als wir es sind.
„Alles wegen des Kindes, Madam Cabisius. Denn das Kind ist alles, was ich habe, und es soll glücklicher werden, als seine Mutter. Das sag’ ich immer: Lore, du sollst glücklicher werden als ich.
Darum habe ich beschlossen, nach Tübingen zu ziehen. Madam Cabisius müssen nicht denken, daß es um meinetwillen sei. O nein, mir ist alles recht, mir ist’s auch in dieser kleinen Stadt recht, obgleich fast niemand Sinn für den höheren Geschmack hat, außer der Madam Cabisius, und — noch ein paar wenigen.
Aber dort kann ich mich besser aufschwingen. Ich bin so sehr für den Aufschwung. Das sagte schon Maute immer, obgleich ich sonst nicht viel auf seine Meinung gebe: ‚Henriette, du bist viel zu schwunghaft.‘
Er verstand mich nicht. Das hat uns getrennt.
Dort kann ich einen Laden mieten und das bessere Publikum gewinnen. Und vielleicht nehme ich Studenten in möblierte Zimmer, später dann.“ Frau Maute sah in diesem Augenblick außerordentlich schwunghaft aus. Man sah ordentlich ihr Mutterherz durch die Falten ihrer geblumten Bluse scheinen. Denn das mit dem Laden und den möblierten Zimmern geschah ja nur des Kindes wegen, dem ein besseres Los bereitet werden sollte, und dem zuliebe die Mutter sich in jede verlangte Höhe zu schwingen bereit war.
„Mutter, dein Haar,“ sagte Lore leise.
Denn es hatte sich ein dünnes, rotblondes Zöpfchen unter den Spitzen des Morgenhäubchens vorgestohlen und wippte auf der geblumten Bluse auf und nieder, alle schwungvollen Bewegungen seiner Trägerin begleitend.
„O, es ist mir nicht bange,“ sagte Frau Maute, und schob das Zöpfchen wieder an seinen Ort. „Ich kann mit allerlei Leuten verkehren. Wenn ich sonst nichts gelernt hätte, so hätte ich doch das gelernt. Und nun gar mit jungen Leuten. Wenn man selbst Mutter ist und das Leben kennt. Ich werde sie mütterlich beraten, meine Studenten, meine ich. Daran werden Madam Cabisius nicht zweifeln.“ „Madam Cabisius“ hatte wohl so ihre Zweifel, aber diese waren von einer Art, die hier nicht ausgesprochen werden konnte.
Darum schwieg sie darüber und dachte nur im Stillen: „Ich bin froh, daß Gertrud nicht zu studieren hat. Mütterliche Beratung. Ich danke.“ Und dann bot sie ihren grauen Kopf her, um sich das werdende Kunstwerk ausprobieren zu lassen, und sah unter Samt und Spitzen hervor mitleidig auf das junge Kind, das zu seinem Besten an dem Aufschwung der Mutter teilnehmen sollte.
„Soll mich wundern, was sie aus dem Mädchen macht,“ sagte sie zu sich selbst, als sie auf dem Nachhauseweg mit hochgehaltenen Röcken durch den Schmutz der Straßen stieg. „Einreden läßt sich da nichts. Nun ja. Mit ihren Hüten war ich immer zufrieden. Eine gelungene Person, das ist sie. Aber soll mich wundern, was sie aus dem Mädchen macht. Ein feines, kleines Ding ist das.“
Und dann kam ihr mütterliches Herz ins Wallen.
„Ich wollte doch,“ sagte sie, aber sie sprach nicht aus, was sie wollte. Vermutlich war ihr der Wunsch aufgestiegen, das „kleine, feine Ding“ zu behüten. Wovor? Da eilten ihre Gedanken weit voraus.
Aber das war eigentlich nicht ihre Art so. Sie trat fest auf und machte rüstige Schritte, als sie über den gepflasterten Marktplatz ging. „Das lerne ich allmählich von ihm,“ sagte sie entrüstet zu sich selbst, „das Vorausdenken. Aber das ist nichts für mich. Braucht man mich etwa dazu? Ich meine, zur Weltregierung?“ Und sie schüttelte sich wacker unter dem Regenschirm und rief ihre sorgenden Gedanken zur Ordnung. Da kam sie hellen und heiteren Angesichts nach Hause und fand Gertrud, das Mädchen, das ihr zu gelehrt werden wollte, auf dem Treppengeländer reitend, daß die Zöpfe flogen. Sie sagte nichts darüber, wie sie an andern Tagen wohl getan hätte, und wußte auch warum.
Kennt ihr das Geschlecht der Sonntagskinder?
Es hat allerlei Namen. Man könnte es auch das Geschlecht der Schauenden nennen, oder der Horchenden.
Es hat eine Gabe mitbekommen, die nicht alle haben, von dem Strom heimlichen Lebens zu wissen, der unter der Oberfläche aller Dinge hingeht. Die dazu gehören, die ahnen die wundersame Schönheit, die in die Welt gelegt ist, und lieben sie und horchen nach ihr hin. Und weil sie sich nach ihr sehnen, die Leben ist und Liebe, Licht, Freude und Werdekraft, so suchen sie sie überall.
Im Grauen des Morgens, in der Glut des Mittags, im Wehen des Windes, im Zirpen der Grille im Grase.
Im Lachen eines Kindes, in einem Männerzorn, in einer jungen, starken Menschenkraft, im Ringen der Leidenschaften, in tausend und tausend Regungen des Lebens vernehmen sie etwas von dem tiefen Grund, aus dem das Leben quillt.
Und wenn ein Klang aus jener verborgenen Welt ihr Ohr streift, dann halten sie den Atem an und horchen still hinein.
Manchem von ihnen ist es gegeben, in Tönen davon zu reden, manchem in Bildern, in der Glut der Farben oder in beredten Linien, manchem in Worten.
Aber nicht allen. Es sind viele, die tragen den empfangenen Glanz still in sich herum und die Welt weiß nichts davon. Oft sind sie arm und unscheinbar, und oft macht sie die innere Fülle ungelenk, steif und wortarm nach außen. Aber was schadet das? Wer ihnen zu rechter Stunde in die Augen sähe, der sähe in einen tiefen See, in dem ein Schatz verborgen liegt.
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Der alte Korbmacher Hollermann war keiner von denen, die die Welt mit Harmonien füllen. Aber seine Seele war voll von einer Musik, die niemand gehört hatte, obgleich an warmen Abenden, wann die Fenster seines Häuschens offen standen, die Töne seiner Flöte, der ererbten Großvatersflöte, über die Äcker hin und über die Landstraße und zu den wenigen Häusern, die hier draußen an der Landstraße standen, hinflogen. Das, was aus der Flöte strömte, das war das, was an die Oberfläche drang. Aber wie wenig war das im Vergleich zum Ganzen. Wenn er so dasaß, mitten zwischen seinen Weidenkörben und Hühnerkäfigen, auf dem niedrigen Drehstuhl und in der grünen Schürze, mit hängenden Schultern und braunen, rissigen Händen, die die Flöte hielten, da sah ihm niemand an, daß er innerlich wunderbare Chöre hörte. Vielleicht waren sie wirklich, vielleicht tönten sie aus irgend einer Welt zu ihm herüber, wer vermag das zu sagen?
Was er hervorbrachte, waren selten so eigentliche Melodien. Es war ein Reden in Tönen, vielleicht auch nur ein Stammeln. Es fragte ihn niemand danach und er sagte es zu niemand. Das heißt, das war seitdem so gewesen. Aber das sollte nun nicht länger so fortgehen. Die Jugend kam zu ihm herein unter das tief herabhängende Dach.
Gertrud kam. Sie war einmal auf einem Spaziergang mit dem Großvater einen Augenblick eingetreten, hatte dem alten Hollermann bei der Arbeit zugesehen, hatte das Wetterhäuschen, aus dem der Kapuziner trat, wenn es schön Wetter wurde, bewundert, und die rankenden Kürbisse an der Hinterwand. Und da es ihr schien, als ob hier noch viel zu bewundern sei, so versprach sie das Wiederkommen. Das hielt sie auch. Als sie hier einigermaßen zu Hause war, brachte sie Georg mit. Der wurde es noch mehr als sie, und noch schneller. Das machte, daß er Meister Hollermanns Flötenspiel gehört hatte. Es war an einem Samstagabend gewesen. Die Kinder hatten über ihren Aufgaben gesessen, bis es dunkeln wollte. Dann hatte sie die Großmutter ins Freie gejagt: „jetzt geht! wollt ihr mir hier versitzen und mit sechzehn Jahren Brillen tragen?“
Nein, das wollten sie nicht. Da gingen sie los. Die beiden Alten wandelten zwischen den Rabatten des Gartens hin und her, und die Kinder machten einen Streifzug. Durch den Baumgarten, da hingen kleine grasgrüne Äpfel in den Zweigen, es gab noch nichts Reifes; über den Lattenzaun, durch den trockenen Burggraben, da kamen sie auf freies Feld.
„Jetzt besuchen wir den alten Hollermann,“ sagte Gertrud. Da liefen sie in langen Sätzen den schmalen Feldweg entlang. Das Korn war noch grün und wogte leise hin und her, eine Blindschleiche glitt über den Weg. In der zitternd warmen Sommerluft summten die Schnaken. Hinter dem Wald ging die Sonne hinunter.
Dann blieben sie stehen. „Horch,“ sagten sie beide. Da schwebte es in der Luft, wie ein süßer Gesang. Und doch wieder anders als ein Gesang. „Jetzt flötet er,“ sagte Gertrud. „Das tut er alles auswendig, so aus sich selber heraus.“ Und dann liefen sie wieder. Es war bezeichnend für Georg, daß er es hübscher fand, außen auf dem Bänkchen neben der Tür zuzuhören, weil er den Flötenbläser nicht kannte, und für Gertrud, daß sie ihn an der Hand hineinzog ohne viel Federlesens. „Da sind wir,“ sagte sie. „Wir wollen zuhören.“
Aber er war es nicht gewöhnt, Zuhörer zu haben. Er setzte die Flöte ab und sah vor Verlegenheit grimmig aus. So lang, bis er in das enttäuschte Gesicht des Buben sah. Es konnte niemand sonst so enttäuscht aussehen. Nun war er hier hereingekommen und gleich hörte das auf, was ihn so herangezogen hatte.
Der alte Hollermann war in Not. Das, was er soeben geblasen hatte, das konnte er jetzt nicht fortsetzen. Davon war ihm der Faden abgeschnitten, und das war auch etwas wie ein Selbstgespräch gewesen. Da besann er sich auf alte, längst gehörte Klänge. Denn er konnte es den Kindern nicht antun, daß er so verstummte, so gern er das getan hätte.
„So, nun merkt auf,“ sagte er. Und spielte ein klingendes, singendes Lied, und dann noch etwas, das tat, wie zwitschernde Vogelstimmen. „Das ist von Mozart,“ sagte er und nickte mit dem Kopf. „Kennt ihr den nicht? Das ist aus der Zauberflöte. Vor zwanzig Jahren hab ich das gehört. Als Mina noch lebte. Ja so, ihr kennt Mina nicht. Sie war in München und dort hörten wir das miteinander. Sie wollte meine Frau werden, aber dann starb sie.“
So, nun war es wohl aus?
Nein, sie kannten Mina nicht. Sie waren nun zwölf und dreizehn Jahre alt, hatten schon vieles gelernt und hatten den starken Trieb, noch viel mehr zu lernen, und hätten am liebsten eines immer dasselbe gelernt, was das andere lernte, obgleich das ja nicht so durchzuführen war.
Sie hatten auch schon von Mozart gehört, wenn auch nicht allzuviel. Aber noch fragten sie nicht viel danach, wer die und jene Musik geschaffen habe. Es mußte nur klingen und singen, das war die Hauptsache.
Es wurde auch rasch vollends dunkel, darum gingen sie nun wieder, hielten einander an der Hand und gingen auf der breiten Landstraße ins Städtchen hinein.
Meister Hollermann saß wieder am Fenster und flötete. Es war jetzt ein leises, weiches Getön. Vielleicht dachte er dabei an Mina und wie sie mit glänzenden Augen neben ihm gesessen hatte jenes einzige Mal, da sie miteinander so im Reich der Töne waren.
Oder vielleicht sah er in die ziehenden Abendwolken und fragte, wohin ihr Geist gegangen sei, damals, als sie an einem schönen Juniabend, einem Abend wie heut, für immer ihre Bügelstähle und ihre Kundenwäsche, ihre kleine trauliche Stube und ihn selbst, der sie so liebte, verlassen hatte.
Die Kinder wußten das nicht. Aber Georg stand plötzlich still und sagte: „ich will noch ein wenig horchen“ und es half nichts, daß Gertrud vor Ungeduld trippelte. Er hatte die Hände in den Taschen und horchte.
**
*
Das war das erste Mal gewesen.
Von da an war der alte Hollermann hie und da genötigt, etwas von dem herauszugeben, was ihn innerlich bewegte.
Er war viel gewandert in seinem Leben, weit umher. Viel erworben hatte er sich nicht. Gerade genug, um das kleine, windschiefe Häuschen kaufen zu können und darin die Korbmacherei zu betreiben. Er flickte die Waschkörbe der Bürgersfrauen und die Marktkörbe der Bauernweiber, und flocht aus Weiden Tragkörbe für die Weingärtner und was so mehr des ländlichen Bedarfs war.
Dabei konnte er die Bilder der weiten Welt an sich vorbeiziehen lassen. Einmal, zu Minas Zeiten, war Aussicht gewesen, daß er sich, wie die Putzmacherin Maute, des Aufschwungs befleißigen werde. Damals lag ihm an einem freundlichen Nest und an Brot für sie beide. Nachher, als sie gestorben war, hatte er keinen solchen Antrieb mehr. Da wurde er mehr und mehr einer der Horchenden. Er ging so still für sich hin. Und als er’s einzurichten wußte, kehrte er in die Heimat zurück und spann sich da in eine eigene, stille und doch belebte Welt ein. Wer konnte wissen, was alles seine schweigsame Seele füllte?
Es war eine kleine Gemeinde von Pietisten im Städtchen. Und weil dabei fromme, eingezogene Leute waren, die sich versammelten, um miteinander übers Evangelium zu reden, so ging er auch hin, denn ihn verlangte nach Gemeinschaft. Aber er sprach nicht ihre Sprache. Sie hatten alle Worte der Bibel so schön genau zurechtgelegt und nun redeten sie über die tiefen Geheimnisse, die in der Offenbarung des Johannes stehen und es war ihnen alles so klar, daß kaum noch etwas zu fragen blieb. Da wurde er noch einsamer; und als sie sagten, nun solle er auch reden, da schüttelte er leise den Kopf.
Der junge Zimmermann Dieterle, der dabei war, der sagte, wenn er darauf zu sprechen kam, daß seine Augen wie in eine unergründliche Tiefe gesehen hätten, „und,“ sagte er, „ich hätte wissen mögen, was er sah, aber er fand das Wort nicht.“
Von da an ging er allein dahin, wenn er nicht hie und da auf den Turm stieg zu seinen alten Freunden, dem Turmwächter und der Frau Judith. Er war aber freundlich gegen alle, die ihm nahe kamen, und nächtigte einmal zwei Handwerksburschen in seinem Bett. Da brachte er die eine Hälfte der Nacht am Tisch sitzend über einem alten Buch zu, und sah die andere Hälfte lang zum Fenster hinaus nach den Sternen und nach dem Kommen des Morgens. Nun kam, wenige Tage nach jenem Samstagabend, an dem er den beiden Kindern die Flöte geblasen hatte, der lang aufschießende Knabe mit dem schmalen Gesicht und den hungrigen Augen vor seine Tür, diesmal ohne Gertrud. Die saß daheim und hatte Handarbeitsstunde bei ihrer Großmutter. Hollermann hörte ein kleines Geräusch am Fenster, dann an der Stubentür. Und als er, in Strümpfen, denn so saß er an der Arbeit, hinging und öffnete, da prallte der Kopf mit dem dunklen Haarbusch vom Schlüsselloch zurück, an das er sich horchend gelegt hatte. Dunkelrot wurde der Knabe und sagte verwirrt und stotternd: „ich, ich wollte — ich habe hier eine Flöte.“ Da zog ihn Meister Hollermann mit sich hinein.
Es war eine alte, verstaubte Flöte mit grünspanigen Klappen, die Georg in Papier gewickelt unter dem Arm trug. Er hatte sie in einer Bodenkammer gefunden und sie tönte ihm in Gedanken nun fort und fort so lieblich, tönte ihm in der Schule in die Geschichte des Hannibal hinein, tönte beim Vesper zu den Lauten der Jungfer Liese, die an sich gar keine Ähnlichkeit mit Musik hatten, tönte, tönte, bis er nun hier stand und sagte, als ob er vor dem König stände und um die Hälfte seines Landes bäte: „wenn Sie mir zeigen täten, wie man’s macht.“ Das Übrige sagte sein flehendes Bubengesicht.
Nun studierten sie miteinander, daß es eine Art hatte. Das machten sie so: Georg hatte die Melodien im Kopf, die er von der Schule und Kirche her kannte und die er etwa auf der Straße hörte. Die pfiff er seinem Lehrer vor, worauf dieser sie auf die Flöte übertrug, was dann hinwiederum Georg so lange nachprobierte, bis er die Melodie richtig heraus hatte.
Das trieben sie eine ganze Weile und vergnügten sich sehr damit. „Bub,“ sagte der alte Hollermann, „du lernst das besser als ich. Daran ist nicht zu drehen. Ich hab’s in mir drin, das hab’ ich. Aber ich kann’s nicht so von mir geben. Ich hab’ schon gedacht, nachher einmal, in einer andern Welt, da könn’ ich das vielleicht.
Was mein Großvater war, der Schäfer Hollermann, der wußte eine Geschichte von einem Geiger. Der zog herum und wollte das schönste Lied spielen lernen, das es gibt.
Da ging er zu den Vögeln in den Wald und horchte und horchte. Das konnte er bald. Er konnte geigen, daß man die Amseln und die Finken und Drosseln heraushörte.
Aber das war ihm noch nicht schön genug. Da horchte er auf den Wind. Was konnte der für Lieder singen. Ganz leise, feine, daß man die Blätter an den Bäumen rascheln hörte und die Ähren hin und her schwanken. Und dann starke und frohe, weißt du? so, wie es tönt, wenn der Frühling kommt. Und die ganz wilden, wo sich die Eichen biegen, wenn der Sturm durch sie hinfährt.
Das lernte er auch nachspielen. Da zog er weiter, denn er wußte, daß ihm noch viel fehle. „Und,“ sagte er, „eher will ich nicht aufhören, bis ich das schönste Lied von allen habe.“
Das Wasserrauschen konnte er nachbilden, man glaubte die Wellen blinken zu sehen und die Bächlein rieseln zu hören.
Und er spielte Hochzeitsreigen und Tanzlieder, und was die jungen Mädchen und Burschen singen, und Kirchenlieder. Und manchmal spielte er etwas, das kein Mensch verstand. Da mußte weinen, wer es hörte. Es war, als ob er etwas suche und das tat er auch. Er suchte das schönste Lied von allen; da hörte er hie und da einen Ton, aber er fand nie das Ganze.
Darüber wurde er alt und grau und kam zu sterben. Er war aber ganz allein, denn, Georg, wer das will — aber das verstehst du noch nicht.
Ja, und da klang es auf einmal irgendwo, und nun wußte er, daß dies das Lied sei, das einzige, das es gebe. Und er griff nach seiner Geige, und, so stark seine Hand zitterte, er konnte es doch spielen. Aber die Saiten zersprangen davon, eine nach der andern. Da starb er und das war auch ganz gut, denn sonst hatte er ja nichts gewollt. Und siehst du, darum denke ich, daß es einen Ort gibt, wo man das alles kann, was man in sich hat, weil es dem Geiger irgendwo her tönte, als er schon im Sterben lag. Und weil ihm die Seiten sprangen, als er es zu spielen versuchte, darum denke ich, es muß irgendwo bessere Geigen geben. Aber ich bin ein alter Mann, Bub. Ich bin begierig, wie alles wird, und ich denke, es wird irgendwie gut. Das ist alles, was ich so sagen kann.“
„Das will ich alles auch lernen,“ sagte Georg und machte ein sehr entschlossenes Gesicht dazu. „Ja, das tu’ du.“ Der Alte war sehr einverstanden damit.
„Ich kann dich das nicht lehren. Aber mein Großvater sagte, wenn er die Geschichte erzählte: ‚Das kann man einen überhaupt nicht lehren, wenn’s einer nicht in sich hat.‘ In großen Städten da haben sie Schulen dazu, dahin gehen die Leute, um das alles zu lernen. Ich meine, das Musikmachen und so was. Dahin gehen sie noch, wenn sie Männer sind. Ich hab’ schon solche gesehen mit Bärten, die gingen da hinein und lernten Musik machen. Den ganzen Tag Musik und nichts weiter. Das muß ein Leben sein, Bub. Wie im Himmel. Aber ich weiß nicht, ob’s die alle in sich haben.“ Da schlug sich der Bub aufs Knie, daß es schallte.
„Dahin möcht ich auch,“ sagte er. „Was sagst du? Ganze Säle voll mit Orgeln und Klavieren und Geigen und Flöten? Dahin möcht ich auch.“
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Nun hatte er wieder ein Bild, das er sich abends beim Einschlafen vormalen konnte. Er steckte sich unter die Decke und hielt die Ohren zu, daß kein Laut von außen herein dringe. Und dann ließ er den Saal vor sich aufsteigen. Der war riesig groß, er wurde immer noch ein wenig größer. Und an den Wänden standen Orgeln, immer eine größer als die andere, mit blanken Pfeifen, und oben schwebte an jeder ein nackter Posaunenengel, denn solch einer war auch an der Wiblinger Kirchenorgel und Georg konnte sich keine Orgel denken ohne diesen Zierrat. In der Mitte des Saals aber standen Klaviere, die waren so schön wie das des Rektors Cabisius und waren alle aufgeschlagen. Da standen sie mit ihren schwarzen und weißen Tasten und vor jedem stand ein Stuhl. Menschen waren da nicht, und das war gut. Denn sonst hätte Georg sich nicht getraut, zu spielen. Aber das tat er nun. Heidi, wie seine Finger auf und nieder fuhren. Es war gut, daß er unter der Decke steckte, so konnte ihm niemand den kühnen Gedanken ansehen, der sich nun entspann: Er konnte es wahrhaftig noch besser als der Rektor.
So, nun hatte er genug am Klavier. Da griff er nach einer der Geigen, die an den Wänden hingen, oder nach einer Flöte. Jagdhörner waren auch da. Trari, trara.
Einmal, als er soweit war, vergaß er sich und tutete das Geheimnis über die Grenzen seines Bettes hinaus.
Da brachen merkwürdige Töne unter der schweren Federdecke hervor wie ein unterirdisches Donnerrollen.
Jungfer Liese, die in der anstoßenden Stube saß und Strümpfe stopfte, kam herein und zog ihm das Deckbett ein Stück weit hinunter. Es sei kein Wunder, wenn einer schwer träume, sagte sie. Wenn man sich dermaßen begrabe.
Und Franz, der am Einschlafen war, warf sich herum und beklagte sich. „Da soll einer schlafen können,“ sagte er. Franzens Schlaf aber war heilig.
Denn er war nun Bäckerlehrling seit Ostern, das war drei Monate her. Und er mußte aus den Federn, eh’ der Tag graute. Er wollte das auch. Er wollte später die Bretzel, die über der Ladenstaffel schwebte, neu vergolden, und wollte alles tun, was sich für den Hauptsprossen der Ehrenspergersfamilie gehörte.
Da beugte sich Jungfer Liese über das Bett des jüngeren Sohnes, und wisperte ihm mit gedämpfter Entrüstung mahnende Worte zu. Der aber hielt die Augen geschlossen und atmete tief und lang und tat, als ob er schliefe, bis der wache Traum in einen wirklichen überging.
Darin ging er mit dem alten Hollermann über ein flaches Feld, das sich weit und breit dehnte. Es wehte leise in der Luft, rings, so weit das Auge ging, wogte ein Meer von braunem, goldig glänzendem Heidegras, das rauschte so sachte, als ob es am Einschlafen sei. Fern am Horizont, wo die Sonne versunken war, standen die Höhen in rotem und violettem Glanz, und leuchtende Wolken mit Gold- und Purpursäumen zogen darüber hin und entschwanden, eine nach der andern.
Da fing der alte Hollermann an zu singen, und hatte ein so glänzendes Gesicht dabei, als ob auch er in das Licht der Sonne getaucht sei.
Georg verwunderte sich weder über das eine, noch über das andere, obgleich er ihn noch nie so gesehen oder gehört hatte. Das mußte nun gerade so sein.
Es war aus einem alten Kreuzfahrerlied, was Meister Hollermann sang. Georg hatte es einmal irgendwo gehört, er wußte nachher nicht mehr wo.
„Ist das nun das rechte Lied?“ fragte der Georg. „Ja,“ sagte der Alte und bog den Kopf vor, um zu lauschen, „hörst du, wie alles mitsingt, ringsumher?“
„Wer?“ aber er erhielt keine Antwort mehr.
Das Feld dehnte sich weit und weiter und wurde grau und still. Und der Traum versank; und Georg versank in die Tiefen eines jungen, festen Schlafes.
Es war ein Spätnachmittag im Frühherbst.
Die Sperlinge schwirrten mit viel Geschrei um das Weinspalier her. Das war an der Südwand des Rektorhauses, die nach dem Garten geht. Es war nicht viel für sie zu holen, es war ein feines, dichtes Netz über die Trauben gezogen. Da hatte es eine Lücke und dort eine. Aber was waren die paar Beeren für solch eine Schar? Das war gerade genug, um den Appetit zu reizen. Aber darum konnten sie es doch nicht lassen, schimpfend hin und her zu schwirren. Sie hielten lange Reden darüber, daß es nicht recht zugehe auf der Welt? Was? Nun waren die Trauben unbedeckt geblieben, so lang sie hart und grün waren, und wurden nun unter das Netz gesteckt, da sie täglich weicher, süßer und reifer wurden?
Drüben im Obstgarten standen die Bäume voll reifender Äpfel. Schwer hingen die Äste herunter, sie vermochten kaum ihre Last zu tragen. Warum wurden nun diese nicht mit einem Schleier überzogen? Danach hätten die Sperlinge nicht gefragt; die Äpfel mochten ruhig reifen und zur Erde fallen, sie rührten keinen an. „Aber gerade das bißchen, was wir gern hätten, das mißgönnen sie uns,“ sagte ein alter, dicker Spatz und hüpfte schwerfällig und ärgerlich auf den Syringenbusch, von dem man die beste Aussicht auf das Weinspalier hatte, und die andern schrieen ihm Beifall.
Da ging die Gartentür und drei Kinder kamen herein. Die Sperlinge kannten sie wohl, sie waren hier täglich zu sehen. Der lange, magere Bub, der so oft stand und die Hände in den Taschen hatte und in die Luft sah; das starke, bräunliche Mädchen mit den langen Zöpfen, und das kleine, feine rothaarige, dem die jungen Spatzen gern die Augen ausgepickt hätten, weil sie aussahen, wie reife Kirschen.
Die gingen nun auch an das Weinspalier. „Seht ihr, seht ihr,“ riefen die Krakehler unter den Spatzen. „Die nehmen sich, was unser ist. Das ist Raub, das gehört in die Chronik.“ Aber die Kinder kümmerten sich keinen Augenblick um das Spatzengeschrei. „Eine für uns drei miteinander,“ sagte Gertrud. „Ich sag’s nachher der Großmutter, ich nehm’ sie nicht heimlich.“ Sie griff in das grüne Laub und Georg hielt das Netz ein wenig zurück und sah mit hinein. „Aber eine große, wenn sie für drei reichen muß,“ sagte er.
Da fanden sie miteinander eine große, durchsichtig schimmernde Traube heraus und nahmen sie sachte herunter und sahen sich ein bißchen um, ob niemand zusehe, obgleich sie’s nachher sagen wollten. Dann gingen sie miteinander und mit ihrem Raub, (denn das war es doch, da hatten die Sperlinge nicht unrecht gehabt,) in den Obstgarten.
Ganz hinten in der Ecke, dort, wo der Garten an den Stadtgraben anstößt, unter dem Süßapfelbaum, ließen sie sich nieder.
Der Baum hing zum Brechen voll. Hie und da raschelte es in den Zweigen; dann löste sich eine Frucht und fiel ins Gras.
Die Kinder sahen nicht viel danach hin. Aber nicht aus demselben Grund, wie die Spatzen. Sie hatten nur heute Wichtigeres zu bedenken. Lore war gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie teilten ihre Traube, Beere um Beere und sagten nicht viel dazu. Den leeren Kamm warfen sie über den Lattenzaun in den Stadtgraben und standen und sahen ihm nach, als ob es ein Stück ihres vergangenen Lebens sei.
Vorhin waren sie ein letztes Mal miteinander auf dem Turm gewesen. Ein letztes Mal; das war sonderbar. Warum konnte nicht immer alles gleich fortgehen, wie es von jeher gewesen war?
Es war nicht gerade ein Schmerz, da sie nun scheiden sollten. So ganz zum täglichen Leben hatte Lore den beiden andern nicht gehört. Es war nur so etwas Neues, anderes.
Da war so ein großes Tor aufgetan, und eins von ihnen ging hindurch, in die weite Welt hinein. Was mochte dort alles sein? Es war wohl alles ganz anders, als hier? Größer und schöner und voller Wichtigkeiten, voll neuer, unentdeckter Wunder. Es ging so etwas wie ein Reisewind durch alle drei hindurch.
War es schöner, zu gehen, oder zu bleiben?
Wer konnte das sagen?
Oben auf dem Turm, von Frau Judiths sonnigem Fenster aus, hatten sie in die leuchtende Ferne geschaut, Kopf an Kopf. Dort hinten lag Tübingen, weit hinten. Man konnte es nicht sehen, natürlich; es war viel zu weit dorthin.
Die ganze Albkette lag davor; alle die Höhen, die sich am Horizont hinzogen, Berg an Berg, als ob sie sich an den Händen gefaßt hielten und so durch die schöne Welt marschierten.
Hie und da glänzte es weiß aus den bläulichen, duftigen Schleiern, in die sich die Berge gehüllt hatten. Ein felsiger Abhang, eine Burgruine. Da eine und dort eine. Warum hatten sie das sonst nie so gesehen, wie heute?
Dort hinten irgendwo, in dieser blauen Ferne, lag Tübingen.
Sie saßen unter dem Süßapfelbaum und sahen den umfriedeten Garten vor sich liegen in seiner stillen, heimeligen Schönheit. Die Dahlien und Astern und die hochstämmigen Herbstrosen blühten an den Rabatten. Die große Laube schimmerte leuchtend rot; sie war ganz und gar umsponnen von den Ranken des wilden Weins, auf dessen purpurnen Blättern die Sonne lag.
Die schwarz und weiß gefleckte Katze der Frau Rektorin stieg voll Behagen auf dem Gartenweg einher und ließ sich die Sonne auf den Pelz scheinen.
Wie schön war es hier. Und wie schön auch draußen in der Weite. Hie und da fingen sie an, von gleichgültigen Dingen zu reden. Aber es wollte nicht so recht fort mit der Unterhaltung.
Sollten sie von dem und jenem reden, das hier blieb, während Lore ging? Wie es aber draußen sei, davon wußten sie nicht viel. Da zog Lore ein braunes Paketchen aus der Tasche. Es war ein Buch darin. „Das hat mir die Spitalbäbel geschenkt,“ sagte sie.
„Es sei ein Andenken, und ich soll drin lesen. Ich weiß nicht, es ist keine rechte Geschichte, es ist, glaub’ ich, ein bißchen langweilig. Ich hab’ nur so hineingesehen.“
„Langweilig?“ Dann wollten die andern nichts damit zu schaffen haben. Das war das Ärgste von allem.
Die Spitalbäbel war ein einsames, altes Weiblein, das oben in einer Dachkammer desselben Hauses, wie die Putzmacherin Maute, wohnte. Sie war früher Leichenbesorgerin gewesen, und sie hatte in einer längst verflossenen Pockenzeit die Kranken gepflegt, draußen im Siechenhaus, das weit von den andern Häusern auf freiem Feld stand, und nun mit geschlossenen Türen und Fensterladen auf irgend eine neue Inwohnerschaft zu warten schien. Worauf die Spitalbäbel wartete, wußte man nicht so genau. Sie hatte ein kleines Krautgärtlein, das sie baute, und außerdem strickte sie grobe Strümpfe und Socken um mageren Lohn für Handwerksgesellen und Dienstmägde.
Das Siechenhaus hatte für jedermann etwas Unheimliches. Denn wer konnte wissen, zu welchem Zweck es dereinst wieder aufgetan werden würde? Daß aber an der Bäbel selbst auch etwas besonderes hängen geblieben war, das war eine merkwürdige Tatsache.
War es das, daß sie so viel mit den Toten zu schaffen gehabt hatte? Sie hatte ein spitziges Vogelgesicht mit ein paar beweglichen, graugrünen Äuglein, und eine hohe, dünne Stimme. Auch ging sie immer noch gekleidet wie einst als Totenfrau, in ein großes, schwarzes Umschlagtuch, dessen hinterer Zipfel fast die Erde berührte, und mit einer Haube, deren beide schwarze Flügel wie große Nachtschmetterlinge um ihren Kopf flogen. Sie hatte dereinst das Siechenhaus abgeschlossen und den Schlüssel dem Gemeinderat gebracht, und sie allein wußte, wie es nun dort drinnen aussah.
Wenn sie hätte reden wollen. Aber sie kniff die dünnen Lippen fest aufeinander. Das war das Allergeheimnisvollste.
Sie tat keinem Menschen etwas zuleide. Aber die Kinder hatten ein Grauen vor ihr, so ein gelindes, das bei Tag angenehm wirkt und nur in der Dämmerstunde die Schritte beschleunigt, wenn es einem begegnet, daß man ins Helle, Warme komme.
Und nun hatte sie der Lore ein Buch zum Abschied geschenkt.
Das war etwas Wunderbares.
„Sie ist mir auf der Treppe begegnet,“ sagte Lore.
„Und da hat sie sich vor mich hingestellt, und hat mir die Hand auf den Kopf getan, so —,“ Lore stand auf und legte ihre feine, weiße Hand auf Gertruds Kopf, „und das war eine eiskalte, dürre Hand, sie schüttelte den Kopf ganz stark und sagte: Kind, Kind, wenn du alles wüßtest, was kommt. Aber das weißt du nicht.
Ich wollte gern sagen, daß ich es gar nicht wissen wolle und daß sie ihre Hand wegtun solle, aber ich konnte nicht. So habe ich gezittert.“
Lore schwankte hin und her, als ob sie der Sturmwind schüttle.
Die andern lachten so ein bißchen unsicher. Und Gertrud zog sachte ihren Kopf zurück, obgleich es gewiß keine „eiskalte, dürre Hand“ war, die auf ihr lag.
„Und da hat sie gesagt — und die Augen dabei ganz klein gemacht —: ‚Da, das nimm mit auf den Weg, Kind. Da steht’s, was alles kommt. Es ist nichts mit der Welt.‘ — Ach was, ich weiß nicht mehr, was sie alles gesagt hat. Es ist auch einerlei.“
Da gab sie dem Buch, das auf ihrem Schoß lag, einen kleinen Stoß, daß es ins Gras flog, und stieß mit der Spitze ihres zierlichen Fußes noch ein wenig daran und saß und wickelte sich ihre Locken um die Finger.
Das Buch war aber aufgegangen und als die Kinder so beiläufig danach hinsahen, war ein Bild auf der obersten Seite.
Das war etwas anderes, Bilder.
Da hob Georg es aus dem Gras und sie sahen miteinander hinein. Es war aber ganz und gar kein Kinderbuch.
Es war eine merkwürdige, schwere Geschichte von einem Mann, der aus seiner Heimat ging, weil ihm gesagt war, daß sie „die Stadt des Verderbens“ sei, und der durch unendlich viele Hindernisse, Fußangeln und Gefahren hindurch nach einer wunderbaren Stadt reiste, die ihm als Reiseziel immerwährend vor Augen stand.
Es war ein Gleichnis für das Leben der Christen, die sich mit starkem Mut und Willen aufmachen als Wandersleute, die in dieser Welt noch nicht zu Hause sind, aber gern nach Hause kommen wollen, wann ihr Tag sich neigt, und die sich unterwegs durch nichts halten lassen.
Es hieß „Bunyans Pilgerreise“ und es ist ein Buch, das in vielen Häusern der frommen, tiefdenkerischen und zuweilen grüblerischen Leute zu finden ist, die als „Stille im Lande“ da und dort zerstreut leben und sich zusammenfinden, um miteinander über das zu sprechen, was ihnen bei der Arbeit und am Abend bei der Lampe hinter den Büchern aufgegangen ist.
Nun sahen die Kinder miteinander hinein.
Und da es ihnen niemand erklärte, so drangen sie auf ihre eigene Weise in das seltsam-geheimnisvolle Buch ein.
Sie genossen es aber, da sie sich mehr an die Bilder hielten, die das Buch durchzogen, wie ein Märchen oder eine Sage und überschlugen die langen Gespräche und die Belehrungen und gingen mit Christ, dem Wanderer, durch all die Schrecknisse seines Weges. Und steckten einträchtig die Köpfe zusammen über dem Bild, da er zwischen den aufspringenden Löwen hindurchging, und dem, da er lag und schlief und sich ihm ein Gewappneter nahte mit gezücktem Schwert.
Und atmeten tief auf, als er sich des Schlüssels erinnerte, der ihm und seinen Gefährten die eiserne Tür im Schloß des Riesen Verzweiflung auftat.
Und als sie das Buch wieder zumachten, waren sie so froh wie vorher und keiner der düsteren Schatten war auf ihren Weg gefallen, und als sie anfingen, davon zu reden, wie es später kommen werde, da sprach das Buch nicht mit.
Denn das, was sie bis jetzt vom Christentum gesehen hatten, das trug freundliche, liebreiche Züge und hatte keine Schrecken und keine Finsternisse.
„Und daran sieht man,“ sagte der Rektor Cabisius, als er mit seiner Frau beim sinkenden Abend durch den Garten ging und die kleine Gesellschaft beieinander und das Buch neben ihnen fand, „daran sieht man, daß die Kinder wahrhaftig im Himmelreich leben, da sie mit den gewaltigen Mächten, vor denen die großen Leute erbeben, umgehen, als seien es Riesen und Drachen eines Märleins.“
**
*
„Also, wenn du dann ein Student wirst, dann kommst du nach Tübingen. Da fangen wir wieder alles von vorne an,“ sagte Lore. „Das wird fein.“
Georg nickte ihr zu. Er hatte sich die Hände unter den Kopf geschoben und lag der Länge nach im Grase.
Durch die Lücken zwischen dem grünen Geäste des Baumes sahen kleine, schimmernde Fleckchen des blauen Septemberhimmels herein, nach denen sah er hin, als ob seine zukünftige Geschichte da geschrieben stände. Das war sicher, daß unendlich viel Schönes in der Zukunft lag. Dies oder anderes, es würde sich schon finden, was.
„Ich will Musik machen lernen, das ist die Hauptsache. Sonst ist mir’s einerlei.“ Das sagte er seit einiger Zeit immer. Es ging nicht mehr so klipp und klar mit der Gleichheit, wie sonst, zu Gertruds Kummer. Was hatten sie für gemeinsame Pläne gemacht. Die verflogen nun so sachte und neue traten an ihre Stelle, die nicht mehr zu teilen waren. Das heißt, sie beredeten alles miteinander. Aber nun hieß es: ich will das und jenes tun. Und zuvor hatten sie immer gesagt: Das wollen wir.
„Ich geh’ in die weite Welt,“ sagte Georg, denn er dachte an jenen Geiger, der das schönste Lied suchte.
Sie aber nahm seine Knabenträume für feste Entschlüsse und erschrak sehr.
„In die weite Welt? Dann kommst du wohl nie wieder?“
„Ich weiß noch nicht, vielleicht.“
Er sagte es sehr gleichmütig. Aber als er ihren Schreck sah lenkte er ein.
„Doch, ich denke, ich kann es einrichten, Gertrud. Ach, ich weiß noch nicht, es hat noch Zeit, das alles.“
Seine Wünsche lagen noch in der Morgendämmerung und wogten, aufsteigenden Nebeln gleich, durch seinen Sinn. Bald nahmen sie dies Bild an, bald jenes.
Man würde schon sehen, was an ihnen war, je mehr der Tag heraufstieg.
Gertrud saß und legte ihren Arm um Lore.
„Ach, du kleines Ding,“ sagte sie. Und sagte es weich und mütterlich, so mit einem Ton, als ob sie Lores Großmutter wäre. Nein, ihre viel ältere Freundin; und sie war doch gleichen Alters.
Sie war nur geistig weit mehr entwickelt, und sie hatte auch von Haus aus eine viel tiefere, schwerfälligere Art. Sie konnte nichts obenhin nehmen, so stark und tief sie Freude und Schmerz empfand. Sie mußte immer alles ganz erleben, schon als Kind.
Und das Mütterliche, das den echten Frauennaturen angeboren ist, das regte sich stark in ihr. Aber sie wußte nicht, was es sei. Sie liebte nur alles Zarte, Kleine, und alles, was irgend der Hilfe bedurfte.
Ja, und das Schöne, das liebte sie auch.
Aber es focht sie heute noch nicht an, daß sie selber nicht schön sei. Sie dachte nicht von ferne daran.
Wenn die beiden Mädchen in den nächsten Jahren so nebeneinander herangegangen wären, wie bisher, so hätte es sich, noch mehr als schon jetzt, geoffenbart, daß ihre Wege auseinandergingen.
Es hätte keiner äußeren Trennung bedurft. Denn sie waren von ganz verschiedener Art. Aber nun, da sie schieden und Lore in all’ ihrer frischen, feinen Schönheit dahinging, und aussah, wie ein Schmetterling, der soeben auf die erste Blüte geflogen ist und noch den ganzen Schmelz auf seinen Flügeldecken hat — nun wallte es in Gertrud warm und stark auf: „ach, du kleines Ding.“
Das mochte Lore gern. Sie schmiegte sich an, wie ein Kätzchen.
Da raschelte etwas an dem Lattenzaun, der den Garten vom Stadtgraben trennte.
Als sie aufsahen, schwang sich Franz Ehrensperger daran in die Höhe und kam mit einem Satz herüber in den Rektorsgarten. „Jetzt kommt der,“ sagte Lore und setzte sich zurecht, und streckte ihre zierliche Gestalt, so gut sie konnte und sah sehr würdevoll aus.
Er war in Hemdsärmeln und trug sie aufgekrempelt bis über die Ellbogen, wie das ein richtiger Bäckerjunge tut, und hatte eine weiße Schürze an, die leuchtete durch die Bäume vor großer Sauberkeit. Als er näher kam, sah man, daß er ein Paket in den Brustlatz der Schürze gesteckt hatte. Aber die Gesellschaft unter dem Süßapfelbaum erfuhr nicht, was darin sei.
„Da bin ich,“ sagte er, und stemmte die Arme in die Seite.
„Das sieht man,“ sagte sein Bruder.
„Ich muß jetzt heim, es wird dunkel.“
Damit stand Lore auf, und Gertrud tat ihren Arm um sie, wie sie pflegte, wenn sie ihr das Geleite gab bis zu dem Brunnen vor der Haustür.
„Jetzt, wenn ich komme gehst du?“ Franz tat ein wenig beleidigt.
„Hättest halt früher kommen sollen.“
Lore konnte nicht wenig schnippisch sein, wann sie wollte, und wann sie mit Franz redete, wollte sie das zuweilen.
Dafür hatten die beiden andern kein Verständnis.
Aber Franz lachte nur.
„Racker,“ sagte er. „Früher kommen, das kannst du leicht sagen. Und überhaupt, weiß ich, daß du da bist?“
Er hatte es wohl gewußt, aber das brauchte er ja nicht zu gestehen. „Es ist einerlei. Wenn du doch gehst, ich muß auch in die Kirchgasse, ich — ich muß den Schneider Butz etwas fragen; er hat meine Sonntagshosen. Da können wir ja miteinander gehen. Dann komm.“ „Erst muß sie noch der Großmutter adieu sagen.“ Da führte Gertrud das Mädchen ins Haus, und umschlang sie im dunkeln Hausflur und küßte sie. „Ach Lore, jetzt gehst du. Schreib’ auch, hörst du’s?“
Und die Frau Rektorin kam aus der Küche und trocknete sich die Hände an der Schürze ab, und trocknete sich nach einer kleinen Weile auch die Augen an derselben Schürze.
„So behüt dich Gott, lieb’s Kind,“ sagte sie, und gab ihr auch einen Kuß. „Sag’ deiner Mutter einen Gruß. Und sie soll dich nicht so — ach nein, du brauchst ihr nichts zu sagen. Es geschieht doch, was geschehen soll. Behüt dich Gott.“
Und Lore schluchzte auf einmal heiß und heftig und wußte nicht recht, warum. Und stellte sich auf die Zehen und legte ihre weißen Arme um Gertruds Hals.
Aber das ging schnell vorüber.
Draußen, an der Hausstaffel, stand Georg und bot ihr die Hand, etwas tapsig und ungeschickt, und tat, als ob es nur ein Abschied bis morgen wäre. „Gut Nacht, Lore,“ sagte er.
Da lachte sie hell auf. „Sonst weißt du nichts?“ sagte sie.
„O du. Weißt du was? Du sollst in Tübingen bei uns wohnen, wenn du ein Student wirst. Weißt du was? Dann, wenn du kommst, sag’ ich ‚guten Morgen‘ zu dir. Sonst nichts. Wie wenn das nur einen Tag gedauert hätte, seit du zu mir ‚gut Nacht‘ gesagt hast.“
„Komm,“ sagte Franz.
Er stand noch da und wartete.
„Wir gehen hinten herum, zwischen den Krautgärten; es ist näher, und überhaupt.“
Sie sagte nichts dagegen. Auf ihrem Gesicht stritt sich Lachen und Weinen. Aber als er sie über den Bretterzaun heben wollte und schon den Arm ausstreckte, glitt sie ihm aus und schlüpfte, ein paar Schritte weiter unten durch den Zaun. Man konnte da eine Latte aufheben und wieder an ihre Stelle rücken. Er sah sich verdutzt nach ihr um, da stand sie schon drüben. „Fang’ mich,“ rief sie, und flog vor ihm her, wie ein Vogel.
„So warte doch,“ rief er ärgerlich und keuchte hinter ihr drein.
Es war schon fast dunkel; von der Kirche her tönte das Betläuten; das hallte in großen, vollen Tönen über die stillen Gärten hin. Eine Fledermaus schwirrte mit flatternden Flügelschlägen hin und her. Lore hielt sich die Hände vors Gesicht. „Uh, ich fürchte mich,“ sagte sie. „Wem eine Fledermaus auf den Kopf sitzt, dem gehen alle Haare aus.“ Da deckte Franz einen Zipfel seiner Schürze auf das Lockengeringel, und nun gingen sie ruhig nebeneinander her. „So,“ sagte er, als das erste Haus, zu dem sie kamen, seinen Lichtschein auf die Straße warf, „jetzt muß ich hier hinunter. Ich will dir hier Lebewohl sagen.“
Da zog er das Päckchen aus dem Schürzenlatz und reichte es ihr hin.
Es war ein längliches, braunglänzendes Gebäck darin, das die Wiblinger Feiertagsbrot nannten. Er hatte es aber stark mit Rosinen und Mandeln gespickt, und es war seiner Hände Werk für sie.
„Du kannst es unterwegs essen oder wann du willst,“ sagte er gleichgiltig. „Ich komme vielleicht einmal durch Tübingen, so zufällig, das kann man nie wissen. Dann kann ich ja sehen, wie es bei euch steht, nicht?“ Sie nickte. „Das kannst du,“ sagte sie.
Da blieb er noch einen Augenblick unschlüssig stehen. Er hatte sich auf dem ganzen Weg ausgedacht, daß er sich einen Kuß von ihr ausbitten wolle. Sie war so ein feines, schönes, schlankes Ding, er mochte sie wohl leiden, obgleich sie oft so spitzig mit ihm tat. Es mußte fein sein, wenn sie ihre roten Lippen hergab. Seine Kameraden wußten von solchen Erlebnissen zu erzählen. Einer von ihnen, der schon siebzehn Jahr alt war, hatte einen Schatz, das war ein rundes, dralles Mädchen von fünfzehn Jahren und ging sechs Tage in der Woche über Feld ins Hölders Garnfabrik nach Rudersloch.
Das war lange nichts so feines. Wenn er dem erzählen könnte! Aber er war doch zu ungelenk. Und wenn sie es ihm abschlug? Da ließ er sie ihres Weges gehen, ohne etwas davon zu sagen.
„Reise gut,“ sagte er und drückte ihre Hand, daß es in den Gelenken leise knackte. „Leb’ wohl.“
Da fuhr sie ihm flink mit der andern Hand in seinen aufrechten Haarschopf und zauste ihn ein weniges.
Das hielt er für eine Liebkosung und vielleicht war es auch eine, wer konnte das wissen? Er stand und sah ihr nach, bis sich der letzte Schein ihres hellen Röckchens im Dunkel der Gasse verlor.
Wer mir irgend einen Ort zu nennen weiß, in dem es zur Dämmerstunde heimlicher, wärmer und behaglicher ist, als in der Studierstube des Rektors Cabisius, der komme und zeige mir ihn.
Ich meine nicht zur Sommerszeit, wo die Fenster nach der Straße offen stehen und das Jauchzen und Singen der spielenden Kinder hereinschallt.
Da stand der Rektor wohl oft am Fenster und summte leise mit, wenn sie in den Kreis traten und sangen: „Es war ein Markgraf überm Rhein, der hatt’ drei schöne Töchterlein,“ oder: „Ei, wer sitzt in diesem Turm?“ Und anderes mehr.
Da saß wohl in der Dachrinne eine Amsel und sang auch mit, über all die Lust hin.
Aber öfter ging er um diese Zeit mit seiner Frau Anne im Garten auf und ab, zwischen den Rabatten mit der Buchseinfassung, oder hinten, im Obstgarten, unter den Bäumen.
Nein, ich meine nicht im Sommer.
Ich meine im Spätherbst, wenn die Tage kurz werden und der Wind durch die Straßen fährt auf breiten, rauhen Flügeln.
Wenn er im Garten die Bäume herumreißt, daß sie ächzen, und das dürre Laub, das sich gern zur Ruhe begeben wollte, in die Luft wirbelt.
Oder im Winter, wann die Laternen trüb durch den Nebel scheinen, oder wann die Eiszapfen an den Dächern hangen und auf den Straßen Stein und Bein zusammenfriert.
Ich sage, wenn einer einen Ort weiß, der um diese Zeit wärmer, heimelicher und behaglicher ist, als es dieser war, der komme und zeige ihn mir.
Aber das wird schwer halten.
Ist irgendwo noch solch ein breiter, tiefer, lederbezogener Großvaterstuhl, wie der, der in der Wandnische neben dem Stehpult stand? Man konnte sich darein verkriechen und glauben, vor allem Wetter geschützt zu sein.
Da saß die Frau Rektorin, und redete sich vom Herzen herunter, was der Tag gebracht hatte, und sah zu, wie der Feuerschein aus dem Ofen auf den alten, blumigen Teppich fiel, und wie er kleine, fröhliche Lichter an den Wänden herumhuschen ließ, daß die Gesichter der ehrwürdigen Vorfahren in ihren dunkeln Rahmen ins Lächeln kamen.
Bei diesem flackernden Schein hatte der jüngste Sohn, der Liebling der Frau Rektorin, einst erzählt, daß das Wunder geschehen sei und Eugenie, sein „schwarzbraunes Mägdelein,“ auf Befragen zugegeben habe, daß sie ihn liebe. Und über sein Gesicht waren dabei alle hellen Lichter gegangen, die auf einem jungen, warmen, glücklichen Menschengesicht Platz haben, und seine Mutter hatte in ihrem Herzen gedacht, daß das Wunder so groß nicht sei. Denn wer sollte ihren lieben Sohn auch so sehen und nicht lieb haben?
Und derselbe Feuerschein hatte sich auch über ihr gutes, altes Gesicht gestohlen, als sie ein paar Jahre später in dem alten Stuhl saß und Leid um ihre Kinder trug, die beide nacheinander an einer ansteckenden Krankheit gestorben waren.
Ihr Gatte saß neben ihr auf der Seitenlehne des Stuhls und legte den Arm um sie und streichelte leise ihr Haar.
„Ja, weine nur, Anne. Jetzt sind sie alle drüben, unser ganzes Häuflein. Nun müssen wir Alten miteinander hintendrein gehen. Weißt du noch? Wir sagten immer: die Kinder voran, daß man sie im Aug’ behält. Nun sind sie alle vorangegangen.“
Da redete er eine Weile auch nicht mehr, und sie hörte, wie er tief und schwer Atem holte aus bedrängter Brust.
Und sie drängte sich an ihn und nahm ihr Herz fest in die Hände, und sagte, ob ihr auch die Stimme zitterte: „Alle? Sie haben uns das Kind gelassen. Das muß doch eine Heimat haben, nicht? Nun müssen wir von vorne anfangen, Mann. Wir müssen so jung sein als wir können. Für das Kind.“
Das aber lag und schlief, und wußte nicht, daß über seinem jungen Leben schon so hohe Wellen hingegangen seien.
Und nun war das zwölf Jahre her, bald dreizehn. Wie die Zeit dahingeht. Sie waren „so jung als möglich“ gewesen, die beiden Alten. Das waren sie noch. Das blieben sie ja wohl vollends, die paar Jahre, die sie noch zu leben hatten.
Jetzt war das Kind herangewachsen.
Zwischen den beiden hohen Bücherständern an der einen Langwand des Zimmers, unter dem Bild des Urgroßvaters, der im Richtertalar und Barett gemalt war, stand eine niedrige Truhe. Sie enthielt Manuskripte aus des Rektors Studentenzeit. Das war Gertruds Sitzplatz. Er war geräumig genug für Zwei. Das war auch durchaus nötig. Denn auch Georg hatte hier seine Heimstätte. Jungfer Liese war nicht so zufrieden damit. Nicht, daß sie ihn zu Hause vermißt hätte, aber sie fand, daß es in Ehrenspergers Haus Platz genug gebe, Platz und einen warmen Ofen. Das war ja wohl richtig.
Aber dieser Sitzplatz beim Schein des Feuers, und dieses ganze Zimmer war in Georgs Leben durchaus nicht zu entbehren. Was ging für eine Wärme und Helle davon in sein Leben hinein. Das wußte Jungfer Liese freilich nicht so genau.
Auf und ab wanderte der Großvater, auf und ab. Das Zimmer war nicht allzulang; sechs Schritte hin, sechs Schritte her. Aber was für große Reisen machte er dabei.
Es war ein wunderbares Zimmer. In allen Ecken saßen gute Geister, in den Büchern, hinter den Bildern, in dem alten, hohen Schrank, der in einem besonderen Fach, in ein grünes Tuch eingeschlagen, einen samtenen Schnürenrock und einige durchstochene grüne Mützen enthielt. Grün mit schwarz-roten Bändern.
In der niedrigen Truhe saßen sie und klopften gegen den Deckel und wollten heraus, wenn der Feuerschein aus der offenen Ofentür daran vorbeitanzte.
Weißt du noch? rief es aus allen Ecken, nicht nur aus dem Großvaterstuhl, der so viel erlebt hatte.
O ja, der Rektor wußte noch.
Wann die Geister lebendig wurden, fing er an, zu erzählen.
Es war ein langes Leben, das hinter ihm lag, und er war sein lebenlang jung geblieben. Darum konnte er es nun gut mit der Jugend teilen. Und es kam, daß sie, als die Frau Rektorin in der Küche war, zu dreien vor der Ofentür saßen und das große Studentenbild vor sich hatten und beim flackernden Licht beredeten, was aus dem und jenem geworden sei, der darauf abgebildet war.
Da stand er selber, mit einem jungen, feurigen Gesicht, das Band über der Brust, und hatte den Arm um einen baumstarken, stämmigen Menschen gelegt, der gradaus vor sich sah, als ob er zu ernster Tat schreite. „Großvater, was ist aus dem geworden?“
Der machte ein ernstes Gesicht.
„War ein Mensch, wie ein Eichbaum. Ernst und grad und fest. Innen und außen war er wie ein Eichbaum.
Der Blitz hat ihn erschlagen.“
„Großvater, der Blitz?“
„Nein, nicht gerade der Blitz. Er wurde vom Schlag getroffen, als er gerade eine Braut und ein Amt gewonnen hatte. Aber es war doch, als ob der Blitz in einen Baumriesen gefahren wäre und ihn zerschmettert hätte. Er war mein liebster Freund.“
Da sahen sie mit großen, erstaunten Augen auf ihn.
Das war wohl schon lange her? Er konnte hier sitzen und davon reden, und der andere war schon lange tot.
Von den dreien erzählte er, die oben in der Mitte des Bildes standen und die Hände ineinandergelegt hatten, wie zu einem Schwur.
„Das waren die Vaterlandsfreunde“, sagte er. „So nannten sie sich, obwohl wir das vielleicht alle waren. Sie hofften, daß Deutschland einig werde, und dichteten Lieder drauf, und einer von ihnen, der hier, mit der Locke in der Stirn, fand Melodien dazu.“
Einer hat es auch erlebt. Der kam von Amerika herüber, als wir Alten uns nach dem Friedensschluß anno einundsiebzig mit den Jungen der Verbindung zusammentaten, um den Frieden und das Vaterland zu feiern. Ich sehe ihn noch. Er hatte damals schon schneeweißes Haar, denn das Leben hatte ihn hart mitgenommen. Aber seine Augen blitzten, und er saß und sang mit einer mächtigen Baßstimme, und die Tränen liefen ihm in den Bart und tropften ihm ins Glas: „Wie mir deine Freuden winken, nach der Knechtschaft, nach dem Streit! Vaterland, ich muß versinken hier in deiner Herrlichkeit!“
Da waren sie hingerissen und wünschten, auch so Herrliches zu erleben und fragten nach den beiden andern.
„Dem zweiten hat er einen Eichenzweig mit nach Kansas genommen, den wollte er ihm aufs Grab legen, da er seinen Jugendtraum nicht mehr hatte zur Wahrheit werden sehen.“
„Und der Dritte?“
„Ist unter die Philister gegangen.“
„Unter die Philister? Nein, Großvater, nun red’ im Ernst.“
„Weißt nicht, was Philister sind? Denen alles einerlei ist, was man nicht essen und trinken kann, und was sonst noch so ihr bißchen Ich betrifft. Auch gehen sie immer der Nase nach in gewiesenen Bahnen und halten es verboten, die Augen aufzumachen.“
„Ach, das gibt’s ja nicht. Sag’ lieber noch, was mit dem hier ist, unten in der Ecke, dem mit dem lachenden Gesicht. Das ist der Nettste von allen.“
Ich weiß nicht, ob es für richtig gefunden wird, daß der Rektor den beiden erzählte, wie dieser, „der Nettste von allen,“ geendet habe. Ich sage nur, wie es war. Vielleicht war er kein so richtiger Pädagog, vielleicht ließ er die Kinder nur so mit sich leben und zeigte ihnen das Bilderbuch seines Lebens mit den fröhlichen und mit den ernsten Seiten, wie es sich beim Umblättern traf. Weil er selber auch ein kindlicher Mensch war, dachte er nicht so viel daran: dies hier ist nun für Kinder, — und dies für Erwachsene.
„Es war keiner so sonnig wie er,“ sagte er und nickte ernst.
„Man mußte ihn lieb haben in seinen jungen und schönen Tagen.
Das mußte man. Er war seines Vaters einziger Sohn. Er hatte Geld und Gaben des Geistes, und Schönheit und Witz. Und er meinte, es gehe durchs ganze Leben mit Kling und Klang, alle Tage und Jahre.
Er hieß Ernst. Aber der Name war alles, was er vom Ernst besaß.
„Wir wollen es mit der Freude halten,“ sagte er.
Das habe ich hernachmals für richtig gefunden und halte es noch für richtig. Ich weiß nicht, wie einer das Leben bestehen kann ohne Freude. Aber er wußte nicht so recht, was Freude sei. Er meinte, die brausende Jugendlust, das sei sie schon.
Ich sag’ euch, man muß Ernst dahintersetzen, es geht nicht anders.
Er glaubte das nicht nötig zu haben. Wenn er einmal wollte, dann flog ihm das Wissen nur so zu. Aber er verbummelte. Er ballte nie die Hand zur Faust und sagte: leicht oder schwer, das will ich. Er dachte wohl immer: später dann, das kommt noch alles. Man sagt, er habe zuletzt, als er viele Semester durchkneipt hatte, noch einen Anlauf genommen. Das war damals, als sein Vater starb und nichts vom Vermögen übrig blieb.
Aber nun konnte er nicht mehr wollen.
Das Wollen, das kann einer in sich töten, so nach und nach.
Er hatte das Glas ausgetrunken und nun warf er es weg.
Er konnte nicht mehr leben als er sah, daß es leer sei. Und er wußte keinen, der es ihm neu hätte füllen können.“
Sie sahen fragend zu ihm auf.
Er strich sich über die Stirn.
„Ja, und dann ging er aus dem Leben. Dieser hier, der ‚Nettste von allen‘. Er ertrank im Neckar. Das konnte er noch wollen, sonst nichts mehr.“
Die Kinder atmeten tief auf und sahen scheu auf das Bild. Nun streifte der bittere Lebensernst ihre jungen Seelen.
Wenn das so war.
Der Großvater stand auf und hängte das Bild wieder an seinen Platz. Sie waren eine Weile stumm und drängten sich nah zusammen.
„Großvater,“ sagte Gertrud, „lebst nur du noch allein von allen?“
Da hörte er, daß eine leise Angst in ihrer Stimme lag.
Und er wußte, daß es das war:
Oben an der Höhe, die gleich hinter dem Städtchen ansteigt, und die ein kleiner Laubwald krönt, da war, einige hundert Schritte von der breiten Straße entfernt, eine junge Eichenpflanzung. Er ging dort gern hin. Er setzte sich manchmal im Sommer auf einen der Stümpfe, die dort als Reste von früheren Bäumen zwischen den jungen, schwanken Stämmchen standen, und hörte zu, wie es in den Wipfeln leise rauschte und sah, wie die Sommerluft in der Sonne zitterte.
Und er gedachte aller der alten Bäume, die hier vor Zeiten gestanden hatten, und was aus ihnen geworden sei, und sah liebend auf die jungen, die noch so schwank waren und im ersten Saft standen. Und es war ihm tröstlich in der Seele der jungen Bäume, daß dort drüben über dem Weg noch ein alter, knorriger Eichbaum stand. Nicht eben einer der schönsten, aber doch einer der alten.
Denn er umfaßte liebenden Gemütes alles, was geschaffen war.
So verstand er nun das leichte Zittern in seines Kindes Stimme: wo sind die andern? Und bleibst du? Du bleibst doch?
„Allein?“ sagte er. „Nein, wir sind noch zu vieren.“
Und er streichelte ihr Gesicht. „Noch stehst du nicht in der ersten Reihe,“ dachte er. „Wie lang noch? Aber ich will nicht darum sorgen. Es ist nichts zu fürchten. Die ganze Welt ist Gottes Haus. Du kommst ihm nicht aus den Händen.“ Da richtete er sich stramm auf und holte neue, frohe und starke Bilder aus seinem Bilderbuch, und wie er erzählte, dehnte sich ihnen, ihm selbst und den Kindern, die Welt, und wurde vorwärts und rückwärts und zu beiden Seiten groß und weit und war voll lebendigen Lebens.
**
*
So war es, wann die Kinder zur Dämmerstunde dort waren.
Das ging mit ihnen, das haben sie sich später hervorgeholt, wenn sie es je eine Zeitlang vergaßen.
Sie wußten nicht, daß sie in jenen Stunden zu einem guten Teil fürs Leben erzogen worden seien.
Erzogen? Es war die gemütlichste Stunde des Tages gewesen. So schön konnte es sonst nirgends sein.
Manchmal lustig, und manchmal still — froh, und manchmal ernsthaft, sehr ernsthaft, und manchmal ein bißchen schaurig.
Aber immer schön.
Aber nun war die Frau Rektorin allein bei ihrem Mann.
Sie hatte Gertrud zur Nähterin ins Eßzimmer gesetzt.
„Da, nun säumst du das Taschentuch. Immer zwei Fäden auf die Nadel, und zwei liegen lassen. Nein, kein Buch daneben legen. Du siehst sonst doch hinein. Was soll aus dir werden, wenn du nicht einmal ordentlich nähen kannst?“
Georg war zu Hause, er hatte Aufgaben zu machen. Er mußte sich rühren, er mußte gleichfalls allmählich „Ernst dahintersetzen“.
„Mann,“ sagte die Frau Rektorin, „lieber Mann, nun muß ich mit dir über Gertrud reden.“
„Das tun wir hie und da,“ sagte der liebe Mann und lächelte. Er wußte wohl, was nun käme? Er sah so aus.
Er öffnete die untere Ofentür. Es war erst allmählich dunkel geworden und es gehörte nun zu seinem Behagen, daß der Feuerschein in die Stube fiel.
Da sah sie sein lächelndes Gesicht.
„Mann,“ sagte sie, „es ist mir nicht zum Lachen.
Das wird nun allmählich Ernst.
Du läßt sie bei dir sitzen und Latein lernen, und lehrst sie alles Mögliche mit dem Jungen, dem Georg, zusammen. Du hast dein Vergnügen dran, ich weiß es.“
Das hatte er, das mußte er zugeben, es war nicht zu leugnen.
Er nahm die Pfeife aus dem Mund und sah nicht besonders schuldbewußt aus.
„Sie nimmt einem das Wort vom Munde weg,“ sagte er.
„Wenn sie eine Weile nachdenklich und ernsthaft ausgesehen hat, dann blitzt es in ihren Augen. Dann hat sie mich verstanden. Es ist eine Freude, das zu sehen, und eine Freude, sie zu lehren.“
Aber dahin wollte die Frau Rektorin den Wagen nicht lenken.
„Was?“ sagte sie. „Erzählst den beiden von den alten Griechen und Römern und von den Sagengeschichten. Ja, ich hab’ neulich zugehört; das von den Argonauten und vom goldenen Vließ. Und von Odysseus, dem ganz und gar durchtriebenen Lügner. Als ob du selber dabei gewesen wärst. Ist’s nicht genug, was sie in der Schule haben? Du gibst es ihnen wie ein Stück Leben.“
„Das hat dir auch gefallen, Anne.“
„Davon red’ ich nicht. Aber was soll das für ein Mädchen werden?
Frägt sie etwas nach hübschen Handarbeiten? Ist es ihr nicht einerlei, was für ein Kleid sie anhat? Ist das weiblich?“
Nun mußte er sie ausreden lassen, das wußte er.
„Setz’ dich, Anne,“ sagte er. „Komm, hier in deinen alten Freund, den Sorgenstuhl.“
„So, nun leer dein Herz aus.“
Es brachte sie aus dem Konzept, wenn er solchergestalt Edelmut übte. Sie mußte ihn dann immer ansehen. Ob er sich nun lustig macht? Die kleinen Fältchen um Mund und Augen zuckten wie von einer inneren Erheiterung. Und die Frau Rektorin wollte ernst genommen sein.
„Weißt du was?“ sagte sie.
„Gestern, als der starke Wind ging, der die Läden herumwarf und die Straßenlaternen fast auslöschte, da steht sie in der Küche bei Marie, die ohnehin ein Hasenfuß ist.
‚Hörst du?‘ sagte sie, ‚nun ist das Wuotesheer in der Luft. Hörst du, wie sie johlen und in die Hörner stoßen, und wie die Hunde bellen?‘
Da fängt die Marie an zu stöhnen: Uh, ich fürcht’ mich. Uh, ich geh’ nicht mehr an den Brunnen um Wasser. Meinetwegen hol’ Wasser, wer will, ich nicht. Dazu hab’ ich mich nicht verdingt, daß ich dem wilden Jäger in die Hände laufe. Und Gertrud nimmt den Eimer und geht selbst und kommt wieder mit einem Gesicht, als ob ein Fest sei: ‚prachtvoll ist das. Ich geh’ nochmals.‘
Jetzt frag’ ich dich: ist das ein Bub’ oder ein Mädchen? Gehört so ein Kind in die Lateinschule unter lauter Buben hinein?“
Der Herr Rektor ließ die Frage vorläufig offen.
Vielleicht dachte er, es komme noch mehr dazu.
Da hatte er nicht so unrecht.
„Ja, Mann, das Latein. Du lachst, ich weiß es. Aber es drückt mir das Herz ab. Ich muß es nun einmal sagen.
Da war bei uns zu Haus, in meiner Heimat, eine Frau. Sie hatte ja wohl früher einen Mann gehabt, aber der war nun lange tot. Die konnte auch Latein, jedermann wußte das. Sie kannte alle die heidnischen, alten Schriftsteller, wie unsereins sein Kochbuch. Kurzes, schwarzes Haar hatte sie, und so etwas wie einen Schnurrbartanflug. Und sie war der Schrecken aller guten Leute, aller netten, geordneten.
Einmal, da ging ich mit meiner Freundin, (du hast sie nicht mehr gekannt, sie hat vor mir geheiratet, nach Österreich hinein —) ja, also da ging ich mit ihr vor Tau und Tag hinaus. Wir wollten uns im Maientau waschen. Das taten wir alle Jahr einmal. Da steigt das lateinische Frauenzimmer in hohen Männerstiefeln und kurzen Röcken einher und watet durch Sümpfe und Gräben, und hat eine Blechkanne mit einem Henkel am Arm, darin sie das scheußlichste Gewürm sammelt.
Und grüßt uns noch freundlich, und hält mit der Hand, ja, mit der bloßen Hand, Mann, eine gelb und braun gestreifte Kröte empor, die glotzt uns dumm und breit an.“
„Das ist eine besondere Art, die ist hier herum selten,“ sagte sie.
„Und,“ schloß die Frau Rektorin ihre Geschichte, „jetzt frag’ ich dich, was hat das Kind, die Gertrud, das unser letztes ist“ — hier brach ihr die Stimme, — „was hat das mit Reiterstiefeln und Krötenfang zu tun?“
Denn sie wußte nun seit jenem Maimorgen eine Frau, die Latein konnte, nicht von diesem ihrem Schreckbild zu trennen.
„So lache doch nicht, Mann. Wirst du aufhören?“
Aber das war leicht zu sagen.
Sie lachte schließlich wider Willen mit, nur weil diesem Lachen niemand widerstehen konnte.
Aber dann trocknete sie sich ihr gutes, rundes Gesicht und sagte, daß ihr die Sache bitterlich ernst sei.
Da unterbrach er seine Wanderung und setzte sich zu ihr auf die Seitenlehne des Stuhls und war sehr ernsthaft und sagte:
„Nun fährst du wieder vierspännig, Anne. Auf und davon.
Also weil die Gertrud ein Mädchen ist, soll sie nicht lernen, was ihr Freude macht? Und weil du einmal eine sonderbare Frau gekannt hast, die gleichfalls lernbegierig war, darum gerätst du nun in Angst, daß unser Kind ebenso sonderbar werde?
Ich will dir sagen, Anne: Die Welt ist so groß und mannigfaltig.
Es wachsen allerlei Bäume darin. Laß wachsen, was wachsen will.
Wir können nicht sagen: es muß so sein und nicht anders.
Wir können nur helfen, daß da keine Unnatur mit unterläuft; nichts Unwahres und nichts Geziertes. Nicht, Anne?
Alle guten Geister, Anne.“
Wenn er das sagte, war sie stets besiegt. Sie war eine von denen, bei denen man die guten Geister nur anzurufen braucht, wenn sie einmal nicht von selber am Platz sind.
So leise und leicht schlafen sie.
Nun saßen sie beisammen und beredeten sich wie ein paar gute Kameraden, die sie ja auch waren, und die guten Geister der Stube spitzten die Ohren und horchten, und das Feuer knisterte leise vor sich hin und ließ seinen friedlichen Schein an der Decke und an den Wänden und auf dem Teppich spielen.
„Siehst du,“ sagte der Mann, „ich weiß wohl, das gerät so ein bißchen ungewöhnlich, wenn ein paar ganz alte Leute so ein junges Kindlein ins Haus bekommen. Da fehlt ein Mittelglied. Wir wissen nicht mehr so genau, wie das ist mit der sogenannten Erziehung.
Wir leben so mit dem Kind und geben ihm, was wir haben.
Du das deine und ich das meine. Ich meine, wir sind alle zusammen Kinder, und der liebe Gott hat aufzupassen, daß etwas Rechtes daraus wird und daß wir so gerad als möglich heimzu gehen.
Nicht, Anne? Das andere, das ist nicht so wichtig.
Ist das Kind nicht warmherzig und liebreich und offen?
Ein bißchen derb? Und nicht so recht aufs Zierliche, Ordentliche, Mädchenhafte aus?
Ist das schlimm? Du bringst das nicht an sie hin?
Nun, dann wollen wir dem Leben auch noch etwas zu tun lassen, nicht?“
Da nickte sie getröstet.
Es war eine wunderbare Stube, es glättete sich alles darin, was hohe Wellen der Unruhe schlagen wollte, und kam in ein friedliches Gleiten.
So dämmerhaft traulich ging es im Ehrenspergerhaus nicht zu, wenn es etwas zu verhandeln oder zu entscheiden galt. Aber das begehrten die Bewohner auch nicht. Sie hätten sich auch nicht so besonders dafür geeignet. Ein jeder nach seiner Art.
Bei Franzens Berufswahl bedurfte es überhaupt keiner Beratung. So wenig als sich, mit allem schuldigen Respekt zu sagen, ein Kronprinz besinnt, ob er einmal König werden will, so wenig besann sich Franz, ob er der Erbe der goldenen Bretzel werden wolle. Das war ganz natürlich und selbstverständlich. Bei Georg ging es nicht so fraglos zu, das wissen wir von Anfang an. Und also kam der Tag heran, von dem wir jetzt erzählen.
Es ging gegen den Frühling zu und war so ungefähr sechs Wochen vor Ostern, sieben Wochen vor der Konfirmation, Georgs Konfirmation nämlich.
Ja, und zur Nachmittagsvesperstunde war es, so zwischen vier und fünf Uhr.
Vater Ehrensperger saß an dem einen Ende des Vespertischs und der Sohn Franz am andern. Und sie aßen und tranken als gute, friedliche Bürger, die das ihre tun und sich nicht gern unnötige Gedanken machen. Das letztere taten sie denn auch nicht. Über dem Älteren hingen immer noch die beiden Edelleute und machten dieselben Gesichter wie von jeher; über dem Jungen prangte in goldenem Rahmen der Meisterbrief des letztverflossenen Ehrensperger, der, wie bereits gesagt ist, ebenfalls ein Franz gewesen war. Anmutig kreuzten sich zwei schneeweiße Gänseflügel über dem goldenen Rahmen, es sah friedlich aus, wie Franz der Jüngere unter ihnen sein Brot aß.
Jungfer Liese ging ab und zu nach dem Laden, und wieder herein, und hatte gleichfalls eine Seite des Tisches inne, und setzte sich respektvoll immer nur halben Leibes auf den Stuhl. Und so oft sie die Tür nach dem Laden auf und zu machte, drang ein nahrhafter Duft von Brot und Wecken herein, und also war die Luft, wenn man so sagen soll, ganz in der richtigen Mischung für Haus und Leute.
Es war alles gut, herkömmlich und behaglich.
Aber das blieb nicht so.
Denn der lange, magere Bub, der jetzt mit seinem Bücherpack unter dem Arm, mit langen Schritten und hungrigem Gesicht durch die Ladentür herein kam, der dieselbe offen ließ, daß die Schelle bimmelte, bimmelte in einem hohen, dünnen, schrillen Ton, bis Jungfer Liese ging und sie schloß und dazu einiges vor sich hinsagte, was kein Mensch verstand, — und der „heut wieder so ungemein der verstorbenen Frau gleichsah,“ wie Jungfer Liese vorwurfsvoll bei sich selbst dachte, der war so gar nicht herkömmlich, daß er geradezu die Luft verdarb, die behagliche, nahrhafte Luft dieser Vesperstunde.
Es ist damit nicht gesagt, daß dieser, der jüngste Sohn des Hauses Ehrensperger, kein volles Heimatrecht in der Stube seiner Väter genossen hätte. Es war kein einziges streitsüchtiges oder mißgünstiges oder sonst ungerechtes Element in dieser Stube. Er war nur niemand da, der mit den Augen des Rektors Cabisius, oder mit den Augen einer Mutter zugesehen hätte, was da werden wolle.
Und es war jetzt gerade ein unbehaglicher Zeitpunkt. Es mußte ein Entschluß gefaßt werden, und, ohne dem Meister Ehrensperger irgendwie zu nahe zu treten, muß doch von ihm bekannt werden, daß es nicht zu seinen Liebhabereien gehörte, Entschlüsse zu fassen.
Er hielt es für einen Vorzug, wenn die Dinge von selber ihres Weges gingen. Jetzt dies, jetzt das, immer eins aus dem andern.
Es war ihm etwas unbehaglich zu Mute. Er kaute stumm und schwer, und auch Georg fing an, desgleichen zu tun. Aber er sah seinem Vater dabei fragend in die Augen. Das pflegte er seit einiger Zeit öfters zu tun, nicht ohne Grund. Denn der Vater sollte einmal zu dem Rektor gehen und mit ihm besprechen, „wie die Geschichte nun weiter laufe.“
„Gehst du heut?“ sagte der fragende Blick.
Nun wird vielleicht mancher verstehen, daß es störend ist, während des Essens mit fragenden Augen angesehen zu werden.
Das ging dem Vater Ehrensperger nicht anders.
Er wurde nicht leicht hitzig. Es lag nicht in seiner Natur, hitzig zu werden. Aber dies ging ihm gegen den Strich.
„Bub,“ sagte er, und stellte das leere Mostglas auf den Tisch, daß es dröhnte, „Bub, guck nicht so.“
Aber damit war nichts erreicht, das fühlte der Vater selbst.
Und es wuchs ihm der Mut, den sauren Apfel, den er nun schon lang in den Händen hin und her drehte, — nicht anzubeißen.
„Du,“ sagte er, als der Junge vor sich hinsah wie einer, mit dem das Schicksal hart verfährt, der aber gesonnen ist, sich nicht allzuviel draus zu machen, „du, ich hab’ mir das überlegt. Ich brauch’ da nicht hinzugehen, ich versteh’ so nichts vom Studieren.
Ich, ich hab’ seither gezahlt, was es kostet, und, ja, und ich zahl’s auch nachher noch. Das ist die Hauptsach’. Gar so viel wird’s nicht mehr kosten, was meinst?“
Das wußte Georg nicht so genau und sagte das auch, obgleich Jungfer Liese lebhaft mit dem Kopf nickte in der Hoffnung, daß „es“ nicht mehr allzuviel koste.
„Ja, also, und jetzt sag’s, es kommt auf dich an. Was willst jetzt werden? Lateinisch kannst und also studiert muß sein, aber ich sag’ da nichts drüber. Denn warum? Einen Lernkopf hast du, und was es kostet, zahl’ ich. Wiewohl, es ist eine Hungerleiderei nachher. Das sieht man am Vetter Häberle.“
Der Vetter Häberle war Präzeptor in einer größeren Stadt, und hatte sechs Kinder und eine leidende Frau, und die ganze Familie sah etwas blutarm aus und war dem Meister Ehrensperger eine Warnungstafel vor „der hungerleidigen Schulmeisterei“.
„Ich werd’ kein Hungerleider, ich werd’ Pfarrer,“ sagte Georg etwas patzig. Es ward ihm doch ein bißchen unsicher, daß er das so für sich entscheiden sollte.
„Was?“ sagte der Vater, „Pfarrer? Jetzt wird’s Tag. Wie kommst du denn grad auf einen Pfarrer?“
Und alle drei hörten zu essen auf und legten die Arme auf den Tisch, um recht fest zusehen und zuhören zu können, was nun käme. Nicht, daß sie etwas dagegen gehabt hätten, gegen das Pfarrerwerden nämlich. Aber es war ihnen so ein erstaunlicher Gedanke, daß dieser hier, der jüngste, an dem Jungfer Liese mehr als genug zu meistern hatte, daß der einst in einem langen, schwarzen Rock hier herumgehen und ihnen allen gelegentlich den Leviten lesen würde. Und daß er dereinst das schöne, vornehme Stadtpfarrhaus mit den Rolläden bewohnen und da heraustreten und von jedermann gegrüßt werden würde. An die Kanzel, da durften sie schon gar nicht denken. Da stand er und hatte einen Kirchenrock an und Bäffchen und sagte: in dem Herrn Geliebte!
Das alles schoß den dreien so geschwind durch die Gedanken, da konnten sie schon auf ihn hin staunen.
Georg hatte schon eine Vorgeschichte für seinen Ausspruch; aber als er das Wort gesprochen hatte, staunte er selber mit den andern. Jetzt hatte er es gesagt, jetzt mußte er das auch werden. Da klopfte ihm doch sein Bubenherz.
So war es zugegangen:
Er hatte durch einige Jahre hindurch nicht viel Kameradschaft mit seinen Altersgenossen gehabt. Denn er war ein Einspänner von Natur und schloß sich nicht leicht auf. Auch hatte er, trotz seiner mutterlosen Kindheit, reichlich gehabt, was er fürs Gemüt brauchte; wir wissen es.
Aber nun hatte es ihm einen starken Ruck gegeben. Denn nun fingen sie alle an, sich zu zerstreuen und ein jeder in eine gewiesene Bahn einzutreten. Alle wußten sie irgendwie, wo hinaus. Es schwirrte in jeder Freistunde von Zukunftsplänen. Und das war für Georg Ehrensperger, der ein Träumer war, ein kräftiger Anstoß dazu, daß er sich fest auf die Füße stellte und die Augen rieb, und, da er all das junge Blut um sich her als etwas nah Verwandtes erkannte, es ihnen gleich tun wollte. Und da er erschrocken war, wie einer, der zu lang geschlafen hat und es nicht Wort haben will und rasch nach einer Arbeit greift, um es zu verbergen, so griff er schnell ins Leben hinein: her mit einer Aufgabe! ich will hier auch mittun. Ganz ernsthaft will ich hier mittun.
Konnte er den Kameraden, wenn sie ihn fragten: was willst du werden, Ehrensperger? — konnte er ihnen sagen, was er sich nächtlicher Weile unter der Bettdecke ausgedacht, oder was er mit Hollermann ausgemacht hatte? Das alles hatte ja weder Hand noch Fuß für ihn. Traumland war es. Kein einziger von allen wollte Musiker werden, es fiel keinem ein. Das konnte man wohl gar nicht.
Also gab er sich einen gewaltigen Ruck und legte die klingenden Zukunftsträume auf den Altar der Vernunft, und gedachte auch ganz ernsthaft, sie dort zu lassen, und machte zu dieser Verrichtung des Opfers ein Gesicht, streng und pflichtbewußt, wie ein spartanischer Knabe, der seine schwarze Suppe ohne Mucken aß, weil das Vaterland es wollte.
Es war aber bezeichnend für diese Zeit, daß er nicht den Rektor um Rat fragte, sondern sich mit den Schulbuben beriet, die seinesgleichen wenigstens dem Alter nach waren.
Und weil Fritz Hornstein, der Sohn des Oberförsters von Aichelbronn, Pfarrer werden wollte, ganz aus eigenem Antrieb, und weil Fritz Hornstein der feinste, klügste unter den Buben war, Georgs heimliches Ideal, und weil er sagte, Pfarrer zu werden dürfe einen niemand anweisen, das müsse man ganz selbst, von innen heraus, (— so sagte er wirklich —) so wurde es Georg auf einmal ganz klar, daß er ebenfalls ganz aus eigenem Antrieb Pfarrer werden wolle, und daß es ihn niemand anweisen dürfe, sondern daß er es deutlich in sich selber spüre, daß er das werden müsse.
Es war ihm zwar ein Trost, zu denken, daß man als Pfarrer immer den Kirchenschlüssel habe und darum an jedem Werktag ohne Zeugen in der leeren Kirche die Orgel spielen könne. Denn das tat der sehr musikliebende Stadtpfarrer öfters und das gedachte er dann auch zu tun.
Das hatte er sich nun deutlich ausgesonnen und so konnte er seine Antwort ohne Zögern geben. Daß er vor der Größe des Augenblicks erschrak, war nur natürlich.
„Ja, also, Bub,“ sagte endlich der Vater in die entstandene Pause hinein, „jetzt könntest einem einmal eine Antwort geben, wieso du grad Pfarrer werden willst.“
„Ha, was soll ich denn sonst? Ich muß doch etwas werden. Präzeptor werd’ ich nicht. Was soll ich dann?“
Da wußten sie alle drei keine Antwort.
Ja, dann konnte er ja freilich ebensogut Pfarrer werden, wie etwas anderes. Sie fühlten wohl alle etwas von der Wichtigkeit des Entschlusses, und daß es ihnen frei stand, ob sie einen Doktor oder einen Amtmann, oder sonst etwas Bedeutendes unter ihrem Dach hervorgehen lassen wollten.
„Ja, Bub, dann kann man ja nichts machen, wenn du das partout willst. Dann werd’ das eben. Dann ist das ja in der Ordnung. Dann kannst du ja nachher hingehen und sagen, daß du das werden willst und daß ich das zahle.“
Nun hatte er noch das Gefühl, daß er irgend eine väterliche Ermahnung hinzufügen müsse und fuhr sich ein paarmal durch das Haar und sagte: „Aber das sag’ ich dir, Bub: sparsam mußt du sein und fleißig. Und eine Klag’ will ich nicht hören. Und brav sein. Zu dummen Streichen geb’ ich kein Geld her. Und einzubilden brauchst dir auch nichts. Wir sind auch noch Leut hier, nicht bloß ihr.“
Er rechnete ihn wohl schon zu den Angestellten? Zu den hoch Gebildeten? Die beiden andern kopfnickten lebhafte Zustimmung. Nein, einzubilden brauchte er sich nichts.
Dann stand der Vater auf und zog seinen Ausgangsrock an. Er hatte noch mit dem Müller Hensler zu reden.
„Siehst du,“ sagte Jungfer Liese erbaut und gerührt. „Siehst du, da geht er hin über den Markt. Und einen besseren Vater kriegst du deiner Lebtag nicht mehr.“
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Also hatte der Bäcker Ehrensperger seine väterlichen Funktionen auf sich genommen, und es blieben dem Rektor Cabisius auch noch einige übrig, und er kam niemanden damit ins Gehege, daß er sie ausübte. Es war eine friedliche Teilung. Es gab jeder, was er zu geben hatte, und keiner gab, was er nicht hatte.
Einiges, was der Rektor zu tun hatte, war bewußt und sozusagen offiziell. Das hing mit dem Studienplan zusammen, mit allerlei Ratschlägen, die sonst niemand zu geben wußte.
Einiges andere geschah nebenher und war selbstverständlich und nicht minder wichtig. Das war das, was aus dem alten, abgeklärteren Gemüt in das junge hinüberfloß. Bei dem Besten, das geschieht, pflegt man es am wenigsten zu wissen, daß etwas geschieht.
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Es war bald nach jener Unterredung in Ehrenspergers Ladenstube gewesen. Am Konfirmationssonntag. Mitte April. Aprilwetter. Der Schnee wirbelte in der Luft umher, und der Wind blies aus vollen Backen. Er nahm es ganz ernst; er meinte wunder was er zu verrichten habe. Aber gleich war die Sonne wieder da. Sie war in guter Laune; so recht wie eine fröhliche Kindermutter, die am Sonntag Nachmittag ein bißchen mit den Kindern spielt, und die sich nun den Spaß gemacht hat, sich zum Versteckspiel herzugeben.
„Kinder,“ sagte sie lachend, und schob die Wolkenvorhänge weit zurück und trat ganz hervor, daß alle sie sehen konnten, „Kinder, das war ja nicht ernst gemeint. Seid ihr erschrocken? Nun bin ich wieder da. Ihr müßt auch Spaß verstehen.“
Denn die hellbegrünten Hecken und einige voreilige Blütenbäume, die schon in weiß und rosa prangten, standen ganz verdutzt. Es war ihnen Schnee in die Augen geflogen. Nun rieben sie die aus und konnten es nicht hindern, daß große Tropfen, wie helle Kindertränen, herausquollen und zur Erde fielen.
„So, so,“ sagte die Sonne und streichelte sie warm und trocknete ihnen die Gesichter. Da lachten sie wieder. Da lachte alles mit ringsumher. Die braune Erde und die junge, aufsprossende Saat, und die lichtgrünen Raine, an denen die Gänseblümchen mit großen Augen in den Tag hinein guckten.
Und der blaue Himmel, und die weißen, geballten Wolken, die wie Schneeberge aussahen. Die erst recht, da sie geholfen hatten, den Spuck zu verüben.
„So, nun ist das recht,“ sagte die Sonne, denn sie mag gern freundliche Gesichter leiden. Und ihr mütterliches Gesicht war ganz rund und glänzend vor Freude.
Da kamen die drei den schmalen Feldweg entlang, der auf einer Seite die Hecke hat und an der andern hart an die Kornäcker stößt. Der Rektor Cabisius und die beiden Kinder Georg und Gertrud. Die Kinder gingen voran und gingen eine Weile Hand in Hand. Aber das nicht lange. Der aufgeschossene Junge in schwarzen Konfirmationskleidern, der den Kopf mit dem neuen Hut so steif hielt, als wäre er einzig des Hutes wegen da, der war heut nicht so eigentlich ein Genosse. Der war etwas Besonderes, eine eigene Sorte von Menschen, um und um feierlich. Nach einer Weile machte er seine Hand los und ging aufrecht einher, und das Mädchen bückte sich und brach einige Gänseblümchen und blaue Ehrenpreis. Der Rektor hatte den Hut abgenommen und ließ die starke, lebensvolle Frühlingsluft über seinen grauen Kopf hinspielen. Seine Augen gingen auf eigene Faust spazieren, in die Nähe und in die Weite. Da wurde seine Seele voll von dem frischen Bilde, das durch die hellen Fenster zu ihr hineinschien und sie freute sich dessen und mußte es auch aussprechen.
Das sagte er leise und zustimmend vor sich hin.
Er hatte das Scharmützel vorhin ernst genommen, das Schneien und Stürmen, und daß nun die Sonne schien.
Aber wir wissen schon, daß er zu denen gehörte, die im Heiteren den Ernst und im Ernst das Frohe finden.
Da, als die drei ein wenig schweigsam dahingingen, ein jedes in seinen Gedanken, hörten sie einen frischen Gesang über die Felder hinschallen, der kam näher und näher.
Die sangen, waren junge Burschen und Mädchen aus dem Weiler Hinkelsbach, die nach ihrer Gewohnheit am Sonntag Nachmittag ein Stück weit in die Felder hinausgingen. Sie gingen zu dreien oder vieren, wie es der Weg erlaubte, und hielten einander lose an den Händen gefaßt, und ihr Lied klang gut zusammen aus frischen Kehlen. Es war eins von den ernsten, traurig-schönen Liedern, die das Volk gerne singt, wenn es fröhlich ist, und handelte von jungem Leben, das in Kampf und Tod geht, von der Schönheit und Kraft, die schnell entschwindet, von der Lust, die ein Ende findet, eh’ man’s denkt, und davon, daß der Mensch sich „still fügen muß, wie Gott es will.“ Die drei blieben stehen und horchten. Da bogen die Sänger ab, gegen den Waldrand hin, und der Schluß ihres Liedes tönte nur noch so verloren herüber.
Der Rektor nickte mit dem Kopf und sah eine Weile über das Feld hin, als sähe er den Tönen nach.
„Das ist ein schönes Lied,“ sagte er. „Und ein frommes Lied. Man muß es recht verstehen. Ja, nun seht ihr mich an und wißt es noch nicht. Das kommt noch, später.“
Der Rektor hatte einst in seiner Jugend Theologie studiert. Aber kurz bevor er ins Pfarramt treten sollte, hatte er sich entschlossen, lieber ein Schulmeister zu werden. Denn erstens hatte er sich stark im Verdacht, daß er bei seiner Neigung, innerliche Wahrheiten auf eigene Weise und in eigener Sprache ins Leben zu übersetzen, doch nicht so recht auf die Kanzel passe, und zweitens zog es ihn auch stark zur Jugend. Das hat er nie bereut. Aber etwas war doch an ihm hängen geblieben. Er hatte die Neigung, hie und da eine Predigt zu halten. Er wußte meistens nicht, daß es eine sei, und die ihm zuhörten, wußten es auch nicht. Auch mischte er leicht geistliches und weltliches durcheinander. Er hatte keine Schubfächer in seinem Innern: hie Gott, hie Mensch, hie geistliches, hie weltliches. Es war ihm alles ein Stück Leben, es floß alles aus einer Quelle, groß, schwer und schön. Schlug ein äußeres Geschehen eine innere Saite an, dann ließ er sie klingen. So auch jetzt. Seine Seele war liebender Gedanken voll für die jungen Menschen, die heute gelobt hatten, mit den empfangenen Waffen für das Leben, gegen den Tod, zu streiten. Das Lied brachte ihn zum Überfließen.
„Ja,“ sagte er, „wacker streiten, das ist’s. Das hat Jesus auch getan und ist gestorben als ein Held. Das sollen wir auch tun.“
Und er erzählte ihnen, innere Gedankenreihen zusammenhängend, zuerst von der Schlacht bei Sempach, und von Arnold Struthan von Winkelried. Der war einer seiner Lieblingshelden, obgleich er nicht geschichtlich erwiesen ist.
Die beiden horchten hoch auf.
Wie der starke und treue und kühne Mann sah, daß seinen Genossen der Mut entwich, und wie er beschloß, sie zu retten, und die Speere der Feinde mit den Armen zusammendrückte und sich in die Brust stieß und rief: Brüder, ich will euch eine Gasse machen, und darüber starb. Und wie die Seinen durch die Gasse hindurchbrachen, zur Freiheit.
Als er das erzählte, da blitzten seine Augen, als ob ein starkes, loderndes Feuer dahinter läge.
Und er sagte, daß das Jesus auch getan habe, nicht einigen, nein, allen zuliebe und in einer viel größeren Sache. Wie er die Menschen aus der schmählichen Knechtschaft herausführen wollte und sie wieder zu freien, frohen, adeligen Söhnen Gottes machen, — und wie er, als kein anderer Weg dazu war (denn er warf sein Leben nicht leicht weg), beschloß, sein nicht zu achten um der andern willen. Und ging den Feinden entgegen, und drückte sich die Speere in die Brust, und starb, und machte der Freiheit eine Gasse, größer, als ein anderer Held auf Erden je getan hat. Da sahen die Seinen, daß nichts für sie zu fürchten sei, nicht das Leben und nicht der Tod, und gingen ihm nach. Und, da sie vorher zag und ängstlich gewesen waren, bekamen sie nun mutige Herzen und fröhliche Augen. Das machte, daß sie dem Vater nahe kamen, so nahe, daß sie ihn mit du anreden konnten. Und sie trugen seine Waffen. Georg, man hat dir gesagt, welche das sind. Und sie sahen sich um nach denen, die nach ihnen kamen, die Alten nach den Jungen, die Starken nach den Schwachen, die Reinen nach den Unreinen, und reichten ihnen die Hand, und halfen ihnen, vorwärts zu kommen. Wie sie es ihn, der die Gasse gemacht, hatten tun sehen. Das ist nun bald zwei Jahrtausende her, das strömt noch immer. Das ist ein langer, langer Zug, unabsehbar lang. Der wird strömen, so lang Menschen auf der Erde sind. Seht ihr’s, dazu gehören wir auch.“
Da waren sie eine Weile still und sahen über das Feld hin, als ob sie dort lange, lange, ziehende Menschenheere sähen, von Jahrtausenden her, bis zu ihnen hin. Die trugen alle blitzende Waffen, und reichten einander die Hände und gingen gerade aus, dorthin, wo hinter dem waldigen Berg nun die Sonne niedrig stand und das Land mit einem goldenen Licht segnete. Und sie winkten ihnen mit Augen und Händen: kommt. Da ging etwas Großes durch die Kinder hindurch; sie wußten es aber nicht zu benennen. Es war etwas Gewaltiges, Starkes, das in ihr Leben griff, zu dem sie selbst gehörten, ernst und froh. Leise faßten sie die Hände des alten Mannes, und als sie zu ihm aufsahen, da staunten sie. Der ganze Glanz der Abendsonne, in die er sah, lag auf seinem Gesicht. Aber nun kehrte er sich wieder zu ihnen, und dann gingen sie mitsammen nach Hause.
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Er hatte nicht viel dazu gesagt, als Georg an jenem Tag kam und ihm seine Berufswahl verkündigte. Er fragte ihn auch nicht viel nach den Gründen, die er dazu habe. Das konnte ja noch alles werden, wie es wollte. Ein Wort, ja, am andern Tag, als sie in der Schule Goethes Iphigenie lasen. Da kam es an Georg Ehrensperger, wie Pylades sagt: ein jeglicher muß seinen Helden wählen, dem er die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeitet. —
Da stand plötzlich der Rektor neben ihm und klopfte ihm mit dem Buch auf die Achsel, sah zu ihm hinein und sagte lächelnd: „Nun, also, du hast dir den deinigen gewählt, Georg. Ja, man muß sich an einen ganz Großen halten, die mittleren versagen unterwegs.“
Georg wurde rot. Wußte der Rektor, daß Hornstein —? Ach nein, das konnte er nicht wissen. Er verstand ihn damals nicht so recht. Es war gerade jetzt eine Zeit, da die jungen Leute in gute und treue Belehrung bis über die Ohren eingewickelt waren.
Sie hatten den Katechismus und das Fragenbuch auswendig gelernt und waren in die christliche Kirchenlehre eingeführt worden. Aber Georg war manchem davon, wie damals der braven Jungfer Liese, unter den Händen weggelaufen, wenigstens mit seinen Gedanken.
In seiner Kammer hing der Stundenplan, den las er morgens ab: Religion, Latein, Latein, Griechisch, Algebra. Und was das mehr war. Oder auch in anderer Reihenfolge. Es waren lauter Fächer, auf die man zu arbeiten hatte. Auf Religion noch am wenigsten, das war gut, weil sich die Aufgaben manchmal stauten. Einiges auswendig lernen; das war bald geschehen. Auch war es leider kein besonders anregendes Fach. Das ging vielleicht manchem andern anders. Ihm ging es nun so, daß es ihn nur selten persönlich aufstörte: Du, das geht dich selbst an. Es war kein Stück Leben; für ihn noch nicht. Er war in Gefahr, nicht viel lebendiges mit sich zu nehmen. Vielleicht war er noch zu jung dazu, vielleicht auch zu träumerisch.
Darum verstand er damals den Rektor nicht so recht. Aber heute war es anders.
Nun war da ein Funke hineingeflogen. Wann das so war!
Alle die ziehenden Menschenheere, und ein Held voran, auf den sie sahen, größer als Kolumbus, der Neulandentdecker und Alexander der Große, und alle Sagenhelden der Vorzeit. Und er sollte da mitgehen.
Es muß ja gestanden werden, daß er noch nicht recht sicher war, gegen was er alles streiten wollte. Aber streiten wollte er nun sicher, wacker streiten. Vielleicht waren das nun auch wieder Träume, wer kann das untersuchen?
Aber es war wohl etwas, daß an diesem Tag sein junges Herz ins Klopfen kam und eine Größe und Weite spürte, wie noch nie.
Eins — zwei — drei — nun schlug die Uhr auf dem Rathaustürmchen aus. Vier Uhr des Morgens.
Ein leichter Windstoß bewegte den offenen Fensterflügel und blähte den dünnen Vorhang ein wenig. Auf dem Dache saß eine Amsel und sang ihr Morgenlied. Nun hallte die Morgenglocke vom Turm her über das Städtchen hin. Bam bam — bam bam — in großen, feierlichen Schlägen.
Die Tauben gurrten am Schlag. Der war dicht neben Georg Ehrenspergers Kammer.
Die Kammer hatte er sich nun vor einem Jahr eingerichtet. Es war eine Rumpelkammer gewesen, ganz voll von altem, verstaubten Geräte, mit einem holperigen, ausgetretenen Fußboden und schadhaftem Kalkbewurf. Es gab bessere Räume im Haus.
Aber er hatte ein paar freie Nachmittage im Schweiß seines Angesichts geschafft, und war am Abend mit Spinnweben im Haar und bestäubten Kleidern heruntergekommen, stolz wie ein König. Nun hatte er ein ganz eigenes Reich, das stattete er sich aus, wie er wollte. Bilderbogen an den Wänden: ein Schlachtenbild, und eine Geschichte von Till Eulenspiegel, und eine von Reinecke Fuchs. Und die Flöte hing an der Wand. Ach, es war viel mehr in der Kammer, als man so mit bloßem Aug sehen konnte. Niemand wußte, wie vielerlei es darin zu sehen gab, als er allein. Gertrud wußte es auch. Aber sie kam nie hier herauf; sie wußte es nur vom Hörensagen. Das allerdings so genau, als ob sie stündlich hier aus- und einginge.
Das ganze Heer der Bubenträume ging durch die Tür herein, die immer knarrte und stöhnte, wann der Wind um den Giebel strich, — und unter der schrägen Wand hin, und flog wieder zu dem hochgelegenen Dachfenster hinaus, über die Häuser und Felder und Höhen, und in die Weite. Das hatte hier oben Raum, sonst nirgends im ganzen Hause.
Der Bewohner der Kammer war schon wach. Als die Glocke anfing zu läuten, stand er auf und trat ans Fenster. Die Morgenluft strich herein und um ihn her; er schauerte ein wenig; es war kühl.
Die Luft war noch ein wenig grau, durchzogen von den letzten, fliehenden Schatten der Dämmerung. Der Marktplatz lag leer und still; der Röhrenbrunnen ließ seine Wasser plätschernd in den großen Trog fallen. Nun ging eine Stalltür. Ein Knecht — der Knecht des Fuhrmanns Rammlinger, der in dem gelben, vorspringenden Haus schräg gegenüber wohnte, — führte zwei schwere, braune Gäule aus dem Stall zur Tränke, an den niedrigen Steintrog, der den Abfluß von dem großen Brunnentrog erhielt. Die Hufe hallten auf dem Steinpflaster, schwerfällig, trab, trab, trab. Man hörte das Schnaufen der Gäule, einer wieherte auf, dann der andere; der Knecht stand stumm dabei. Als sie fertig waren, führte er sie wieder hinein, dann war der Platz still und leer wie vorher.
Nun ein heller, zirpender, zwitschernder Laut.
Eine Schwalbe flog aus dem Nest, das oben an der schrägen Giebelwand klebte, und flog mit schnellem Flügelschlag quer über den Platz hin. Nun kamen sie von da und dort her — da flog eine und da eine; sie setzten sich auf die Telegraphendrähte, die quer über den Platz gespannt waren, von der Posthalterei zum Rathaus, — und von da weiter, irgendwo, in die Welt hinein. Da saßen sie auf den blinkenden Drähten und schwatzten. Sie wollten nun bald fortfliegen, übers Meer, es wurde wieder einmal Herbst. Und sie hatten noch vieles zu beraten. Da waren einige der Führer vom vorigen Jahr nicht mehr da, und es war die Frage, ob sie den Weg auch richtig wüßten. „Ach,“ sagten die einen, „Kinderspiel. Das hat man doch in sich.“ „Der Sehnsucht nach,“ sagte ein Schwalbenjüngling, der am Dachfenster des Mädchenschulhauses groß geworden war. Dort wohnte der jüngste Lehrer, der zu einem dünnen Klavier mit vollem Brustton sang:
Der Schwalbenjüngling wußte nicht, was das für ein Land sei, aber es war anzunehmen, daß sie beide dasselbe meinten, und es gefiel ihm, von der Sehnsucht zu reden, da es eine angenehme, drängende Empfindung war: auf, fort, hinaus.
Einige Schwälbchen zwitscherten leise und ehrfurchtsvoll dazu, andere sagten: „zur Sache,“ und dann wurde das Ganze mehr geschäftlich behandelt, wie es sich für solch ein wichtiges Unternehmen auch gehörte. Darum konnten sie doch danebenher hohe und starke Gefühle haben; ja, das brauchten sie doch. Denn wer will den Flug übers Meer unternehmen, über dräuende Untiefen und in schwindelnde Höhen — der nicht einen großen starken Trieb und ein mächtiges Verlangen hat?
Georg stand eine Weile am Fenster und sah in die lebendige Morgenstille hinein. Es war ihm wohl ähnlich zu Mut wie den Schwalben. Auch er rüstete sich zum Flug. Darum schuf die Morgenfrühe mit ihren wenigen Bildern und Tönen eine große, feierliche Erwartung in seinem fünfzehnjährigen Herzen. Was mochte der Tag bringen? Der heutige, und dann weiter — weit hinaus?
Da lagen die neuen Kleider, lange Beinkleider und eine Joppe. Er war ein junger Mann, als er sie angezogen hatte. Da wurde ihm schon sicherer zu Mute. Es war ja alles klar und ausgemacht. Nun kam er in die große Stadt, da ging er noch drei Jahre aufs Gymnasium. Dann kam die Universität, dann vielleicht einmal ein Militärjahr dazwischen. Dann lag da hinten irgendwo das Leben. Als ob bis dahin ein Fluß sei; dann ein Strom, dann, in grauer Ferne, das Meer. Es war alles ganz gerade und sicher. Es war zwar, das muß gesagt werden, ein Riß in Georgs Vorleben. Gerade in der Geschichte dieses Sommers. Er hatte mit fünf anderen Schülern aus des Rektors Schule, wie es das Herkommen bestimmte, das Landexamen gemacht, um dann durch die Seminarien zu laufen in schöner, glatter Bahn. Aber er war nicht durch das enge Tor gekommen. Er war vielleicht nicht fleißig genug gewesen oder man hatte gerade andere Sachen gefragt, als er wußte. Kurz, er kam nicht hinein. So mußte er denn seinen Weg von den andern scheiden. Einer, der kleine, blonde Ernst Daxer, der Sohn der Postmeisterswitwe aus der Sporengasse, der ging auch mit ihm. Der fand einen Unterschlupf bei Verwandten in Stuttgart. Sonst hätte es seine Mutter nicht an ihn wenden können.
Aber Ernst Daxer war nicht gerade Georgs Höchstes. Er hatte ein weiches, rundes Kindergesicht mit Grübchen in beiden Backen und hatte enge, kurze Hosen. Nichts um sich daran zu erheben, gar nichts Heldenhaftes. Und Fritz Hornstein, der alles hatte, eine tiefe Stimme und alle angehende Männlichkeit in Haltung und Wesen, der war natürlich hineingekommen.
Ja, es war schon ein Riß. Aber der Pfarrersgedanke war nun doch schon genugsam ausgesponnen; er hatte jetzt Lebenskraft genug, um auch ohne solche äußeren Stützen, wie Seminar und Hornstein, fort zu bestehen. Georg wußte, was er zu tun hatte. Er wollte Ernst dahintersetzen. Alle verschwommenen Zukunftsgedanken hatte er weggelegt. Als er sich dessen versichert hatte, ging er aus seiner Kammer und ging die knarrende Stiege hinunter und in die Backstube. Dort setzte er sich auf den Tisch, ließ die langen Beine herabhängen, aß heiße Wecken und mischte in seinem Innern die feierlichen und die behaglichen Gefühle, und es gab eine Mischung, wie man sie am Morgen eines Abschiedstags, früh zwischen vier und fünf Uhr nur verlangen kann.
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Der Abschiedstag schien auch in die Backstube; hinten herein stahl er sich, durch den schmalen Hof, zwischen Holzschuppen und Hauswand, und sah durch das Fenster auf den Buben, der da mit den Füßen baumelte und die Arme gekreuzt hatte: „So, da bist du? Bist mir oben ausgerissen? Aber das hilft dir nichts, denn ich habe auch nicht mehr Stunden als andere Tage, leider, und die Eisenbahn wartet nicht.“
Da fiel es dem Ausreisenden ein, daß er noch viel zu tun habe. Er glitt vom Tisch herab, der Geselle löschte das Gas; Franz ging, vom Kopf bis zu den Füßen mehlbestäubt, in ledernen Schlappschuhen hin und her, und trug das Brot für die Wiblinger, schwarzes und weißes, auf seinen Armen. Jungfer Liese aber füllte die Fächer des Ladens damit.
Da stand eine Wanne voll Wecken, hochaufgetürmt, die waren bräunlich und glänzend und dufteten so lieblich, als wollten sie den Reisenden noch in letzter Stunde an der Nase festhalten. Sie knisterten leise, wenn man an die Wanne anstieß, so rösch gebacken waren sie. „Laß mich,“ sagte Georg, und trug die Wecken vor sich her. Er stolperte aber auf der mittleren der drei Stufen, die von der Backstube zum Laden hinaufführte und kollerte samt den Wecken dort hinein. Wie schön war es zu Hause. Wenn er nun dabliebe und ein Bäcker würde, so streifte ihn ein sekundenlanges Gefühl. Ach, hinweg damit. Das Leben mußte ja seinen Gang gehen.
Da setzte er die rote Mütze auf und ging aus dem Hause. Er hatte es ja nicht wie die Schwalben, er hatte seine alten Führer noch. Nun ging er, um sich von ihnen ein gutes Wort zum Abschied zu holen. Es war zwar noch früh, aber es litt ihn nicht mehr im Hause. Zu Hollermann konnte er ja immerhin schon gehen. Der war ein Frühaufsteher von jeher.
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Ach, wißt ihr, wie das ist, wenn man seine Vaterstadt zum erstenmal verläßt? Wißt ihr aus Erfahrung, wie da alles und jedes ein Gesicht und eine Stimme bekommt, auch das allergleichgültigste?
Es ist ja wie ein Bilderbuch, das man noch einmal durchblättert, nur daß die Bilder lebendig sind.
Da sind die alten, hohen Häuser am Säumarkt. Ja, so heißt er, das läßt sich nun nicht ändern. Die stehen beisammen und neigen, wenn man so sagen soll, oben die Köpfe zusammen. Die mögen schon etwas erlebt haben, seit sie da stehen. Da ist das Haus des uralten Kaufmanns Hahn, der nach der Meinung der Jugend ebenso alt und ebenso vornübergebeugt ist, wie sein altes Haus. Ach, riecht es dort drinnen in seinem Laden nach Schnupftabak, Käse und Häring! Ach, liegt und steht und hängt es dort voll mit allem erdenklichem Gerümpel. Es ist ja fast nicht vor dem Haus vorbei zu kommen. Wie oft sind die Buben dort drin gewesen, ihrer so viele als möglich miteinander, und einer kaufte einen Bleistift für drei Pfennig und die andern fragten nach tausenderlei unmöglichen Dingen. Und jeden fragte Herr Hahn: „was ’fällig, he, hm?“ Er war nicht von Wiblingen gebürtig, der Herr Hahn. Sonst hätte er nicht so gefragt. Aber das gab jedesmal ein unauslöschliches Gelächter. Es bedarf so wenig, um die Wiblinger Jugend zu solch einem Jubel zu bringen. Wenn es gar zu bunt wurde, dann ging er umständlich in seine Ladenstube hinein und brachte von dort einen Hakenstock heraus. Man konnte sich denken, was er damit wollte. Aber das warteten die Buben nicht ab. Wie das wilde Heer stürmten sie hinaus.
Und dann das Haus des einzigen Juden im Städtlein, des alten, reichen Samuel Wormser. Es hat unten vergitterte Fenster und hinter den vergitterten Fenstern sitzt der Samuel in seinem bunten Schlafrock und dem Sammetkäppchen und zählt seine unermeßlichen Reichtümer, wenn es die Jugend recht weiß. Seine Frau Lea ist alt und dick und hat ein gelbes Gesicht und eine schwarze Perücke auf und ruft ihrem Mann so unnachahmlich: Sa—moel! Aber sie ist daneben unsäglich gut. An Ostern essen alle Kinder Matzen, die sie von Samuel Wormsers Lea haben. Das ist ein interessantes Haus. Am Samstag Abend steigen die Buben hie und da über die Hofmauer hinein und sehen ins Fenster, wie da der Samuel und die Lea und ihr Enkelsohn, der Hirsch Rosenstock, und die Magd, die Sannel, und der Knecht, der Kallmann, um den siebenarmigen Leuchter herumsitzen, und wenn sie angestrengt horchen, so hören sie, halb gesungen, halb gesprochen, ein fremdartiges Beten. Hier jubeln und toben sie nicht, da sind sie ganz still und es schaudert sie ein bißchen an. Das ist so eine fremde Welt, aber sie ist nicht zum auslachen, sie ist heilig und verlangt Respekt. Einmal haben sie einen durchgehauen, der die alten Leute stören wollte. Das sei ein gutes Werk gewesen, sagte der Rektor Cabisius. Das Durchhauen nämlich.
Da ist auch das Haus des Doktors. Das ist das schönste dort herum. Es hat einen großen, messingenen Türgriff, zwei Schlangen, die aus einer Schüssel fressen, und die Tür glänzt von Sauberkeit und Leinöl und die Schlangen glänzen auch. Hat noch eine Tür auf Erden einen solch feierlichen, dumpfen Schall, wenn sie zufällt? führt noch irgendwo eine solch glänzende leinölgetränkte breite Treppe zu solch einem atemraubend feierlichen Zimmer empor, wie das Sprechzimmer des Doktors ist? Es ist kaum möglich. Georg Ehrensperger stellte sich lange Zeit den lieben Gott nicht viel anders vor, als den Doktor.
Ein bißchen freundlicher vielleicht, und den Bart ebenso groß, aber weiß, und einen blauen Mantel, — aber sonst, so groß und breit und so unsäglich imponierend und eine so volle Stimme, auch aus dem Bart heraus, alles.
Ach, das Bilderbuch nimmt ja kein Ende. Es ist ja kein Fertigwerden. Man kann ja nur alles streifen mit einem raschen Blick.
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Hollermann saß am Fenster, als Georg zu ihm kam. Die Morgensonne lag auf ihm und füllte sein Stübchen; man sah, er wärmte sich daran. Er fror so oft in letzter Zeit, er war auch recht hinfällig geworden. Man konnte nicht recht sagen, was ihm fehlte, er hatte nur, wenn er ging, einen müden Tritt, und seine Haltung war nachlässig und schlaff. Manchmal schlief er so sitzend ein und dann, wann er erwachte, konnte er sich nicht recht besinnen. Auch vergaß er hie und da, was in der neueren Zeit geschah, das Alte, das konnte er gut behalten.
„Nun gehst du,“ sagte er. „Nun hat das alles ein Ende, was wir so miteinander getrieben haben. Du bist in der Stadt und ich sitze hier und warte auf dich. Wenn du kommst, mußt du mir alles vorspielen, was du bis dahin gelernt hast. Das ist so um Weihnachten herum, nicht? Heißt das, wenn ich nicht vorher —“ er sah mit einem schnellen, glänzenden Blick auf und machte eine auffliegende Bewegung mit der Hand.
Ein weiches Lächeln ging um seinen Mund. Nun sah er aus, wie ein Kind, das ein wenig von einem schönen, frohen Geheimnis enthüllt und es schnell wieder zudeckt, um die Freude nicht vorweg zu nehmen.
— „Was ich bis dahin gelernt habe? Da ist nichts vorzuspielen.“ Georg bemühte sich, sehr viel Festigkeit in seinen Ton zulegen. „Dazu ist keine Zeit, jetzt nicht. Ach, ich glaube, überhaupt nicht. Das habe ich auf die Seite gelegt. Ich muß furchtbar fleißig sein, daß ich nach einander mit allem fertig werde.“
Da sah der Alte sehr erschrocken aus.
Nun hatten sie alles so schön ausgemalt.
„Wenn du das aber in dir drin hast,“ sagte er kleinlaut.
„Was mein Großvater war, der alte Schäfer Hollermann, der pflegte zu sagen: ‚was drin ist, das will heraus. Das läßt sich nicht totdrücken.‘ Nun ist das so. Was willst du denn nun werden?“
„Pfarrer,“ sagte Georg. „Das weißt du doch. Das ist furchtbar schwer, das kannst du dir denken.“
Der Alte nickte ein wenig verlegen. Er hatte es ja richtig vergessen gehabt. Er war auch darum verlegen, weil der Bub, mit dem er immer wache Träume gesponnen hatte, nun auf einmal so pflichtbewußt und selbstsicher vor ihm stand. Das war ja gar nicht mehr derselbe Bub.
Da hatte der zum Glück einen unvernünftigen Augenblick. „Dir kann ich’s schon sagen,“ — er tat wichtig und geheimnisvoll, — „sobald ich so ein bißchen voran bin, da unter den Stadtschülern, und sehe, daß sie mich nicht hinunterkriegen, dann — es ist ein Klavier in dem Haus, in das ich komme. Das kommt schon alles noch dran, später. Man wird schon sehen, was noch kommt. Ich, wenn ich Pfarrer bin, — und habe den Kirchenschlüssel, dann — dann will ich alle Werktag, wenn niemand in der Kirche ist, Orgel spielen. Dann hol’ ich dich. Dann kannst du zuhören.“
Der Alte schüttelte leise den Kopf: „Das hör’ ich nicht mehr.“
Aber der Knabe hörte das nicht.
Ihm flogen die Gedanken wieder über die nüchterne, pflichtgetreue Wirklichkeit hinaus, wie Vögel, und setzten sich auf einen Wunderbaum, der irgendwo in der Welt draußen stand und fingen an zu flöten und zu singen: „Das Leben macht die Tore weit, weit, weit! Zicküh, zicküh, es hat alles drin Platz.“
Und unter dem Baum stand die Jugend und reckte ihre herrlichen Glieder und nickte ihm mit leuchtenden Augen zu:
„Natürlich ist das so. So lang ich währe. Wie lang ich währe? Immer, immer, weißt du das nicht?“
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Also guckten seine jungen Träume hie und da zwischen den großen Pflichtgedanken heraus, wie fröhliche Kindergesichter zwischen zugezogenen Vorhängen. „Wir sind noch da; wir kommen schon wieder; es macht uns nur Spaß, so ehrbar zu tun.“ Das wußte Georg selbst nicht. Er nahm es gewaltig ernst mit allen guten Vorsätzen und mit seiner neuen, verständigen Jungmännerwürde.
Gertrud hätte davon zu sagen gewußt. Er quälte sie viel in dieser Zeit. Sie sagte aber nichts. Manchmal lachte sie, und manchmal gab sie einen Puff zurück und gestern abend war sie ihm kurzer Hand davon gelaufen.
Nun kam er heute morgen und fand es noch zu früh, um der Frau Rektorin Lebewohl zu sagen und hätte gern noch einen kleinen Schwatz mit ihr getan. Da stand er wie gewöhnlich an der hinteren Haustür, die nach dem Garten führt und rief mit langgezogenen Ton ihren Namen. Ger — — trud. Sie aber saß oben hinter einem Buch und stopfte die Finger in die Ohren, um ihn nicht zu hören.
Sie hörte ihn aber doch; der Schelm flog über ihr Gesicht, und sie tat noch eine Weile, als ob sie läse. Dann stand sie auf und ging gemütlich hinunter.
„Hast du mich gerufen? Es war mir so.“
„Ja, schon zwanzigmal. Wo steckst du denn?“
„Ich? Oben. Warum?“
„Warum? Sei doch nicht so. Ich gehe heute fort. Du, ich muß dir noch sagen, daß — — —“ Da kam irgend etwas ganz notwendiges zum Vorschein.
Denn er mußte ihr alles erzählen, auch jetzt. Seine spartanische Suppe schmeckte ihm nur, wenn er sie mit ihr teilen konnte. Ja, und wenn er ihr auch eine einbrocken konnte. Das tat er auch, oft genug. Und es gewährte ihm eine sonderbare Befriedigung, wenn sie das Gesicht verzog.
Er fing seit einiger Zeit an, von all den jungen Leuten als von seinen Freunden zu reden. Das durfte er ja gern. Aber erstens entsprach es nicht recht dem Tatbestand, und zweitens legte er eine Herausforderung in seinen Ton.
„Mein Freund so und so.“ Damit fing jedes Gespräch an.
Heute auch. Gertrud wunderte sich. „Der auch? Und der auch? Das sind alles deine Freunde? Das hast du sonst nie gesagt.“
„Ja. Hast du was dagegen? Sind alle aus meiner Klasse. Natürlich.“
Sogar von Ernst Daxer sagte er seit einiger Zeit immer: „mein Kamerad Daxer. Das sagt er, das tut er.“ Aber immer: „mein Kamerad Daxer.“
Gertrud war es fremd dabei zu Mute. Nun ging er nicht als landfahrender Geiger in die weite Welt. Kein abenteuerlicher Plan kam ins Werden. Aber nun entfernte er sich in anderer Weise von ihr. Sie wußte nicht, daß er wieder einmal einen zu starken Anlauf genommen hatte und übers Ziel hinausschoß. Sie versuchte aber, tapfer mitzugehen.
„Du, das wird fein. Wenn du in die Vakanz kommst, dann machen wir gerade so weiter. Es wird sein, als ob du gar nicht fort gewesen wärst. Du mußt mir alles erzählen und ich dir.“ Er tat, als ob das unwahrscheinlich sei.
„Das sind Bubengeschichten, was ich jetzt erlebe,“ sagte er. „Das interessiert Mädchen nicht so. Und da kommen auch alle meine Freunde nach Haus. Bis man da an allen herumkommt, das nimmt viel Zeit.“
Da hatte sie ihre schwarze Suppe. Sie schluckte daran, sie war scharf gepfeffert.
Er schielte nach ihr hin, ohne den Kopf zu drehen. Er konnte die freie Männlichkeit noch nicht so recht vertragen. Er war ja doch da zu Hause; sie gehörte ja so sicher zu ihm, daß er sie auch kecklich ein bißchen quälen durfte. Aber nun war es ihm doch unbehaglich.
„Ich freue mich aufs Läuten in der Sylvesternacht,“ sagte er unvermittelt. „Und aufs Kindleinwiegen in der Christnacht. Da gehen wir auf den Turm, nicht? Du, sagst du gar nichts?“
„Wer geht? Deine Freunde und du?“
„Ach, Dummheiten, du und ich. Sei nicht so empfindlich. Mädchen sind immer empfindlich, Buben nicht.“
Nein, sie war nicht empfindlich, das konnte man nicht sagen. Wenigstens nicht mehr, als unter diesen Umständen billig war. Sie machte den großen Gedankensprung mit. Also würde es doch wie sonst. Das war die Hauptsache.
Da lachte sie. Sie war froh darüber.
„Du, gestern hat mich der Großvater gefragt, ob ich nicht Lehrerin werden wolle. Ich weiß aber nicht. Wir hatten einmal eine, als ich noch in der Volksschule war, in der untersten Klasse, nein, in der zweiten. Die hatte einen so langen Stock, daß sie damit über eine ganze Bank hinreichen konnte. Wenn eins nicht aufpaßte, zog sie allen eins hinten über. Den Stock hat ihr der Oberlehrer abgeschnitten. Und dann leckte sie sich immer die Lippen ab. Ich dachte immer: was sie wohl heut gegessen hat? Ich weiß nicht, ob ich eine Lehrerin werden will.“
„Darum?“ sagte Georg. „Das brauchst du ja nicht nachzumachen. Du kannst ja auch eine nette werden. Das kommt ja auf dich an.“
„Ja, wenn du meinst?“ Sie machte ein ernsthaftes Gesicht. Das tat ihm mächtig wohl. Nun konnte er seine Überlegenheit zeigen. „Ach,“ sagte er, „es ist ja einerlei, Buben müssen etwas Rechtes werden. Meine Kameraden werden alle etwas, ich auch. Bei Mädchen ist das nicht so wichtig. Du kannst auch zu Hause bleiben. Es ist einerlei.“
Da stand sie schon in der Haustür. Wie der Wind war sie die Steintreppe hinaufgefahren. Die braunen Zöpfe lagen ihr um den Kopf. Sie machte ein hochmütiges Gesicht. Darin verstand sie keinen Spaß.
„So warte doch, ich gehe mit. Du, Gertrud, spring doch nicht so.“
Aber sie rief schon von der Treppe her: „Ich habe mich ganz vergessen, ich muß üben. Ich habe nachher Klavierstunde.“
Weg war sie.
Da machte er ein grimmiges Gesicht. Klavierstunde? und er? Da stieg er langsam hintendrein.
Aber nach einer Weile guckte Gertrud lachend hinter der Großmutter vor. Die war beschäftigt, ihm die Taschen mit Nüssen zu füllen. „Sie sind von unserem großen Baum. Du bist oft genug darunter gesessen. Vergiß nicht“ —, da stieg ihr etwas Gerührtes bis in die Kehle empor. „Vergiß nicht, daß du hier daheim bist,“ sagte der Rektor. Das hatte sie nicht sagen wollen; sie hatte einige kleine Ermahnungen bereit gehalten. Die waren nun im Keim erstickt.
Aber was schadete das?
Sie gaben ihm mehr mit ins Leben hinaus, als Ermahnungen, viel mehr.
Sie hatten Sonne und Wärme in seine Kinderjahre gebracht. Sie waren so unüberwunden vom Weltleid und von allen grauen Geistern. Und sie behielten ihm einen Schatz von Liebe auf, dessen Zinsen, das wußte Georg, er jederzeit erheben konnte, solang — ja, solange die beiden da waren.
Sollen wir mit den beiden jungen Leuten ins Leben hinausfahren?
Sie sitzen in der Eisenbahn, und die Lokomotive schnaubt und zischt, ungeduldig wie ein Renner, der am Zügel gehalten wird und auf das Zeichen wartet, das ihn dahinfliegen läßt.
Der Rektor Cabisius steht an dem einen Fenster, und sagt zu Georg Ehrensperger: „Grüß den Herrn Professor Lindemann von mir. Ich — ich hab’ einmal eine Wanderung mit ihm gemacht, den Rhein hinunter, und wir haben in Rüdesheim miteinander, — doch, das ist lange her. Grüß ihn von mir.“
Und die Postmeisterswitwe Daxer, die große, hagere Frau mit dem strengen Gesicht, das dem ihres Sohnes so unähnlich wie möglich ist, steht an dem anderen Fenster, und langt mit ihrer zerarbeiteten Hand hinein und streicht ihrem Buben ein paarmal säubernd über den Ärmel. „Du bist an der Wand gestreift,“ sagte sie, „gib fein acht auf deine Sachen. Der Anzug ist aus Vaters Sonntagskleidern.“ Sie hat fünf Kinder, von denen Ernst das älteste ist, und sie läßt sich’s sauer werden, mit ihnen durchzukommen. Sie wurde Witwe, als das Kleinste eben geboren war. Da, im strengen Kampf gegen die Armut und gegen das Verderben der Kinder, sind ihre Züge und ihre Hände etwas hart geworden. Auch kann sie keine besonders lieben Worte machen. Aber man muß ihr jetzt in die Augen sehen. Ein ganzer Quell von Mutterliebe liegt darin. Und da kommt noch zu guter Letzt Meister Nössel an, mit einer Traglast zerrissener Kleider beladen, die er in sein altbekanntes grünes Tuch gehüllt hat, und zwinkert mit den Augen, und weiß nicht recht, was sagen, so voll ist er von der Bedeutung des Augenblicks, und sagt ein paarmal hintereinander: „Also so weit wären wir, so weit wären wir.“
Und die beiden Reisenden nicken heraus und wissen auch nichts mehr zu sagen. Draußen ist die Ferne, die lockt und schimmert, und die auch ihr Grauen hat, und hier ist die Heimat. Es sitzt etwas wie ein Butzen in ihrem Hals. Es ist gut, daß es nun abgeht.
Sollen wir mit ihnen fahren? Sie werden viel Neues erleben, und das Leben wird an ihnen arbeiten, da sie meinen, selbst tüchtig an der Arbeit zu sein.
Oder sollen wir hier bleiben, wo die Alten sind, deren Tag sich neigt? Sollen wir noch ein Stück weit mit ihnen gehen und zusehen, wie die sinkende Sonne einen milden, heiteren, lichten Schein über ihre guten Gesichter wirft?
Wir sind alle Wandersleute, wie wir wissen, und beides verlohnt es sich für uns zu sehen: wie die Jungen ins Leben hineingehen, und Besitz davon ergreifen, und feste, dauerhafte Häuser da zu bauen gedenken, — und wie die Alten sich leise davon los machen und hinausgehen.
Wir werden beides zu sehen bekommen. Es reist sich leicht und schnell in Gedanken. Wir kommen wohl noch hinter den Jungen drein, wenn es dann an der Zeit ist. Um es rund heraus zu sagen: wir haben jetzt gerade hier zu tun. Wir haben den alten Hollermann zu pflegen, und wir haben noch einiges von ihm in Empfang zu nehmen, eh’ er seine ledernen Pantoffel für immer auszieht und seine windschiefe Lehmhütte verläßt und sich auf die Reise begibt, — auf die Suche nach dem Land, in dem es nach seiner Meinung „bessere Geigen“ gibt.
Er saß noch eine Zeitlang am Fenster, das auf die Felder hinausgeht, und manchmal versuchte er auch, noch einen Korb zu flicken. Aber damit ging es nicht mehr recht. Da ließ er es. Es wußte niemand so recht, was seine Krankheit sei. Eines Tags schickten ihm die Freunde den Doktor, den schwarzbärtigen starken Mann, der in dem bekannten Haus am Marktplatz wohnte. Der war zuerst ein wenig kurz angebunden und seine Augen blitzten unter den buschigen Brauen hervor. Es war seine Art so, er meinte es nicht böse. Aber nach einer Weile saß er neben dem alten Korbflicker am Fenster. „Ja, ja,“ sagte er, „das ist freilich das Vernünftigste. Sich schicken, das muß jeder. Ich will Ihnen weiter keine Flausen vormachen; es ist das Alter, und das Herz, das tut nicht mehr mit. Ja, ja.“ Er hatte aber ein Wohlgefallen an dem alten Mann. Der saß so gelassen da und sein Gesicht war so mild und freundlich, wie der Oktobertag draußen. Und er hatte zu dem Doktor gesagt: „Es freut mich, daß Sie mich besuchen; es freut mich. Ich — wissen Sie, ich habe hier so eigentlich nichts mehr verloren, und es nimmt mich Wunder, es nimmt mich schon lang stark Wunder, was nachher kommt. Da ist so vieles, über das ich mich besonnen habe, wenn ich so allein dasaß bei meiner Arbeit, oder nachts, wenn ich keinen Atem kriegen konnte im Bett, und hinaussah, wie die Sterne da oben hingehen. Da steht ja in den Büchern, die die klugen und gelehrten Leute schrieben, das seien lauter Welten, und man könne nicht wissen, wer darauf wohne. Ganze Welten, Herr Doktor, und so viele, daß einem die Augen vergehen, wenn man nach ihnen hinsieht. Ob da Menschen sind und ob der eine Gott nach ihnen allen hinsehen kann und anordnen, was da geschehen soll? Und was mit uns selber geschieht? Da stehen lauter Fragen, rings herum. Und darum“ — er lächelte still vor sich hin, „darum denk ich oft: kann sein, du erfährst etwas von dem allem, wenn du da hinüber kommst. Daran herumraten hilft nichts; aber erleben, Herr Doktor, erleben. Nein, es braucht Ihnen nicht leid zu tun, ich kann hier gut abkommen.“ Der Doktor sah ihn freundlich an und nickte ihm zu.
Er war selber schon mit einer großen und treibenden Wißbegierde vor den tiefen Fragen des Weltalls gestanden und hatte nichts unversucht gelassen, um hinter die Geheimnisse zu kommen, die so groß und dunkel dastanden. Hie und da war es ihm gewesen, als ob ihn die Wissenschaft in große, lichte Weiten schauen lasse, die glänzten wie im Morgenrot und verhießen einen vollen Tag. Und manchmal war er wieder dicht vor dem Nichts gestanden, das hatte ihn mit kalten, furchtbaren Augen angesehen. Es war aber etwas in ihm, noch aus seinen Kindertagen her, das fragte immer noch weiter. Das war nicht mit dem Nichts zufrieden und wußte doch, daß das Rätsel nicht zu raten ist: Woher wir kommen und wohin wir gehen, und was für ein Sinn in dem ganzen Getriebe des Lebens ist.
„Erleben, Herr Doktor, erleben,“ sagte der alte Mann neben ihm und sagte, daß er gern von hier fortgehen wolle, weil er denke an einen Ort zu kommen, wo ihm einiges gesagt werde von dem, was ihm die Seele fragend bewegte. Ja, er hoffte wohl, daß ihn der liebe Gott auf die Arme nehme, wie ein Vater sein Büblein: „Da, nun sieh einmal zum Fenster hinaus: Siehst du? Sieh dir’s recht an. So ist das.“ Und wiese ihm mit dem Finger dahin und dort. Und stellte ihn auf den Boden, satt und froh vom Schauen.
Es war dem Doktor, als wärme er sich an einem hellen und freundlichen Feuer, wenn er auch nicht so sagen konnte, wie Hollermann. „Ich komme wieder,“ sagte er, als er ging, und gab dem Alten die Hand. Und er kam auch wieder, obgleich da nichts zu kurieren war.
Die Freunde kamen, einer um den andern. Meister Nössel und der Rektor Cabisius, und die Frau Rektorin wäre gerne auch gekommen, wenn sie nicht mit einem Rheumatismus hätte im Lehnstuhl sitzen müssen. Den hatte sie sich beim Wäscheaufhängen geholt. Nun saß sie und ärgerte sich weidlich, da angebunden zu sein, und kam sich vor, wie die jüngste Frau, die eigentlich mit solchen Dingen nichts zu schaffen zu haben brauchte, trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre, und schickte Gertrud im Haus hin und her mit Aufträgen, treppauf, treppab. „Gertrud hier, Gertrud da.“ Gertrud war jetzt vierzehn Jahre alt, zu groß, um mit den Lateinschülern zusammen zu sitzen, sagte die Großmutter. Die begehrte nun ihr gutes Recht an dem Mädchen. „Halbpart, Mann,“ sagte sie, wann die beiden, der Rektor und die Enkelin, sich nun allzu tief in die Bücher verbeißen wollten, die in den hohen Schränken standen, und nach denen beider Sinn stand. Was waren da noch für Schätze zu heben. Ein Lebenlang mußte man daran zu sammeln haben.
Der graue und der braune Kopf beugten sich zusammen darüber; ja, der Rektor hatte ja seine Schule, freilich; aber konnte nicht Gertrud, bis er allemal nach Hause kam, ein gutes Stück weiter lernen? Das wäre so der beiden Sinn gewesen.
„Halbpart,“ sagte die Großmutter, denn noch hatte sie hier auch etwas dreinzureden. „Was? mit vierzehn Jahren hab’ ich an den Waschtagen allein gekocht, und habe,“ hier wurde ihr Ton ein wenig vorwurfsvoll, „meiner alten Großmutter einen Schemel gestickt, ganz in Perlen, zwei weiße Lapins mit blauen Bändchen um den Hals, und auf grünem Grunde. Abend für Abend habe ich daran gestickt, ein ganzes Vierteljahr lang. Den Schemel muß meine Base in Ulm noch haben.“
Da lachte Gertrud hellauf und der Rektor lachte mit. Es war nichts Gescheites anzufangen mit den beiden, die alte Frau hätte es sich denken können. „Großmutter, Perlensticken, das ist ja nicht mehr Mode.“ „Anne, das Sticken, das erläßt du ihr. Aber kochen, ja, das soll sie lernen. Das wird ja nicht so schwer sein?“ Aber da hatte es der Rektor nun auch verschüttet.
„So, du denkst: das kann man so nebenher? Aber ich will es euch schon zeigen. Gertrud, heut’ abend hast du die Küche. Erbsensuppe mit Leberwurst für uns; und für den alten Hollermann — nein, das tun wir morgen. Ich habe ein Hähnchen für ihn. Ihr laßt es mir doch verbrennen, du und die Marie. Ihr seid nicht mit dem Kopf dabei, das ist die Sache. Es ist ein Elend, wenn ich alte Frau in der Stube sitzen soll. Morgen geh’ ich in die Küche, und wenn ich dahin kriechen muß.“
Das hatte sie nun schon oft gesagt. Aber noch war sie nicht dahin gekommen. Der Rheumatismus dauerte schon eine ganze Weile und die Beine versagten den Dienst. Da war nichts zu machen. Es war keine Kleinigkeit, und das nicht wegen der Schmerzen allein. Mußte sie nicht alles aus den Händen geben, was sie allein richtig besorgen konnte? Und mußte sie nicht den alten Hollermann, der nun allmählich bettlägerig wurde, mußte sie ihn nicht liegen lassen, wie er lag? Sie war schon längst gut Freund mit ihm geworden. Aber was konnte das nun helfen? Hier saß sie, und auf dem Turm saß Frau Judith; sie lagen beide sozusagen an der Kette, und da draußen war eine Männerwirtschaft ohne gleichen. Die Frau Rektorin konnte sich denken, wie es zuging, obgleich ihr der Gatte lauter Liebes und Gutes erzählte. Meister Nössel kam täglich, das Bett zu machen, und manchmal fegte er auch die Stube aus, und das Essen — ja das Essen, das schickte sie ja freilich durch Gertrud hin, und der Rektor trug öfters eine Flasche Wein in der Rocktasche hinaus. Aber dennoch, es wurde sicherlich eine Menge versäumt, das konnte gar nicht anders sein, wo kein Frauenauge wachte.
„Mann, du hast geraucht. Du kommst doch von draußen herein? Voll Pfeifengeruch ist dein Ausgangsrock.“
Er saß neben ihr auf der Seitenlehne des Großvaterstuhls. Er war eben nach Haus gekommen.
„Natürlich hab’ ich.“ Er nickte vergnügt.
„Es war immer so langweilig draußen bei Hollermann. Man will sich doch hie und da eine Stunde zu ihm setzen. Aber ohne Pfeife? Da hab’ ich gestern die mittellange mitgenommen. Nössel hat die seinige auch gebracht. Es war ein feiner Einfall. Wir saßen ums Bett und rauchten. Hollermann auch. Er hat sich ein kleines Loch ins Kopfkissen gebrannt; da lag ein Stückchen Fidibus, das glimmte so fort. Wir sahen es erst, als ein paar Federn angesengt waren. Nun haben wir das Loch mit einem Bindfaden zugebunden, wie man einen Sack zubindet; es ist grad an der Ecke. Wir haben als Buben manchen Apfelsack miteinander zugebunden. Fein war das damals, wir kamen heute stark an jene Zeiten.“
Aber nun fand die Frau Rektorin endlich Worte.
„Und das erzählst du mir noch? Seid ihr immer noch Schuljungen, oder wie? Setzt euch zusammen und raucht? Und Hollermann liegt im Bett, und weißt du, was mir der Doktor gesagt hat? ‚Das erlischt so vollends wie ein Licht,‘ hat er gesagt. Er mag den Alten wohl leiden. Wollt’ ihr ihn vollends aus dem Leben räuchern?“ Sie fand es schwer, dort draußen nicht die Zügel in der Hand zu haben. Dies hatte alles keine Art.
Der Mann war nicht besonders schuldbewußt. „Sieh’ einmal, Anne,“ sagte er, „nun hat Hollermann schon fünfundsiebzig Jahre lang geraucht. Nein, nicht ganz so lang, obgleich wir als Buben schon Kartoffelkraut rauchten. Aber doch nicht viel weniger. Nun laß’ ihn vollends. Es sei ihm schädlich? Ach, Anne, was ist da noch zu schaden? Das weißt du ja. Und es ist so behaglich. Nein, nun laß’ uns nur.“
Da mußte sie auch hier die Hände vom Spiel lassen. Das Weltrad ging herum wie sonst. Aber es war schwer einzusehen, daß es ohne der Frau Rektorin tätiges Eingreifen ging.
Es ging herum wie sonst. Und eines Tages ging es auch ohne den alten Hollermann. Der war leise davon gegangen. Ihm war nie ein Zweifel darüber aufgestiegen, daß es auch ohne ihn gehe. Er hatte die letzten Tage mit stillen und staunenden Augen vor sich hingesehen und nicht mehr viel gesagt.
Da wollte eine Tür aufgehen, und hinter der Tür, was da wohl war? Darauf richteten sich nun alle Sinne in einer großen und feierlichen Erwartung.
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Im November bekam Georg Ehrensperger folgenden Brief mit der sauberen, etwas eckigen und etwas schnörkelichen Handschrift des Schneidermeisters und Turmwächters Nössel:
Lieber Georg!
Indem ich es als eine Pflicht in die Hand hinein versprochen habe, tue ich Dir zu wissen, daß unser gemeinsamer alter Freund und Schulkamerad Hollermann heute nachmittag begraben worden ist. Zu liegen kam er neben den reichen Lohgerber Kümmerle, der sich noch diesen Sommer ein neues Haus gebaut hat, und ist der eine gern gegangen und der andere ungern, und das ist, soviel man von hier aus sehen kann, der ganze Unterschied. Denn hinüber sieht man nicht und muß warten, bis es an der Zeit ist und wird wohl bei uns Alten nicht allzu lang dauern damit. Sagen soll ich Dir aber von dem alten Hollermann, daß Dir seine Flöte gehören soll und daß Du daran denken sollst, wenn Du sie blasest: daß, wer den rechten Ton will finden, der in allen Dingen beschlossen liegt, der muß in die Stille gehen und muß allein sein und horchen. Und darf nicht fragen: Ist es so den Leuten recht? sonst schallen die Pfeifen und Trommeln von den Jahrmärkten hinein und der rechte Ton geht darüber verloren, daß man auf zweierlei hat gehorcht. Lieber Georg, der alte Hollermann ist ein Sinnierer gewest, und Frau Judith, als ich ihr das erzählte, was ich Dir schreiben soll, hat gesagt, daß Du erst müssest in das Leben hineinwachsen, eh’ Du das verstehest, und sollest nur derweil gradaus gehen und Deine Schuldigkeit tun, das andere, das komme schon noch dran.
Und wird es bei uns immer leerer, da der Alten nur noch wenige sind, und die Jungen wachsen herauf, und ist das wohl immer so gewest, seit Anbeginn der Welt.
Die Gertrud sitzt auch da am Tisch, da ich dieses schreibe, und treibt ihren Scherz mit der Frau Judith, und sagt, sie möchte gern ein Mann sein und ein Professor werden, nur des Lernens und der Bücher wegen. Und kriegte ich keinen kleinen Schreck, als ich das hörte, denn es tut nicht gut, daß ein Mädchen so sehr an der Männer Weisheit hängt; sie gehen darüber der lieblichen Einfalt verlustig. Aber Frau Judith ist nicht ängstlich. Sie hat gestern vom Fenster aus gesehen, daß die Gertrud den Karren der Sandröse, der naß und schwer war vom Regen, den ganzen Mühlberg herauf geschoben hat. Und hat die Röse nicht gewußt, wie ihr geschieht. Du weißt, sie ist alt und mühselig und kam nicht mehr so fort mit dem schweren Karren. Und da sie sich umsieht und will sich bedanken, läuft das Mädchen schon wieder den Berg hinunter mit langen Schritten. So sagt nun die Judith, daß es keine Not habe, solange eins die Augen offen habe für die Armen und Geringen, und greife kecklich zu beim Helfen. Das sei das Rechte, das den Frauen zieme. Da muß ich wohl still sein. Auch ist die Gertrud noch fast ein Kind. Es dünkt mich, ich habe mein Leben lang nicht solchen langen Brief geschrieben. Es ist am Dunkelwerden, ich muß Betzeit läuten. So grüße ich Dich denn, von mir und der Judith. Und vergiß nicht Gottes und der Alten.
Dein wohlgesinnter Freund und Turmwächter
Friedrich Nössel, Schneidermeister.
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Als dieser Brief an seine Adresse kam, lag der, an den er geschrieben war, der Länge nach ausgestreckt auf seinem Sofa. Das Sofa war viel zu kurz und hatte hohe, steife Seitenlehnen, und sein Polster war wellig, wie das Ebenen- und Hügelland von Niederschwaben und Franken. Indessen, es war doch ein Sofa, und Georg Ehrensperger hatte das Recht, sich darauf auszustrecken. Er war vor kurzem nach Haus gekommen und war ein wenig bedrückt und wußte nicht recht warum. Er hatte Heimweh und wollte es vor sich selbst nicht Wort haben. Draußen ging der Novembertag in die Abenddämmerung über. Grau und eintönig, wie er vom Morgen an ausgesehen hatte, ging er dem Horizont entgegen, still und bedrückt, wie ein Mensch, der keinen rechten Lebenszweck hat und sich zur Ruhe begibt, und dabei denkt: es ist alles einerlei. Es kommt gar nicht darauf an, was ich tue; ich kann ebensogut schlafen gehen.
So etwas steckt an, und Georg war denn auch angesteckt, wie man sieht. Er war eine lange Zeit seines Lebens vom Wetter abhängig. Das hat er erst später abgeschüttelt.
Da, als er so lag und in die Stube hineinsah — (es war eine lange, schmale Stube und hatte ein Fenster, das ging auf einen viereckigen, gepflasterten Hof), da klopfte es, und da kam der Brief. Den las er, und stand nicht auf dazu, und zündete nicht die Lampe an, und las das ganze Grau des Tages und des Wetters und der Stube und der Fremde mit dem Brief in sich hinein.
O Heimat! da brach es los.
Vielleicht gibt es schönere Namen dafür, aber Ernst Daxer, der am Abend eine Weile kam, der sagte sachverständig, es sei das „heulende Elend“, das den Freund befallen habe, und sagte, daß das eine Krankheit sei, die jeder einmal kriege.
— Er ließ den Brief auf den Boden fallen und zog die langen Beine hinauf, um wenigstens sein bißchen Ich nahe beieinander zu haben, und drückte den Kopf in eine Vertiefung zwischen zwei Beulen des Sofas. Und dann schluchzte er drauf los.
Von jenem Tag an war ihm das steife, beulige Sofa wie ein Freund und Vertrauter, da es seine Tränen in den grün und braun gestreiften Überzug aufgenommen hatte. Da, als er eine Weile, ohne sich zu wehren, aus Herzensgrund geschluchzt hatte, und es inzwischen dunkler geworden war, fing er an, sich nach einem Trost umzusehen, und verfiel auf den steinernen, zugebundenen Topf voll Zwetschgenmus, der in seinem Kleiderkasten stand. Den holte er herbei und fing an, zu schlecken. Das Zwetschgenmus war ihm von Jungfer Liese geschickt worden, damit er so bis gegen Weihnachten hin etwas auf sein tägliches Vesperbrot zu streichen habe. Aber darauf konnte heut keine Rücksicht genommen werden. Er war so trostbedürftig, und dies hier war etwas von zu Hause. Da aß er denn, still und beharrlich, einen Löffel voll um den andern. Zuerst stieß es ihn noch, es tropften noch einige Tränen in den Topf. Dann fing er zusehends an, sich zu erholen. Je tiefer er in das Mus eindrang, je leichter wurde ihm das Herz.
Als der Topf so ungefähr halb leer war, zündete er die Lampe an und las den Brief nochmals, und hatte in der linken Hand den Brief und in der rechten den Löffel, den führte er so sachte hin und her. Das Mus war gut. Er hatte nun wieder Verständnis dafür. Also der alte Hollermann war gestorben. Das war traurig. Georg konnte sich nicht recht vorstellen, daß er nicht mehr da sei, wann er heimkomme. Aber es war noch vieles, auf das man sich freuen konnte, es zerfloß nicht mehr alles in einen trostlosen, grauen Nebel. Zum Beispiel bekam er die Flöte. Nein, das mit dem Rat des Alten verstand er im Augenblick nicht so recht, obgleich ihm wie aus der Ferne vieles aufstieg, das sie in der Korbmachersstube miteinander geredet hatten. Als er an der Stelle war, die von Gertrud erzählte, wie sie den schweren Sandkarren der alten Röse den Berg herauf geschoben hatte, spürte er einen starken Kitzel im Halse. Er mußte lachen, mitten in die Trübsal hinein. Da war er gerettet. Die Gertrud war doch ein Staatskerl. Er faßte ihre Tat nicht so sehr vom Standpunkt der Nächstenliebe aus auf, mehr als einen lustigen Streich. So war sie, er kannte sie wohl so, nichts weniger als zimperlich. Jungfer Liese hatte noch nicht lang einmal gesagt: „aus der wird ihrer Lebtag nichts Feines; die ist über einen Buben.“ Das hatte ihm mächtig gefallen; gerade so mußte sie sein, ein rechter Kamerad, gescheit, kräftig, heiter und immer bei der Hand zu allem frischen Tun. Er freute sich auf sie. Es war nur noch fünf Wochen bis Weihnachten. Als er so weit war, sah er in den steinernen Topf; es war nicht mehr viel darin. Es war nicht mehr der Mühe wert, ihn zuzubinden. Da kratzte er ihn vollends aus, aber mit einiger Beschwerde. Zwetschgenmus gehört zu den Tröstungen, die man mäßig genießen muß.
Als Ernst Daxer kam, lag Georg wieder auf dem Sofa, und hatte die Beine wieder etwas hochgezogen. Aber das geschah nun aus einem andern Grunde als zuvor.
Er hatte dem Professor Lindemann den Gruß des Rektors Cabisius ausgerichtet. Und er hatte ihn darauf angesehen, ob er mit diesem Jüngling in weißen Haaren verwandt sei, und ob er noch eine Spur von jener Rheinwanderung und von jenem ungenannten Rüdesheimer Erlebnis an sich trage. Auch hatte er, da er viel Schönes und Erfreuliches in „der Welt draußen“ zu finden hoffte, sich auf dem Weg von seiner Wohnung in der Pfarrstraße nach dem Gymnasium ausgedacht, der Lehrer werde, überwältigt von alten Erinnerungen, die Hand ausstrecken und seine, Georg Ehrenspergers, schütteln, und ausrufen, wie der alte Homer den bräunlichgelockten Menelaus ausrufen ließ: „Götter, so ist ja mein Gast der Sohn des geliebtesten Freundes“, oder auch sonst etwas ähnliches. Aber der Professor Lindemann rief das nicht aus.
Wenn dieser Mann einmal mit dem Rektor Cabisius in einer gemeinsamen Welt gelebt hatte, so mußte das lange her sein. Und das war es auch. Er war ein gut Teil Jahre jünger als der Rektor. Aber er war ziemlich vertrocknet und verstäubt.
„So, so,“ sagte er, und kniff die Augen zusammen, „so, so, Cabisius. Ja, ja, ich weiß. Setzen Sie sich, Ehren — Ehren — wie ist der Name?“
„Ehrensperger,“ sagte Georg und setzte sich.
Also damit war es nichts gewesen.
Da mußte das Wiblinger Stadtkind die Kammern seines Herzens anderweitig zu füllen trachten. Es gab noch anderes in der großen Stadt, was des Erlebens wert war. Es gab helle und breite Straßen mit glatten Pflastern, auf denen es sich anmutig dahinschlendern ließ, und mit hohen, stattlichen Häusern, in denen Georg Ehrensperger zwar nichts verloren hatte, die anzustaunen, soweit es ihre Vorderseite betraf, ihm aber unverwehrt war. Paläste gab es, und zwar sowohl solche, in denen die Regierung des Landes vorgenommen, als solche, in denen Bier verschenkt wurde, und letztere waren, alles in allem gerechnet, die pompöseren. Wagen fuhren dahin, und obgleich der Hufschlag der Rosse und das Rollen der Räder auf dem Holzpflaster der schönsten Straßen eine Dämpfung erfuhr, so gab es, da ihrer viele waren, doch ein nicht unbeträchtliches Getöse, mit dem sich der bescheidene Lärm der Wiblinger Ochsen- und Kuhfuhrwerke nicht im entferntesten messen konnte.
Läden gab es, die so glänzend, vornehm und üppig ausstaffiert waren und die sowohl bei Tage als beim Schein des elektrischen Lichtes so zauberisch aussahen, daß es den Sohn des Wiblinger Bäckerhauses eine der gewagtesten und — unmöglichsten Taten dünkte, in einen derselben einzutreten und für ganz gewöhnliches Geld etwas von ihrem Inhalt zu erhandeln.
Er führte diese Tat denn auch nicht aus. Er wußte engere, stillere Straßen, und niedrigere, dunklere Läden, in denen er sein Brot und seine Wurst, seine Bleistifte und Schreibhefte, seine — aber das geschah nur einmal im ersten Jahr, und dann in etlichen Jahren nicht wieder, seine Zigarren, sieben Stück für zwanzig Pfennig, erstand.
Die Zigarren rauchte er eines schönen Herbstabends mit einigen Kameraden, neugewonnenen Genossen seiner Studien. Das heißt, er rauchte eine davon und bot die übrigen mit einer großartigen Handbewegung, die er dem Größten unter ihnen abgelernt hatte, im Kreise an. Es war auf der Königstraße, kurz vor Dunkelwerden.
Er wollte sein Möglichstes tun, mitzumachen. Er hatte sich vorgenommen, ganz mit den andern zu tun und ein rechter Kamerad zu sein.
Aber es ging nicht. Weder mit dem Rauchen, noch mit der Kameradschaft. Es paßte beides nicht zu seiner Natur. Es gab sich ganz von selbst, daß er bald wieder allein war.
Er hatte viel zu denken und zu staunen. Was war da für ein rauschendes, buntes Leben rings um ihn her. Wohin alle die vielen Leute gingen? Immer sahen sie aus, als seien sie in Sonntagskleidern.
Und wer da begraben wurde? Es mußte jemand Bedeutendes sein. Die vielen Kutschen im Gefolge und ein ganzer Blumenwagen. Ein Lorbeerkranz dabei, nein, zwei, drei.
Und die hohen, hohen Häuser. Wie viele Leute mochten da übereinander wohnen, und welche Aussicht man von ganz oben hatte? Er stieg einmal auf den Stiftskirchenturm und sah über das Häusergewimmel hin und stieg ganz still wieder herunter.
Mit dem einen oder andern Schulkameraden schritt er um zwölf Uhr mittags hinter der Wachtparade drein, die mit klingendem Spiel auf den Schloßplatz zog. Da wogte es von Menschen, und die Springbrunnen ließen ihre Wasser steigen; in bunten Farben leuchteten die Beete, rings um den Musikpavillon her; hoch und schlank ragte die Jubiläumssäule über all das Gewimmel hin; wie aus einem fremden, schönen Lande hierher versetzt, winkte die Säulenreihe des Königsbaues herüber; mit klingendem, singendem Wellenschlag füllte die Musik das bunte Strombett des Lebens; öfters, als es den Kameraden gefiel, verstummte Georg Ehrensperger vor dem allem und ließ sich schweigend und ohne viel Schwimmbewegungen von dem Strom dahintragen.
Da kamen sie nach und nach überein, daß er ein guter, aber etwas langweiliger Kerl sei, von dem weder im Guten, noch im Schlimmen viel Bewegung in dem Einerlei des Schuljahres zu erwarten sei, weder auf der Straße, noch vor den Lehrern. Und, da er manchmal sonderbar versonnene Fragen tat, nannten sie ihn Joseph: „seht, da kommt der Träumer her,“ und ließen ihn im übrigen seines Weges gehen, so viel er wollte.
Der führte ihn durch Jungfer Liesens Fürsorge in das Gassen- und Gäßchengewinkel der Altstadt. Es lebte ihr daselbst die Kanzlistenwitwe Mollenkopf, die eine entfernte Base von einer Base der braven Ziehmutter der Ehrenspergerskinder war, sich mit künstlichen und kunstvollen Flickarbeiten ihr Brot erwarb und nebenher „Logisherren“ in den zwei langen, schmalen Stuben nach der Hofseite beherbergte.
Es lag nichts näher, da die Frau Mollenkopf eine brave Person und eine geborene Wiblingerin war, als die beiden Landsleute unter einem Dach zu vereinigen.
Und hier siegte denn auch Jungfer Liese über den Vorschlag des Rektors Cabisius, der seinen Schüler und Schützling gern in einer Familie mit andern jungen Leuten zusammen unterbringen wollte.
Sie hatte ein gutes Mundwerk, und, seit es ihr der Respekt nicht mehr allzusehr verschloß, hatte sie auch ein keckliches Mundwerk, und sie bewies mit demselben Franz Ehrensperger dem Älteren, daß Nutzen und Willigkeit auf ihrer Seite seien.
Es war nicht schwer, ihn zu überzeugen.
Und so war Georg unter die Obhut der Frau Mollenkopf geraten, eh’ er sich dessen versah. Er hatte nichts dagegen. Als er nach jenem so glücklich gestillten Anfall des heulenden Elends seine Augen getrocknet hatte und sie wieder aufhob, gefiel es ihnen nicht übel in dieser Region der engen, krummen Gassen, der schiefen, alten Häuser, der spitzen Giebeldächer, der Verkäufer- und Antiquitätenläden, dieser Region der kleinen Leute, die zum Teil ein alteingesessenes Bürgertum bildeten, zäher, eingewurzelter und — interessanter, als es die Region der Backsteinkasernen erzeugt, die zu Hunderten dieselbe Uniform tragen, neue, helle, weitläufige Stadtviertel ergeben und alle Quartal eine andere Inwohnerschaft haben.
War nicht die Botenhalle in der Nähe? Und war es nicht unsäglich heimatlich, die braven, schweren Gäule vor den leinwandüberspannten Wagen dahertraben zu sehen? Blies nicht der Bote von Beckenhardt, solange es irgend etwas Grünes in der Natur gab, jeden Mittwoch- und Samstagmorgen sein Lied auf einem Blättchen, das er zwischen den bärtigen Lippen hatte, und fuhr nicht der Bote von Beckenhardt durch Wiblingen, schon seit Georg auf der Welt war und länger?
Im Schatten der St. Leonhardskirche breitete sich der Gerümpelmarkt aus und es gab vielerlei dort zu sehen. Alte Weiblein, die mit rostigen Nägeln und dergleichen Wertsachen handelten, fliegende Antiquare, die ihre Bücher und Broschüren auf einem Karren ausbreiteten, Kleider-, Möbel- und Bettenhändler. Ein untrüglicher Kitt für alles Zerbrochene wurde verkauft und der Verkäufer war selbst Künstler in der Anwendung und klebte alte Scherben zusammen, daß es eine Art hatte. Wir können die genauere Bekanntschaft aller Spezialitäten dieses interessanten Marktes leider nicht machen, da sie uns auf unserem Weg durch das Buch allzusehr aufhalten würden. Es ist genug, daß Georg Ehrensperger auf seinem Weg ins Gymnasium hie und da durch sie aufgehalten wurde, und daß er dann wie aus einer andern Welt in die Schule und unter die Genossen trat, mit versonnenen Augen und rückwärts gerichteten Gedanken.
Die Schulkameraden konnten ihn ruhig seines Wegs ins sogenannte Bohnenviertel gehen lassen, und auch wir können ihn ruhig dahin gehen lassen, er fand schon seine Nahrung, Freude und Genüge dort, wie es jede Kreatur auch tut, wenn man sie nur gewähren läßt.
Auf einen viereckigen, gepflasterten Hof ging das Fenster der langen, schmalen Stube, die Georg Ehrenspergers erste Jünglingsjahre umschloß; auf das bunte Treiben des schon genannten Gerümpelmarkts gingen die zwei Fenster der Wohnstube seiner Hausfrau, der Frau Mollenkopf.
Die Witwe wohnte schon manches Jahr in derselben Stube, und sie hatte demnach auch schon manches Jahr dasselbe bewegte Bild unter ihren Fenstern. Wenn sie ihren Platz auf dem Fenstertritt, auf dem Holzstuhl mit dem grünen Kissen, einem Philosophen oder einem Geschichtenschreiber abgetreten hätte, so hätte der eine wahrscheinlich tiefsinnige Betrachtungen über den Satz: es ist alles eitel; es ist alles ganz eitel, angestellt; und der andere hätte den verblichenen Staatsgewändern, den Bildern in morschen Goldrahmen, den Sesseln mit zerschlissenen Überzügen, die hier feilgehalten wurden, die seltsamsten Vorerlebnisse angedichtet. Und es ist manches zu wetten, daß die Erlebnisse mancher dieser Dinge — noch viel seltsamer waren, als er sie zu erdichten vermocht hätte.
Frau Mollenkopf trat aber ihren Platz an keinen Vertreter einer dieser beiden nachdenklichen Richtungen ab. Sie saß selber fest und beharrlich auf dem grünen Kissen, ließ Nadel und Faden heilungsbeflissen zwischen den mottenzerfressenen Ranken und Blumen alter Teppiche, den zerrissenen Maschen eines wertvollen Spitzenwerks, den brüchig gewordenen Vögeln und Früchten eines seltenen Tafeltuchs herumspazieren und hatte auf diese Art selber das Material zu den merkwürdigsten Mutmaßungen in der Hand. Daß sie diese Gelegenheit nicht benützte, lag in ihrer Art, die mit der der Jungfer Liese einige Ähnlichkeit hatte insofern, als sie auf das Greifbare, Nützliche, Reale allzusehr gerichtet war, als daß für Phantasien viel Raum in ihrem Sinn gewesen wäre.
Sie sprach gern von dem seligen Mollenkopf, der ihr etwas weniges auf der Sparkasse hinterlassen hatte, und gab zu verstehen, daß sie dieses wenige bereits um ein gutes Teil vermehrt habe. Sie hegte die Hoffnung, mit Hilfe dessen, was bereits auf der Sparkasse lag, und dessen, was sie noch dorthin zu bringen gedachte, sich nicht nur ein Sitzkissen, sondern auch ein behagliches Kopfkissen auf ihre alten Tage zu erwerben. Und es war nur schade, daß sie zu der Klasse von Menschen gehörte, die, wenn diese alten Tage kommen, mit dem Rest ihrer Kraft für noch ältere Tage sorgen, und die weder der jungen noch der alten Tage jemals froh werden.
Fest und beharrlich saß sie an ihrem Fensterplatz und verließ ihn nur, um die nötigen häuslichen Verrichtungen vorzunehmen, und in der Dämmerung, um die wiederhergestellten Gegenstände an ihre Eigentümer abzuliefern. Und zu der letzteren Stunde kam Georg am liebsten aus seiner Hofstube und — tat, als ob er zu Hause wäre, wie das mit Frau Mollenkopf eigentlich ein für allemal verabredet war.
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Es dreht sich der Schlüssel von außen im Schloß, es füllt sich die Stube mit Dämmerung und Stille. Steig’ auf, unsichtbares Eiland der Glücklichen, tretet in den Kreis, ihr trauten Gestalten der Kindheit mit den webenden Träumen der Zukunft, fanget an zu reden, und horchet auch ihr auf das, was wir zu sagen haben, auf daß wir eine kleine Weile der Fremde vergessen und zu Hause seien.
Töne, du alter, hochbeiniger Klimperkasten von Klavier, du bist zu dieser Stunde voll Wohllaut und Fülle. Georg Ehrensperger hat dich aus dem Schlaf geweckt, in dem du lagest, seit der selige Mollenkopf zum letztenmal den Blümchenwalzer auf dir spielte. Er hat den Stapel zerrissener Gegenstände von deinem Deckel entfernt, sie liegen ebenso gut auf einem Stuhl. Nun gleitet das Licht der Straßenlaterne über deine Tasten. Es ist unsicher, es huscht gespenstig hin und her, es erinnert an die spukenden Flämmchen in des Rektor Cabisius’ Studierstube. Der geht um diese Zeit in dem wohlbekannten Raum auf und ab, und Gertrud sitzt wohl auf der Truhe, die Platz für zwei hat. Und die Frau Rektorin sitzt im Lehnstuhl, sie hat immer noch Rheumatismus, sie saß in den Weihnachtsferien, als wir zu Hause waren, in Kissen und Decken gehüllt alle Tage im Lehnstuhl. Hollermann war nicht mehr da, und es ist nicht sicher, was sich alles verändern kann, so lang wir fern sind.
Es ist uns manchmal fremd zu Mute, altes Klavier. Und du bist das einzige, dem wir es anvertrauen können. Es ist uns, als ob wir uns eine Weile auf Mutters Schoß setzten und ihr alles erzählten, und sie erzählte wieder, merkwürdige, traumhafte Geschichten, die man nie bei Tage erzählen könnte. Von einer Welt, die man nicht sehen kann, in der man aber zu Hause ist. Sie hat vielerlei Namen, diese unsichtbare Welt. Wir suchen eine Sprache, um von ihr zu reden, und es ist uns, als ob man in Tönen von ihr reden könnte.
Hat einmal einer auf dir gespielt, als deine Saiten noch rein und stark klangen, einer, der es verstand, die Harmonien zu entlocken? Dann sei geduldig, altes Klavier, wenn hier einer ist, dessen Spiel noch ein Stammeln ist, kein Reden. Keine Sprache, nur das Suchen nach einer Sprache. Er wird’s noch besser lernen.
Er hat zu Weihnachten das Geld zu Klavierstunden bekommen, und die Zeit nimmt er sich selbst dazu. Jungfer Liese hatte den Kopf geschüttelt und der Bruder Franz hat ihn auf den Rücken geschlagen, breit und wohlwollend und hat gesagt: „Mach voran, dann kannst du uns einen Walzer spielen, wenn du heimkommst.“ Denn der Bruder Franz tanzt jetzt mit den Wiblinger Bürgerstöchtern und der Walzertakt kommt ihm sogar zuweilen in die Finger, wenn er Teig knetet. Auch weiß er nicht so recht, wozu man außerdem noch Musik machen soll. Aber du wirst schon sehen, daß Georgs Sinn nicht nach dem Walzer steht. Es ist ein Läuten irgendwo, wie von einer fernen Waldkapelle, dem horcht er nach, schon seit er ein Kind war und weiß nicht, daß er es in sich selber trägt, und sehnt sich, es nahe zu hören. Wenn du das in ihm erlösen könntest. Er hört es zuweilen auf den Gassen, und zuweilen mitten in den alten Geschichten der Menschheit, vom Paradies an, in den Büchern, und manchmal sogar in der Schule. In den Gesängen der Dichter hört er es und wird es bald noch besser hören, wenn er die Musiker kennen lernt, von deren Saitenspiel er so wenig weiß und so vieles ahnt.
Aber führe auch du ihn in der Dämmerung, beim flackernden Licht, das von draußen hereinfällt, immer wieder in jene Welt, die verborgen unter allen Dingen hingeht, und laß da seine eigene Seele zum Wort kommen. Es will etwas in ihm tönen, du weißt es. Laß ihn darauf horchen, altes, verstimmtes Klavier, auf daß der rechte Ton nicht verloren gehe, wie der Alte in der baufälligen Hütte zu Wiblingen gesagt hat, vor den Trommeln und Pfeifen der Jahrmärkte rings umher.
In der Ladenstube des Ehrenspergerhauses stand ein gelb angestrichener Eckkasten, und in dem Eckkasten lag eine alte braune Mappe. In der Mappe aber hob Vater Ehrensperger auf, was von Familienpapieren in seinen Händen war: Geburts-, Tauf-, Trau- und Todesscheine, seinen eigenen Meisterbrief und Franzens Gesellenbrief, als dieser ausgelernt hatte.
In dieser Mappe legte er auch, wenn die Zeit dazu kam, die halbjährlichen Zeugnisse, die Georg nach Hause brachte, und nach drei Jahren, von jenem Auszugstag an gerechnet, das Maturitätszeugnis, das er gleichfalls nach Hause brachte.
Glänzende Zeugnisse waren es nicht gerade. Der Rektor Cabisius, der sie jedesmal zu sehen bekam, ehe sie in der Mappe verschwanden, sah jedesmal das Blatt und dann den Knaben an, der vor ihm stand und — hätte vielleicht etwas gesagt, wenn nicht seine raschere Frau, die ihm über die Achsel in das Blatt hineingesehen hatte, ihm zuvorgekommen wäre. Er ließ sie ruhig gewähren; sie hatte immerhin ein mütterliches Recht an den jungen Menschen, und er kam zu seiner Zeit schon auch dran.
„Wenn du aber etwas Rechtes werden willst, so mußt du dich noch ganz anders dran halten, mein lieber Sohn. Denn sieh, du bist hie und da zerstreut, dann siehst du aus, als ob du auf etwas horchtest, das nicht da wäre. Man muß aber in der Gegenwart leben. Und dann hast du auch zu viel Nebenliebhabereien, und manchmal fehlt es am Willen bei dir. Ja, da fehlt’s manchmal. Ich kenne dich nun schon lange. Ich darf dir das wohl sagen.“
So sagte die Frau Rektorin, oder doch ähnlich und es war nicht nötig, daß sonst noch jemand viel sagte. Der Vater Ehrensperger tat es nicht und auch wir tun es nicht.
Wir halten uns lieber an einige Erlebnisse aus jenen Jahren, die Georg nicht schriftlich hatte und die nur in dem Stammbuch standen, das wir alle in uns tragen und in das sich von unserer ersten Kindheit an Menschen und Ereignisse eingetragen haben.
Menschen und Ereignisse kommen und gehen und füllen ihr Blatt in dem Buch unseres Lebens. Und wer will von allem sagen: Dies war bedeutsam und jenes war ohne Wirkung? So offen liegt Werden und Wachsen nicht vor uns, daß man von jedem Zoll sagen könnte: Das ist von jenem Sommertag und dies von jener Sturmnacht.
Einmal, da ging Georg Ehrensperger an einem Sonntagmorgen aus dem Haus und wußte nicht recht, wohin mit sich selbst.
Ernst Daxer, der ging regelmäßig zur Kirche, und wenn er es zu machen wußte, so kam er und holte den Wiblinger Schulkameraden auch dazu ab. Sonst gingen ihre Wege auseinander. Er wohnte in einer andern Stadtgegend und lebte in einem andersartigen Kreise und besuchte ein anderes Gymnasium. Er war in einem Haus und unter einer Obhut, da sich alles Gute, Fromme, Geordnete von selbst verstand, da an einem wohl umzäunten Weg Kirche, Bibelstunde, Jünglingsverein und Hausandacht zur Rechten und zur Linken lagen und gar nicht zu versäumen waren.
Man konnte ihn vorläufig weder loben noch tadeln, daß er das alles mitmachte; so wenig als man einen Bach loben oder tadeln kann, den man in ein tiefes Bett mit hohen Ufermauern geleitet hat und der nun glatt und sicher darin fortläuft.
Er war aber ein kindlicher, einfacher Mensch mit einem offenen Wesen, den man wohl gern haben konnte und der seiner Mutter niemals unnötige Sorgen machte. Auch verdarb er nicht, wie leider manche tun, an geistiger Überfütterung, noch auch daran, daß man seine ganze Jugend hindurch alle seine Schritte behütete und er nicht frei stehen konnte, als er ins Leben und in die Selbständigkeit hinauskam.
Er hatte seinen Vater sterben sehen, wie er mit bittern Sorgen rang und ein schwer errungenes Vertrauen faßte, und er hatte seiner Mutter herben, zähen Kampf mit der Not miterlebt. Vielleicht war das beides ein gutes Gegengewicht gegen das weiche, behagliche, selbstverständliche Christentum, das ihn hier umgab.
Nun also, in dieser Zeit, da sie noch beide Gymnasisten waren, trieb ihn ein starkes Heimatgefühl, immer wieder Georg Ehrensperger aufzusuchen.
Er erschien an manchem Sonntagmorgen in Frau Mollenkopfs Wohnung und half ihm, der sich leicht an Kleinigkeiten vergaß, in die Kleider und zum Haus hinaus und war glücklich, wenn er ihn mit sich hatte. Auch erfüllte es ihn mit einem fast väterlichen Stolz, wenn Georg mit seiner reinen, frischen Stimme das Lied mitsang, daß sich der und jener umwandte und nach dem Sänger hinsah. Sie probierten aber nach und nach fast sämtliche Kanzeln der Stadt, und taten sehr kritisch, weil sie später auch zu predigen gedachten und blieben schließlich an einem Pfarrer hängen, der einfach, frisch und natürlich vom Evangelium, als von einer frohen Botschaft, die im Leben richtig zu verwenden sei, sprach. Der stand im Geruch, ein wenig „frei“ zu sein. Also wählten sie das Schwere, daß man das später auch von ihnen sage, und beschlossen, gerade ein solcher zu werden, wie er.
Aber heute war Ernst Daxer nicht gekommen. Er war, soviel Georg wußte, mit seinem Jünglingsverein, der einen Posaunenchor hatte, zu irgend einem auswärtigen Jahresfest gefahren.
Und Georg hatte dem Kirchenläuten zugehört, wie es so voll und stark über die Stadt hinhallte, und es hatte ihm allerlei Gedanken aufgerührt, und erst, als es still wurde und von der St. Leonhardskirche die Orgel herübertönte, fiel es ihm bei, daß es nun zu spät sei. Also ging er aus dem Haus und ging ein wenig planlos durch die Straßen und kam bald an einem schönen, schlichten, vornehmen Gebäude vorbei, das hatte einen Mittelbau mit einem säulengetragenen Portal und zwei Seitenflügel und hatte einen Vorgarten, darin blühte es in den Beeten über und über von Monatsrosen. Das war alles so ruhig-schön, so festlich und feierlich schon von außen. „Museum der bildenden Künste“ stand über dem Portal in großen goldenen Lettern.
Da ging er hinein. Eine Vorhalle, breite Treppen führten rechts und links in die Höhe. Aber da unten stand eine Tür offen. Weiße Gestalten schimmerten, von hellem Licht übergossen, heraus in die Dämmerung der Vorhalle. Denen ging er nach. Er wußte sich nicht recht zu helfen. Es hatte ihm noch niemand Anweisung zum Anschauen gegeben. Es waren ihrer so viele, große, schweigende Menschengebilde. Er sah sie alle an, wie man fremde Wesen ansieht, sie wirkten alle auf ihn ein.
Er war der einzige lebende Mensch unter ihnen; sie bildeten eine Welt für sich. Es wurde ihm still und feierlich und ein wenig fremd zu Mute.
Da, als er sich sammeln wollte und die Augen auf einen Punkt zu richten gedachte, da fand er sich vor der riesigen, prachtvollen Jünglingsgestalt des jungen David. Es war nur ein Gipsabguß nach Michelangelos großem Werk. Aber was wußte Georg Ehrensperger von der reinen, großen Wirkung des edlen Marmors?
Hier stand er und versank ins Schauen.
Und das starke, kühne Gesicht des Sohnes Isai nahm vor ihm Leben an; es strafften sich die Sehnen der hohen Gestalt; es zuckte der Stein, den der Jüngling gegen den Riesen, den Verderber des Vaterlandes, schleudern wollte, in der rechten Hand.
Und hoch auf richtete sich der lang aufgeschossene Knabe, und seine Augen blitzten heller, je länger er davor stand, und er ballte die Hand zur Faust.
Taten tun, Großes erleben; starkes, reines Heldentum.
Wo waren die Zeiten, in denen es das alles gab? Was konnte man jetzt tun?
Studieren, hinter Büchern sitzen, dann ein Examen machen, dann ein Amt. Predigen, reden, wieder reden, lesen.
Und er stand Aug’ in Aug’ mit dem herrlichen Jüngling, und das Herz brannte ihm, und seine junge Seele schwoll, wie ein Bach im Frühling über die Ufer schwillt, und begehrte, Taten zu tun in der Heerschaar der Guten, Echten, Tapfern; irgend etwas Großes zu verrichten in der Sache der Menschheit.
Aber was?
Das Glockenzeichen erscholl und riß ihn aus seinen Gedanken. Der Schließer rasselte mit dem Schlüsselbund; die Galeriestunde war vorüber.
Da war er wieder auf der Straße, da wogten die Menschen um ihn her, sonntagsfroh, geputzt, und manche laut und lustig. Und der Abstand zwischen hier draußen und dort drinnen war groß.
Da schlug ein Kinderweinen an sein Ohr. An einem Laternenpfahl lehnte ein Bübchen, das weinte bitterlich. Es war ärmlich angezogen und hatte ein verschmiertes Gesicht und seine krummen Füßchen steckten in Schlappen, die ihm viel zu groß waren.
Ich weiß nicht, ob es davon kam, daß er aus der Kleinstadt war, wo alles Menschenwesen näher beieinander ist, oder wovon es kam; aber es war schlechterdings unmöglich, hier vorbeizugehen.
Was gibt’s, Bürschlein? sagte er und besah sich den Jammer.
Das Bübchen hielt mit Schluchzen inne und sah mit großen Augen auf. Es hatte sich verlaufen und war sich dessen mit Schrecken bewußt geworden, und war sich so unmenschlich verloren vorgekommen. Wie ein Sternlein, das die Milchstraße verlassen hat und sich nun im Weltall nicht mehr zurechtfindet.
Aber der junge Herr hier, der eine rote Mütze trug und sich zu ihm niederbeugte, der hatte so etwas in seinem Gesicht, das einem neuen Mut machen konnte.
Da fuhr sich das Bübchen mit dem Ärmel über das tränennasse Gesicht, schob eine schmutzige, kleine Hand in die große, und setzte sein krummes Beinwerk in Bewegung.
„Ich weiß nicht, wo meine Mutter ist,“ sagte der kleine Kerl, „zeig’ mir’s.“ Es war ungemein selbstverständlich. Es gab gar keine Frage mehr.
Ja, so hatte es Georg Ehrensperger freilich nicht gemeint. Er sah sich einen Augenblick um. Die Leute hatten heute so viel Zeit; sie fingen schon an, stehen zu bleiben und zuzusehen.
„Ich weiß nicht, wo deine Mutter ist,“ sagte er; die kleine Hand fallen zu lassen, das wagte er aber nicht.
„Nicht?“ Der kleine Bube sah ungläubig aus. „Du bist doch so groß.“
Es war nichts anderes zu machen, sie gingen mitsammen durch die Straßen.
Da war es nun Georg Ehrenspergers erste Heldentat, einem kleinen, schmutzigen Bübchen den Weg nach Hause zu zeigen.
An der beschützenden Hand wuchs dem kleinen Kerl der Mut. „Dort hinein geht’s, das ist die Straße,“ sagte er plötzlich und strebte mit Macht voran. Es war in dem Gäßchengewinkel, das um die Markthalle her ist. Und dann schrie er plötzlich auf. „Mutter,“ schrie er entzückt und lief auf eine Frau zu, die mit angstvoll spähendem Gesicht auf eine Hausstaffel herausgetreten war. Er sah sich nicht mehr um. Er lag fest in ihren Armen und sie schalt und liebkoste ihn.
So, nun konnte Georg Ehrensperger gleichfalls nach Hause gehen. Er drehte noch einmal den Kopf; da trug eben die Mutter ihr Bübchen ins Haus. Wie es kam, wußte er selbst nicht, aber auf einmal war er mitten drin, zu pfeifen: Und so will ich wacker streiten, und soll ich den Tod erleiden, stirbt ein braver Reitersmann.
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Einen eigentlichen Freund und Weggenossen hatte Georg Ehrensperger damals nicht, wie schon gesagt. Er ging so für sich hin, nahm am Leben der Schule und an den jungen Leuten teil, wie der Tag es mit sich brachte und lebte im übrigen sein eigenes Leben für sich allein. Er gewann aber im zweiten Jahr, das er in Stuttgart verlebte, eine heimliche Liebe, die füllte für kurze Zeit sein einsames Herz, das ja dennoch nach Anschluß verlangte, mit einem Reichtum, den die andern nicht ahnten.
Es war aber nicht die Liebe zu einer Frau, sondern zu einem Lehrer, der lange krank gewesen und nun wieder gekommen war.
Als Georg ihn das erste Mal auf dem Katheder sah, mußte er in seinem Gedächtnis nachsuchen, wo er dieses schmale, ernste Gesicht mit den dunkeln, ruhig betrachtenden Augen unter einer hohen, furchendurchzogenen Stirn schon gesehen habe, und es fiel ihm das alte Bild eines Magisters ein, das in der Sakristei der Wiblinger Stadtkirche hing. Ja, das war es. Georg war beim Konfirmandenunterricht ihm gegenüber gesessen und die Augen hatten ihn immer im Bann gehalten. Da war es ihm, als ob er den Mann kenne, der lebendig hier vor ihm stand. Und als der Lehrer anfing zu sprechen, da kannte er auch seine Stimme. Aber er wußte nicht, woher.
An diesem Tag aber fing Georgs heimliches Glück und Unglück an. Denn diese Liebe trug alles in sich, was zu einer rechten, heimlichen Liebe gehört: Begeisterung, Sicherheit, da sie einem niemand streitig machen kann, der sie nicht ahnt, Wonne des Genießens und Schmerz des Entbehrens.
Der Lehrer gab Stunden in Literatur, Kunstgeschichte und Weltgeschichte und war ein Mann, der in seinen Gegenständen lebte und sie herzlich und eindringlich in andere Gemüter zu übertragen wußte. Sein Ton blieb immer schlicht und gelassen und verstieg sich nur in Augenblicken besonderer Gehobenheit zu einer Wärme, die sich dann den Hörenden mitteilen mußte. Wenn dieser Mann ein Stück aus dem Nibelungenlied vorlas, oder wenn er über die Akropolis sprach, oder was es sei, dann bekam alles Leben, echtes, wahrhaftiges Leben.
Dann schien der blaue Himmel Griechenlands auf den weißen Marmor, dann rauschten die deutschen Eichen zu den Heldentaten der alten Recken, dann schwollen die Herzen der jungen Deutschen. Dann schwoll vor allen Georg Ehrenspergers Herz in einer hellen und warmen Begeisterung.
Aber dabei blieb es nicht. Er, der die Begeisterung entfachte, war selber so ein Held. Er war ernst und gütig, und es war kein Zweifel, daß er auch tapfer, treu und stark war wie nur einer. Er verstand sie alle, die Helden des Geistes und des Arms, darum stand er über allen. So schien es dem Knaben. Und es war nur schade, daß der Lehrer es nicht wußte, daß er so etwas Großes sei. Er wäre vielleicht manchmal mutiger nach seiner Wohnung zurückgekehrt, wenn er das helle Feuer in seines Schülers Herzen gesehen hätte. Aber er sah es nicht. Georg Ehrensperger verbarg es sorgfältig. Nur zu gut verbarg er es.
Aber eines Tages bekam er etwas davon zu sehen. Einmal und dann nicht wieder.
Es war an einem warmen Nachmittag, der sich schon dem Abend zuneigte. Sie hatten beide, ohne daß einer vom andern wußte, die steile Höhe erstiegen, die gleich hinter der Stadt ansteigt und die vom Walde bekrönt ist, und hatten beide etwas in den Wald hineingetragen, das in der ruhevollen Stille hier oben ausklingen und verebben mußte; der Jüngere eine herzklopfende Unrast, die ihm heut nachmittag der Eichendorff und der Lehrer miteinander geschaffen hatten, der eine als Dichter, der andere als Rezitator.
Und der Ältere eine Niederlage, die ihm seine schulmüden Nerven und ein paar ausgelassene Schlingel miteinander bereitet hatten. Er war heftig geworden und hatte das Buch mit hartem Nachdruck zugemacht als ein Besiegter, nicht als ein Sieger.
Nun lag die Stadt unter ihnen. Der Sonnenschein lag still darüber; es war Sommer. Hier oben rührte sich nichts. Kaum daß ein Lüftchen durch die Baumkronen hinging, oder eine Eidechse mit leisem Rascheln durchs Gebüsch schlüpfte. Auf einem schmalen, grün bewachsenen Fußsteig ging Georg Ehrensperger dahin. Gleich daneben führte die weiße Straße durch eine Birkenallee. Dort ging der Lehrer. Er trug den Hut in der Hand und ließ sich den heißen Kopf verlüften, und hie und da blieb er stehen und atmete tief auf. Er war hier zu Hause, es brauchte nicht lang, bis die stillen Geister des Waldes ihr sänftigendes Werk an ihm getan hatten. Da freute ihn wieder der wilde Rosenstrauch am Wege, und der Ameisenhaufen, und das leise Spiel der Birkenblätter über ihm.
„Die armen Kerle,“ sagte er und gedachte seiner jungen Leute; „es sind so baumstarke Burschen unter ihnen; was wollen die von der Poesie? Sich recken und vertoben möchten sie. Etwas schaffen mit ihren Gliedern.“ Er sah an seiner eigenen, schmalen Gestalt hinunter. Er hatte freilich keinen Überschuß an Körperkräften. Er lächelte, es war etwas Befreites darin. „Es möchten doch zehn Fromme in Sodom sein, oder fünf.“ Er ließ die Gesichter seiner Schüler an sich vorübergehen. „Ganz umsonst — ein Schlag ins Wasser — nein, das ist es doch nicht, was ich tue. — Der? Oder der? Der Ehrensperger, das ist ein besonderes Kraut. Dumm ist er nicht, aber zerstreut. Daß ich den nicht anzufassen verstehe. Aber was ist das?“ Da schallte eine helle Knabenstimme durch die Büsche. Es war von einem, der sich ganz allein dünkte. Was war das? Das hatte er heut vorgetragen. Da schoß ihm eine lichte Freude durchs Herz. Er stand still. Da drinnen schritt der lange, blasse Junge, der ihm soeben so stark nachzudenken gegeben hatte. Er hatte die Mütze tief im Nacken und sein Gesicht strahlte von heller Begeisterung.
Wie es darin klirrte von „hellen Waffen“, wie es sich reckte von Freiheitsverlangen, alles war frisch und stark und aufgerichtet darin. Das war der Träumer? Jetzt hatte er ein waches Gesicht. Alle guten Geister wohnten darin. Und der Lehrer wußte mit einemmal: „Der da gehört zu deiner Gemeinde.“ Das war nichts kleines. Er wollte ihn aber vorübergehen lassen, still und ohne ihn zu stören.
Da sah Georg plötzlich auf ihn. Gerade durch einen Ausschnitt in dem Buschwerk, das da am Grabenrand stand. Gerade in die ruhigen, dunkeln Augen des Wiblinger Magisterbilds hinein, das da in einem Rahmen von grünen Zweigen auftauchte. Das Bild war aber lebendig und nickte ihm zu.
Da wurde er dunkelrot. Ob der Lehrer wohl alles gehört hatte?
„Grüß Gott, Ehrensperger. Auch da oben?“
„Grüß Gott, Herr Professor. Ja.“
„Wir könnten aber miteinander gehen, wenn wir doch denselben Weg haben. Wohin gehen Sie, Ehrensperger?“
„Ich? O, nirgends.“ Es fiel ihm absolut keine andere Antwort ein. In seinen Phantasien, da wußte er immer bedeutende Dinge zu sagen. Aber dies war Wirklichkeit.
„Nirgends? Dahin geh’ ich auch. Da gehen wir zusammen. Nur so durch den Wald.“
Da kam der Lehrer auf den Fußsteig herein, weil Georg nicht zu ihm herauskam. Und dann schritten sie selbzweit dahin.
Innen jubilierte die heimliche Liebe. Außen ging ein sehr gesetzter junger Mann neben seinem Lehrer her. Wer nun zuerst etwas sagte? Und was? Die allergrößten Gedanken schwirrten durch den Kopf des Beglückten.
Da trug er die innere Bewegung nicht mehr und um sich Luft zu machen, riß er einen stattlichen, hellgrünen Zweig von einem Haselbusch und schlug sich damit aufs Knie, daß die Blätter flogen.
Der Lehrer blieb stehen, sah den Haselbusch an und dann den Zweig.
„Setz’ ihn wieder dran,“ sagte er lächelnd, „wenn du kannst.“
Er dachte nicht daran, daß er du sagte. Dies war so ein junges, rasches Gemüt und er mußte es liebhaben.
Dem Jungen stieg eine schnelle Blutwelle bis unters Haar.
Er besah den Zweig; es hing ein Tröpflein Saft daran wie ein Blutstropfen. Und er besah den Mann; er hatte ihn im Verdacht, daß er der Rektor Cabisius sei in einer Verkleidung. Der hätte auch so sagen können.
„Ich tu’s nicht mehr,“ sagte er. Nein, er konnte den Zweig nicht mehr dransetzen, er blieb abgerissen. Das Herz schlug ihm darüber. Daran hatte er noch nie gedacht. Und auf Größeres kamen sie nicht miteinander. Sie erlebten gar nichts. Sie gingen nur so miteinander durch den Wald und besahen sich die Galläpfel an den Eichenzweigen und ein Heer von kleinen, purpurnen Blattläusen, die an einem Rosenstrauch saßen und fraßen. Eine große, gelbe Kröte sahen sie über den Weg tappen in plumpen Sätzen, und dachten sich aus, bei wem sie auf Besuch gewesen sei, und sie horchten auch auf die Stimmen der Waldstille. Derer waren mancherlei.
Als sie aber an eine Kolonie von Pilzen kamen, die beieinander in einem vermodernden Baumstrunk standen, da hielt Georg Ehrensperger die Haselgerte zurück, die schon in seiner Hand zuckte, um ihnen allesamt die Köpfe abzuschlagen. Sie standen da so zierlich und fein und lebten ihr kurzes Leben, und war jeder wieder ein bißchen anders, als der andere. Und als sie beide näher hinsahen, da lebte der ganze Baumstrunk. Ameisen schleppten ihre Lasten und Käfer kletterten an den Pilzen empor. Sie wußten wahrscheinlich schon zu welchem Zweck; das ging die Menschen nichts an. Und das war alles, was die beiden miteinander erlebten.
Der Lehrer wohnte auf der Höhe und der Schüler im Tal, und als sie sich trennten, hatten sie gar nicht viel Interessantes miteinander geredet. Es war merkwürdig, daß sie einander dennoch so bekannt vorkamen, ja, daß jeder für sich gesonnen war, das heutige zufällige Begegnen mit Willen zu wiederholen.
Da konnten sie ja dann nachholen, was sie etwa heut versäumt hatten. Da konnte Georg Ehrensperger noch einen Anlauf nehmen und sagen, daß er gesonnen sei, Eichendorffs Lieder in Musik zu setzen, und daß ihn der Gedanke daran in den Wald herauf getrieben habe, und daß ihm das nicht so schwer vorkomme.
Und der Lehrer konnte ihm dann mitteilen, daß auf diesen Gedanken schon einige Zeit vorher auch rechte Leute gekommen seien und daß sie ihn auch ausgeführt haben, aber daß es ihm ja unbenommen sei, sein Heil auch noch daran zu versuchen.
Und es war nur schade, daß jetzt die Sommervakanz kam und daß nach derselben auf des Professors Katheder ein anderer Mann stand. Und daß Georg Ehrensperger alles, was sich während der langen Wochen in ihm angesammelt hatte, samt seiner heimlichen Liebe, die nur einen Sonnentag erlebt hatte, auf den Pragfriedhof tragen mußte, wenn er es an den Mann bringen wollte.
Er brach aber einen Strauß von grünen Zweigen, und brach jedes Zweiglein mit Bedacht und es reute ihn nicht; den trug er dort hinaus.
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Einmal, das war an einem Werktag, da war ein außergewöhnlicher freier Nachmittag. Cannstatter Volksfest. Die Stadt war wie ausgeleert. Es schien, als ob alle Menschen dort unten auf dem Festplatz seien; niemand auf den Straßen, niemand an den Fenstern. Frau Mollenkopf war auch fort; sie war mit einer Nachbarin gegangen. Es mußte schon etwas so überwältigendes sein, wie das Cannstatter Volksfest, wenn sie am Werktag frei machte.
„Aber,“ hatte die Nachbarin gesagt: „am Volksfest schaffen? Das kommt mir vor, wie eine Sünd’. Einmal der Brauch ist’s nicht.“
Ja, und gegen den Brauch wollte Frau Mollenkopf nicht angehen. Da zog sie ihr zweitbestes Kleid an und zog mit der Nachbarin aus. Georg Ehrensperger war auch dort drunten gewesen; gestern gegen Abend. Die ganze Klasse war dort gewesen und er mit. Karussell, Schießbuden, Wachsfigurenkabinette, Moritatensänger, neues Sauerkraut und warme Würstchen, neuer Wein.
Er hatte genug von gestern.
Nun saß er am Klavier und übte. Er wollte den ganzen Nachmittag dazu benützen. Er mußte vorwärts kommen, es ging viel zu langsam für seinen Geschmack. Das war nicht nur so, wie zu Haus in Wiblingen unter der Bettdecke, wo es mühelos gegangen war. Hier, in der Wirklichkeit, da gab es Fingerübungen, fünfzig mal dieselbe, und dann zur Abwechselung Tonleitern.
„Sie haben etwas spät angefangen,“ sagte der Lehrer tröstlich, „das kommt noch; nur Übung, Übung.“
Ja, da saß er denn und übte. Aber ob er es jemals dazu bringen würde, so zu spielen, wie sein Lehrer?
Er zog während der Schulstunden an den Fingern, daß sie knackten. Das sollte ja gut für die Gelenkigkeit sein.
Nein, das war wohl nicht möglich, daß er je so weit kam. Zuweilen, da konnte es ihn förmlich rütteln. „Ich will aber,“ sagte er zu sich selbst und zu Ernst Daxer, der immer bereit war, ihn anzuhören. Und dann konnte sich Frau Mollenkopf segnen, wenn er im Gymnasium war, und segnen, wann er in seiner Stube saß und zu lernen hatte. Denn im Übrigen gab es keine Rettung, weder für ihre Ohren, noch für ihr altes Klavier.
Es war ein Klimperkasten; aber da war nun nichts zu machen, Georg fand, es sei immerhin besser als gar keins.
Wenn nur das Denken nicht wäre.
Es wäre ein solch schöner, ungestörter Nachmittag gewesen.
Aber nun fiel ihm ein: ob er wohl später, wenn er das alles in den Fingern hatte, und wenn er einmal ein rechtes Klavier besaß, ob er dann alles das, was ihm so eigenes durch den Kopf ging, spielen konnte? Nicht nur so ein bißchen verlegen in der Dämmerung — nein, recht wie es sein mußte? Am Ende gar niederschreiben? Aber dazu mußte man noch ganz andere Dinge lernen, soviel wußte er nun auch von der Sache.
Während dieses Nachdenkens lagen die Hände ruhig auf den Tasten. Dann erschrak er und spielte weiter. Es war eine dumme Geschichte, das war nicht zu leugnen: er hätte das alles schon lang lernen sollen, dann wäre er jetzt weiter. Eine einfache Wahrheit; aber nun war es so, wie es war. — Der Milchwagen da unten; die Blechkanne stießen beim Fahren aneinander; im Dreivierteltakt, dachte er. Aber eine davon, die ratterte immer dazwischen, ratatat—ta. Es war unausstehlich. So, nun war es vorbei.
Er konnte wohl auch eine Pause machen, das Übungsstück war nicht so überaus anziehend. Ja, um es recht zu sagen, er hatte es plötzlich dicksatt. Er nahm es und warf es mit Wucht auf den Klavierdeckel, da rutschte es weiter und fiel zu Boden. Von dort mußte es Georg später wieder aufheben, das war alles, was damit erreicht war.
Obwohl gar nichts besonderes auf der Straße zu sehen war? Nein, nach vorn heraus nicht. Aber vielleicht im Hof? Es konnte ja ausnahmsweise sein. Ja, da stand ein kleiner, buckliger Mann und spaltete Holz. Georg kannte ihn vom Sehen, er wohnte im Hinterhaus und ging als Holzspälter auf Taglohn und hatte eine große, starke Frau. Sonntags, da gingen die beiden schon des morgens mit den Gesangbüchern aus dem Haus; also wohl in die Kirche. Der Mann trug dann immer einen langen, schwarzen Rock; es sah eigentlich drollig aus: die kleine, gebückte Gestalt, und die langen Rockschöße, die fast auf dem Boden hingen.
Georg hatte plötzlich Lust, den Mann ein bißchen kennen zu lernen. Es war sicher besser, ein wenig mit dem Spielen auszusetzen. Es ging nachher um so frischer voran. Als er so weit war in seinen Gedanken, ließ er eins der Handtücher, die zum Trocknen aus dem Fenstersims ausgebreitet waren, in den Hof hinunterfallen. Ja, es muß gestanden werden, daß er es tat. Er hätte ja ruhig hinuntergehen können und ein Gespräch anknüpfen. Aber so war Georg Ehrensperger nun eben nicht beschaffen. So hätte es Gertrud Cabisius gemacht; daran dacht er im Hinabgehen. Denn nun mußte er das Handtuch wieder holen.
Der kleine Mann drehte sich um und sah auf, als er die Tür hinter sich knarren hörte. Da stand der lange, schmale, junge Mensch vor ihm. „Ich — es ist mir etwas“ — nein, nun mochte er doch nicht lügen. Er bückte sich und hob das Tuch auf. Aber der Holzspälter war nicht schwerfällig. Er hatte gleichfalls Lust zu einem kleinen Schwatz. Er hatte ein rundes, freundliches Gesicht, das an beiden Seiten von einem schmalen, dunklen Bart eingerahmt war. Das Kinn war glatt rasiert. Auf dem Kopf prangte eine mächtige Glatze. „So?,“ sagte er, „nicht auf dem Volksfest, junger Herr, hm?“ „Nein,“ sagte Georg, und, da ihn beim Anblick des kleinen Mannes ein heimatlich-behagliches Gefühl überkam, so wuchs ihm der Mut, hinzuzusetzen: „Und Sie, Sie sind ja auch nicht dort.“
„Ha, ha,“ lachte der Holzspälter und trennte mit einem mächtigen Hieb ein Stück Holz in zwei Teile, „das wär ja schön. Ich da unten! Nein, wissen Sie, alles was recht ist, ich kann Holz spalten, wie einer. Aber so extra gewachsen bin ich nicht, daß ich mich grad auf dem Volksfest zeigen möchte. Ha, ha,“ er lachte wieder, es schien ihm ein erheiternder Gedanke zu sein, daß er dort drunten seinem Vergnügen nachgehen könnte, er!
„Meine Frau ist hingegangen,“ fuhr er fort, „natürlich. Wissen Sie,“ nun reckte er sich aber doch ein wenig und legte die geballte Faust auf die Brust, „bei mir, da tät es sich auch wegen des Standes nicht recht schicken, daß ich zu so was ginge.“
Georg machte große Augen. Wegen des Standes?
„Ja,“ sagte der Mann, „das sieht man mir nicht an, wenn ich Holz spalte; ich bin so ein bißchen geistlich, wenn man so sagen will. Kirchlicher Beamter. An der Hoforgel; Orgeltreter in der Schloßkirche.“ Sein Gesicht drückte plötzlich etwas wie Würde aus; es war ihm vollständig ernst mit dem Stand. „Man muß immer wissen, was sich schickt,“ sagte er.
Da kamen sie denn unversehens in ein dauerhaftes Gespräch. Es fiel Georg Ehrensperger nicht ein, zu lachen. Er interessierte sich für die Orgel, er fand es viel schöner, selbst etwas damit zu tun zu haben, als nur zuzuhören. Und er gestand, Orgelspielen, das gehöre zum Höchsten; wenn er heimkomme nach Wiblingen, in der großen Vakanz, dann wolle er es versuchen; er bekomme schon den Schlüssel, das wisse er. Der Hoforgeltreter staunte. Das war ein kühner Gedanke; ihm, das mußte er gestehen, war es immer unbegreiflich, wie man es so weit bringen könne. Mit Händen und Füßen zu spielen, das war doch schon eine Leistung. „Aber freilich,“ nun lachte er wieder, „ich hab’s in der Musik auch nicht weit gebracht. Alles, was recht ist. Auf einem Kamm blasen, das kann ich, und das Orgeltreten, das versteh’ ich, wie einer. Aber mein Sohn, der!“ Er schüttelte den Kopf, als ob ihm jeder Ausdruck fehle, zu sagen, was sein Sohn für einer sei. „Der ist bei den Posaunenbläsern auf dem Stiftskirchenturm. Alle Achtung.“
Ja, das war so das richtige Thema für die beiden.
Georg Ehrensperger saß auf der Holzbeige und der Alte, er hieß Knupfer, auf dem Haublock.
„Wenn einer will,“ sagte er, „wenn einer weiß, was er will. Der? der hat’s wohl gewußt. Jawohl, junger Herr. Alles was recht ist.
Ich hab’ ihn zu einem Schreiner in die Lehr’ getan. Aber immer gepfiffen und gesungen, und immer Musik im Kopf. Hat alle Pfennig zusammengespart, wissen Sie, hat allemal Trinkgelder bekommen, wenn er die toten Leut hat müssen helfen in die Särge legen. Ja, und da ist beim Vorkäufer da drüben ein Piston feil gewesen, ein altes Ding, aber noch gut. Das hat er gekauft, als er die Hälfte des Geldes beieinander hatte; die andere Hälfte hat er nach und nach bezahlt. Der Vorkäufer, der kann auch rein alles, der hat ihm die Griffe gezeigt. Und da ging’s an. Aber, o je, als der Bub in seiner Kammer hat blasen wollen, da ist der Meister gekommen, der Schreiner. Hat einen Kopf gehabt, so rot wie, wie —“ er sah sich vergeblich nach einem Vergleich für die Röte von des Meisters Kopf um, es gab nichts so rotes — und hat gesagt — und hat geschrieen: ‚Still, auf der Stell’, und daß ich das nimmer hör. Meine Frau sitzt drunten und hat die Händ’ vor den Ohren. Meinst du, ich woll’ deinethalb um den Hausfrieden kommen?‘
Denn, junger Herr, die Frau Meisterin, die hat das Heft in der Hand gehabt und der Meister, der hat so tun müssen, wie sie wollte.
Und als er gesehen hat, wie dem Buben alles verhagelt war, und daß ihm das Wasser in die Augen geschossen ist, da — er ist so unrecht nicht gewesen —, da hat er gesagt: ‚Wenn du’s einmal kannst, dann darfst du blasen, sauber und glatt, dann hat meine Frau — dann haben wir nichts dagegen. Aber vorher nicht.‘
Alles was recht ist, junger Herr. Es tut nicht schön, — obgleich ich nicht viel davon verstehe, — wenn einer ein Blasinstrument an den Mund setzt, das er noch nicht zu blasen gelernt hat.
Aber das muß ich doch sagen, wenn er sich nicht üben darf, dann lernt er’s auch nicht. Also, so war’s bei meinem Buben.
Aber, das hab’ ich schon einmal gesagt und sag’s noch einmal: wenn einer weiß, was er will. Da hat der Bub ein ganzes Jahr lang jeden Abend in den Kleiderkasten hineingeblasen, kein Mensch hat’s gehört, und hat sich geübt. Und als das Jahr herum war, da hat er eines Abends das Fenster aufgemacht und hat über die Gasse hin geblasen: „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern,“ und hat zu keinem Menschen etwas gesagt. Und am andern Morgen sagt der Meister beim Kaffee: „Wilhelm, wenn du’s so könntest, wie der, der gestern Abend geblasen hat in der Nachbarschaft, dann hätt’ kein Mensch etwas dagegen. Siehst du? Der kann’s.“ Da hat mein Wilhelm ein Schelmengesicht gemacht und gesagt: „Meister, das bin ich gewesen.“
Ja, und von da an, sehen Sie, junger Herr, da ist er über das Gröbste hinüber gewesen. Und jetzt? hab’ ich’s schon gesagt? jetzt ist er bei den Stadtzinkenisten auf dem Stiftskirchenturm. Ja, und so weit kann’s der Mensch bringen, wenn er sich übt in der Geduld und wenn er das Schenie dazu hat.“
Da glitt Georg Ehrensperger von seinem hohen Sitz herunter und sagte, daß er nun wieder ins Haus müsse und gab dem Alten die Hand.
Und es war eine Pause von einer halben Stunde gewesen, und der Nachmittag lag noch ebenso still über der Altstadt, und das Notenheft lag noch auf dem Boden, ganz wie vorher.
Aber nun hob er es auf und machte sich dahinter und tat, wie Knupfers Wilhelm, er übte sich in Geduld, und als Frau Mollenkopf nach Hause kam, da übte er auch sie in der Geduld, und es ging ihm wie allen, die auf mühseligen und eintönigen Wegen an ein ersehntes, schönes Ziel gelangen müssen: er kam, einen Schritt um den andern, — um noch einmal mit dem Hoforgeltreter Knupfer zu reden „über das Gröbste hinaus“.
Inzwischen war weder in Wiblingen noch sonstwo auf der Welt das Leben stehen geblieben. Die Alten waren mehr in das Alter und die Jungen mehr in die Jugend hineingewachsen.
„So,“ sagte Gertrud Cabisius, als Georg nach dem Maturitas nach Hause kam, „das hätten wir hinter uns.“ Immer noch „wir“, wie einst, da sie als Kinder unter dem Apfelbaum saßen und Pläne schmiedeten.
Dort saßen sie auch jetzt wieder, dort und an allen alten Plätzen. Aber nun waren sie groß geworden. Er lang und schmal und etwas blaß, immer noch mit leichten Sommersprossen auf der Stirn, immer noch mit dem weichen, etwas verlorenen Gesichtsausdruck, den Kopf manchmal wie horchend etwas vorgeneigt, immer noch leicht zu hohen, starken Gefühlen entflammt, die ihn wie Flügel trugen, und leicht auf die Erde geworfen, die Nase nach unten. Sie breit und hoch gewachsen, mit kräftigen, etwas schweren Bewegungen, trug den stark entwickelten, klugen Kopf, um den die braunen Zöpfe lagen, sicher und aufrecht, so, wie ein guter, junger Baum seine Krone trägt. Ihr Gesicht war ein wenig bräunlich, breit und offen, der Mund schmal und fein, die Nase, die war ihrer Großmutter geheimer Kummer, denn sie nahm entschieden ein bißchen viel Platz ein, die Augen braun, klug und warm dabei.
„Wenn sie ein Mann wäre,“ dachte die Großmutter im Stillen, „dann wär alles gut.“ Dem Rektor war die Enkelin recht, wie sie war; er fand so viel Erfreuliches an ihr, daß er nicht noch mehr begehrte.
Er hatte im vergangenen Herbst Feierabend gemacht. Achtundvierzig Jahre seines Lebens hatte er der Jugend gewidmet. Als er ging, hatten sie in der Wiblinger Lateinschule ein Fest gefeiert, mit Reden und Gesängen, und man hatte ihm gesagt, daß er ein gutes und wackeres Werk vollbracht habe, und hatte ihm eine goldene Taschenuhr von beträchtlicher Größe und Dicke gewidmet, und ein Schüler hatte ihm in Versen gewünscht, daß diese Uhr noch viele freundliche Stunden für ihn zeigen möge. Es war ein schönes Fest gewesen; und jedermann fand, daß dem alten Herrn nun das Ausruhen zu gönnen sei; auch der neue Rektor, der ein feuriger, eifriger Mann war, fand das. Und es gehörte offenbar zu den Schwächen des Alters, das sich nicht mehr leicht umgewöhnen kann, daß der Rektor Cabisius sein gewohntes Tagewerk und seine Jugend dennoch vermißte.
Aber das sollte er nicht lange tun.
„Großvater, jetzt soll’s fein werden,“ sagte Gertrud und nistete sich in der Studierstube ein, und schlug alle die Bücher auf, nach denen ihr lebendiger, junger Geist stand.
Da ging es dem alten Herrn wieder wie einst: „Sie nimmt einem das Wort vom Munde weg, es ist eine Freude, ihr zuzusehen, und eine Freude, sie zu unterrichten.“
Da freuten ihn denn bald seine freien Jahre wieder. Er hatte die Jugend bei sich im Haus.
Die Großmutter konnte sich billigerweise auch nicht beklagen. Eigentlich und im Grunde tat sie’s auch nicht. Die Gegenwart war ihr recht, nur die Zukunft machte ihr hie und da Sorge.
Aber sie hatte nicht viel Zeit, darüber zu grübeln, obgleich sie immer noch im Lehnstuhl saß und sich nicht fortbewegen konnte. Denn nun horchte sie wahrhaftig noch zu, was die beiden mit einander zu bereden hatten. Sie wollte nicht allein im Wohnzimmer sitzen, obgleich der Rektor sagte: „Wenn dir’s aber zuviel wird, Anne?“ Es fing allerlei an, sie zu interessieren, wozu sie früher nicht so die ruhigen Gedanken gehabt hatte. Von unseren Vorfahren von alten Zeiten her, und wie das deutsche Land aussah, zur Zeit von Christi Geburt und noch früher.
Einmal, da nickte sie sehr einverstanden mit dem Kopf. Das war, als die Rede darauf kam, wie die alten Frauen, die unter unseren Vorvätern lebten, in so hohen Ehren standen. Von der Last der Jahre gebückt, den Schnee des Alters auf dem Scheitel, zahnlos der Mund, aber noch glänzend das Auge, so wohnten sie unter den ihrigen und sahen Enkel und Urenkel, und die starken Männer, rauh vom Jagd- und Kriegshandwerk, gingen ehrerbietig mit ihnen um, und die Jugend zügelte vorlaute Reden, wenn die Ahnfrau sprach.
Ja, manchmal erhob sich eine zusammengekauerte Gestalt vom Herdfeuer, an dem sie gesessen, zu voller Höhe, wann der Feind ins Land fiel oder wenn die Barden neue, seltsame Nachrichten brachten von fremden Göttern und Völkern. Und sie reckte die Hand aus und deutete Vogelflug und Wetterzeichen, verwob Vergangenes und Künftiges und sprach verheißende Worte und sank wieder auf den Ruhesitz zurück. Und im Kreise ging ein Gemurmel: „Hört ihr’s, was die Ahnfrau sprach?“
„Abgesehen von der unchristlichen Zeichendeuterei,“ sagte die Rektorin, „wäre es nicht übel, wenn heutzutage noch etwas davon übrig wäre. Aber das ist nun anders. Wo in aller Welt hat eine alte Frau noch etwas zu sagen?“
Da waren sie schon neben ihr.
„Ja, jetzt lacht ihr; das Lachen, das soll wohl etwas helfen?“
„Aber Anne, wer hat denn zum Beispiel hier in diesem Hause etwas zu sagen außer einer gewissen alten Frau?“
„Großmutter, du kannst dich nicht beklagen.“
„So? Ich alte Frau sitze hier und soll das alles mitanhören. Still. Ich rede nicht von heute. Aber gestern, das mit den Erdschichten, und wie die Gletscher entstanden und die Gebirge und Meere. Was soll ich damit? Auch habe ich starken Verdacht, daß es nicht christlich sei, dem allem nachzugrübeln. Wenn wir das wissen sollten, stünde es in der Bibel.“
„Aber Anne; Gott hat ein Haus gebaut und wir sollten als Kinder des Hauses nicht darin umherstöbern dürfen, und, so viel Kinder verstehen können, nachsehen, wie das Kellergewölbe beschaffen ist und das Fachwerk und das Dach? Weil uns das nicht von vornherein gesagt ist, sollen wir uns nicht besinnen dürfen und nicht fragen? Anne, es bleibt noch genug übrig, das nicht zu ergründen ist; davon wollen wir die Hände lassen und warten, ob der Vater uns einmal als erwachsene Söhne wird in seinen Bauplan mit hineinsehen lassen. Wenn nicht, müssen wir auch so zufrieden sein.“
Dagegen wußte sie nichts zu sagen.
Sie saß und hatte die dick geschwollenen Füße auf einen hohen Schemel gelegt und mit Decken umhüllt, und war von Liebe umgeben. Sie wußten es wohl, daß das nicht mehr anders komme, bis — ja bis. Unser Leben währet siebenzig Jahre und wenn’s hoch kommt, achtzig Jahre. Fünfundsiebenzig war die Rektorin und ihr Gatte siebenundsiebzig. Das sprach von selbst. Nun kamen die geschwollenen Füße hinzu. Aber sie gingen wie bisher miteinander weiter, jedes nach seiner Art und wußten, daß sie zusammengehörten.
Es war nie mehr die Rede davon, daß Gertrud ein Examen machen sollte. Es ging alles fort wie bisher; nur daß die alte Frau weiter hinaussorgte, nicht für sich, für das Kind. Ihr Gatte tat das nicht. Es war früher umgekehrt gewesen; da hatte er in die Ferne gesehen, nun tat sie es.
„Ich könnte es dem lieben Gott überlassen,“ sagte sie, „aber Gertrud ist anders als andere Mädchen, das ist es, was mir Sorge macht.“
„Ach, du denkst: Diese Spezies ist dem lieben Gott noch nicht vorgekommen, da muß schon die Rektorin Cabisius eingreifen?“
Da sah sie zu ihm auf, mit demselben Blick wie in jungen Jahren, rasch aufflammend und ein wenig ärgerlich, und dann, wider Willen lächelnd, wenn die Augen einander begegneten, und dann immer stiller.
Er hatte ja Recht. Was konnte das Sorgen helfen? War nicht immer alles gut geworden? Da lehnten sie ihre grauen Köpfe aneinander und saßen still beisammen.
Gertrud focht die Zukunft noch nicht an. Sie war siebzehn Jahre alt, und das Leben fing erst an, ihr seine Weiten aufzuschließen. Es verstand sich von selbst, daß es schön wurde; es war aber auch jetzt schön. Reich war es. Sie erzählte ihrem Kameraden, Georg Ehrensperger, der in der Vakanz daheim war — er rüstete sich zur Hochschule — von allem, was dazu gehörte. Sie stand in der Küche; mitten in der Küche stand ein weißer tannener Tisch, darauf die große, steinerne Teigschüssel. Den Teig darin klopfte sie mit viel Kraft und in vielen Pausen. Die Pausen hingen mit der Unterhaltung zusammen.
Georg Ehrensperger saß auf der Wasserbank, links und rechts von ihm standen hölzerne Wassergölten.
„Du wirfst noch eine davon hinunter, du solltest dich anderswo unterbringen,“ sagte Gertrud.
Er lachte behaglich.
„Ich sitze gut hier. Was soll aus dem Teig werden?“
„Weißbrot. Großmutter ist jedesmal in Sorge, daß es speckig werde oder sonst mißrate, wenn ich den Teig nicht unter ihren Augen mache. Ich muß ihn besonders gut durchschaffen.“
Sie gab dem Teig ein paar kräftige Stöße.
„Ich bin siebzehn. Brotbacken ist nicht schwer. Ich bin froh, daß ich nicht buntsticken muß. Großvater hat mir geholfen, er sagt, man komme auch so durch die Welt. Kochen und backen aber, das soll ich. Das tu’ ich auch gern.“
„Da hat er Recht“. Georg nickte sachverständig.
„Du schlägst aber die Schüssel auseinander. Was für feste Arme du hast.“
„Nicht?“ Sie reckte sich. Die Ärmel ihres Hauskleids waren bis über die Ellbogen hinaufgeschlagen.
Da kam ihr ein guter Gedanke.
„Wir wollen sehen, wer stärker ist. Das ist jetzt drei Jahre her, seit wir nicht mehr gerungen haben. Komm.“
Sie setzte immer noch wie einst ihre Fußstapfen neben die ihres Kindheitskameraden. Geistig und körperlich war sie stark und frisch.
Er blieb behaglich auf der Wasserbank sitzen.
„Du mußt dir vorher die Hände waschen, sonst teigst du mich ganz und gar ein. Nachher. Du zwingst mich nicht nieder, bilde dir nichts ein.“
Die Rektorin Cabisius wäre nicht besonders hoffnungsvoll für das Gelingen des Weißbrots gewesen, wenn sie gesehen hätte, wie das nun ging. Eins, zwei, drei, Laibe geformt, in die Körbe gesetzt.
„Was sagst du, Marie? Nicht genug durchgeknetet? Ist nicht möglich. Denk’ einmal, als Sarah Kuchen buk, damals im Hain Mamre, da saßen die drei Männer schon und warteten aufs Essen. Wenn die hätte eine Stunde lang Teig kneten wollen! Ich bin überzeugt, daß die Kuchen gut wurden und daß das Weißbrot vorzüglich wird.
Schüttle den Kopf nicht so bedenklich, du bist nicht so viel älter als ich!“
Marie war das Mädchen. Sie stand an der Spülbank und warf hie und da einen Blick hier herüber. Achtzehn war sie, klein, rund und rotbackig, mit lustigen, braunen Augen; eins davon schielte, aber das sah immer nach einer Schelmerei aus. Es konnte ihr einerlei sein mit dem Brot, aber sie war dennoch überzeugt, daß es nicht genug durchgeknetet sei.
„So, jetzt komm,“ sagte Gertrud, „du bist doch wohl nicht zu gediegen für so etwas?“
Da warf Georg den Kopf zurück und reckte die Arme: „Komm.“ Es wurde aber nicht entschieden, wer stärker sei, denn sie warfen richtig das eine, volle Wassergefäß um.
„Es ist zu nah am Rand gestanden,“ sagte Gertrud, „es kippte gleich um.“ Dann half sie, den Küchenboden aufzutrocknen.
**
*
Es wurde auch in allerlei andern Dingen nicht entschieden, wer stärker sei. Dazu nahmen sie es nicht ernst genug, wenn sie je einmal daran gingen, sich zu messen.
Marie mußte noch oft den Kopf schütteln. So etwas hatte sie doch ihrer Lebtage noch nicht gesehen.
Manchmal, da schienen sie zwei richtige Kindsköpfe zu sein.
Sollte man es glauben? Sie ritten ja wahrhaftig noch auf dem Treppengeländer: wer es besser konnte. Und sie stiegen miteinander auf den Turm und ließen sich von Frau Judith Märchen erzählen: Goldmarie und Pechmarie, und vom Machandelbaum, und halfen dem Meister Nössel beim Läuten. Der war auch eisgrau geworden. — Und dann wieder waren sie so überaus ernsthaft, huh. Da saßen sie ehrbar in der Laube, oder an dem Steintisch unter dem Ahorn, oder in der Wohnstube und lasen aus schweren, dicken Büchern und oft in einer unverständlichen Sprache, und machten nachdenkliche Gesichter und sprachen so klug, daß es Marien eine Gänsehaut gab, wenn sie nur in die Nähe kam. Sie, Marie, hütete sich wohl, in ein Buch zu sehen, außer Sonntags, wo sie in der Kirche das Gesangbuch benützte. Es war ihr rein unverständlich, wie zwei junge Genossen derlei Dinge miteinander treiben konnten.
Manchmal stritten sie sich auch. Aber worüber? Kein Mensch konnte verstehen worüber, meinte Marie.
Aber Marie hatte „eine Ahnung“, wie Georg sich ausdrückte, was ja freilich heißen sollte, daß sie keine Ahnung habe.
Sie war aus dem Weiler Hinkelsbach, der ganz nah bei Wiblingen lag, und konnte von der Dachluke aus den Rauch ihres väterlichen Hauses sehen, und war ein junges, vergnügtes Ding, und konnte wunderschöne, alte Volkslieder singen, zu denen Gertrud häufig die zweite Stimme sang. Aber im übrigen, was wußte sie von dem, was die beiden einander mitzuteilen hatten?
Sie bekamen ja richtig den Kirchenschlüssel, und Georg spielte die Orgel und Gertrud sang einmal mit ihrer tiefen Altstimme Händels Largho von dort oben herunter in die leere Kirche hinein und wunderte sich, wie voll es klang, und saß ein andermal mit in dem Schoß gefalteten Händen und horchte vom Schiff aus und meinte, daß die Orgel noch nie so geklungen habe, wie heute, da ihr guter Kamerad daran saß. Sie wußten es nicht anders, als daß sie immer noch Kameraden seien. Sie besannen sich auch nicht darüber. Hatten sie nicht ihr Leben lang alles geteilt, und einander gequält, wenn’s sein mußte, und einander verstanden, besser als alle anderen Freunde, trotz mancher Reibereien?
Gertrud hatte nicht so recht das Zeug zur Freundschaft mit den jungen Mädchen des Städtchens. Das war von jeher so gewesen, weil sie immer am liebsten beim Großvater gewesen war.
Es waren verschiedene Versuche gemacht worden, ein Kränzchen, ein Kurs im Englischen mit den Honoratiorentöchtern, weil die Großmutter es wünschte. Aber Gertrud war dort nicht ganz sie selbst, ihr eigenes fröhliches Ich. Sie wußte nicht recht mitzureden und wußte, was sie selber hatte, nicht anzubringen. Seit die Großmutter so anhaltend krank war, blieb sie zu Hause. Es war ihr lieber so.
Sie hatte auch Freunde.
Eine Kamerädin aus der Volksschule, ein kluges, feines, lahmes Mädchen, das einer Witwe gehörte und so gut es ging, ums Brot nähte. Dort wußte sie sich aufzutun. Dem Mädchen ging ein helles Freudenlicht auf, wenn Gertrud kam und sich zu ihr setzte. Und sie nahm ihr das Wort aus dem Munde. Sie hatte solch einen hungrigen Geist. Und weil der Acker ihrer Seele so sehnlich wartete und so aufgerissen war vom Entbehren und Verlangen, so fielen die Körner, die Gertrud aus ihrem Überfluß hinwarf, tief hinein und gingen an den langen, einsamen Tagen auf und gaben eine reiche Ernte. Feine, sinnige, tiefe Gedanken und eine stille, stolze Freude, am Sein und Leben teilzuhaben, und ein Verständnis für die Menschen in den Büchern, die sie zu lesen bekam: ob sie echt und lebendig seien oder nicht. Es kam hundertmal wieder herein, was Gertrud dort hintrug. Das war eine Freundschaft. Es gab deren mehrere.
Den uralten Totengräber Heilemann, der so wunderbare Geschichten aus der Franzosenzeit wußte, und die junge, lustige Frau Liselotte, die einst Magd bei der Großmutter und ihr Patenkind gewesen war. Sie hatte einen Fabriknachtwächter und Flickschuster geheiratet und ihr kleiner, dickköpfiger Bube war Gertruds Patenkind. Und die Spinnricke, die ums Geld spann und die mit tiefer Stimme erzählte, daß sie „schon wieder einen Blick ins Jenseits“ getan habe. Es war nichts, das Gertrud in ihrem jungen Leben vermißte. Aber Georg war ihr Kamerad. Das war doch wieder anders.
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*
Seinen Platz an dem breiten, geräumigen Ecktisch in der Ladenstube des Ehrenspergerhauses nahm Georg wieder ein; aber auch seinen Platz auf der niedrigen Truhe in des Rektors Studierstube. An beiden Orten holte er sich, was da für ihn zu holen war.
Jungfer Liese, die sich allmählich angewöhnt hatte, die Ellbogen breit auf den Tisch zu legen und sich kecklich ganz auf den Stuhl zu setzen, tat ein Übriges und fütterte an dem langen, mageren Menschen herum; und faßte eines Tages ein Herz und fragte, was denn aus dem vielen Geld geworden sei, das der Herr Vetter immer bezahlt habe, da der Sohn nach Hause komme, dürr, wie eine von Pharaos Kühen? Er solle Franz ansehen, das sei noch ein junger Mensch, wie man ihn könne gelten lassen.
Franz war vor kurzem aus der Fremde zurückgekommen, wo er sich in Zeit von einem knappen Jahr einige Welt- und Lebenserfahrung, einen schön geschwungenen Schnurrbart und einige neue Backrezepte angeeignet hatte.
Er nahm je länger je mehr die Leitung des Geschäfts in die Hand und ließ nicht undeutlich vermerken, daß er nicht zu denen gehöre, die mit irgend einer Lebensfunktion allzu lange warten. Und Jungfer Liese nickte und blinzelte Franz dem Älteren zu: „Kehr’ die Hand um — bringt er eine junge Frau herein. Ja, dann? Dann ziehen wir in den Oberstock. Ich verlasse den Herrn Vetter nicht; das tue ich nicht.“
Da konnte ja denn der Herr Vetter unbesorgt sein, und das war er auch. Er konnte sich’s jetzt leicht machen. Da saß er Abend für Abend mit dem Müller Hensler im Schwarzen Adler bei einem gediegenen Schoppen Roten, und sie kamen darauf zu reden, was für Prachtsbursche sie in ihrer Jugend gewesen seien, und kamen zu guter Bürgerzeit wieder nach Hause, ein klein wenig warm vom Prahlen und vom Wein. Da kam über den Markt, von der andern Seite her „der Student,“ wie ihn der Müller Hensler jetzt schon nannte, und sie stichelten ihn ein wenig: „Da sieh’ uns an; jünger als du sind wir heute noch.“ Und der Bäcker Ehrensperger sagte: „Nein, laß ihn, die Studierten, die sind alle so ein bißchen dösig. Das kommt vom Bücherlesen.“ Und das Mitleid faßte ihn, daß sein einer Sohn so still und ernst sei, und er selber war solch ein forscher Kerl gewesen: „Jetzt sag, Bub, hast du einen Wunsch? Ich zahl’s, was es kostet.“
Er war ihm am andern Tag nicht so ganz angenehm, denn nun mußte er das Klavier bezahlen, das in des alten Schullehrer Haldenwangs Auktion verkauft wurde; hundertundfünfzig Mark. Es wurde in die Wohnstube im ersten Stock gestellt, gerade über dem Laden. Und Jungfer Liese sagte zu den Kunden, wenn sie aufhorchend die Köpfe hoben: „Das ist unser Jüngster, der Student. Er will’s nicht besser haben. Da sitzt er und spielt, und oft genug ohne Noten, und das Essen schlägt nicht an bei ihm.“
So war es daheim. In der Dämmerstunde war Georg im Rektorhaus. Da saß er auf der Truhe und streckte die langen Beine weit ins Zimmer hinaus, er konnte sie nicht anders unterbringen. Der Rektor mußte einen Umweg machen. Aber er mochte den Heimgekehrten nicht von seinem alten Sitz verjagen. Nun tanzte der freundliche Flammenschein über das große Studentenbild.
„Das wirst du nun alles erleben,“ sagte der Rektor.
„Wenn es sich so begäbe, es sollte mich freuen, wenn du bei meiner alten Verbindung einträtest. Es sind tüchtige Leute daraus hervorgegangen.“
Er paffte große Wolken aus seiner Pfeife. Die zogen an den Wänden entlang.
„Ich will dir nicht viel sagen. Du mußt dein Leben selber erleben. Es hilft nichts, daß wir Alten euch viel vorreden. Freue dich deiner Jugend, und mach’ die Augen auf. Das Leben ist rings um dich her und ist in dir drin. Du hast viel Neigung, allein zu sein und dich vor den andern zuzuschließen und hast doch auch ein Verlangen nach ihnen. Ich weiß es ja. Laß beidem sein Recht zu seiner Zeit. Sei bei dir selbst zu Hause, dann kannst du unbeschadet auch mit den andern gehen. Ach, was hilft das Reden? Geh’ nur. Man kann euch ja doch keinen Schritt abnehmen. Es ist auch wohl besser so.
Und hier hast du eine Pfeife. Ich will dir zeigen, wie man sie stopft. Ich habe sie dir angeraucht.“
„Aber Mann, das Rauchen, das fängt er früh genug an. Du brauchtest es ihn nicht zu lehren,“ sagte die Rektorin.
„Ich will dir auch etwas sagen, Georg. Du siehst dich einmal gelegentlich nach dem kleinen Mädchen um, nach der Lore. Ein feines Kind war das. Mich soll’s wundern, was die Maute aus ihr gemacht hat. Aber dort zu wohnen gehst du nicht, falls sie ja richtig möblierte Zimmer vermieten. Die Maute ist, — kurz, sie ist etwas schlappig. Das war sie von jeher. Du kannst aber sagen, ich lasse beide freundlich grüßen.“
Gertrud saß auf dem hohen Drehstuhl vor des Rektors Stehpult. Sie hatten nicht mehr beide Platz auf der Truhe.
Sie redete heut nicht viel dazwischen. Das Herz brannte ihr. Sie sah nach ihrem Kameraden hin. Der ging nun wieder einmal neue, weite Wege; er freute sich darauf. Er sagte ihr von allem, was ihn bewegte. Aber was konnte das helfen?
Selbst erleben, das war doch anders. Und sie öffnete durstig die Lippen. Das galt dem Leben, das draußen war in der Weite. Dort zog es hin, wie Wolken am Himmel. Würde es wohl Gertrud Cabisius vergessen, die hier zurückblieb? „Ach, Unsinn,“ sagte sie laut und verweigerte die Antwort auf die erstaunte Frage der drei andern, welchen Unsinn sie meine. Dann glitt sie von dem Stuhl herunter und brachte die Lampe und schüttelte sich innerlich; das sollte ihr noch fehlen, graue Dämmergespinste zu spinnen.
Tübingen. Die Neckargasse herauf schritt der neugebackene Student Georg Ehrensperger. Er sah sich suchend um, rechts und links, und fand auch nach einiger Zeit, was er gesucht hatte: ein Schaufenster mit Damenhüten, Schleifen und Schleiern.
Da trat er in den Laden ein, zu dem das Schaufenster gehörte, und konnte nicht im Zweifel sein, daß er am rechten Orte sei. Denn hinter dem Ladentisch stand die Putzmacherin Maute, und sah noch immer so schwungvoll aus wie ehedem, halb elegant und halb schlappig. Und als sie sich — sie bediente eben eine junge Frau und warf nicht schlecht mit „Madam“ um sich — umwandte, um eine Schachtel von einem der oberen Bretter herabzuholen, da sah Georg ja richtig das rotblonde Zöpfchen, das ihm von Kindertagen her bekannt war, unter der Morgenhaube vorgucken. Es war am Vormittag. Das Zöpfchen wippte lustig hin und her. Es hätte den letzten Zweifel aufgelöst, wenn da noch einer gewesen wäre. Es war aber keiner.
„Guten Morgen,“ sagte Georg. Er hatte den weichen, schwarzen Filzhut in der Hand und den dunklen Anzug über der Brust zugeknöpft und sah nicht anders aus als ein Stiftler, obgleich er keiner war. Die alten Genossen aus der Wiblinger Lateinschule, die waren nun glücklich an der letzten Station ihres gemeinsamen Werdegangs angelangt und saßen im theologischen Stift, gut umzäunt und verwahrt vor den Versuchungen der akademischen Freiheit.
Fritz Hornstein, der einst so vorbildlich Voranschreitende, saß auch darin und sehnte sich ein wenig hinaus, und mit ihm noch mehrere, die sich wohl getraut hätten, auf eigenen Füßen zu stehen und denen der Gedanke an irgend eine Enge schwerer fiel, als die Enge selbst, die so groß nicht war.
Georg Ehrensperger aber, der in aller Freiheit lebte, der sehnte sich eher hinein. Denn er hatte sich selbst — und das war nicht ohne Grund — im Verdacht, daß er, auf sich selbst gestellt, an dem und jenem hängen bliebe, das nicht zur Sache gehörte. Auch zog ihn eine alte Liebe zu den Genossen seiner Kindheit.
Einstweilen galt es, sich einrichten. Die ersten vier Wochen gingen hin, eh’ man sich’s versah.
Ernst Daxer, der war auch im Stift. Aus besonderer Vergünstigung war er hineingekommen. Der hatte ihn gestern zu einem Spaziergang abgeholt. Nachher waren sie in der Müllerei gesessen, der Wirtschaft am Neckarufer. Zwei ältere Studenten saßen am selben Tisch mit ihnen. „Aufs Wohlsein der Lore,“ hatten sie gesagt und angestoßen. Das mußte ja natürlich eine andere Lore sein, als die, die er meinte. Er hätte sich auch nicht zu fragen getraut. Aber nun wußte er wieder, daß er das Kind aufsuchen solle, das noch vor seinen Augen stand, fein, zierlich und von schönen Farben, wie ein Bildchen aus dem Bilderbuch seiner Kindheit.
Frau Maute ließ die Kundin hinaus und wandte sich zu dem jungen Mann. Da ging hinter ihr die Tür, die nach der Ladenstube führte. Ein heller Lichtschein fiel von dem Fenster, das dort drinnen war, hier heraus, und in dem Lichtschein stand Lore. Und Georg sah an der schwunghaften Frau vorbei, als ob sie nicht vorhanden sei. Das war Lore?
Nun war die Zeit gekommen, von der die Wiblinger Kinder beim Auseinandergehen geredet hatten: daß sie einander grüßen wollten, als ob nur eine einzige Nacht zwischen jenem Abend und diesem Morgen läge.
Aber welch ein Morgen war das. Stand hier Jugend und Schönheit und lachendes Leben in einer Person und bot ihm den funkelnden Becher der Freude? Er erschrak so, daß er kein Wort fand. Lore lachte, ein klingendes Lachen. Es war nicht das erste Mal, daß sie in eines Menschen Angesicht das Staunen las: daß es so Schönes geben konnte, hier in dieser niedrigen Stube, in dieser engen Gasse.
Das Lachen erlöste ihn. Er fand etwas von dem Kind darin, das er einmal gekannt hatte. Es war noch etwas anderes darin, aber das hörte er jetzt nicht. „Grüß Gott,“ sagte er nochmals.
„Du bist — du hast dich“ — er verbesserte sich — „Sie haben sich“ da stockte er. Er hatte sagen wollen, daß sie sich verändert habe. Da lachte Lore nochmals. „Das ist noch ganz derselbe,“ sagte sie, „ganz derselbe. Hab ich mir’s nicht so gedacht? Aber natürlich sagen wir noch du. Grüß Gott, Georg.“
Da atmete er befreit auf und faßte ihre feine Hand und schüttelte sie, daß Lore einen leisen Wehlaut ausstieß.
„Feiner bist du nicht geworden,“ sagte sie und lachte. „Aber das tut nichts, das kommt noch alles. Wo solltest du das lernen? Komm da herein, du mußt mir erzählen, so lang und so viel, als Frau Judith auf dem Turm.“
Da ging sie ihm voran in die kleine Stube mit dem geblümten Sofa und zog ihn mit sich hinein. Frau Maute hatte wieder einen Kunden im Laden und nickte nur hinter den beiden drein. Da waren sie allein. Draußen, unter den Fenstern, zog der Neckar vorbei, nur durch ein schmales, steil abfallendes Gärtchen von ihnen getrennt. Rot und golden glänzten die Kronen der Ulmen und Platanen von den Alleen herüber; die Sonne stand am blauen Oktoberhimmel und leuchtete durch die bunten Farben der herbstlichen Welt und glitzerte auf den ziehenden Wellen, und füllte die kleine Stube mit Licht. Und in dem Licht saß Lore.
Georg Ehrensperger, der saß und staunte und fand das Wort nicht.
„Ich soll dich grüßen,“ sagte er, „von Gertrud und von Franz, und von Rektors, beiden.“ Aber seine Augen sagten etwas anderes.
„Wie bist du schön,“ sagten sie, „bist du das wirklich?“
Die Sonne lag auf dem krausen, rotblonden Haar und ging streichelnd an der jungen, schlanken Gestalt hinunter, die von einem großen Meister so herrlich gebaut war. Sie mühte sich, auch in das Gesicht zu scheinen. Aber da wandte sich Lore kurz um, ganz nach der Stube zu. Sie brauchte die Sonne nicht im Gesicht, zwei funkelnde, dunkle Sterne hatte sie darin, die flimmerten und schossen lange Strahlen. Übermütig und sieghaft und ein wenig kindlich fragten sie: „Gelt, das hättest du nicht gedacht? Ja, sieh nur her und staune. Das geht dir nicht allein so.“
Aber als die beiden einander eine Weile angesehen hatten und Georg nun ein wenig hilflos dasaß, da fing Lore an zu lachen und sprang auf und fragte nach hunderterlei Dingen und holte die alten Zeiten hervor; da wurde auch er mit fortgerissen. Und dann trat sie plötzlich wieder in die Gegenwart ein; da wußte sie noch besser Bescheid als in der Vergangenheit.
„Das muß fein werden,“ sagte sie. „Wo wohnst du? du mußt oft kommen, wir sind doch alte Freunde. Wir haben auch Studenten, oben im ersten Stock. Die bringen oft ihre Freunde mit sich. Lebhaft geht es da zu.“
Sie ging ans Fenster und sah auf die Neckarbrücke hinunter und wandte sich wieder um und lachte. Und dann horchte sie mit etwas vorgeneigtem Kopf nach der Ladentür hin. Dort klingelte es. Die Mutter ließ jemand hinaus, und gleich darauf wurde eine Männerstimme hörbar. „Fräulein Lore drin?“, und dann trat ein junger Mann ins Zimmer. Er trug die Farben eines vornehmen Korps, war hoch und breit gewachsen und hatte ein kluges, scharfes, herrisches Gesicht. Sein Hund kam hinter ihm drein, eine hohe, gelbe Dogge. Sie ließ sich zu Lores Füßen nieder und stieß einen winselnden Laut aus. Über Lores Gesicht flog ein feines Rot, als der Ankömmling einen großen Blick auf sie und dann einen auf Georg warf.
„Das ist ein Kindheitsgespiele von mir,“ sagte sie, und bemühte sich, leichthin zu reden. „Wir haben miteinander Kirschen von den Bäumen gebrochen, und haben miteinander Märchen erzählt bekommen. Heut’ seh’n wir uns zum erstenmal wieder. Das ist jetzt acht Jahre her. Nun staunt er, daß ich gewachsen sei.“
Aber sie sprach nicht so sicher und harmlos, wie zuvor. Die Augen des Neuangekommenen lagen auf ihr, das machte es wohl.
Der sagte nicht viel.
Als Lore ihren Gast vorstellte, grüßte er gemessen. Dann nahm er einen Schlüssel, der am Haken neben der Tür hing. „Ich habe den meinigen verloren,“ sagte er, „Sie wollen, bitte, einen neuen bestellen. Und dann, gestern Abend fiel das Tintenfaß auf die Tischdecke. Sie ist unbrauchbar geworden. Die neue geht auf meine Rechnung. Komm, Harras.“
Die Dogge erhob sich zögernd. Sie schien es anders gewöhnt zu sein. Da tat ihr Herr einen kurzen Pfiff. Lore warf den Kopf zurück. „Geh,“ sagte sie, und gab dem Hund einen leisen Schlag. Darauf verschwanden beide, der Herr und der Hund, in dem halbdunkeln Flur, und Georg hörte sie die Treppe emporsteigen.
Als er sich nach Lore umsah, war das sieghafte Lachen von ihrem Gesichte verschwunden. Sie stand am Fenster und biß sich auf die Unterlippe. Aber nur einen Augenblick. Dann schnipste sie mit den Fingern. „Komm, wir wollen weiter plaudern; er soll uns nicht drausbringen.“ Aber sie war nicht mehr recht dabei. Georg war auch gestört. „Was ist das für ein Mensch?“ fragte er. „Er scheint kurz angebunden. So ein Herrscher. Ist er immer so?“
„Nein,“ sagte Lore, „er ist nicht immer so.“ Ein verhaltenes Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Es ist unser Mieter. Er hat das beste Zimmer und bezahlt es gut.“ Und dann sah sie ihn an und dachte: „Du Kind. Du bist noch ein rechter Junge. Aber ein lieber, guter.“ Und auf ihrem Gesicht gingen Rührung und Spott durcheinander.
Dann kam Frau Maute und entfaltete einen großen Wortreichtum und sagte, daß Georg sich hier fühlen solle wie zu Hause. „Wie zu Hause,“ sagte sie, und sah ihn mütterlich an und nickte ihm ermutigend zu: „Ja, nicht wahr, die Lore? Was sagen Sie zu ihr? Aber das hat sie nicht gestohlen. Ich, als ich jung war.“ „Mutter,“ sagte Lore, und trat mit dem Fuß auf, „draußen ist jemand.“
Da entschwand sie, ohne den Satz zu Ende gesagt zu haben.
Es war eine starke Mischung von angenehmen und unangenehmen Gefühlen, mit denen Georg eine Weile später aus dem Hause trat. Aber die angenehmen überwogen bald.
Wenn das Gertrud wüßte. Wenn sie es sehen könnte. Unmöglich, die Lore zu beschreiben. Schön, er hatte noch nie etwas so Schönes gesehen, und lieb und natürlich. Hie und da ein bißchen, — wie sollte man’s nennen? Er beschloß, es gar nicht zu nennen, das, was ihm nicht so recht gefiel. Er wußte kein Wort dafür.
„Das ist von der Mutter,“ entschied er. „Solch eine Erziehung, ich danke. Das hätte wahrhaftig schlimmer ausfallen können.“ Er konnte ihr vielleicht auch manches abgewöhnen, wenn sie nun öfters seinen Umgang genoß. So, abgewöhnen? Ja. Er richtete sich hoch auf, als seine Gedanken das fragten. Hatte sie nicht beim Abschied, noch unter der Haustür, gesagt: „Ach, Georg, ich bin anders als Gertrud, ganz anders. Ich glaube, es wäre einiges zu bessern an mir. Du mußt oft kommen. Wir wollen wieder gute Freunde sein. Weißt du noch? Das haben wir damals ausgemacht, im Rektorgarten unter dem Süßapfelbaum.“
Und dazu hatte sie ihn angesehen; es hatte ihn noch nie ein Mensch so angesehen. Georg versuchte sich den Blick vorzustellen, da durchströmte es ihn, warm und lebendig. Ja, also, so sollte es werden: er wollte, — ach, was wollte er alles. Es war ihm so väterlich zu Mute, als ob er der Rektor Cabisius sei; das meinte er selbst.
Er meinte es sehr gut mit Lore, und mit sich selbst, und mit der ganzen Welt. Als er sich dessen versichert hatte, trat er einem alten Herrn, der um eine Ecke bog, wuchtig auf den Fuß, und erschrak so sehr, daß er vergaß, sich zu entschuldigen. Der alte Herr murmelte etwas Ärgerliches vor sich hin, schüttelte den Kopf, und hinkte ein wenig im Weitergehen. Georg kraute sich verlegen im Haar, und drehte sich, als er ihm eine Weile nachgesehen hatte, um, und stieg zu seiner Behausung empor.
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Ob es Schicksal oder Neigung war, oder beides: Nun hatte er sich richtig wieder eine Stube in einer engen, winkeligen, alten Gasse gemietet. Er wußte nicht recht zu sagen, wie er dazu gekommen war. Er hatte einen Zettel heraushängen sehen: Zimmer, mit oder ohne Klavier, zu vermieten; auf der Hausstaffel waren zwei rotbackige Kinder gesessen; am Röhrenbrunnen, der vor dem Haus stand und sein Wasser plätschernd in einen Steintrog fallen ließ, war eine frische junge Frau gestanden und hatte sich mit einer raschen, kräftigen Bewegung das volle Wassergefäß auf den Kopf gehoben.
Die Kinder hatten sich ihr links und rechts an die Rockfalten gehängt, als sie ins Haus zurückging. Da war Georg hintendrein gegangen, er wußte nicht recht, warum. Die liebe, kleine Gruppe zog ihn hinter sich drein.
Es war ein Handwerkerhaus. Hinten vom Hof herein scholl eine wackere, arbeitsame Musik: schwere Hämmer, die auf Eichenholz niederfielen, lustige Schlegel, die raschen Taktes auf klingenden Eisenreifen tanzten. Ein Feuerschein flammte hoch auf und erhellte einen Augenblick den schmalen, halbdunklen Hausgang. Draußen schritten ein paar handfeste Gesellen hinter einander drein um ein großes Faß herum, um das sie eben die Reifen legten. Ein Lehrjunge trug eine Schürze voll Hobelspäne herbei und warf sie in das Feuer, das inmitten des werdenden Fasses brannte; es knisterte und stieg kerzengerade in die Höhe.
Georg trat unter die schmale Tür, die nach dem Hofe führte. „Romdibom, der Küfer kommt.“ Ein Kinderreimlein fiel ihm ein, das so anfing. Sie hatten es in Wiblingen oft genug gesungen. Er hatte nicht übel Lust, sogleich damit loszulegen, denn das Bild im Hofe heimelte ihn stark an.
Da kam der Meister aus der Werkstatt in den Hof und auf ihn zu. Ein breiter, hochgewachsener, kräftiger Mann; er hatte die Hemdärmel an den sehnigen Armen hinaufgeschlagen bis über die Ellbogen; im Gurt der blauen Leinwandschürze steckte der eiserne Schlegel, die Mütze saß weit hinten auf dem dunklen, schlichten Haar; ein ernstes, bärtiges Männergesicht sah darunter hervor. Es war eins von den Gesichtern, deren Inhaber man ohne weiteres Geld und guten Namen zur Aufbewahrung anvertrauen würde, gewiß, daß man seinerzeit beides unverkürzt zurück bekäme.
Geradlinig, fest und sicher, und in den Augen etwas, als ob sie mit Kindern fröhlich zu lachen verständen.
Daß das letztere der Fall war, zeigte sich auch sogleich.
Als der Meister auf Georgs Frage, ob bei ihm das betreffende Zimmer zu vermieten sei, mit ihm ins Haus trat, kam aus der Küchentür, hinter der sie vorhin verschwunden war, die junge Frau wieder in den Hausgang, diesmal ein einjähriges Bürschlein auf dem Arm.
Das Kind schien eben erst aus dem Schlaf gekommen zu sein und blinzelte, das Köpfchen gegen die Wange der Mutter lehnend, mit aufwachenden blauen Augen aus dem rosig angeschlafenen Gesichtlein heraus.
„Komm’,“ sagte der Vater und streckte die Arme nach dem kleinen Buben. „Mutter, du solltest dem Herrn das Zimmer zeigen, laß’ mir den Helmle so lang.“
Da hatte er auch schon den kleinen Buben auf dem Arm, und als er ihn emporhob und das Kinderköpfchen an seine bärtige Wange drückte, da brach ein so leuchtender Strahl aus seinen blauen Augen, daß der ganze Mann übersonnt schien.
Und dem „Herrn, der das Zimmer sehen wollte“, war es so, als ob es jedenfalls ein ganz vortreffliches Zimmer sein müsse, das in diesem Haus zu vermieten sei, obgleich er vorher an Neckaraussicht und grüne Wipfel vor den Fenstern gedacht hatte. Daran, am Blick ins Grüne nämlich, fehlte es auch nicht ganz. Die Frau wies mit bescheidenem Stolz auf ein winziges, höchst anspruchsloses Gärtchen, das zwischen Hof, Werkstatt und Nachbarhaus eingeklemmt war und aus einer Bohnenlaube, zwei Beeten mit Küchenkräutern, einer Blumenrabatte, ungefähr zwei Hand breit, und einem alten, hohen, knorrigen Zwetschgenbaum bestand.
Auf dieses Gärtchen gingen die Fenster des Zimmers, das im zweiten Stock lag. Außerdem sah man ein Stück des Hofes mit drei kunstreich gebauten Türmen aus Faßdauben, die Rückseite mehrerer Häuser, eins davon mit einer braunen, verwitterten Holzaltane, ein Stück Stadtkirchenturm, und ein nicht unbeträchtliches Stück blauen Herbsthimmels.
„Die Aussicht hat dem vorigen Herrn gut gefallen und das Zimmer auch,“ sagte die Frau. „Er war auch ein Theologe, und er hat immer gesagt, so sei’s ihm gerade recht: Wenn man nicht so weit herumsehe, bleiben einem die Gedanken näher beieinander zum Studieren.“
Es kam Georg vor, als ob „der vorige Herr“ ein äußerst vernünftiger Mensch gewesen sei. Das war ja freilich die einzig richtige Anschauung. Was ihn selbst betraf, so konnte er froh sein, gerade hierher gekommen zu sein. Das war nun das erste Zimmer, das er ansah und nun stimmte gleich alles so vorzüglich. Er hatte hier in Tübingen Glück, das konnte er gleich zum Anfang sehen. Das Zimmer gefiel ihm, er mochte hinsehen, wo er wollte. Aber das hatte er eigentlich schon unten gewußt.
„Wenn Sie das Klavier geniert,“ sagte die Frau, als sie sah, daß Georgs Augen an dem großen, alten Tafelklavier hängen blieben, „es nimmt ein bißchen viel Platz weg, es ist wahr. Man kann’s im Notfall in eine Kammer stellen. Der vorige Herr hat immer seine Bücher darauf liegen gehabt, und, er hat seltene Pflanzen gesammelt, die hat er auch darauf ausgebreitet. ‚Lassen Sie’s nur,‘ hat er gesagt, ‚so lang der Deckel zu ist, stört mich kein Klavier.‘ Und der Deckel bleibt zu, solang ich hier hause.“
Georg fühlte, wie die Sympathie, die ihn mit dem vorigen Herrn einen Augenblick verbunden hatte, wieder entschwand. Er fand nicht gleich Worte. Was gab es doch für Menschen auf der Welt. Er strich mit der Hand über den Deckel des Klaviers; es war wie eine Abbitte, die er im Namen der Menschheit tat.
„Wir hatten’s bei uns unten stehen,“ sagte die Frau. „Aber seit ein Kinderbettchen ums andere kommt, fehlt’s am Platz. Es ist von meinem Schwiegervater her noch da. Der war blind, zwanzig Jahr lang und ist auch blind gestorben. Aber spielen hat er können; alle Leut sind stehen geblieben auf der Gasse, wenn er gespielt hat.“
Jetzt kam der neue Herr auch zur Sprache. Sie kam ein bißchen schroff heraus; das machte die Wichtigkeit des Augenblicks und die innere Erregung.
„Bei mir liegt nichts auf dem Deckel,“ sagte er. „Ich kann nicht begreifen, wie man das einem Klavier antun kann. Ich mache Musik darauf; dazu ist es doch wohl auf der Welt. Wenn Sie das nicht wollen, so sagen Sie’s mir gleich. Dann ziehe ich anderswo hin.“
Aber so war es nicht gemeint gewesen.
Nein, behüte, der Herr könne ruhig spielen, so viel er wolle. Das werde den Mann freuen, wenn er es erfahre. Wenn er hie und da ein Fenster offen lassen wolle, daß man es unten höre.
Es ging eine stolze Freude über ihr frisches, offenes Gesicht: „mein Mann, der macht auch Musik. Er hat eine Geige. Er hat einmal Schulmeister werden wollen. Da ist sein Vater blind geworden und er hat das Geschäft übernehmen müssen. Eine Stimme hat er, man könnt’ ihn auf die Orgel brauchen zum Vorsingen. Mit der Geige will’s nicht recht. Er hat schwere Hände bekommen von der Arbeit. Aber wenn er dazu singt, dann tut’s doch schön.“
Diese Mitteilung hatte gerade noch gefehlt um in Georg Ehrensperger das Bewußtsein zu erwecken, er sei in das einzig richtige und mögliche Haus eingezogen; ja, es war ihm, als habe er sich gewissermaßen in einen Familienschoß gesetzt, so wohl gefielen ihm die Leute und ihr Haus und die Stube, die sie ihm darin abtraten; aber der Mann am meisten.
Und als die Frau hinunterging, um das Helmle wieder aus den väterlichen Armen zu nehmen und dem Mann zu erzählen, daß man wieder einen Herrn habe und was für einen, da verriegelte dieser Herr oben seine Tür, und tat einen Blick aus dem Fenster, ob ihm auch niemand zusehe, und machte einen Spaziergang, zweimal um den Tisch herum, auf den Händen, und streckte seine langen Beine hoch in die Luft vor Vergnügen.
Das war im Herbst geschehen, jetzt war Frühling. — Eine weiche, laue Nacht, eine Nacht, in der man deutlich wahrnehmen konnte, wie sich die erwachenden Kräfte in der Natur regten. Es wehte in den Bäumen, es rieselte in den schmalen Rinnsalen, die sich von der Höhe des waldigen Berges in die Weinberge und Obstgärten verloren, von frischen Wässerlein, die zu Tale strebten, es raschelte und pochte überall leise und geheimnisvoll. War es der Pulsschlag der neuerwachten Erde? Hörte man den Saft in die Bäume steigen? Hörte man die Knospen schwellen und springen?
Unten im Tale lag die Stadt im Schein ihrer vielen Lichter. Viel Leben barg sie und viel Menschenschicksal. Hier oben auf dem Berg sah man beides: die Lichter unten und die Lichter oben, die schweigend ihre hohen leuchtenden Pfade hinzogen.
Georg Ehrensperger trat aus dem Wald, da wo am Eingang die alte, rissige Eiche steht mit den vielen eingeschnittenen Namen. Er hatte einen weiten, einsamen Spaziergang gemacht, nun stand er still, legte die Mütze auf die Steinbank unter der Eiche und sah hinauf und hinunter.
Das Wehen in den Bäumen war stärker geworden. Große, schweigende Wolkengebilde glitten über die Sterne hin; immer mehr wurden ihrer, von allen Seiten sammelten sie sich und wurden ein Heer. Westwind flog voraus; er war der Rufer und trieb sie zusammen: „Auf und schließt euch aneinander. Die Milchstraße entlang, nein, breiter und weiter dehnt euch. Um Mitternacht fängt es an zu regnen. Wißt ihr nicht, daß Frühling ist? Wißt ihr nicht, daß die Erde blühen will? Viel ist zu tun; in wenigen Tagen muß alles weiß und grün sein.“
Es war so recht eine Nacht, da es sich in einem jungen Blut regen konnte von treibenden, frischen Kräften: „Auf die Riegel! Ich fange an, jung zu werden, ich fange an zu erwachen, Frau Welt! Alles Große und Schöne gedenke ich mitzuerleben.“
Es geschah nicht oft zu dieser Zeit, daß Georg Ehrensperger allein die Welt durchstreifte. Er drückte damals seine Neigung zu beschaulicher Träumerei und einsamem Wandel in eine Ecke seines Wesens hinunter. Dort spuckte sie zuweilen umher; wenn er über den Büchern saß in seiner Stube, die bei ihm trotz der schmalen Aussicht die Gedanken nicht zusammenhielt, oder noch mehr, wenn er am Klavier saß, das ein besseres war, als das der Frau Mollenkopf. Dann hatte er eine Welt für sich, in der er mit sich selber hauste, oder mit denen, die er in Gedanken zu sich einlud. Das war ein schönes Dabeisein. Aber es dauerte nie lange. Denn die wirkliche Welt griff da hinein. Unten auf der Straße pfiff es, oder es polterte die Treppe herauf, und junge, kräftige Gestalten traten zu ihm ins Zimmer. So war es gestern gewesen.
„Da sitzt er wieder, wie der Dachs im Bau. Auf und heraus. Eine Nacht zum Ausfliegen. Musik machen, das kannst du im Waldhörnle, wir wollen singen und du begleitest. Mach dich nützlich, Mensch. Was? dableiben? du bist ein Höhlenbär.“
Das waren die Bundesbrüder. Er war ja nun richtig in eine Verbindung eingetreten. Und es war richtig die des Rektors Cabisius. Die Jugend wollte ihr Teil an ihm.
Aber heute war heut. Es konnte ihn suchen, wer wollte, Georg streifte da oben herum und hatte mit sich selbst zu tun. Er war nicht recht bei sich selbst zu Hause und, — da hatte der Rektor Cabisius recht gehabt, — wenn er das nicht war, konnte er nicht mit den andern gehen. Er hatte nicht die Gabe, sich über etwas hinwegzusetzen.
Da war erstens die Theologie, die anfing, ihn böslich zu bedrücken. Er fühlte, daß sie etwas von ihm wollte und daß er sich einmal mit ihr auseinander zu setzen habe. Und er empfand ein Unbehagen dabei. Wie würde es damit ausfallen? Indessen konnte man das immer noch ein wenig verschieben und inzwischen etwas anderes in den Vordergrund stellen. Vielleicht machte es sich dann irgendwie. Ader da stand noch etwas anderes bereits im Vordergrund und ließ sich nur schwer von da vertreiben. Das hing mit Lore zusammen. Es ging schon längst nicht mehr so väterlich zu in seinem Gefühls- und Gedankenhaushalt, wie im Herbst. Es war nicht ohne Bedeutung gewesen, daß er dazumal den alten Herrn auf den Fuß getreten hatte, gerade als er in Gedanken Lorens nachträgliche Erziehung in die Hand nahm. Er konnte sich das Nachdenken darüber schenken. Es wurde ja doch nichts daraus. In einiger Hinsicht erzog sie ihn. Das konnte ja nichts schaden. Aber wenn er den Stiel umkehren wollte, erging es ihm mißlich.
Er war eines Tages bei ihr angekommen, etwas bedrückt und unsicher, und hatte ihr auf Befragen gesagt, daß er an der Tanzstunde der Verbindung teilnehmen sollte und daß es ihm ängstlich sei, ob er so ein Mädchen richtig anzufassen wisse. Da hatte sie seine Bedenken weggelacht: „Komm, ich lehre dich, wie du’s machen mußt.“ Sie hatten den Tisch auf die Seite gerückt und hatten in der Ladenstube getanzt, bis sie außer Atem waren.
Da war er etwas sicherer geworden.
Manchmal, wenn sie ihm gegenüber saß an dem Fenster, das nach dem Neckar ging, und irgend etwas Zierliches nähte, stand sie plötzlich auf und hatte einen hausmütterlich-gestrengen Zug im Gesicht, holte eine Bürste und bürstete ihm die Kleider: „Du siehst auch gar nicht auf dich, Georg. Du mußt dich immer im Spiegel besehen, eh’ du ausgehst. Hier ist auch ein Knopf locker, den muß ich dir annähen, komm.“
Solchergestalt übte sie schwesterlich-frauenhafte Zucht an seinem äußeren Menschen.
Da gedachte auch er das seinige an ihr zu tun, und versuchte, ihren Geist zu speisen, und wollte es machen, wie mit Gertrud, der er alles bringen konnte, seine Bücher, seine Musik, und seine Gedanken. Und er brachte eines schönen Nachmittags die Edda mit und wollte ihr die alten, schönen Sagen und Lieder vorlesen. Da hielt sie sich die Ohren zu: „Liebster Georg, das ist nichts für mich. Mit so etwas mußt du mich verschonen. Ich bin ein kleines, dummes Ding, das bin ich immer gewesen.“
Er wollte sich ärgern, aber es gelang nicht so recht. Sie sah ihn so an, daß er es nicht konnte.
„So, jetzt gefällst du mir,“ sagte sie, als sie sah, daß Georg sein Gesicht wieder glättete, das einen Augenblick verdrießlich ausgesehen hatte. Sie strich ihm mit dem Zeigfinger über die Stirn. Dort war zuweilen eine kurze, gerade Falte, mitten zwischen den Brauen, zu sehen. Das war, wenn er gern ein wenig pädagogisch sein wollte. Da mußte er lachen, als sie ihm die Falte glättete. Wie konnte sie etwas anderes sein, als sie nun eben war? Sie war etwas sehr Reizendes, konnte er sie nicht in Ruhe lassen? Da hatte das Bildungsbestreben wieder ein Ende.
Aber das war noch nicht schlimm. Schlimm war, daß ihre Stimmung gegen ihn umsprang, wie bei Mondwechsel das Wetter umspringt.
Oft war sie lieb und freundlich, und saß, wenn es dämmern wollte, auf dem breiten Fenstersims, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sang ein Volksliedchen, mit halber Stimme, als ob sie die traulichen Geister der Dämmerung nicht verscheuchen wollte. Da kam es ihm, der ihr zuhörte, vor, als ob es nichts so unsäglich liebliches mehr gebe, nirgends und niemals wieder.
Und hie und da war sie kurz und etwas schnippisch, und hie und da sonderbar aufgeregt.
„Sie ist in zu vielerlei Händen,“ entschied er, „und nicht in den allerbesten. Ich sollte sie allein zu beeinflussen haben.“
Wie ein feiner Erzieher kam er sich vor. Er konnte es sich schön ausmalen, wie es wäre — wenn es anders wäre. Es kam nur nichts dabei heraus, als daß er viel zu viel an sie dachte und viel zu oft hinging und viel zu unruhig dabei war.
Oft faßte es ihn: wenn ich das alles Gertrud erzählen könnte! Sie war so fest und gleichmäßig und klar. Aber das konnte er jetzt nicht. Wenn er heimkam, dann.
Da hatte er es nun alles hier heraufgetragen. Es wurde einem frei und weit zu Mute in dem starken, frischen Wehen. Es war ja doch viel mehr in der Welt, das des Erlebens wert war, als das: sich in einem so unruhigen, krausen Mädchensinn zurechtzufinden.
Er sang ein Lied in den Wind hinein: „Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd; ins Feld, in die Freiheit gezogen.“ Und dann wurde er plötzlich still und horchte.
Wie hatte ihm der alte Hollermann schreiben lassen?
„Wer den rechten Ton will finden, der in allen Dingen beschlossen liegt, der muß in die Stille gehen und horchen.“ Sang da irgendwo sein Flötenton?: „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.“ War ringsum alles mit einer Stimme begabt?
Das mußte man ja alles in Tönen sagen können: Das eigene, klopfende, drängende Leben floß mit dem Leben ringsumher zusammen. Saß da innen, tief im Wald der große Alte an der Orgel und spielte sie? Er zog ein Register ums andere; breite, volle, tiefe Akkorde strömten über die Baumwipfel hin. Man mußte sie festhalten können; horch — die Wässerlein sangen dazu, wie dünne, helle Kinderstimmen rieselten sie durch die großen Töne hindurch, und hie und da lachte eins plätschernd auf. Und eins schluchzte auch im Niederfallen. Das mußte so allein in die Nacht und in die Fremde hinaus.
„Das muß ich auch, du.“ Georg blieb stehen und horchte, hinaus und in sich hinein. Hätte er Meister Riedels, seines Hauswirts, Geige bei sich gehabt. Mit der hatte er sich im Lauf des Winters angefreundet, mit ihr und mit dem Meister. Nun sehnte er sich, sie im Arm zu haben. Das konnte man alles spielen. Alle die unruhigen, klopfenden Untertöne, die durch ihn selbst hindurchgingen und die er auch außer sich zu vernehmen glaubte, alles das kleine Lachen und Plätschern und Schluchzen, alles das Schweigen, das über dem Tal lag und aus dem doch hie und da ein Ton hervorbrach, wie von einer verhaltenen Unruhe, alles das mußte man spielen können, um es dann in der großen, breiten Harmonie untergehen zu lassen, die aus der Waldorgel strömte. Wie die tausend kleinen Wolken am Himmel nun ein großer, schweigender Heereszug geworden waren, ohne Unruhe und Hast, großen, gemeinsamen Lebens voll.
Da nahm er die Mütze in die Hand und fing an zu laufen. Und stand wieder still, und horchte, und sann, und fing wieder an zu laufen, bis er an die Stadt kam.
Dort war noch Leben und Bewegung; es war noch nicht so spät. Dort oben war es still gewesen.
Er aber ging durch die Gassen wie ein Nachtwandler und horchte nur auf das, was in ihm selber war. Da pfiff ihm einer dazwischen, unrein und schrill. „Von allen den Mädchen so blink und so blank gefällt mir am besten die Lore.“
Er kam die Straße herauf und mußte an Georg vorbei. Langsam ging er, die Hände in den Taschen, und pfiff immer von neuem die gleichen Takte. Wollte es kein Ende nehmen? Es war zum Verzweifeln. Was ging den Kerl die Lore an? Was hatte er zu pfeifen? Und so zu pfeifen?
Und Georg konnte nicht sagen: still, Mensch. Er hatte die Straße nicht gepachtet. So, endlich bog der Störenfried in eine Seitengasse ein.
Aber das war zu spät. Es war, als ob ein großer, frecher Spatz, den dicken Kopf voran, durch ein feines, zierlich aufgespanntes Spinnennetz gefahren wäre und sich nicht darnach umsähe, daß das Spinnlein nun erschreckt in einer Ecke sitze, und die zerrissenen Fäden im Winde hingen. Denn auch hier waren die Fäden zerrissen. Da ging Georg Ehrensperger still und bedrückt weiter, und nach einer Weile stampfte er aus einem machtlosen, inneren Grimm mit dem Fuß auf. Aber das half nichts. Er versuchte, die Fäden wieder anzuknüpfen, und als es ihm nicht gelang, und er gerade in der Nähe der Neckargasse war, beschloß er, sich auf einen Augenblick an Lorens Anblick neu zu begeistern. Er hatte gestern ein schönes Dämmerweilchen mit ihr erlebt. Es war noch nicht zu spät, sie heute zu grüßen.
Im Laden brannte noch eine kleine, stark zurückgedrehte Gasflamme; die Ladentür war angelehnt. Frau Maute mochte irgendwo einen kleinen Schwatz mit einer Nachbarin halten. Da kam Georg ungehört zur Tür der Ladenstube.
Das kleine Fenster in der Tür war mit einem leichten Vorhang verhüllt, und hinter dem Vorhang webten ein paar Schatten hin und her. Gedämpfte Stimmen, ein leises Mädchenlachen, dann sahen die Schatten aus, als ob sie sich zusammenschlössen.
Georg klopfte. Innen knurrte die Dogge. Ein Hin- und Herhuschen, eine Pause, dann öffnete Lore. „Ach, du bist’s. Es war mir doch, als ob es klopfte. Hat die Tür nicht geschellt? Wo ist die Mutter?“ Sie sah erhitzt aus; das Haar lag ihr lose und etwas zerzaust um das Gesicht; die Augen funkelten.
„Kommst du herein?“ fragte Lore. Sie fragte es kurz und etwas verlegen. Da sah er sie erstaunt an. War sie das? Sie war ein anderes Mädchen als gestern. Drinnen lag die Dogge auf dem Boden; sie sträubte sich und knurrte. Am Fenster stand ihr Herr. Er hatte die Arme auf dem Rücken; er sah aus, als ob er die kleine Stube fülle, so hoch und mächtig war seine Gestalt und so blitzten seine Augen. Georg fand keinen Platz für sich hier drinnen. Er setzte sich, aber er wußte nichts zu sagen; es war ihm eng und schwül. Wäre er doch nicht hier hereingekommen. Wäre er doch nur zuhause. Denn wo flohen nun seine Töne hin? Er hatte sie hier neu anknüpfen wollen.
Da fing Lore an, mit dem Hund zu spielen. Er legte ihr die Tatzen auf die Schultern und leckte ihr die Hände. Und sie schwatzte mit ihm und ihre lachenden Augen gingen zwischen dem Herrn und dem Hund hin und her und streiften zuweilen Georg, der etwas im Schatten saß: „so mach’ doch ein anderes Gesicht, Schulmeister. Du bist ein Schulmeister, ja, aber ich lasse mich nicht von dir kritisieren. Gestern? Ja das war gestern. Aber heute ist heut.“
Georg hatte die bekannte Falte zwischen den Brauen und sein Gesicht mochte ihr einige Mißbilligung dessen, was er sah, ausdrücken. Es war ein unbehagliches Dabeisein. Der hochgewachsene Mensch am Fenster sah so erdrückend auf Georg, der schmal gebaut und unsicheren Wesens und ganz und gar kein Ellbogenmensch war.
Er drückte ihn durch sein bloßes Dabeisein zur Türe hinaus. Da erhob er sich und nahm Abschied. „Gute Nacht, Lore.“ Sie blieb mitten in der Stube stehen und es war Georg, als fliege es wie Spott über ihr schönes Gesicht, und als höre er die tiefe Stimme des Hausgenossen noch lachen, als er schon vor dem Haus war, über ihn lachen.
Vor dem Haus begegnete ihm Frau Maute.
Sie trug einen großgeblumten Morgenrock ohne Gürtel und sah wie immer ein wenig theatralisch aus. Der Aufschwung war nicht besonders hoch gegangen. Aber das war ja auch nicht zu erwarten gewesen.
„Ja, nicht wahr, die Lore,“ sagte sie, als Georg mit kurzem Gruß an ihr vorübergehen wollte. „Hi, hi.“ So lachte sie. Es war, als ob sie einen Refrain lache zu dem Lachen, das er eben da drinnen verlassen hatte. „Nicht wahr, die Lore? Das ist ein Mädchen. Sie ist etwas verwöhnt; das ist sie. Aber man muß sie machen lassen. Hi, hi.“
Da stürmte er voran, daß sie ihm kopfschüttelnd nachsah und beschloß, mit der Lore zu reden, obgleich das eine keineswegs leichte Sache war. Es mußte doch sein. Denn der junge Mann hatte allerlei gute und solide Eigenschaften an sich. Und obgleich Frau Maute nicht gerade das war, was man gewöhnlich mit solid bezeichnet, so wußte sie es doch zu schätzen, wenn andere es waren.
Ein Brief von Gertrud. Er lag auf dem Klavier, als Georg seine Stube betrat.
Als Georg ihn sah, wurde ihm schon freier und ruhiger zu Mute. Und während er ihn las, trat das Mädchen neben ihn in seiner klugen, warmen, einfachen Art und faßte seine Hand: „Ganz verstört bist du? ganz verwettert? Ach, das ist alles nicht so arg. Nun setz’ dich ans Klavier und spiele. Angefangen. Das kommt alles wieder, das ist nur ein bißchen verscheucht. Siehst du? Hier setze ich mich hin und horche. Ich bin dein guter Kamerad. Das bin ich.“
„Gertrud.“ Er sagte es laut vor sich hin. Dann las er den Brief zum zweiten mal. Die einfachen, kleinen Erlebnisse aus der Welt seiner Kindheit kamen ihm vor wie lauter sonn- und festtägliche Bilder. War es noch lang, bis er nach Hause konnte?
Es kam ein Drang über ihn. Was sollte er hier?
Da setzte er sich ans Klavier, und sah auf den Stuhl am Fenster, ob Gertrud dort sitze, und es war ihm, als ob alle verscheuchten, zerflatterten Geister und Geistchen wieder zutraulich wurden und ihre Stimmen hergäben. Es war alles still, im Hause und rings umher. Er aber saß und hielt aufs neue fest, was der nächtliche Spitzberg ihm geschenkt hatte, und spielte, und stand nach einer Weile auf und holte die Geige, die im Kasten auf seinem Tisch lag. Ja, nun hörte er alles wieder; ganz voll Musik war seine Seele, und er war selig und unselig zu gleicher Zeit. Denn er hörte es deutlich in sich; das war das Schöne; und er konnte es nicht so hervorbringen, wie er wollte; das war das Schwere. Es mußte für Klavier und Geige zusammen werden, die beiden miteinander mußten es singen können. Und er holte sein Notizbuch und legte es neben Gertruds Brief auf den Tisch, als ob der ihm helfen sollte, und schrieb auf, was sich ihm in eine Form fügen wollte. Und bald war er so froh, als ob er an der Weltschöpfung Teil habe, und bald legte er den Kopf auf die Geige und wollte es aufgeben, etwas aus ihr herauszuholen, so verzagt war er.
Da knarrte es auf der Stiege von behutsamen Tritten und dann trat nach vorsichtigem Klopfen Meister Riedel ins Zimmer. Er trug seine stramingenähten Hausschuhe in der Hand und schlüpfte erst im Zimmer behutsam hinein.
„Ich hab’ noch kommen müssen und es melden,“ sagte er, und seine Augen strahlten. „Er ist da. Der Bub’ ist da. Ich hab’ gehört, daß Sie noch auf sind und Musik machen.“
Georg war noch nicht so recht an der Weltoberfläche angelangt, er mußte sein Bewußtsein zusammen sammeln. „Was für ein Bub?“ fragte er. „Wer ist angekommen?“ Es war ihm, als ob er es wissen sollte, aber es fiel ihm nicht gleich ein.
„Unserer.“ Der Meister lachte. „Nummer fünf. Heißt das, wenn man die drei Mädchen mitzählt. Soeben angekommen; er ist ein Prachtskerl.“
Ja, nun war Georg wieder auf dem Laufenden.
„Das ist ja fein,“ sagte er. „Einfach: da ist er. In der Welt drin. Wie soll er denn heißen? Feierlich schalle der Jubelgesang!“
„Bst,“ sagte der glückliche Vater. „Ich glaube, es wird besser sein, wenn wir den morgen anstimmen. Den Jubelgesang nämlich. Die Frau wird schlafen wollen. Wie er heißen soll? Friedrich, denk’ ich. So hat mein Vater geheißen. Wenn er wird, wie der, kann mir’s recht sein.“
Georg nickte einverstanden. Er kannte den blinden alten Mann gut vom Hörensagen.
„Dann kriegt er einmal die Geige?“ sagte er. „Dann darf er wohl das alles lernen?“
„Natürlich. Das ist abgemacht. Der Helmle kommt ins Geschäft, und der Friedrich, der —“, der Vater machte eine Handbewegung, als ob er damit dem Friedrich die ganze noch übrige Welt zuspräche.
Georg tat einen tiefen Atemzug, und dann sahen sie alle beide verlangend nach dem offenen Klavier.
„Die Schwägerin schläft bei der Frau,“ sagte der Meister. „Ich bin ausquartiert. Da oben, in der Kammer nebenan ist mein Bett. Ich mag aber noch nicht hinein. Es ist doch etwas Besonderes. Wenn da auf einmal etwas lebendig wird. Das ist vorher nicht dagewesen. Und das gehört so zu einem. Es ist mir jedesmal so, wenn eins kommt, ein Kind. Es dreht einen um und um. Hören Sie’s?“
Es drang ein dünner, heller Ton in die Stille herauf.
„Das ist er.“ Sie horchten beide.
„Mir geht’s auch so,“ sagte Georg. „Daß ich nämlich noch nicht ins Bett mag. Bei mit geht auch etwas um, das lebendig werden will. Ich hab’ etwas komponieren wollen, etwas Wunderschönes. Droben auf dem Spitzberg hab’ ich’s gefunden. Aber ich kann’s nicht recht loskriegen. Stückweise, ja; einmal auf dem Klavier und einmal auf der Geige, aber es hat keine rechten Zusammenhänge. Hier, in mir drin, da hab’ ich’s.“ Er schlug sich mit der Faust auf die Brust. „Da tönt alles miteinander. Nein, ich geh’ noch nicht ins Bett. Ich spränge ja doch wieder heraus und finge von vornen an.“
„Wissen Sie was?“ Meister Riedel machte ein vergnügtes Gesicht über einen guten Einfall, der ihm kam.
„Da oben ist’s nichts mehr. Es geht stark auf ein Uhr. So späte Wiegenlieder sind nicht so passend. Wir geh’n in den Keller. In den kleinen, hinteren Weinkeller. Dort setz’ ich mich auf ein Faßlager und höre zu und Sie spielen sich’s vom Herzen herunter. Da wird’s dann schon kommen. Vorsichtig, leise. Die Treppe knarrt bei jedem Tritt, sie ist alt, wie das ganze Haus. Morgen früh wird die Frau schelten; es kann nichts im Hause vor sich gehen, ohne daß sie es hört. Aber so sind die Frauen. Was sie nicht sehen, das hören sie; was sie nicht hören, das ahnen sie sonstwie.“
Da stiegen sie in Strümpfen die Treppe hinunter und bargen sich und ihre wachen Lebensgeister im Keller.
An einem Drahthaken von dem runden Deckengewölbe herunter hing schaukelnd und schwebend eine Ampel, die warf rötliche, flackernde Lichter durch den dunklen Raum. Zwischen zwei braven, bauchigen Fässern saß der Meister auf dem Faßlager, stützte beide Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. Gluck, gluck, gluck fiel es in eintönigem, hellem Tropfenfall irgendwo in einer Ecke aus einem hochgestellten Gefäß in ein niedriges. Sie horchten beide eine Weile darnach hin. Immer der eine Tropfen; sonst tiefe Stille.
Da, in dieser mitternächtigen Stunde und vor dem viel älteren Mann, zu dem ihn ein Gefühl von Freundschaft und Vertrauen hinzog, weil er gleich ihm sinnig und nachdenklich war und zu den Horchenden gehörte, da wuchs Georg Ehrensperger der Mut aufs neue. Und er stand unter der schwebenden Ampel und hielt die Geige im Arm und spielte. Meister Riedel sah mit warmen, freundlichen Blicken auf den jungen Mann, der während des Spielens glänzende Augen bekam, und nickte ihm zu und sagte in einer Pause still und bedächtig: „Das ist, als ob Sie mir das alles erzählen und als ob ich es ganz verstände.“ Und fing an, langsam und die Worte zusammensuchend, zu reden: „Ich weiß nicht, wie es den andern geht damit. Sie sagen: Musik ist Musik. Tönen muß das und klingen. Ich meine: Reden muß es. Alles das, wofür es keine Worte gibt und will einen doch auseinanderdrücken, das kann man so sagen. Ganz von unten herauf. Mein Vater, der schwere Sorgen hatte, und nach und nach blind wurde und oft einherging, den Kopf und die Schultern gebückt wie unter einer Last, der setzte sich oft im Dämmer, wenn er sich allein glaubte, ans Klavier. Und was er sonst niemanden sagte, das tat er da von sich. Zuerst war es lauter Jammer, als ihm nach und nach das Licht seiner Augen erlosch, und dann fand er den Weg zu einem Choral: ‚Wenn wir in höchsten Nöten sein,‘ oder ‚Befiehl du deine Wege.‘ Und ich stand manchmal in einer Ecke und horchte und meinte, ich kenne ihn erst jetzt. Später, als er still und friedlich seine letzten Jahre hinlebte, da hat er auch noch heitere und freundliche Töne gefunden. Als unser erstes Kind zur Welt kam, die Lene, da hat er nichts gesagt, sondern hat nur so still für sich hingelächelt, und dann hat er ein Lied gespielt, das tat wie ein Schlaflied, ganz zart und fein. Aber auf einmal hat das aufgehört, da hat es aus dem Klavier herausgewettert, wie wenn einer einen Juchzer unterdrücken will und kann nicht mehr und muß hinaussingen; und nachher ist ihm der Schmerz dreingekommen: daß er es nicht sehen kann, das Kind nämlich.
Und sehen Sie, Herr Ehrensperger, alles das, was einer gern in seinem Leben drin hätte und hat’s nicht und muß sich danach sehnen und kann’s niemand sagen, das, mein’ ich, das sollte man auf so einem Instrument sagen können. Ich kann’s nicht; wenn’s mich packt und ich will’s probieren, dann bringen’s meine schweren Hände nicht heraus. Oder fehlt es sonstwo. Aber wenn einer ein rechter Musiker wäre, und er wüßte von allem Schmerz und von aller Freude der Menschen, und hätte den Glauben, daß da etwas dahinter steckt, hinter dem Leben, etwas, das man nicht sehen kann, etwas Großes, Schönes, das zu uns gehört, dann — dann müßte es sein, wie eine Predigt, was er spielt.
Ich kann’s nicht so sagen, wie ich’s meine.“ Er lächelte ein wenig verlegen, daß er so viel gesagt hatte, da er am hellen Tageslicht eher ein schweigsamer Mann war.
„Ich red’, wie ich’s versteh. Ich hab’ noch nicht viel ganz rechte Musik gehört. Ein paar mal in meinem Leben. Das vergeß ich nie. So alt ich werd’, vergeß’ ich’s nicht. Aber ich mein’, ich spür’s, wie es sein müsse und wie nicht, und ob’s von unten herauf kommt. Man spürt’s ja den Leuten auch an, ob sie fromm sind und recht und ehrlich, oder ob sie nur so daherreden.“
Da stand er auf und holte ein Glas aus einer Mauernische und füllte es mit einem braven, roten Wein, der war bei Stetten im Remstal gewachsen, und bot es seinem jungen Genossen. Der tat einen tiefen Zug daraus, und sah den Meister an und mußte ihn liebhaben, und fand auch das Wort, ihm von seinem jungen Leben und von seinen Freuden und Unruhen und von seinen Wünschen und Träumen zu erzählen.
Darauf trank auch der Meister und füllte das Glas aufs neue. Da tranken sie umschichtig aufs Wohlsein aller, die zu ihnen gehörten und auf ihr eigenes, und auf das Gedeihen aller schönen Lebensplane und spürten mit der Zeit die freundlichen Geister des Remstälers, der ihnen mutmachend und siegverheißend durch die Adern strömte, besonders dem Jüngeren. Zuletzt nach allen tranken sie auch aufs Wohlsein der Lore, nachdem sie miteinander beredet hatten, daß so „die meisten jungen Mädchen“ seien. Es tat nichts zur Sache, daß sie beide nicht viele junge Mädchen kannten, es war doch ein beruhigender Schluß.
Und nach einiger Zeit nahm auch der Meister die Geige und spielte ein paar schöne, alte Volkslieder: „Es war ein Markgraf überm Rhein,“ und „Es waren einmal drei Reiter gefangen, gefangen waren sie“.
Sie sangen auch dazu, daß das Gewölbe widerhallte, der Meister mit einer schönen, tiefen Baßstimme. Droben schlief die Welt; hier unten war waches Leben.
Als es auf der Stadtkirche vier Uhr schlug, spuckte und knisterte die Ampel und wollte erlöschen. Da hoben sie das Gelage auf und suchten beim letzten Flackerschein den Ausgang und erstiegen die Treppen. Und es war nun eher als beim Abstieg zu fürchten, daß die hellhörige Frau ihr Teil zu denken bekomme. Denn allzu leicht waren ihre Tritte nun nicht mehr.
Es bleibt über das Schicksal der beiden Neugeborenen dieses Abends noch zu sagen, daß Meister Riedels Sohn nach drei Wochen richtig Friedrich getauft wurde und daß er jetzt in einer Präparandenanstalt für künftige Schullehrer ist und ihm also die Welt offen steht, wenn auch nicht ganz so unumschränkt, wie sein Vater damals andeutete. Und daß Georg Ehrensperger in einer mutlosen und zornigen Stunde einige Wochen später die Niederschrift seines Musikstücks, das er „Frühlingsnacht“ hatte taufen wollen und das nie fertig geworden war, in tausend kleine Fetzen zerriß und hernach ganz gebrochen in der Küferwerkstätte auf einer Schnitzbank saß, den Kopf in die Hände gestützt.
Der Meister stand vor ihm, den Helmle auf dem Arm, und machte ein bedenkliches Gesicht.
„Das geht nur so,“ sagte er. „Gleich zerreißen, gleich ganz wegwerfen. Wir hätten es doch noch zusammen gespielt. Es ist viel Schönes drin gewesen. Es wird einer nicht gleich Meister. Aber so ist solch ein junger Feuerkopf, gleich, entweder ganz oder gar nicht.“ Denn Georg hatte versichert, er lasse in Zukunft die Hände davon, es sei sicher, er bringe nie etwas zustande. „Ja,“ sagte er und hob den Kopf: „Entweder ganz oder gar nicht. Das Stümpern, das hat ja keinen Wert. Ich will es lassen; ich habe ja anderes zu tun. Ich muß mich ans Studium machen, es wird Zeit. Die Semester gehen so schnell herum.“
Der Meister lächelte; aber das konnte auch dem Helmle gelten, der seinen Lockenkopf ganz in den väterlichen Bart hineinwühlte. Er stellte den Buben auf den Boden und nahm das Schnitzmesser. „Ja, dann wollen wir uns halt ernstlich an die Arbeit machen und sehen, wie weit wir’s bringen. Es war aber doch schön an dem Abend, nicht? Ja, dann müssen wir das halt lassen in Zukunft.“ Da ging Georg Ehrensperger aus dem Hause, wie einer, der ein schweres Gelübde getan hat und den es bereits anfängt zu drücken.
**
*
Sie hatten im Keller Lorens Gesundheit getrunken und das war für Georg so eine Art von Versöhnungsakt gewesen. Wenn er sich recht besann: er hatte wohl ebensoviel Schuld an dem unerquicklichen Abend, als sie. Am nächsten Tag ging er nicht hin. Am übernächsten kam er zufällig über die Neckarbrücke, da sah er sie von Weitem in dem schmalen Mauergärtchen, das sich längs des Hauses am Neckarufer hinzog. Sie saß auf der sonnigen Mauer und hatte ein paar Nachbarskinder um sich her. Die strebten an ihr in die Höhe und sie schien irgend einen vergnüglichen Unsinn mit ihnen zu treiben, soviel von weitem zu sehen war.
„Sie ist selber noch ein Kind,“ dachte Georg, er konnte die Augen nicht von dem fröhlichen Bild da unten losbringen. Ach ja, nun wollte er hingehen und nicht so empfindlich sein. Da sah sich Lore um und winkte ihm zu. Und nach zwei Minuten saß er neben ihr auf der Mauer und die Nachbarskinder steckten ihm alle Knopflöcher des Rocks und der Weste voll mit roten und weißen Blümchen, und Lore sah ihn an, so sonnig wie der Apriltag. Hatte es vor zwei Stunden noch geregnet und geschneit untereinander? Wer wußte das noch? Es dachte kein Mensch mehr daran.
War hier der Weltlauf stehen geblieben? War es noch alles ganz wie einst? Ein Drehorgelmann zog durch Wiblingen und blieb vor all den alten Häusern stehen, und als er seine Lieder herausorgelte, da taten sich die Fenster auf und die Haustüren, und Köpfe bogen sich heraus, junge und alte, und Leute traten unter die Türen und suchten eine kleine Münze heraus. Handwerker hielten einen Augenblick mit irgend einer lärmenden Hantierung inne, und Lehrjungen suchten durch eine Hintertür zu entwischen, um ein Stückchen hintendrein zu traben; Großmütter und Mütter hüteten ihren Nachwuchs unter den Akazien des Marktplatzes, aus allen Höfen, Häusern, Gassen und Gäßchen quoll es von Kindern, — es war alles ganz wie einst. Nur daß jetzt Sommer war und die Akazien dichte, grüne und etwas staubige Kronen hatten; und daß es nicht mehr jener grimmig-lustige Spielmann war, dessen einer Arm in Frankreich begraben lag, sondern ein alter, mühseliger Blinder, der die lichtlosen Augen, während er die Orgel drehte, sehnlich nach der Sonne hob, weil ihm von ihr etwas wie ein ferner Lichtschein in seine Nacht hineindrang. Ein großes, starkknochiges Weib zog ihn mit festem Griff hinter sich drein, und ließ ihn hie und da los, um die Münzen, die aus den Fenstern fielen, in der Schürze aufzusammeln.
Es war alles, wie einst, nur daß die Kinder von damals nun erwachsene Leute waren, und die jungen Leute von damals ältere, gesetzte, biedere Bürger, und die Alten, — ja, von den Alten müssen wir hier ein wenig reden. Wir wollen uns im Leben und im Buch nicht allzuweit von den Alten entfernen. Denn sind sie nicht vor uns dagewesen, und haben einen Zaun um uns geschlossen, daß wir aufwachsen konnten, ehe die Unbilden des Lebens uns hart anließen? Haben sie uns nicht gegeben, was sie zu geben hatten, und ist nicht jetzt noch manches von ihnen zu holen, das wir zu unserer jungen, eigenen Weisheit hin gut und nötig brauchen können? Sie könnten eines Tages nicht mehr da sein, wenn wir nach Hause kommen. Sie könnten leise fortgegangen sein, wenn wir’s uns nicht versehen haben; ja, wenn wir uns in der weiten Welt umhertreiben und aus allen Bechern trinken, und nach aller Weisheit suchen und aller Kunst, — es wäre doch möglich, daß wir darüber etwas versäumten, das wir später nicht mehr wiederfinden.
Ja, so ist es uns mit Frau Anne gegangen, mit der Rektorin Cabisius. Als wir fortgingen, saß sie noch in dem großen Lehnstuhl, den wir so wohl kennen, und hatte noch ihre Freude am Leben und Dasein, und hatte auch einiges daran auszusetzen, und einiges zu sorgen. Aber sie war ganz unzweifelhaft da. Und nun —
Der blinde Orgelmann zog durch das Städtchen, und auch an des Rektors Haus gingen die Fenster auf, und im Oberstock neigte sich horchend ein weißer Kopf heraus und nickte lächelnd, als das „Ännchen von Tharau ist’s, die mir gefällt“ von der zitternd-warmen Sommerluft hier herauf getragen wurde. Ein paar kräftige Züge aus seiner Pfeife tat der Rektor, dann wandte er sich der Stube zu: „Hörst du’s?“ Aber sein Gesicht verschattete sich, und er strich sich mit der Hand über die Stirn. Es geschah ihm hie und da, daß er sich einen Augenblick vergaß. Wenn man ein ganzes, langes Leben miteinander geteilt hat, dann gewöhnt man sich nicht mehr leicht um. Sie war noch immer um ihn, trotzdem, daß ihr Stuhl leer stand, trotzdem, daß auf ihrem Grab schon die weißen Sommerlevkoyen blühten. Er meinte zu fühlen, daß sie ihm nahe sei. Sie hatte sich ja, ehe der Vorhang zwischen ihm und ihr herabgelassen wurde, noch einmal umgewandt: „So, Alter, also du kommst ja auch bald;“ als ob sie, wie in den ersten Jahren ihrer jungen Ehe, auf ein paar Tage ins Elternhaus reise, und er nachkomme, sie abzuholen.
Ja, er konnte sie freilich nicht verlieren. Aber es war doch anders, als vordem. Ach ja, es war doch anders. Die Welt wurde doch allmählich ein wenig fremd und leer. Er hatte sein Stück Arbeit darin getan und sein Stück Menschenleben, ja ein volles und großes Stück Menschenleben darin gelebt, und seit ihm Frau Anne keine Antwort mehr gab, wenn er mit ihr redete, seither kam es hie und da über ihn, wie es über die Schwalben kommt, wenn es Herbst wird.
Aber als er nun wieder ans Fenster trat, nicht, um dem Orgelmann zu lauschen, sondern um den weißen, schwimmenden Wölkchen in der fernen Himmelsbläue nachzusehen: wohin sie schifften, und ob sie wohl eine Botschaft mitnehmen könnten in ein fremdes, unbekanntes Land, da vernahm er spielende Kinderstimmen auf der Straße, und das hohe, klägliche Weinen eines Kleinen in seinem Wägelchen, und sah eine Mutter aus dem Nachbarhaus treten und sich tröstend über das Kind beugen. Und er sah Gertrud, seine Enkelin, wie sie mit einer Gießkanne und einem großen Blumenstrauß aus dem Garten kam, und sein Herz kehrte zu ihr zurück, wie sie so ernst und gelassen daherkam in ihrem schwarzen Kleid, mit dem stillen, klugen Gesicht. Da freute er sich, daß die Kinder auf sie zusprangen und um Blumen bettelten, und daß sie sich auf die Staffel setzte und den kleinen Bettlern die Hände mit Balsaminen und Reseden und Rittersporn füllte. Er war sein Leben lang so ehrlich und ganz und mit liebendem Herzen in der Gegenwart gestanden, er hatte auch jetzt noch Teil an Gottes Menschenkindern. Er hatte Teil an ihnen, so lange er lebte. Nein, es gab keine Trennung zwischen der Welt, die man sieht, und der, die man nicht sieht. „Ach, Anne,“ sagte er, und sagte es laut, und es war ihm, als nicke sie ihm zu, rasch und lebhaft, wie in ihren besten Tagen: „Wir müssen so jung sein, als wir können, Alter, für das Kind.“
Da klopfte er die Pfeife aus und stieg hinunter und wollte Gertrud rufen: „Komm, wir tun noch einen Gang durch den Garten.“ Die Drehorgelmusik tönte fern verhallend vom Stadtgraben herüber. Dort führte der Weg ins Nachbarort, Wiblingen hatte nun sein Gutes empfangen.
Als der Rektor hinunterkam, war Gertrud nicht mehr allein bei den Nachbarskindern.
„Ja so,“ sagte er, „ja so, der Herr Kandidat ist da. Grüß’ dich Gott, Georg. Steht Tübingen noch? Alles am alten Fleck, wie einst? Ja? Dann wollen wir’s uns überlegen, ob wir uns da hinwagen, Gertrud. Nächsten Herbst, falls wir den erleben, zum Hausweihfest der Verbindung. Ich bin der älteste von den alten Herren, Georg. Ich möchte mich wohl noch einmal unter euch junges Volk hineinsetzen, so recht ins Volle.“
Georg stimmte eifrig bei. Er war zur Hochzeit seines Bruders Franz hierhergekommen. Die sollte morgen sein. Vor zwei Stunden war er angekommen.
„Sie können mich drüben nicht brauchen,“ sagte er. „Jungfer Liese hantiert mit der Schwägerin im Haus herum. Ich weiß mich nirgends hin zu retten. Auch habe ich einen Sack voll zu erzählen. Ich weiß nicht, wo anfangen.“
„An irgend einem Zipfel,“ sagte Gertrud und lachte. Wenn sie lachte, hatte sie gleich ein anderes Gesicht, ein junges, warmes. Sonst — Georg hatte, als er kam, gedacht: „sonderbar ist es; sie ist so alt wie Lore, aber sie ist so ernst und ruhig und klug. Sie ist etwas anderes, etwas Gutes, Prächtiges; aber ein junges Mädchen ist sie nicht.“
Jetzt atmete er befreit auf, als sie lachte.
„Geht ihr beiden nur in den Garten,“ sagte der Rektor. „Später komme ich auch zu euch. Ich muß meine alte Freundin besuchen, Frau Judith. Leicht geht es nicht mehr: Hundert und fünfzig Treppenstufen. Ich bin nah an achtzig, Kinder. Aber es ist so eine Sache, sie ist mit mir jung gewesen. Meister Nössel? ja, der auch. Aber Judith weiß noch mehr von damals. Er sitzt dabei und horcht, wenn sie erzählt. Ja, das werdet ihr auch noch erleben, wenn ihr alt seid, wie das tut, wenn noch irgendwo ein Mensch aus der jungen Zeit da ist.“
Da lachten sie beide. Sollten sie jemals so alt werden? Breit und weit lag das Leben vor ihnen.
„Wir kommen auch auf den Turm, übermorgen.“ Das riefen sie dem Rektor nach. „Frau Judith muß uns Märchen erzählen, bis ihr der Atem ausgeht. Vom Rotkelchen Liebseelchen, und von Jorinde und Joringel.“
Er winkte, er wollte es ausrichten.
Ja, übermorgen! Wer hat übermorgen in der Hand?
**
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Am andern Tag war die Hochzeit.
Die goldene Bretzel über der Ladentür des Ehrenspergerhauses prangte in neuem Glanz. Festlich prangten schlanke Birken links und rechts von der steinernen Staffel, festlich duftete das ganze Haus nach Gebackenem und Gebratenem, festlich knirschte der Sand auf Treppe und Hausgang unter den Tritten der Hausbewohner.
Die beiden Edelleute in der Ladenstube waren unvertrieben und sahen nur von einer neuen blauen Tapete herab auf Franz den Jüngeren und seine Braut. Sie mochten sich noch des Tages entsinnen, da vordem eine junge Frau hier eingetreten war, ein liebes, feines Ding, ein wenig schüchtern und ein wenig weich von Gemüt, mit hoffenden, hingebenden Augen.
Die heutige Braut war anders. Sie war ebenso groß und breit und blond als Franz, und hatte rasche, kräftige Bewegungen und von Unsicherheit war nichts in ihrem Wesen. Sie war gleichfalls einem Bäckerhause entwachsen und Jungfer Liese staunte, wie rasch sie sich in all’ das Neue fand.
Ja, Jungfer Liese. Sie hatte es ja wahrhaftig in ihren alten Tagen noch zu einem Schwarzseidenen gebracht und ihr rotes, runzeliges Gesicht sah aus einer hutähnlichen Haube mit lila Astern heraus. „Wie ein bekränzter Truthahn,“ sagte Müller Hensler. Aber Müller Hensler war nicht der Allerfeinste, und Jungfer Liesens Würde konnte heute durch nichts zerstört werden. War sie nicht so eine Art von Bräutigamsmutter? War nicht sie es eigentlich, die Franz den Jüngeren an seine junge Frau abgab, und die zugleich mit ihm den Laden und die Ladenstube, den unteren Stock und die lederne Geldtasche an das neue Regiment abtrat? Denn Franz der Ältere nahm sich der Sache nicht so recht an, und Jungfer Liese war die letzte, die es ihm zumuten wollte. Friedlich saß er, das behaglich gediehene Bäuchlein von einer gestickten Sammetweste übersponnen, einen Strauß im Knopfloch, im Großvaterstuhl unter den beiden Edelleuten. Friedlich drehte er und ohne Hast die Daumen umeinander und wartete, wie sich die Dinge entwickeln würden, und als sich der Müller Hensler zu ihm gesellte, da saßen sie, wie ein paar brave Knaben, die warten können, beisammen, und saßen auch nach dem Kirchgang an ihren Plätzen an der Festtafel im Hirschen beisammen, fest und sicher, wie angewachsen. Und als der Abend kam, da konnte jedermann es hören, was für flotte Kerle sie in ihrer Jugend gewesen seien, und daß der Nachwuchs im Ganzen nicht viel tauge.
Es war eine stattliche Hochzeit, und Georg Ehrensperger war ein stattlicher Brautführer und fühlte sich als den Glanzpunkt der Gesellschaft und es war ihm kein unangenehmes Gefühl. Er führte eine Wiblinger Bürgerstochter am Arm, ein großes, bräunliches Mädchen mit einem vollen Rosenkranz in dem krausen Haar und mit weißen Handschuhen an den breiten, schaffigen Händen. Und er tat sein Möglichstes, „Leben in die Sache zu bringen.“ Aber als er gegen Abend am Klavier saß und den Hochzeitsmarsch aus Mendelssohns Sommernachtstraum spielte, kam von einer Seite her Müller Hensler und schlug ihm kräftig auf die Achsel und fragte: „Eigenes Mehl?“ und versicherte den Umstehenden: „Das ist ein Tausendkerl, das macht er alles selber, der Heimtücker, der Pfarrer;“ und von der anderen Seite her kam sein Bruder Franz und sagte: „Da kann man nicht drauf tanzen, du. Spiel etwas lustiges, spiel: Als wir jüngst in Regensburg waren, oder einen Walzer.“
Da ließ Georg für heute das Musikmachen sein und nach einiger Zeit kam es über ihn: Er mußte eine kleine Weile in den Garten hinaus. Er mußte eine Weile allein sein. Der Mond stand am Himmel, die Bäume rauschten leise im Abendwind. Aus dem Saal klangen die Geigen und Flötentöne; da ging er noch ein Stück weiter vom Hause weg.
Er war doch wohl anders, als die da drinnen. Wer aber gehörte zu ihm und seiner Art? Er war doch auch ihres Blutes. Wie hatten Franz und sein junges Weib einander vorhin angesehen, als sie, vom Tanz veratmend neben einander standen. Lachend, frohlockend, verheißend, eines aus des andern Augen trinkend. Und sie waren nicht die tiefsten Menschen. Das war nur, weil sie gleicher Art waren und sich zusammengeschlossen hatten. Und es kam etwas Drängendes über ihn, daß er, während er von den Menschen wegging, sich nach ihnen sehnen mußte.
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Zur selben Stunde schien der Mond in die Turmstube und füllte sie bis in den hintersten Winkel mit seinem silbernen Licht. Die beiden alten Menschen, Frau Judith und ihr Bruder, saßen feiernd an ihren Fensterplätzen und schwiegen einträchtig miteinander und nach einiger Zeit stand Meister Nössel auf und ging, Betzeit zu läuten. Er kam lang nicht mehr. Er hatte es seit einiger Zeit stark mit den Gedanken, oder vielmehr sie mit ihm: sie kamen über ihn, wo er gerade saß oder stand; dann war er ihnen verfallen.
Er stand auf dem dunklen Glockenboden und lehnte an dem Balken eines Glockengerüstes; sein altes Herz aber ging den Tönen nach, die er über die stille Welt hingeschickt hatte.
Er wußte wohl, wie es da unten zuging; er hatte fast allen Wiblingern im Lauf der Jahre die Hosen geflickt und die Hosen nicht allein. Frau Judith wußte es: er hatte manchen Brast, der auf irgend einem Herzen lag, mit sich heraufgetragen und da oben in der hellen Stube vor ihren Augen ausgebreitet. Und wie sie mitsammen ratschlagten, ob der und jener Kittel noch zu reparieren sei und seine Flecken zu tilgen, so bewegten sie auch miteinander in guten und einfältigen Gedanken die unruhigen Wege, auf denen die Leute zu ebener Erde sich die Herzen und den Mut und das Gewissen zerrissen, und fanden aus ihrer eigenen Herzensstille ein gutes Wort und gaben es umsonst darein. Sie konnten nichts dafür, wenn es nicht immer half. Vielleicht war es so, daß sie, die wie wir wissen, ein unsichtbares Königreich hatten, nur denen helfen konnten, die ihres Landes waren: einfachen, einfältigen, gläubigen Gemütern, die in und hinter allem Geschaffenen eines Gottes Herz und Hand fanden. Vielleicht wußten sie mit den andern nicht so zu reden. Tatsache war es, daß einige Leute, die sehr gescheit und von gutem Appetit und nüchternen Anschauungen waren, lachten, wenn sie das eisgraue Schneiderlein mit seinen kindlichen Augen sahen, und daß einige andere Leute ihm die Hand schüttelten und die Kappe vor ihm abnahmen.
Aber Meister Nössel machte sich nicht so viel aus beidem. Vielleicht merkte er’s gar nicht, das kann wohl sein. Da, als er so stand und der Menschen da unten gedachte, fing drüben im Weiler Hinkelsbach ein spätes Glöcklein an zu rufen und vom Wald her, von Buchenbronn und von Ettersbühl kam Antwort; es waren fromme, sanfte Glockenstimmen, die miteinander redeten. Und der Alte, der noch von vorher sein tuchenes Hauskäppchen in der Hand hatte, tat die Hände darüber zusammen und sagte sein:
und sagte es für sich und für die andern aus einem sehnlichen Herzen heraus. Darüber war er aus seinem Sinnen gekommen und nun stieg er das Treppchen hinauf in die Stube. „Schläfst du, Judith?“ sagte er, als er seine Schwester in dem hellen Mondlicht sitzen sah, den Kopf auf der Brust und die Augen geschlossen. Er lächelte still, da sie keine Antwort gab. „Sie wird allmählich müd,“ sagte er. „Sie hat’s mit dem Schlafen und war sonst so ein munteres Frauenwesen. Was war das für ein Mädchen seinerzeit. ‚Über sieben Buben,‘ sagte die Mutter. Na, sieben, das ist ein bißchen viel. Aber doch. Sie stieg über alle Zäune.“
So, nun war er im richtigen Fahrwasser. Wohin waren alle die Jahre gekommen, die zwischen heut und damals lagen? Wie weggewischt waren sie. Er setzte sich in die eine Ecke des Kanapees. In der andern war gestern abend Rektor Cabisius gesessen. Das war auch so einer. Dem war auch wie vorgestern geschehen, was sechzig und siebenzig Jahre her war. Aber mitten im Gespräch hatte die Judith gestern Zeiten und Personen verwechselt und dann hatten sie miteinander darüber gelacht. Sie, die immer alles so genau wußte.
Meister Nössel fuhr aus seiner Ecke empor. Es hatte elf Uhr geschlagen, noch verzitterte der Nachhall der dröhnenden Schläge in der Luft. Er war ja richtig auch eingeschlafen gewesen. Er hatte eben noch geträumt. Was war es nur gewesen? Er konnte sich nicht mehr recht besinnen und strich sich erwachend über die Stirn. „Judith, komm, wach auf. ’s ist Zeit zum Bettgehen.“ Sie rührte sich nicht. Das Mondlicht war weiter gegangen, sie saß im Schatten. Da trat er heran und legte ihr die Hand auf die Achsel. „Judith, wir wollen noch den Abendsegen lesen. Ich zünde die Lampe an, Judith.“
Aber als er mit der Lampe kam, da sah er, daß sie keines Abendsegens mehr bedurfte. Sie war schon zur Ruhe gegangen. Sie war so müde gewesen.
Da setzte sich Meister Nössel still neben sie. Jetzt war er ganz allein. Aber er wußte schon, daß er das nicht lange bleibe. Er hatte auch nicht mehr weit bis zum letzten Abendsegen.
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Und wieder ein Abend.
Da hatten sie in alter Weise auf den Turm steigen und zu Frau Judiths Füßen sitzen und Märchen hören wollen. Wie in Kindertagen hatten sie tun wollen. Aber sie waren keine Kinder mehr.
Es war aber doch etwas wie aus einem Märchen, was sie heute erlebten.
Frau Judith, die so wunderbare Dinge gesehen, gehört und erlebt hatte, die mußte ja freilich auch anders zu Grabe gehen, als andere Leute.
Hatte sie nicht prophezeit, daß sie einst in der vollen Flut des Mondlichts durch die Luft schwimmen werde, breit und sicher und ohne viel Geräusch? Es war eine weiche, schimmernde, warme Julinacht.
Unten, dem Turm gegenüber, an eine Mauer gelehnt, standen die beiden jungen Menschenkinder, Gertrud und Georg. Sie hielten sich an den Händen gefaßt und sahen stumm in die Höhe. Der Vollmond stand hoch am Himmel und leuchtete seiner alten Freundin, die er so oft da oben besucht hatte. Nun kam sie auf die ebene Erde herunter zu den andern. Sie wollten sie in die weiße Friedhofskapelle tragen und taten es bei Nacht, der Leute wegen. Frau Judith durfte nicht im Tod ein Schauspiel geben; das hatte sie im Leben nie getan.
Der riesige Turm ragte hoch auf; er schien bei Nacht noch massiger und schwerer zu sein als bei Tag. Das bläuliche, unsichere Licht hüllte ihn ein und schien durch die Luken, hinter denen die Glocken hingen, und glänzte in den Fensterscheiben des Kirchenschiffs.
Da kam es von oben her, schwarz und schwer, und senkte sich langsam nieder, langsam, langsam.
Die beiden hielten den Atem an und rückten näher an einander. Die Hände faßten sich fester. So waren sie nicht allein dem unbegreiflichen Etwas gegenüber, das da herniederkam.
Das stieß nun auf dem Pflaster auf. Es gab einen dumpfen Ton. Da stand es still, groß, schwer und unbeweglich. Wie ein dunkles Schicksal stand es da. Das war der Sarg. Ein stummes, stummes Ding. Ein schwarzes Tuch lag darauf, es warf einen langen, schrägen Schatten auf die mondbeglänzte Gasse. Die hellen, starken Seile, die darum geschlungen waren, zogen gerade, feste Striche durch die Luft, von der Höhe des Turmes bis hierher.
Ein paar Gestalten kamen aus dem Turmeingang hervor. Sie sprachen einiges mit gedämpfter Stimme, lösten die Seile ab und hoben den Sarg auf eine Bahre. Dann gingen sie mit der stummen Last davon, man hörte ihre Tritte hallen durch die Nacht.
Droben in der Turmstube flimmerte ein Lichtlein; irgend jemand beugte sich zum Fenster heraus; dann wurden die Seile hinaufgezogen und die Gasse lag still, wie zuvor. Sie atmeten tief auf. Ihre Hände lösten sich auseinander. Das war ein großes, helles Stück ihrer Jugend gewesen, was hier davongegangen war. Das war nun vorbei. Selige Kinder waren sie da droben gewesen. War nun niemand mehr, der ihnen das Paradies der Kindheit hütete, daß sie es finden konnten, so oft sie kamen? Morgen ging Georg wieder nach Tübingen, gleich nach Frau Judiths Begräbnis.
„Wenn ich wiederkomme, erzählt mir kein Mensch mehr Märchen.“ Er sagte es mit unsicherer Stimme; es war ihm nicht um die Märchen zuerst und allein. Er war ja nun Kandidat, er wollte im nächsten Jahr das Examen machen, er war wohl zu alt für solche Kindereien. Er hatte andere Dinge zu bedenken. Nur, er war ein Träumer. Er vergaß manchmal all das andere und war wieder der kleine Bub, dem der liebe Gott hoch oben über der Turmspitze saß und das Ganze überschaute und in dessen Welt es wunderbar genug zuging.
Gertrud schien das in der Ordnung zu finden. Sie wandte sich zu ihm hin. Er sah, daß sie Tränen in den Augen hatte, sie flimmerten im Mondlicht. „Doch,“ sagte sie und zwang sich zum Lächeln und sah ihn mütterlich an, so jung sie war. „Doch, das tu’ ich. Ich habe sie alle in mir drin.“
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Marie, die junge Magd aus dem Weiler Hinkelsbach, die sich so gut aufs Brotbacken verstand und so mißtrauisch gegen das Bücherwesen war, die erlebte zu dieser Stunde, in dieser warmen, düftereichen Sommernacht, ganz hinten im Rektorgarten, da, wo er an den Stadtgraben anstößt, auch etwas Märchenhaftes. Es ist bis jetzt nicht aufgeklärt, was der Seiler Andres Hagenbach, der auf der andern Seite des Stadtgrabens seine Seilerbahn hatte, zu so später Stunde noch dort nachzusehen hatte; und Marie, die noch von der Rektorin Cabisius zu einer regsamen, umsichtigen Magd erzogen war, hätte gleichfalls nicht nötig gehabt, noch bei Mondschein im allerletzten Beet Salat zu schneiden. Der Rektor sagte später in der Hochzeitstischrede, die er den Zweien hielt, die beiden Herzen seien wohl damals schon unsichtbar an einander angeseilt gewesen und solche Seile hätten, das wisse er noch von seiner eigenen Jugend her, eine merkwürdige Zugkraft.
Tatsache war, daß Marie von dem Salatbeet weg, anstatt den langen, geraden Hauptweg nach dem Haus einzuschlagen, nach dem Baumgarten zu ging, sie, die sonst weder für Mondschein noch für einsame Gänge etwas übrig hatte. Und Tatsache war, daß, als Georg und Gertrud nach Hause kamen — sie hatten den Schlüssel zum hinteren Gartenpförtchen bei sich und schritten still und wie im Traum durch den Garten, — daß sich dort unter den Bäumen eine dunkle Gruppe bewegte, flüsternd und, ja nun kam ein zarter Laut, wie ein Kuß, dann noch einer, dann ging jemand fort. Es raschelte und knackte in dem trockenen Stadtgraben, und dann kam Marie unter den Bäumen hervor und sagte, als sie der beiden ansichtig wurde, halb trotzig und halb übermütig: „Er ist mein Schatz. Er will mich. Vorhin hat er’s gesagt. Ich hab’s aber schon lang gewußt. So was merkt man doch.“ Sie war so erregt, daß ihre Augen, sowohl das gerade, als das, mit welchem sie ein wenig schielte, Blitze schossen, Jubelblitze, wenn man so sagen will. „Morgen kommt er,“ sagte sie. „Vornen zur Haustür herein bei Tag. So will ich’s. Er soll’s zum Herrn sagen, die Frau ist meine Patin gewesen.“ Dann ging sie vor den Beiden her mit flinken Schritten ins Haus. Auf ihrer vollen, runden, beweglichen Gestalt und auf ihrem krausen Haar lag das Mondlicht. „Er will mich,“ sagte jede Bewegung, „er hat gesagt, ich sei ihm grad recht, er möchte kein Härchen anders haben an dem ganzen Mädchen.“
Am andern Morgen sah der Rektor, als er seinen Frühspaziergang unter den Bäumen machte, sowohl die abgeschnittenen Salatköpfe als auch das Messer und das kupferne Salatbecken unter dem Süßapfelbaum liegen, der seine äußersten Äste noch über den Stadtgraben hin streckte. Da blieb er stehen und lächelte. Er hatte sich vorhin in der Küche seine Pfeife angezündet, und er besaß Mariens Vertrauen.
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In des Rektors Studierstube brannte heut weder Feuer noch Lampe. Die guten Geister und Geisterchen dieses Raumes mußten im Mondschein spucken, und das war ihnen ganz gelegen. Aus allen Ecken kamen sie hervor, tanzten auf dem silbernen Teppich, den das Mondlicht auf den Stubenboden wob, ritten auf den Wölkchen, die der Rektor seiner allerlängsten Pfeife entsteigen ließ, trieben allerlei Allfanzereien mit den Büchern in den großen Ständern und den Bildern an der Wand und unterhielten sich mit dem alten Mann, der da saß und auf die Jugend wartete.
„So, da kommt ihr?“, sagte der Rektor. „Nun laßt euch nieder, wir wollen noch eine Weile beisammen sein. Ach, du Kind.“
Denn Gertrud hatte sich einen Schemel geholt und nun saß sie neben ihm und legte die Hände um die Kniee und den braunen Kopf gegen des Großvaters Arm.
Georg saß auf der Truhe.
„Hier bin ich daheim,“ sagte er. Er streckte die langen Beine weit von sich und lehnte sich an die Wand.
„Bei uns drüben bin ich’s nicht, je länger, je weniger.
Franz ist mein Bruder und nur zwei Jahre älter als ich. Aber wir wissen nur wenig miteinander anzufangen. Es gibt nichts Verschiedeneres, als uns beide. Jetzt hat er noch seine Frau dazu; es ist, als ob er nun vier Augen habe, um alles zu sehen, was ich — nicht sehe, und vier Füße, um breit und kecklich und sicher mitten im hellen Tag zu stehen. Es gibt nichts Verschiedeneres als uns beide, und gibt nichts Verschiedeneres, als das ganze Haus Ehrensperger und mich. Sie sind praktisch, ich bin unpraktisch, sie sind für das Nahrhafte und Gedeihliche, immer nüchtern, klar und fertig: so ist’s — und so wird’s — und damit gut. „Du bist ein Sinnierer,“ sagen sie, „und Sinnieren trägt nichts ein.“
Er war ein bißchen kleinlaut.
„Sie haben gewiß ein Recht, so zu sein, wie sie sind. Aber kann ich aus meiner Haut heraus? Ich kann nicht mit ihnen laut und lebhaft sein; wenn sie lachen, finde ich nichts daran, und wenn ich versuche, mitzutun, so gelingt es eine kurze Weile, mehr nicht. Es ist, als ob wir in zwei Welten lebten.
Sie verstehen die meinige nicht und ich die ihrige nicht.“
Ja, jetzt durften sie ihn nicht stören. Sie wußten es, daß er jetzt den Sack, von dem er gesagt hatte, ausleere bis auf den Grund. Sie nickten ihm nur zu, ermutigend: sprich nur, du kannst alles sagen.
‚Du, Pfarrer,‘ sagte Franz heut zu mir, (er sagt immer schon ‚Pfarrer‘, obgleich kein Mensch weiß, ob es jemals so weit kommt), „du, Pfarrer, du trägst so ein zugeschlossenes Gesicht herum. Ich kann dir aber sagen, so duckmäusig sind nicht alle Studenten. Fritz Hornstein, der studiert doch auch auf den Geistlichen, der kam an Ostern heim und besuchte alle Bekannten. Und wohin er kam, da gab es lustigen Lärm und Lachen. Er kam auch zu uns und drang bis in die Backstube vor. Da machte er einen Gaul aus Milchbrotteig, mit vier bocksteifen Füßen. Den mußten wir ihm backen und dann nahm er ihn mit sich nach Tübingen. Er wolle ihn jemand verehren, sagte er. Ist der lustig, warum bist du es nicht? Du mußt doch nicht Hunger leiden.
Und alle stimmten bei: Du mußt doch nicht Hunger leiden. Sie meinen es gut auf ihre Art. Sie sind nur anders als ich, das ist alles.
Die Schwägerin — Jungfer Liese ist begeistert von ihr, aber sie fürchtet sie, glaub ich, in aller Stille ein wenig, — sagt, daß Franz noch eine Weinwirtschaft einrichten solle. In unsern Stuben, Gertrud. Weißt du, wo die Gitterbettchen standen und das Himmelbett mit den roten Vorhängen. Franz ist nicht übel einig damit. Der Vater auch.“
Er machte einen Versuch, zu scherzen, aber es gelang ihm nicht recht. „Ich glaube, ich bin eifersüchtig. Franz und der Vater sind die besten Freunde. Der Vater liest täglich drei Zeitungen. Aber ich verstehe nicht viel von Politik, und das wenige sieht bei mir anders aus als bei ihm. Da beredet er alles mit Franz, und sie streiten sich wacker herum, haben große Mostgläser auf dem Tisch und schlagen mit der Faust dazwischen. Die besten Freunde sind sie.
Ich aber sitze stumm daneben.
Und dann gehe ich in der Verzweiflung ans Klavier. Das ist immer noch meine Zuflucht.
‚Das ist recht, Pfarrer,‘ sagte Franz, als ich es heut öffnete. Und Jungfer Liese ging gleich ans Fenster und machte einen Flügel auf, damit die Nachbarschaft auch ihren Teil bekäme.
‚Spiel’ etwas Eigenes,‘ sagte Franz, ‚spiel’ etwas, das du selbst gemacht hast.‘
Da ließ ich mich verleiten. Ihr wißt, es ist mir hie und da etwas eingefallen im letzten Jahr. Ich hätte es ihnen nicht vorspielen sollen. Ich hätte wissen können, daß es nicht zu ihnen redet. Aber es war ein starker Wunsch in mir, etwas mit ihnen zu teilen, das mich angeht. Ja, vielleicht war auch ein wenig Großtuerei dabei, das kann ich nicht sicher sagen.“
Denn Gertrud hatte ihm so einen Blick zugeworfen, der etwas ähnliches andeuten mochte.
Er tat einen langen Atemzug. „Es ist mir nicht gut gegangen damit.
Ihr wißt, als Fritz Bauer beim Baden ertrank, — ihr kennt ihn, er war so ein lebensvoller, frischer Mensch, Neuphilolog, mein Bundesbruder, da habe ich etwas komponiert, eine Totenklage, wenn ihr wollt. Ich habe die Musik in mir gehört, eine ganze Nacht lang; ich stand um vier Uhr auf und saß den ganzen Vormittag daran und es gelang mir, sie festzuhalten. Ich habe sie in der Verbindung vorgespielt, als wir die Trauerfeier hielten. Ich habe den Eindruck, als ob einige gefunden hätten, daß etwas daran sei.
Also, das spielte ich heute vor und vertiefte mich ganz darein und meinte, sie alle mit mir zu führen in die Stimmung: daß solch ein junges Leben so jäh endigen müsse. Jetzt noch heiter und kräftig und voll Frohmut, und junge Genossen dabei, und sonnige Ufer und plätschernde Flußwellen, — und dann der starre Tod, der ihn in die Tiefe zog. Das hätt’ ich alles mit Worten nicht so sagen können, aber ich meinte, sie sollten es mit mir hören in den Tönen, die ich anschlug. Aber als ich fertig war und mich nach ihnen umwandte, da blieben sie alle still und sahen einander verdutzt an. Es war nicht das beredte Schweigen, das einem so viel sagt, es war das lähmende, tote Schweigen, bei dem nichts herüber und hinüber geht.
Und nach einer Weile fing Franz an zu gähnen und sagte: ‚Also das wär’s, so, so. Du, jetzt, jetzt spielst du noch etwas anderes. Jetzt spielst du noch den Radetzkymarsch. Was, den kannst du nicht? Na, mach’ kein Gesicht. Ich glaube, ich kann ihn, wenn auch nur mit drei Fingern. Laß mich einmal heran.‘
Und die Schwägerin sagte: ‚Ach ja, Franz, den Radetzkymarsch.‘ Den hatte sie mit ihm gehört, als sie miteinander in Stuttgart bei der Wachtparade waren.
Und er spielte ihn, und der Vater taktierte mit dem Kopf und versuchte, mitzupfeifen. Jungfer Liese sah mich vorwurfsvoll an: „Siehst du? Der Franz. Er hat nicht studiert und kann es doch. Das ist einer, der Franz.“
Da kam es über mich, daß ich aufsprang und den Deckel zuschlug und noch die Tür zuwarf, daß es knallte und in den Garten ging.
Nachher schämte ich mich und ging noch einmal hinein. Da waren sie ganz harmlos und freundlich und Jungfer Liese sagte, ich müsse neue Hemden haben und wir sprachen eingehend über die Hemden.
Aber davon wurde es nicht anders. Sie sind fremd in meiner Welt, und ich bin fremd in der ihrigen. Und es führt kein Weg herüber und hinüber. Ich hänge an ihnen; ihr wißt es. Und das ist mein Kummer, daß ich anders sein muß meinem Wesen nach. Es ist nicht nur mein Studium, es ist mein Wesen.“
„Das kenn’ ich besser, als du denkst,“ sagte der Rektor in seiner verstehenden, linden Art.
„Das kenn’ ich aus der Zeit, als ich, selber noch jung und meines Wesens ungewiß, mit Schmerzen sehen mußte, daß ich anders sei als die, zu denen mich Geburt und Kindheitsgenossenschaft gestellt hatte und zu denen auch mein wachsendes Ich noch drängte. Ich weiß, wie das ist, was du heut erlebtest. Ich habe es auch erlebt.“
Georg sah auf. Die alten Augen lagen liebend auf ihm und es wallte warm in ihm empor.
Er war also auch nicht immer ein so harmonischer, klarer Mensch gewesen? Er hatte auch seine Art durch Schmerzen und Zweifel hindurch tragen müssen? Und war doch solch ein Mann geworden. Dann — dann verlohnte es sich also, daß man es versuchte, mit sich selber zu hausen, wie man nun einmal war? Daß man versuchte, auch aus seiner Art etwas Rechtes zu machen?
Gertrud nickte ihm zu. Hatte sie seine Gedanken verstanden? „Franz ist Franz und du bist du. Laß dich’s nicht so sehr anfechten. Das kommt vielleicht noch, später. Siehst du, bei dir ist noch nicht alles so klar und fertig. Sie sind schon, was sie werden müssen, du nicht. Es geht noch so vielerlei hin und her in dir, nicht, du?“
Ach ja, das tat es freilich. Bis zum Überlaufen voll war er davon. Er hatte ja heute mit ihnen davon reden wollen. Je näher das Examen kam, je mehr fürchtete er sich davor. Nicht nur vor dem Examen selbst, obgleich er auch dazu einige Ursache hatte; viel mehr vor dem Leben, das darnach kam. Vor dem Amt. Wo war das knabenhaft ausgesponnene Pfarrersideal hingekommen, das er eine Zeitlang gehabt hatte? Haus und Garten auf dem Land, eine kleine, nette Dorfkirche, einfache, schlichte Menschen, denen er alles Schöne, Fromme, Ewige vermitteln durfte. Er selbst — ach, wir kennen ja Georg Ehrensperger, — er hatte sich bereits gesehen, wie er durch die Gassen schritt und alle kannte und grüßte, und alle ihn. Und wie er an stillen Sommernachmittagen die Kirche aufschloß und — dann brauste die Orgel durch den Raum. Ganz deutlich hatte er das gewußt. Ach, wo war es hin? Je mehr er sich mit den Wissenschaften auseinandersetzte, desto mehr zerfloß ihm alles, was er unter Christentum verstanden hatte. Was blieb ihm noch? Was war das Ewige, das Frohe, Heilige, das er den Menschen bringen wollte? Er hatte ihnen nichts zu geben. Er hatte selber keinen festen Besitz. Was er hatte, das lag zu tiefst innen und sah kaum aus wie Religion. Man konnte es nicht in Worte kleiden und nicht lehren. Es war ein Verlangen, sich hinzugeben, sich brauchen zu lassen, etwas zu sein für die Menschen, und ein Verlangen darnach, an den Quell des Lebens hinzudringen, der unter allem Sichtbaren seine Fluten hinschickt. Und er wußte es noch nicht, damals noch nicht, daß er hundert Jahre lang zu leben und zu predigen gehabt hätte aus dem einen Verlangen seiner Seele heraus: „Gebt euch hin an Gott, gebt euch hin an die Menschen.“ Allen Glauben und alle Liebe konnte man da hineinfassen. Aber er verstand sich selbst noch nicht.
Arm und unklar kam er sich vor. Was sollte ein solcher wie er ins Amt treten? Er konnte über diese Dinge nicht mit den Genossen reden, er war zu scheu, sie in sich hineinsehen zu lassen. Und er konnte sich auch nicht bei den Professoren Rats erholen, wie manche taten.
Und immer öfter kam die Angst über ihn: „Wo hinaus mit mir? wenn nun die Zeit da ist, was dann?“
Zweierlei war, an dem er sie hie und da vergaß.
Lore. Wenn er bei ihr war und sie sah, so blühenden Lebens voll, dann kam es über ihn, wie von frischer Märzluft angeblasen, daß das Leben denn doch nicht nur eine Sache des Nachdenkens sei, und daß Jugend und Schönheit auch gute Gaben seien. Wenn er sie gut antraf, so scherzte sie ihm die schweren Gedanken hinweg: „Ach du, du nimmst alles so schrecklich ernst. Weißt du, was gut ist gegen das Traurigsein? Frohsein, du.“ Dergestalt rief sie ihm nach außen.
Nach innen rief ihn die Musik. Ans Klavier trug er die Unruhe, die ihm die Wissenschaft machte. Die Musiker, das schienen ihm die wahren Propheten und Lehrer zu sein von dem allerinnerlichsten, das es gab. Sie konnten trösten, froh machen, die Herzen erheben. Sie konnten der Seele auf den Grund leuchten und alles Gute mit Namen rufen, daß es lebte, und alles Niedrige erschüttern.
Aber das konnte ihn nichts helfen, daß er das wußte. Er mußte selber etwas zu geben haben, etwas Eigenes. Es wollte etwas in ihm leben, und suchte eine Sprache; da horchte er und suchte sie zu finden.
Die Bücher und Kollegien kamen nicht gut weg dabei.
Denn je länger er Musik machte, desto kälter wehte es ihn aus den Büchern an. Ja, freilich — er durfte es sich nicht verhehlen, es waren nicht immer gerade die reinsten Triebe, die ihn ans Klavier zogen. Er mußte es sich gestehen, zuweilen floh er nur dahin vor den langweiligen Pflichten, zuweilen war es reine Zerstreutheit, daß er da saß und spielte. Gertrud kannte ihn wohl, als sie sagte: „Es geht noch so vielerlei hin und her in dir.“
Von dem allem hatte er heut reden wollen. Er hatte es sich fest vorgenommen. Aber die friedlichen Geister dieser Stube lösten so manche Unruhe, noch ehe sie in Worten an die Oberfläche kam. Mußte denn alles gesagt sein? Es war so wohltuend, eine Weile still dazusitzen. Die beiden verstanden ihn auch so, das wußte er. „Hier bin ich daheim, das macht es.“ Und als er sich dessen aufs neue versichert hatte, da wuchs ein neuer Mut in Georg. „Warum sollte ich’s im Ehrenspergerhaus nicht auch sein können? Es ist nicht so leicht, aber es muß doch zu machen sein. Ich will mich morgen mit Franz und dem Vater an den Vespertisch setzen und — ja, und will ihnen von mir erzählen. Ich will es so einfach tun, als ich kann. Ich will nicht fremd werden in meinem Vaterhause.“
Als er das beschlossen hatte, sah er froher aus, als zuvor.
In die Stille hinein sagte der Rektor: „Man muß auch nicht mit Gewalt verstanden sein wollen. Man muß zuweilen den Mut fassen, sich in sich selbst zu bergen, bis etwas Sicheres und Gewordenes von innen heraus kommt. Das wirft uns dann kein Kaltsinn und kein Mißverstehen um. Aber freilich,“ — er lächelte und sah die beiden jungen, horchenden Gesichter an, — „das Wartenkönnen, auf sich selbst und auf andere, das will auch erst gelernt sein.
Siehst du, Georg, ich habe einst gemeint, ich sei ein Dichter, weil alles Geschaffene in einer eigenen Schönheit und stillen Sprache zu mir redete. Und manchmal fand ich auch das Wort, es wieder zu sagen. Da sammelte ich nach und nach einen kleinen, heimlichen Schatz von Gedichten, gereimten und ungereimten an. Sie waren zum Teil mangelhaft in der Form, ich weiß es. Es war oft ein Stammeln von einer innerlichen Welt, für die ich des klaren Ausdrucks nicht mächtig war. Aber sie waren ein Teil von mir und waren mir teuer.
Da ließ ich mich einmal in einer aufgeschlossenen, warmen Stunde hinreißen und zeigte sie meinem Bruder. Der war Arzt, ein frischer, heiterer, allgemein beliebter Mensch, und ich liebte ihn mehr, als er wußte. Zuweilen aber kam es mich an, daß ich in meiner heimlichen Gedankenwelt von ihm verstanden sein wollte. Dann ging es mir wie jenem, der alles wollte und nichts bekam.
Er sah hinein, las wohl auch in den Blättern. Am andern Tag gab er mir sie wieder: ‚nett, zum Teil ganz nett. Ein bißchen versonnen.‘ Er lachte und gab mir einen Schlag auf die Achsel: „Du bist immer ein Sinnierer gewesen, Joachim.“
Siehst du nun, daß ich weiß, wie es ist, Georg?
Er konnte wohl nicht anders; er sagte, wie es ihm ums Herz war. Aber mir war das leichthin geredete Wort wie ein Schlag ins Gesicht. — Das war alles? Da kam wieder so leer zurück, was ich aus mir heraus gegeben hatte und ich stand da und schämte mich, daß ich meine Seele so nackt hatte sehen lassen, und hätte sagen mögen: „gib’s wieder zurück, mach’s ungeschehen, daß du mich gesehen hast. Und dann zog ich mich in mich selbst zurück, so weit ich nur konnte.“
Der Rektor ließ ein paar große Rauchwolken steigen, die bildeten im Mondlicht einen schmalen hellen Streifen wie eine Brücke, darauf die Gedanken des alten Mannes in seine Jugend zurückgingen.
„Ja, heute versteh ich das alles; damals —, er sah es, daß er mich arm gelassen hatte. Und er meinte, ich habe mehr Lob erwartet und sei nun verschnupft, daß es mager ausgefallen sei, und erklärte mir, — er klopfte mir nochmals dazu auf die Achsel, daß ja wirklich ganz nette Sachen darunter seien, aber daß es ja natürlich viel bedeutendere Leute gebe und daß ich nicht erwarten dürfe, mit ihnen zusammengestellt zu werden.
Da packte ich mein Büchlein wieder ein. Nein, das hatte ich nicht erwartet. Etwas anderes. Was denn?
Ach, einen aufblitzenden Funken, der von seiner Seele zu meiner spränge, es hätte kaum ein Wort gebraucht, es hätt’s ein Blick getan, ein Händedruck, oder auch ein Schweigen.
Da hast du recht, Georg, es gibt ein beredtes Schweigen.“ Georg saß und horchte. Den Kopf lehnte er an die Wand und die langen Beine streckte er weit in die Stube hinein. Die Uhr tickte friedlich und gelassen: still — still — still — still. Bis die Stille redete. Ach wie friedlich war es hier.
Es war keine Unterbrechung dieser Stille, als der Rektor wieder anfing: „Das ist’s, was wir suchen und begehren: Gemeinschaft, Verstehen, nicht Lob. Ein Wort, das unserem verborgenen Leben eine Erlösung gibt, eine Befreiung. Aber wir dürfen das Wort von keinem verlangen. Es muß über uns kommen, wie ein Wunder. Es muß von einer verstehenden, liebenden Seele kommen. Und wir dürfen zu niemand sagen: sei du mir das, ich bitte dich.
Aber wie wir still hingehen und es tragen, daß wir einsam sind unter denen, von denen wir geliebt sein möchten, wächst eine Macht in uns, selber zu lieben und zu verstehen. Die den Armen das Evangelium verkünden wollen in irgend einer Weise, die müssen selber arm gewesen sein, arm in sich selbst vor allem.
Ich weiß das auch, Georg.“
„Ja,“ dachte Gertrud, und ihre Augen gingen zwischen dem alten und dem jungen Haupt hin und her, „aber manchmal begegnet uns doch auf diesem stillen Wege, von dem du sagst, ein Mensch, der die gleiche Sprache spricht oder doch die unsere in sich widerhallen läßt. Und dann geht ein Grüßen von Seele zu Seele: Du Bruder, o du Bruder.“
Aber sie sagte es nicht laut.
Es ging etwas Neues durch sie hindurch, etwas, das sie nicht benennen konnte. Das verschloß ihr den Mund.
„So, nun wollen wir zu Bett gehen.“
Der Rektor lehnte seine Pfeife an die Wand.
„So behüt dich Gott, Georg. Glück auf den Weg. Es gibt jetzt harte Bretter zu bohren, ich weiß es. Es ist ein enges Tor, das Examen. Aber dahinter ist das Leben. Du mußt dich nicht fürchten; es ist nirgends etwas zu fürchten. Die Sonne steht über allen Wolken, und Gott über allen Sonnen. Ich bin kein Dichter geworden, Georg. Du weißt es. Aber es ist dennoch eine Harmonie durch mein Leben hindurchgegangen; es hat sich dennoch gereimt. Ich habe nie aufgehört, die Rufe aus den Menschenherzen und aus den Kinderherzen vor allen, und aus dem Leben ringsumher zu vernehmen und zu verstehen. Das darf ich jetzt sagen. Es wird sich bei dir auch reimen, da habe ich keine Sorge.“
Ja, er hatte keine. So fest überzeugt war Georg nicht davon. Er hatte starke Zweifel in dieser Hinsicht. Er sah etwas unsicher nach der Ecke, in der sonst die Rektorin saß. Er vermißte noch ihre Ermahnung: „Du mußt dich zusammennehmen, mein Sohn. Und so weiter.“
Heute ermahnte ihn niemand. Er mußte es selbst tun, wenn es geschehen sollte.
Da zog er seine langen Beine an sich und stand auf.
Gertrud leuchtete ihm die Treppe hinunter und stellte, als sie unten waren, das Lämpchen in die steinerne Wandnische im Hausöhrn.
„Ich lasse dich zur hinteren Gartentür hinaus. So weit gehe ich noch mit dir.“
Das tat sie meistens. Es war nichts besonderes, daß sie es heute tat. Aber es war ihr anders zu Mut, als sonst. Sie hätte ihm so gern noch etwas gesagt. Er sah so zwiespältig aus, so unsicher.
„Ach, sag mir alles, was dich unruhig macht. So wie sonst. Laß mich an allem teilhaben.“
Aber sie dachte es nur, sie sagte es nicht.
**
*
Es war eine wundersame Nacht. Eine rechte, echte Sommernacht, voll von schwerem Duft der Rosen und des Jasmin. Es war, als ob das Leben nur leise schliefe und sich hie und da im Schlafe bewegte. Ein Rotschwänzchen stieß einen leisen, zirpenden Laut aus, als Gertruds Kleid an der Hecke streifte, in der sein Nest war. Von dem sogenannten Feuersee, einem grün überwachsenen Wasserbecken, das draußen zwischen den Krautgärten lag, scholl das überlaute Quaken der Frösche, im Grase zirpten die Grillen, die Bäume rührten sich im leichten Nachtwind wie im Traum. Am Himmel hielt der liebe Gott das silberne Licht der Nacht in seiner ausgestreckten Hand und leuchtete damit über seine Welt hin. Er hatte gesehen, wie Marie vor einer Stunde ihr glückliches Herz ins Haus getragen hatte, und nun sah er, wie Gertrud schweigend dahinging, sah, wie sie sich im Heben und Dehnen der Brust erst Raum schaffen mußte zu gelassenem Leben und Atmen.
Sie streifte ihren jungen Genossen mit einem erwachenden Blick, so, als sei sie seither in Träumen gegangen und es fiele ihr nun auf einmal ein, was Wirklichkeit sei und was Traum. Und als sie ihn so ansah, wie er groß und schlank neben ihr ging und ein feines Gesicht hatte, in dem alle guten Geister wohnten, da kam es wie etwas Neues über sie, wie etwas Schönes, Großes, das sie seither unbewußt mit sich herumgetragen hatte und das nun die Augen aufschlug: Daß sie beide in ihrer frischen Jugend miteinander durch den Garten gingen, und daß ihr Sein und Werden so miteinander fortgehen müsse, durch Nacht und Tag hindurch und durch die ganze Welt. Wie eine helle, weiße Straße lag das Leben vor ihr, und auf der Straße gingen Gertrud Cabisius und Georg Ehrensperger, in gleichem Schritt und Tritt und hielten sich an den Händen gefaßt und sahen eins nach dem andern. Da strömte etwas Starkes durch ihre Adern, und drang ihr bis ans Herz. Sie schauerte leise in sich zusammen. Sie verstand sich nicht recht. Sie hätte es ihm sagen mögen, der da neben ihr ging, aber statt dessen löste sie ihren Arm, der bisher in großer Selbstverständlichkeit auf dem des Jugendfreundes gelegen war, und wandte sich ab und beugte den braunen Kopf über einen Rosenstrauch, der in voller Blüte stand. Eine volle, duftende, rote Rose drückte sie an den Mund. Da drang ihr die Kühle der Blumenblätter sänftigend in das wallende Blut.
„Was tust du, Gertrud?“ fragte Georg. „Willst du die Welt umarmen?“
Aber sie gab keine Antwort. Sie bot ihm nur abschiednehmend die Hand. „Gute Nacht, Georg.“
„Gute Nacht, Gertrud.“ Er zögerte noch einen Augenblick. Wollte er auch noch etwas sagen? Dann ging er in die Nacht hinaus. Das Pförtchen fiel hinter ihm zu. Gertrud hörte seine Schritte verhallen.
Dann, im Hineingehen horchte sie auf Mariens Singen, das aus der Küche kam. Dort saß sie nun an dem weißgefegten Tisch und nähte und sang dazu.
„Noch so fleißig, Marie?“
„Ja,“ sie lachte. „Ich muß mich dran halten. Wenn man heiraten will.“ Die Unruhe des Glücks war ihr in die fleißigen Finger gefahren. Da wurden sie noch fleißiger.
Gertrud erschrak.
„Jaso. Dann willst du uns verlassen?“
An diese Seite der Sache hatte sie noch nicht gedacht.
„Natürlich.“ Was hatte das Mädchen für übermütige braune Augen. Sie hatte bloße Arme bis über die Ellbogen. Die reckte sie und machte eine zugreifende Bewegung mit beiden Händen, als ob sie sogleich ans Einrichten zu gehen gedenke. „Natürlich. Es ist mir —“ ach nein, sie konnte nicht sagen, daß es ihr leid sei, hier wegzugehen. Es kam nichts dagegen in Betracht, nichts.
„Im Spätherbst wollen wir heiraten.“
„Schon?“
„Ja, das ist alles ausgemacht.“
„Alles heut Abend da hinten unter dem Baum?“
„Ja. Nun müssen Sie auch bald —.“ Marie lachte.
Sie durfte sich schon etwas erlauben.
„Gute Nacht, Marie.“
Gertrud stieg die Treppe hinauf. Aber in halber Höhe blieb sie stehen und hörte ihr Herz schlagen. Was war dies für eine Nacht. Es wendete sich alles um und um. Es sah alles anders aus als vordem.
Die Wiblinger Stadtgemeinde war nicht mehr so ganz überzeugt von ihrer Sicherheit, seit Meister Nössel allein auf dem Turm wohnte. Er war doch allmählich ein hinfälliger, alter Mann geworden. Man konnte nicht wissen, was nächtlicherweile unten in der Stadt geschah, wann der Schlaf zu ihm kam, oder wann sein sehnliches Gemüt hinter den Gedanken drein ging, die in ferne Zeiten wanderten, in vergangene und künftige. So wurde die Turmwächterstelle mit ihren dreihundertundfünfundsiebenzig Mark Einkünften nebst freier Wohnung und Öl für die Laterne neu ausgeschrieben und dem Flickschuster und seitherigen Fabriknachtwächter Konrad Entenmann übertragen, dem Mann der heiteren, raschen, lebendigen Frau Lieselotte, von der wir wissen, daß sie einst von der Rektorin Cabisius geschult und herangezogen worden war. Also blieb der Turm sozusagen „in der Freundschaft“, wenigstens für Gertrud, die nun schon drei kleine Entenmänner über den Taufstein gehalten hatte. Sie zog denn auch hier oben mit ein; wenigstens brachte sie am Abend des Einzugstags die drei Buben auf den Turm, die sie heut gehütet hatte und besah sich das Wunder: wie in der einzigen Stube für zwei große und drei kleine Menschen Platz geschaffen war. An Frau Judiths Fenster stand der Schustertisch samt dem Schemel davor. Ob wohl in Zukunft auch so wunderbare Dinge von hier aus zu erschauen sein würden? Einmal, Frau Lieselotte neigte nicht zum Geheimnisvollen, und — nein, und ihr Mann auch nicht. Nun zeigte sie ihr neues Reich, und sah es mit ihren Augen: „Die Kleiderkästen habe ich auf den Glockenboden gestellt; und draußen vor der Tür, siehst du, Gertrud, da habe ich so etwas wie eine Küche eingerichtet, zwei Schritte lang und drei breit, neben der Treppe. Ein Petroleumherdchen und ein Küchenkasten. Und oben, es geht eine Hühnerleiter hinauf, hast du je den Verschlag gesehen? Das gibt eine Schlafkammer für die beiden größeren Buben, wann sie zu lang werden für das Gitterbettchen.“ Sie drehte sich um und um. „Ich muß mich erst daran gewöhnen, so hoch oben zu sein. Mann, du mußt morgen früh eine Gattertür an die Stiege machen. Handumkehr fällt einer von den Buben hinunter. Buben, das sag’ ich euch, wenn einer da ausrutscht und fällt,“ sie schauderte und nahm den Jüngsten auf den Arm und drückte den zweiten an sich, „dann, dann hau’ ich euch, bis es genug ist. Jawohl, ihr dummen Kinder, das geht hinunter, hinunter, kein Mensch kann sagen, wie weit.“
Sie hatten es nicht im Sinn; sie drängten sich um die Mutter und guckten mit großen Augen das dunkle Treppchen hinunter. Eben war der Vater gegangen, sechs Uhr zu läuten. „Bscht, seid still.“ Frau Liselotte kam sich nun doch auch ein bißchen wie etwas Regierendes vor. Das war ihr Mann, der die Glocke über die Stadt und das ganze Tal hinrufen ließ, und alle andern Menschen waren da unten und horchten.
„Gute Nacht, Gertrud. Ich dank’ dir schön. Gelt, du steigst auch wieder da herauf, du weißt ja den Weg.“
Ja, den wußte sie. Aber es war ihr, als ob sie nicht allzu oft käme. Es war, als ob man aus einem schattigen Hain mit lockenden Pfaden und rieselnden Quellen einen Küchengarten gemacht hätte. Es war ein braver, wackerer Küchengarten, es war gar nichts an ihm auszusetzen, als daß es eben der alte Hain nicht mehr war. Sie mußte sich erst umgewöhnen. Der Mann läutete auch anders, als Meister Nössel, so schien es ihr. Zu schnell und ein wenig unruhig. Als Gertrud an ihm vorbeiging, um hinabzusteigen, sagte er, mitten unters Läuten hinein: „Jetzt heult der Fabrikhund, mein alter Hilfsnachtwächter, zum Erbarmen. Immer beim Läuten heult er. Das kann er nicht ertragen.“ Bam, bam, fielen die Töne dazwischen. „Es ist sonst ein braves Tier, es tut ihm ahnd nach mir, ich weiß es.“ Bam, bam, bam.
Wenn das Georg gehört hätte! Gertrud stieg die Treppen hinunter. Meister Nössel, der vollbrachte das Läuten wie eine heilige Handlung. Wie ein Priester oder ein Künstler. Ernst und still war er dabei und niemand durfte ihn anreden und ein Ton glich dem andern und jeder war ein Rufen nach den Menschenseelen.
Das wußte Gertrud nicht, als sie rasch und unmutig zu sich selber sagte: „So lernts der Entenmann nie, er kann nicht so läuten, weil er nicht so ist,“ daß Meister Nössel draußen in Hollermanns Hütte, die er gestern bezogen hatte, auch auf das Läuten horchte. Und daß er leise sagte: „Du wirst ihn lehren, wie du mich gelehrt hast. In Lieb’ und Leid, in Gemeinschaft und im Einsamsein, in Sehnsucht und Befriedigung, in eigener Not und über fremde Schmerzen hin habe ich die Glocken geläutet. Da haben sie die Welt und mich gesegnet.“
Er lächelte verstehend, als die hastigen, ungleichen Töne niederfielen. Sie taten ihm nicht weh. Er wußte wohl, daß sein Werk getan sei, und das der Glocken an ihm, und daß das beides bei diesem Mann erst anfange.
Stapfte da Frau Judiths Krücke?
Nein, es klopfte jemand mit dem Stock ans Fenster, und als er öffnete, stand sein alter Freund, der Rektor draußen und streckte seinen weißen Kopf herein:
„Komm Leonhard, es ist ein schöner Abend und wir haben alle Freiheit, zu feiern. Wir setzen uns aufs Bänkchen, hinten am Haus, gegen die Felder hin. Hörst du die Amsel? Hörst du, wie sie flötet? Als ob Hollermann in der Nähe wäre. Aber ich glaube, das ist er auch. Nein, wir wollen es nicht bereden. Wir setzen uns hin und horchen. Nachher kommt das Kind, die Gertrud, und holt mich ab.“
Da saßen sie beisammen, bis die Abendschatten niedersanken. Der Rektor hatte es wohl gewußt, daß ihn sein alter Schulkamerad heute brauche. Aber sie sprachen nicht viel. Sie kannten einander allmählich so gut, daß sie miteinander schweigen konnten. Es war ein warmer, schöner Abend im Juli. Es war gerade ein Jahr seit Frau Judiths Tod. Die weiße Kapelle schimmerte im letzten Abendstrahl. Hinten am Horizont erglänzten weiße Wolken mit purpurnen Säumen wie Gefilde der Seligen.
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Er nannte sie immer noch das Kind. Aber sie war kein Kind mehr. Sie war schon lange wachen und regen Geistes gewesen und nun war das noch hinzu gekommen, daß sie sich selbst entdeckt hatte, wie sie jung und kräftig war und aufsteigenden Saft in sich hatte, wie ein starker, gesunder Baum. Es hob ein Fragen in ihr an: wozu, für wen? Und sie reckte die Arme aus gegen das weite Leben und begehrte sich zu füllen mit großen, schönen, reichen Gütern, und sah die Menschen, die rings um sie her waren, und verlangte, warm und nah zu ihnen zu gehören. Auf dem Grunde ihrer Seele aber war das andere: Das Du, das zu ihrem Ich gehörte. Aber das mußte noch schweigen. Das war immer da und sah sie mit großen Augen an: „Du, wenn wir einmal ganz beisammen sind, — immer. — Du, ach, alles, was ich habe, das gebe ich dir. Du, du.“ Da füllte sie ein großer, mächtiger Lebensdrang. „Georg,“ sagte sie. Und dann schloß sie die Augen und deckte noch die Hand darüber. „Still.“
In dieser Zeit bat sie oft den Großvater, wenn sie mit ihm durch den Garten ging oder bei der Lampe saß: „Erzähl mir aus der Zeit, als du jung warest. Als du die Großmutter kennen lerntest. Erzähl mir von meiner Mutter, als sie zum erstenmal zu euch ins Haus kam.“
Da lächelte er und ließ dichte Rauchwolken steigen: „Von deiner Mutter? Ja, ich weiß nichts neues mehr. Es ist mir, als wäre es erst kürzlich gewesen. Sie war gleich zu Hause bei uns, sie hatte eine so warme, sonnige Art. Sie konnte lachen, daß die alten Stuben und Gänge widerhallten, man mußte mitlachen. Hier, in den Augenwinkeln, da saß ihr der Schelm.“
Er sah nachdenklich vor sich hin. Er sah wohl die längst vergangenen Gestalten vor sich aufsteigen?
„Sie war das, was man anmutig nennt,“ sagte er. Dann sah er seine Enkelin prüfend an. „Du gleichst ihr nicht; du gleichst deinem Vater. Der war groß und breit wie du, und hatte so ernste, feste Züge und eine hohe, breite Stirn wie du, — ja und die Nase, die hast du auch von ihm. Sie aber war klein und zierlich und hatte Grübchen im Gesicht, eins in der linken Wange und eins im Kinn. Nein, du gleichst ihr nicht.“
Er wußte wohl nicht, daß er zu einem jungen Mädchen sprach? Sie war ihm im Lauf der Jahre so etwas wie ein Kamerad geworden. Er beredete alles mit ihr, so, wie es Georg Ehrensperger auch tat. Und daneben war sie ihm das Kind, das letzte, das ihm geblieben war.
Sie aber besah ihr Gesicht nachher in ihrer Stube im Spiegel und wurde vor sich selber rot, daß sie es tat.
„Ach, das ist ja einerlei. Ich bin jung und gesund. Still. Ja, ich bin ein wenig braun und eckig und ein wenig ernsthaft bin ich auch. Es liegt nicht viel zu lachen vor. Aber das schadet nichts. Darum bin ich doch — ach, still.“ Und sie zwang ihre Gedanken zu ernsthafter Arbeit, und senkte den braunen Kopf über dicke, schwere Bücher, die redeten von längst vergangenen Zeiten und Völkern und von vieler Weisheit alter Tage, und manche von ihnen in lang verklungenen Sprachen.
Stieg zwischen den Blättern jener Wintertag auf, an dem sie ihre Fußtapfen neben die ihres Kameraden gesetzt hatte: Ich werde ebenso groß und stark und gescheit, wie du? Begehrte sie in gleichem Schritt mit ihm zu gehen auch von Weitem? Oder hungerte sie nach dem Wissen selbst? Es war wohl beides.
Das Lernen füllte sie ein wenig. Aber es war nicht genug. Und sie ging in den Garten und schaffte sich müde und konnte doch nicht alle ihre Kraft verbrauchen. Und holte sich Nachbarskinder und spielte mit ihnen, aber sie konnte es nicht so recht; etwas Weiches, Lachendes fehlte ihr, so stark und mütterlich ihr Herz empfand. Einmal brachte ihr der Großvater einen Schüler, den sollte sie auf das Gymnasium vorbereiten. Das tat sie während dreier Frühlingsmonate und brannte vor Eifer und riß den Buben mit sich und brachte ihn richtig dazu, daß er in der Stadt mit seinen Altersgenossen fortkam. Vorher war er ein träger, unlebendiger Schlingel gewesen. Das Interesse, das hatte sie ihm eingeflößt. Aber nun war er fort. Und sie besuchte ihre Freundin, das lahme Mädchen, das seine ganze Jugend auf einem Fleck versitzen mußte. Dort wurde sie mit leuchtenden Augen empfangen. Sie hatte zuweilen Lust, ihren Kopf in dem Schoß des stillen, feinen Mädchens zu verstecken und zu klagen, daß sie eine Unruhe in sich habe, ein Drängen nach etwas Großem, das doch nirgends sei. Aber sie konnte es nicht. Die Freundin empfing ja ihren Anteil vom Außenleben durch sie; ihr war Gertrud Cabisius das Beste, Reichste, Klügste, das es gab. Sollte sie etwas zu klagen haben?
Nein, Gertrud fuhr fort, ihr Bücher zu bringen und ihr zu erzählen, was der Tag so mit sich brachte und was sie nun wieder gelernt hatte und sah die geduldigen, hingebenden Augen und die blassen, feinen Züge auf sich gerichtet, und hörte, wie aus der Tiefe dieses leidenden Lebens die Sehnsucht sprach, die auch für sich ein Genügen begehrte. Und es war ihr, als müsse sie für sich und für die Freundin noch etwas finden, etwas Großes, Neues, Füllendes.
„Aber,“ dachte sie mitleidig, „für sie wird es doch nicht kommen. Sie kann kein volles Menschenleben leben. Warum muß es Kranke geben und Schwache?“
Da fühlte sie, wie ihr das Blut frisch und warm durch die Adern rann. Ach, es würde schon alles kommen. Es war auch jetzt schön. Die Hoffnung, die liebliche Märchenerzählerin, die winkte mit der weißen Hand: Du aber, du wirst das alles erleben, du bist lebenswillig und lebenskräftig.
Ja, das war sie.
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„Großvater, bist du noch da? Wir haben uns ganz verschwatzt. Du glaubst nicht, was Veronika sich zusammendenkt, wenn sie so sitzt und näht. Ich glaube, sie stattet sich Himmel und Erde auf ihre Weise aus. Du solltest wieder einmal zu ihr gehen. Ich glaube, du bist ihr das Höchste, was ein Mensch sein kann.“
Gertrud lachte leise.
„Ich streite es ihr nicht ab. Jetzt komm, jetzt müssen wir heim. Völlig dunkel ist es geworden.“
Da hatte er seine Freude an ihr, Freude und keine Sorge.
Sie aber ging neben ihm her und faßte ihn nach Kinderweise an der Hand und war doch längst kein Kind mehr.
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Es gibt eine Geschichte von einem, der im Wachen viel Hunger zu leiden hatte. Er hatte aber die Gabe, daß er vom Essen träumen konnte, so oft er wollte, und wenn ihm der Magen gar zu arg knurrte, so suchte er wohl auch mitten im Tag irgend ein verschwiegenes Eckchen auf, um dort in der Schnelligkeit ein kleines, bescheidenes Träumlein zu träumen, nur so gegen den gröbsten Hunger. Er konnte es freilich nie so weit bringen, daß er sich wirklich satt vorkam, das stand ihm noch aus; indessen konnte er sich doch einbilden, nahe daran zu sein, und das war immerhin etwas.
Er war aber ein besinnlicher Mensch und dachte sowohl über sich selbst als auch über den Lauf der Welt fleißig nach, und als er seine Augen bei den andern Menschen herum gehen ließ, da fand er, daß sie alle irgend ein Eckchen hatten, in dem sie vom Essen und vom Sattsein träumten, die einen so, die andern anders, und daß der Hunger so vielgestaltig auf Erden sei, als das Menschenschicksal selbst, und das Sattwerden etwas Seltenes.
Franz Ehrensperger der Jüngere, der schien nicht zu den Hungrigen zu gehören und auch kein Träumer zu sein.
Aber darum hatte er doch auch einiges ausstehen, was ihm zum Sattsein erforderlich war.
Als er sich ein Weib genommen hatte, da hatte er geglaubt, nun mit ihr so recht ins helle, heitere, behagliche Leben zu treten. Er sah es gern, daß sie praktisch und sparsam und rührig sei, aber so überaus rührig hatte er sie sich doch nicht gedacht, als sie sich nun in der Folge zeigte. Er hatte große Lust, ein wenig gemütlich zu sein, und hie und da eine Weile vertraulich mit ihr zusammen zu sitzen und auch etwas Gutes mit ihr zu essen, das sie ihm etwa aus Liebe gekocht hätte, und hatte große Lust, öfter einmal den Arm um ihre stattliche, kräftige Gestalt zu legen: „Du, wir wollen wieder einmal über Land fahren. Was sagst du dazu? Wir sind jung; das ist man nur einmal. Wir wollen uns des Lebens freuen.“
Aber da kam er nicht so gut an.
„Was ich dazu sage? Wir sind jung und müssen schaffen. Laß mich los. Wenn man es zu etwas bringen will, muß man sich rühren.“ Da sah er verdutzt drein.
Sie trieb Haus und Geschäft um, daß es eine Art hatte. Sie war nicht schuld, wenn die Habe nicht wuchs, so lange sie am Ruder war. Sie verschwendete nichts, weder Geld, noch Zeit, noch Zärtlichkeiten. Sie hatten richtig eine Weinwirtschaft eingerichtet und die junge Frau war eine umsichtige Wirtin und versorgte die Gäste, ohne viele Worte mit ihnen zu machen, und zog nur die Brauen zusammen, wenn der Schwiegervater gar zu seßhaft an einem der grünen Tische wurde, und mehr noch, wenn Franz ihm hie und da ein bißchen dauerhaft Gesellschaft leistete.
Dann rief sie ihren Mann wohl hinaus und hatte dies und das über das Geschäft mit ihm zu verhandeln, und trieb ihn durch ihre eigene Geschäftigkeit hin und her und er kam nicht recht zum Gemütlichsein.
Das war das erste, was ihn ein bißchen hungrig ließ und was er sich anders ausgedacht hatte.
Dann kam eine Zeit, bald, da wünschte er sich einen Sohn und dachte sich hie und da aus, wie das würde, wenn wieder ein kleiner Franz da sei, und wie dann die Frau wohl oder übel mehr ins Weiche, Mütterliche hineinkommen müsse, und wie sie miteinander vergnügt sein wollten.
Sie aber hatte in dieser Zeit nur noch mehr den Trieb, zu schaffen, zu treiben, zu sparen und auszunützen, also daß selbst Jungfer Liese in einer Mischung von Bewunderung und leisem Unbehagen den Kopf schüttelte. — Das war eine Frau. Die brachte es zu etwas. Aber freilich, so überaus behaglich dabei zu sein war es nicht. — Sie durfte aber nichts dazu sagen, denn die junge Frau hatte ihr einst kurz bedeutet, daß sie alles, was die unteren Regionen betreffe, vollständig übernommen habe und auch gut versehen könne. (Mit Ausnahme, fügte sie hinzu, der wenigen Tage, die sie dann im Bett zu liegen habe, wenn die Zeit herankomme, da solle Jungfer Liese dann für sie eintreten.)
Aber als die Nähterin in der Ladenstube saß und die letzten Stiche an den kleinen Sachen tat, die so einfach als möglich angeschafft worden waren, und die Wiege, die alte Wiege der Ehrenspergersöhne zum Reparieren beim Schreiner war, da stieg die junge Frau eines Tages in den Keller, weil sie neuerdings der Magd nicht recht trauen konnte, und hatte es gewaltig eilig und stolperte über eine Kartoffel, die auf einer Stufe lag. Da glitt sie aus und stürzte die ganze Stiege hinunter und stand wieder auf und kam mit schmerzhaft verzogenem Gesicht herauf. Am andern Tag wurde ein totes Mädchen geboren und die Mutter schwebte in Lebensgefahr. Da konnte nun Jungfer Liese noch einmal ihr altes Amt versehen und das neue einer Wirtin dazu.
Aber das dauerte nicht allzulange. Denn die junge Frau war überzeugt, daß alles den Krebsgang gehe, so lange sie hier liege und sich pflege, und wollte es erzwingen, wieder selbst auf den Füßen zu sein, und ließ sich weder durch des Doktors noch ihres Mannes Gebot länger halten, als sie es selbst für unumgänglich nötig hielt. Da verdarb sie sich und schleppte sich so hin, und lag bald auf dem Sofa, bleich und mager und fast verblüht, und war bald hinter dem Gesinde her mit scharfer Stimme und scheuchenden Worten.
Sie wollte aber nicht nachgeben und zwang es auch wirklich, das Hauswesen wieder in die Hand zu bekommen, obgleich sie erschöpfter war, als sie zeigen wollte und obgleich niemand bei diesem Regiment recht aufatmen konnte; denn sie suchte mit Drängen und Treiben einzubringen, was sie mit eigener Hand nicht mehr vollbrachte.
So kam es, daß eh’ ein Jahr vorbei war, seitdem die Flöten und Geigen der Hochzeit verstummt waren, aus der jungen, blonden Braut ein reizbares, kränkelndes Weib mit scharfen Zügen und scharfem Wesen geworden war, hinter dem die einen die Köpfe zusammenstreckten: „Der Ehrensperger, der hat auch sein Hauskreuz,“ und die andern: „gar zu lang wird er’s nicht haben, denk’ ich.“
Und so kam es, daß, wie oben gesagt, Franz Ehrensperger noch einiges ausstehen hatte, das ihm zum Sattsein gehörte, und daß er sich hie und da des Gedankens nicht erwehren konnte, er habe sich das Ganze anders vorgestellt. Er ging in jener Zeit ein wenig gedrückt umher und saß zuweilen in der Backstube auf einem Mehlsack und nickte da ein, anstatt sich oben einen behaglichen Ruhesitz zu suchen. Jungfer Liese, die hatte wohl auch an das Teil der Güter gedacht, das ihr gehöre. Sie war nicht unbescheiden, wir wissen es. Sie hatte nur davon geträumt, nun mit dem Herrn Vetter in Ruhe und Frieden im Oberstock zu wohnen, für ihn und sich gut zu kochen und mit einem Strickzeug am Fenster zu sitzen und zu sehen, wie die Kunden im Laden aus- und eingingen. Das war ja schon mehr, als sie in ihrer Jugend hatte hoffen dürfen. Dann wollte sie ein Auge auf das Glück und Gedeihen der jüngeren Generation haben und sich in dem Gedanken sonnen, daß sie dieses Gedeihen durch eine Reihe von Jahren gefördert hatte.
Aber ehe sie das genannte Auge so recht hatte darauf werfen können, schloß ihr der Tod beide Augen, nachdem sie nur wenige Tage krank gewesen war, und so ging sie aus der Zeitlichkeit, ohne nur auch an ihrem bescheidenen Gericht von der Lebensmahlzeit sich recht sattgegessen zu haben. Den Herrn Vetter aber ließ sie so hilflos und unbehaglich zurück, wie er sich in vielen Jahren nicht gefühlt hatte, und das hatte Jungfer Liese auch in aller Bescheidenheit vorausgesehen, und es hatte ihr die letzten Lebenstage bitter und süß zugleich gemacht. Denn wer ist, der nicht gerne vermißt werden und der nicht irgendwo nur auch ein schmales, kleines Lücklein hinterlassen möchte, wenn er von dannen geht?
Das ist das Zeugnis über ein Leben, ob es wirklich gelebt worden sei, ob irgend ein Werk oder ein Mensch hinter ihm drein sagt: nun muß ich ohne dich sein.
Das wurde Jungfer Liese zuteil.
Denn der Herr Vetter fühlte sich weder in seinem Hause noch in seiner Haut, die beide unter ihrer Obhut gestanden waren, mehr recht wohl.
Er ging in dieser Zeit fleißig mit dem Müller Hensler, der immer noch der feurige Knabe von ehedem war, mit kurzen, eilfertigen Schritten über den Markt und zum Städtlein hinaus, — (Franz der Jüngere stand dann wohl einen Augenblick unter der Ladentür und sah ihnen nach und wäre gern mitgegangen) — und sie kehrten miteinander in irgend einem Wirtshaus ein.
Da saßen sie und tranken einen oder etliche Schoppen Roten, und wenn sie ganz unter sich waren, so vertrauten sie einander an, wie vielfach die vergangene Zeit der jetzigen vorzuziehen sei, hielten eine kleine, einträchtige Klatscherei über „Die Junge“, und lobten Jungfer Liese über den Schellenkönig, so sehr sie vordem auch ihre Mängel gehabt hatte. So sehr lobten sie sie, daß ihr das linke Ohr, das man das Klingohr nennt, hätte läuten müssen, wenn einem im Grabe überhaupt die Ohren läuten könnten.
Das taten sie einige Wochen, vier oder sechs. Dann zogen sie eines Tages auch zu dreien aus: Die beiden alten Schulkameraden und Franz der Jüngere, alle drei in stattlichen Sonntagsgewändern, jeder eine Nelke von Jungfer Liesens Lieblingsstock im Knopfloch, in dem sauberen, neulackierten Wägelchen des Kronenwirts. Es war an einem strahlend schönen Septembermorgen. Die Fahrt ging nach Tübingen. Sie wollten miteinander ihren Studenten besuchen, so lang er noch einer war. Das zählte nur noch nach Wochen. Das Examen war vor der Tür. Er mochte so verschieden von ihnen sein, als er wollte, darum war er doch ihr Student und sie waren stolz auf ihn.
„Man muß ihn nur aufmuntern,“ sagte der Müller Hensler. „Er kann sicherlich den ganzen Krempel, der verlangt wird, aber er ist schüchtern, das ist es. Bei den Professoren da ist es wie bei meinem Tyras, dem Kukukskerl. Wenn er sieht, daß einer Angst vor ihm hat, so fährt er ihm an die Waden. Wer kecklich auftritt, dem tut er nichts. Was? Die Herren sind auch keine Herrgötter, sag’ ich. Man muß ihn nur aufmuntern, den Georg.“
Also fuhren die drei nach Tübingen, um den jüngsten Ehrensperger aufzumuntern.
Sie hatten einen Gugelhopf unter dem Spritzleder des Wägelchens und ein paar Flaschen Uhlbacher in den Rocktaschen.
Den Gugelhopf lieferten sie unverkürzt ab, den Uhlbacher aber tranken sie selbst. Das war nicht programmgemäß, indessen wurden sie sehr vergnügt davon. So eigneten sie sich um so besser zur Aufmunterung.
Sie hatten den heutigen Tag mit Bedacht gewählt. Die Verbindung, zu der Georg gehörte, hatte sich ein Haus gebaut, das wurde heute eingeweiht. Zu dem Hausbau aber hatte der Vater Ehrensperger beigesteuert, ein Heidengeld, wie er selber sagte. Und darum hatte er beschlossen, der Einweihung beizuwohnen. Er kam sich so ein bißchen wie ein Gönner vor. Wie einer, der ein Recht auf jegliche Ehrung hat.
Als die Stadt in Sicht kam, tranken die drei den letzten Schluck. Sie tranken ihn mit Hochgefühl. Die leere Flasche warfen sie in die Weiden am Neckarufer. Sie selbst setzten sich in Positur. Sollte ihnen einer kommen. Sie waren von Wiblingen. Dort durfte man nach ihnen fragen.
Lore. Es wäre vielleicht mehr unsere als Georg Ehrenspergers Sache gewesen, uns um ihr Werden und Wachsen, und um ihre Erziehung, zu kümmern. Wir ließen sie alle ruhig nach Tübingen ziehen, wo ihre Mutter dem Aufschwung huldigen wollte, wir, das heißt die Rektorin Cabisius und Frau Judith, sandten einige sorgliche Gedanken hinter dem Kinde drein: Was mag nun aus ihm werden? Dann aber hatten wir mit andern Dingen zu tun.
Nun ist inzwischen aus dem schönen Kind ein schönes Mädchen geworden, das, soviel haben wir schon gemerkt, auch noch andere Leute als uns nötigt, die Augen aufzumachen in Staunen und Verwunderung, und das, soviel haben wir gleichfalls gemerkt, gar nicht gleichgiltig dagegen ist, ob die Leute auch wirklich die Augen aufmachen und was in ihnen zu lesen ist.
Wir haben auch sonst noch einiges gesehen, was wir lieber vermißt hätten, da es für Georg Ehrenspergers Seelenruhe und für sein Studium zuträglicher gewesen wäre, wenn Lore — kurz, wenn ihre Erziehung in manchen Dingen anders ausgefallen wäre.
Aber eigentlich wissen wir doch nicht so viel von ihr, als wir billig sollten.
Fragt ihre Mutter. Die reibt die Hände ineinander vor Vergnügen und blinzelt mit den Augen: „Ja, ja, das ist ein Mädchen. Ich, als ich jung war, sah ganz ähnlich aus. Geschickt ist sie auch, und flink, und so ideal. Wenn Maute sie so sähe. Er sagte immer —,“ ja, nun bekommen wir den entwichenen Maute auf den Hals. Den schenken wir ihr. Sie hat aber nebenbei ein klein wenig Furcht vor ihrer Tochter, und so wenig uns ein solches Verhältnis gefallen könnte, so muß doch zu Lorens Ehre gesagt werden, daß sie meistens dann mit dem Fuß aufstampft, wann wir auch aufstampfen möchten. Vielleicht hat sie von jeher mehr damit abgeschnitten, als wir ahnen.
Ja, und fragt die Nachbarn. Die Alten sehen einander zögernd an und rücken nicht recht mit der Sprache heraus, denn sie sehen, daß wir ein Interesse an ihr haben.
„Hm,“ sagen sie, „das Mädchen wär ganz recht. Man muß ja eine Freud’ an ihr haben, wenn sie nur aus dem Haus kommt. Freundlich — und immer mit den Kindern voller Vergnügen, und dann, — eine Augenweide. Aber so“ — „ach, da ist die Mutter schuld, die putzt sie und streicht sie heraus, und dann mit den Studenten. Man kann nichts Böses sagen. Nur ein bißchen viel Getue und Eingeladenwerden und Mitmachen. Du lieber Gott, das paßt doch nicht zu den Verhältnissen. Eigentlich ist es ein Wunder, bei der Maute, ich meine, bei der Mutter, — es hätt’ eins übler geraten können.“
Und fragt die Nachbarskinder. Nein, fragt sie nicht. Seht einmal zu. Es fällt euch doch ein Stein vom Herzen, wenn ihr seht, wie sie einander anstrahlen, die Kleinen und das große, schöne Mädchen. Sie macht ihnen auch Puppenkleider und tanzt und spielt mit ihnen; sie muß doch noch ein Kinderherz haben, wenn sie auch gern, sehr gern hört: Lore, du, bleib einmal ganz ruhig. Jetzt scheint die Sonne auf dein Haar und dann sieht es aus wie Gold. Ja, das hört sie freilich gern.
Die Studenten müßt ihr nicht gerade fragen. Die sind oft nicht so zuverlässig in ihren Berichten. Manche sind zu enthusiastisch, manche zu spöttisch, manche wissen auch, was sie wissen, nur vom Hörensagen. Sie tanzen gern mit ihr und bewundern ihre Schönheit, und es ist auch nicht nur einer, der sich in sie verliebt hat. Aber man weiß nichts davon, daß auch nur einer, überhaupt ein Mensch, sie so recht lieb gehabt hätte. Denn lieb haben, das ist immerhin etwas anderes, als verliebt sein und hält auch länger.
Doch ja, da ist jemand. Der wohnt im Dachstock neben den Magdkammern, ebenfalls in einer Kammer. Der liebt sie und sie weiß es, obgleich er es noch nie gesagt hat. Das ist der alte Kopist Riedesel, der den Studenten Manuskripte abschreibt und kümmerlich davon lebt. Er hat trübe, rotumränderte Augen und trägt eine große Stahlbrille; aber hinter derselben hervor leuchtet es auf, und aus den Manuskripten hebt sich der struppige Kopf, wenn ein rascher, leichter Tritt auf der ausgetretenen Treppe hörbar wird. Nun noch ein paar Schritte, dann knarrt nebenan die Tür; dort ist Mautes Kammer, eine Art von Magazin. Da kramt Lore in den Schachteln. Sie singt dazu, eigentlich trällert sie nur, leichte, kleine Liedchen. Dann steckt sie den Kopf zur Tür herein. „Wie geht’s?“ Ach, es geht ihm gut, wenn Lore kommt. Und sie kommt oft. Sie bringt Blumen mit und stellt sie auf das Fensterbrett. Auf den Bettrand setzt sie sich selbst und spricht mit dem Alten. So lieb ist sie da, so offen und so unschuldig. Sie erzählt ihm alles, er weiß alles, versteht alles. Denn er liebt sie. Er sah sie heranwachsen, groß und schön werden, er sah, wie sich die Leute nach ihr drehten, er sah, wie die Mutter war. Gott behüte dich, Kind! Es geschah zum Glück bald, daß sie anfing, ihm alles zu erzählen. Sie zeigte sich ihm, als sie zum erstenmal ausging, um zu tanzen, sie war so fröhlich über ihre junge Schönheit; er war es auch. Aber immer: Gott behüte dich. Sie lachte über ihn, wenn er das so ernsthaft sagte. Aber sie kam immer wieder. Sie kam nicht immer fröhlich. Manchmal hatte sie große, ernsthafte Augen und sah still vor sich hin. Dann fragte er es aus ihr heraus: Manche Leute hätten so eine schöne, friedliche Heimat, da wären sie beisammen und hätten einander lieb. — Oder anderes. Von der Mutter, und daß sie, Lore, oft so unfreundlich gegen sie sei. Aber es sei auch kein Wunder.
Es kamen auch Zeiten, da weinte sie hier oben. Da war einer abgereist, von dem sie vorher so viel Schönes erzählt hatte. Der alte Kopist kannte sie alle gut, die kamen und die gingen. Er neigte teilnehmend den Kopf. Innerlich war er grimmig. Was machten sie aus dem Kind? Sie war ihnen eine Weile gut zum Bewundern, aber sie wollten nicht das Beste in ihr aufwecken. Ja, sie verderbten es geradezu. Die Mutter half mit. O, die. Dumm war sie und eitel.
Er, wenn er jünger gewesen wäre! Aber sie hätte dann nichts von ihm gewollt. Sie war zutraulich gegen ihn, sie mußte einen Ort haben, wo sie alles hintragen konnte. Aber im übrigen. Da schickte sie ihre schönen Augen aus nach einem glänzenden Glück. Die Mutter hatte es ihr zu oft vorgesagt, es schien ihr allmählich so natürlich, daß es käme. Und immer wieder klopfte es an, aber immer wieder war es ein neckisches Spiel, wie der Wind mit einem Baumzweig an das Fenster klopft und gleich ist es wieder still.
Da gewöhnte sich Lore an die Bewunderung, an das Staunen in den Gesichtern der Menschen. Als sie nichts Besseres bekam, trank sie begierig den leichten, perlenden Schaumwein der Tändeleien, der Vergnügungen. Aber immer wieder gingen ihre Augen auf die Suche: wann kommt das Schöne? kommt es bald?
Der Alte wußte es gut. Er hoffte mit ihr. Aber er fürchtete sich auch davor. Denn wenn Lore ging, was hatte er dann noch in seinem Leben? Sie war es, die seiner armen Kammer Glanz und Farbe gab.
Da fing sie auch an, ihm von Georg Ehrensperger zu erzählen. Das klang anders, als bei den andern. Es kam unbewußt ein Stück ganz schuld- und harmlose Kinderzeit mit zum Vorschein, als sie von ihm erzählte. Er sah ihn auch selbst, den schmalen, feinen Menschen mit dem sonderbar verträumten Gesicht.
„Den nimmt sie nicht,“ dachte er bekümmert. Sonderbar, er zweifelte nicht, daß das von Lorens Belieben abhänge. Sie war ihm ja weit überlegen, was Lebensklugheit, was „Helligkeit“ betraf. Und doch war es dem Alten: „Das ist ein Guter.“
Ach nein, es schien nicht, daß der Jugendgespiele etwas ändern sollte an Lorens Lebensführung. Allzusehr war sie überzeugt, daß er noch ein Knabe sei, allzuviel wußte sie zu spotten: „Er sieht nicht, was um ihn her vorgeht. Mit der Nase muß man ihn auf die Dinge stoßen. Mich? ja, mich sieht er wohl.“ Aber das war selbstverständlich. Dann klagte sie sich zuweilen an: „Abscheulich bin ich gegen ihn. Es reizt mich so sehr, ihn ein bißchen zu necken. Dann sieht er so erschrocken aus und wird rot. Ach, er ist ein lieber, guter Mensch. Ich will das nächste Mal recht nett mit ihm sein.“ So war sie dann das nächste Mal, daß Georg verzückt nach Hause ging und dachte: „Das war heut ihr eigentliches Ich, so ist sie. Das andere, das hängt noch so an ihr, außen herum. Das muß noch abfallen.“
Aber es wurde mit der Zeit ein wenig anders. Immer öfter nahm der alte Riedesel die Brille ab, wenn sie hereinkam, und ließ die angestrengten Augen auf seinem Augentrost ausruhen. Denn sie war jetzt oft so fraulich lieb, sanft und demütig.
Immer öfter wußte sie etwas von Georg Ehrensperger zu sagen.
„Er ist so gut mit mir. Viel zu gut und viel zu fein. Ich passe gar nicht zu ihm. Ich nähme ihn nie. Ach, Unsinn, er nähme mich nie. Ich und eine Pfarrfrau. Ich verstehe ihn auch gar nicht. Er sagt so sonderbare Sachen. Er glaubt manches nicht, was man glauben muß, um ein Pfarrer zu sein und das drückt ihn. Warum er es nicht glaubt, versteh’ ich nicht. Er wollte es mir erklären. Die Bibel sei etwas ganz anderes, als man gewöhnlich meine. Er ist so klug und gibt sich so viel Mühe mit mir, und gestern sagte er, ich solle ums Himmels Willen nicht denken, er sei nicht fromm. Gerade weil er fromm sein wolle, könne er nicht alles annehmen. Ganz bedrückt sah er aus. Ich habe ihn aber auf andere Gedanken gebracht. Schließlich lachte er wieder und sah mich so an, so — ich glaube, er kann mich furchtbar gut leiden.“
Der alte Riedesel saß schon lang mit der Brille auf der Stirn. „Ja, Kind, das glaube ich auch. Und wenn auch die andern flotter sind und lebiger, so ist er um so getreuer. Ich meine“ —
Aber da stand sie schon an der Tür: „Himmel, ich verschwatze mich ganz. Ich muß mit dem Karton hinunter. Die Mutter wartet auf den Samt. Heut abend bin ich zum Nachenfahren eingeladen. Ich ziehe mein blaues Satinkleid an. Nein, nicht mit ihm.“ Sie lachte. „Er ist viel zu ernsthaft und zu schwerlebig für mich, und viel zu gut. Er will mich auch gar nicht. Denke nicht daran.“ Fort war sie.
Und es kam der Tag, an dem die drei Wiblinger gen Tübingen fuhren. Jener Septembertag. Blau und golden stieg er herauf. Der alte Copist saß früh an seiner Arbeit. Er hatte es eilig. Schon zweimal war der Mediziner aus dem ersten Stock dagewesen: „Noch nicht fertig?“ Er wollte abreisen. Er war ein Sachse und er ging im Wintersemester an eine andere Universität, wohl nach Leipzig. Und Riedesel saß, schrieb und schrieb. Er hätte gern einiges da hineingeschrieben, das der Empfänger nicht an den Spiegel stecken sollte. Der hatte sich gewaltig mausig gemacht. „Fräulein Lore hier, Fräulein Lore da,“ und sich selbst eingeladen in die Ladenstube und so heimelich getan. Und nun ging er weg und tat, als ob nichts gewesen sei. „Glaubt ihr denn, das Kind habe kein Herz?“ Er knurrte vor sich hin, wie ein guter, alter Kettenhund.
Da — husch, das flog nur so, kaum hatten die alten Bretter auf dem Vorplatz Zeit zu knarren, so flüchtig gingen die Tritte darüber hin. „Herein.“ Er hob den Kopf. Kam sie so früh? „Holla, da ist sie. Und schon geschmückt, wie der junge Tag. Blau und golden.“
Ja, so war es. Die Morgensonne schien ihr gerade ins Gesicht und übers Haar. Und das Festkleid, das sie anhatte, war lichtblau.
Er blinzelte nach ihr hin. Die Augen taten ihm weh. Aber hier war etwas, an dem sie ausruhen konnten. Keine Spur irgend eines Kummers im Gesicht. Nun, ihm konnte es recht sein. Gestern abend war es anders gewesen. Er hatte nur zu trösten gehabt. „Ich gehe fort, sich will nicht mehr hier bleiben. Ich geh’ in eine Stelle; zu mindestens sieben Kindern.“ Alles wegen dieses langen und breiten Sachsen, der so viel — na ja, Lore hatte sich seine Huldigungen ja gern gefallen lassen. Aber wer hatte sie daran gewöhnt, wer?
Und nun heute früh das taghelle Gesicht. „So ist’s recht.“ Er legte die Feder hin. „Geht die Sache so bald los? Alle Achtung.“ Das war so eine Art von Besitzerstolz, was ihm aus den Runzeln seines alten Gesichts lachte. Die würden heut wieder die Augen aufmachen.
Da saß sie schon auf dem Bettrand. Vorsichtig hatte sie das Kleid glatt gezogen. Sie war zum Hausweihfest geladen. Darum war sie so geschmückt.
„Ich — ich fürchte mich halb und halb,“ sagte sie. Fürchten? Seit wann fürchtete sich Lore Maute vor einer Festlichkeit?
„Ja, vor dieser Gertrud Cabisius. Die kommt gleichfalls dazu und ihr Großvater, der Rektor Cabisius, auch. Der muß nun steinalt sein. Er war schon schneeweiß, als ich ihn das letzte Mal sah. Das ist nun dreizehn Jahre her. Was der noch bei dem Fest will? Und dann — Gertrud. Sie muß so überaus gescheit geworden sein. Sie kann alle alten Sprachen und hat alle Bücher gelesen, die es gibt, und daneben scheint es, daß sie ein Ausbund ist von allen Tugenden. Hu. Und dann ich daneben.“ Sie sah vor sich hin. Aber dann meisterte sie mühsam ein Lächeln, das ihr von innen heraus übers ganze Gesicht ging. Es half nichts, es wurde doch ein Lachen daraus. Riedesel verstand das Lachen.
„Ach, was habe ich zu fürchten?“ sagte es. „Gescheit mag sie sein, obgleich ich auch nicht dumm bin, und meinetwegen alles andere dazu. Ich aber, seht mich nur an. Ich brauche es ja gar nicht zu sagen, was ich voraus habe. Das wiegt einiges andere auf, mein’ ich.“
Aber dann wurde sie wieder nachdenklich. „Ich will nur sehen, was es heut’ alles gibt. Als die Mutter aufstand, mußte sie dreimal niesen. Nun sagt sie, es sei etwas Besonderes in der Luft. Was das wohl ist? Ich — es ist mir auch so sonderbar. Nämlich, Georg Ehrensperger — mit dem geht etwas vor. Er läuft herum, als ob er jetzt erst jung geworden sei. Das macht, er hat ein Lied komponiert, ein Festlied, das soll heut abend beim Kommers gesungen werden. Vorgestern abend war Probe. Da sind sie nachher alle auf ihn zugekommen und haben ihm zugetrunken und sind ganz stolz auf ihn. Das ist so neu. Bisher ging er immer zwischen den andern herum, so — fast schüchtern, daß er überhaupt da sei. Und jetzt ist das so.“
Sie wurde ganz warm. Ihr alter Freund und Liebhaber mußte sie nur ansehen. Unten rief die Mutter: „Lore, wo bleibst du? Komm herunter, der Herr Georg ist da.“ „Ja, gleich.“
Da knarrte es auf der Stiege und gleich nachher kam der, von dem sie sprachen, ebenfalls in die Kammer herein. Er war schon vor längerer Zeit einmal dagewesen. Nein, wie verändert sah er aus. Größer und stattlicher, und den Kopf trug er hoch und frei. Im Sammetrock, das Band über der Brust, die Mütze in der Hand.
„Lore, ich wollte dir nur sagen, daß ich jetzt an die Bahn gehe. Nachher komme ich mit Gertrud hier vorbei und hole dich ab. Dann gehen wir in meine Stube und ich spiele euch mein Lied vor, vielleicht auch sonst noch etwas. Ich wollte dir sagen, daß du dich bereit haltest. Aber du, du bist ja schon fix und fertig.“
Er sah sie lachend an und sie ihn.
Dann ging er wieder.
Und Lore stieg hinter ihm drein die Treppen hinunter. Sie dachte jetzt nicht an sich, sie dachte an ihn, der so treulich sein Erleben mit ihr teilte. Sie war so viel Schwankendes, Unechtes gewöhnt geworden, so viel leichtes Obenhinleben. Bei ihm aber stieg alles aus einem tiefen Grund heraus. Alles. Er war so ganz er selbst, ob er nun Freude empfand oder Druck und Sorgen. Er spielte nie etwas, er war immer so, wie er war. Ach, wie oft hatte sie ihn darum ausgelacht, daß er alles so ernsthaft nahm. Hatte ihn noch ausgelacht, schon als es ihr längst nicht mehr so war. Sie wollte das Neue, Ungewohnte, das Innige, das sich in ihr regen wollte, hinweglachen. Wie sie es als Kind in Frau Judiths Stube hatte weglachen wollen.
Aber nun konnte sie nicht mehr damit fortkommen.
Es saß etwas im Winkel ihrer Seele, das breitete die Arme aus nach — ja, nach was denn? Vielleicht nach Liebe. Jedenfalls nach etwas ganz Echtem.
Sie stand am Fenster und sah ihm nach, wie er über die Neckarbrücke schritt. Wenn nun alles anders wurde mit Georg Ehrensperger? „Ich kann nie eine Pfarrfrau werden. Dazu passe ich nicht ein bißchen. Ganz anders muß mein Leben aussehen. Ach — tralala, er wird ja gar kein Pfarrer.“ Es hatten schon so viele Theologen umgesattelt, gerade noch vor Torschluß. Das wissen die Mädchen in den Universitätsstädten gut. Warum sollte er es nicht auch können? Er trug ja so schwer an der Theologie. Da reihte sich plötzlich in heiterem Farbenspiel Bild an Bild vor ihren Augen. Ein heiteres, behagliches Heim, nicht glänzend, wie sie vordem oft gedacht hatte, aber freundlich und ohne Sorgen und mit ihm, der dort so aufgerichtet hinging; in den Kreisen guter, angesehener Menschen, und sie selbst, Lore, dazwischen, fleißig und häuslich, gut und lieb. Sie dachte an das Rektorhaus in Wiblingen. — Was? Ein Tropfen auf dem schönen Kleid? Wahrhaftig, noch einer. „Ich glaube gar, ich stehe hier und flenne. Das fehlte noch. Tralala. Ein bißchen eleganter muß es schon sein. Die Rektorin. Ich danke für solche Hauben und so weiter.“
Da steckte Frau Maute den Kopf zur Tür herein, fast schüchtern: „Lore, was soll ich nur tun? Ich habe gestern Abend das Paket für unsern Herrn vergessen. Es sollte auf die Post. Nun liegt es noch da. Der wird schön schelten. Könntest du nicht auf den Laden acht geben? Ich mache mich fertig und trage es hin.“
„Das tu’ ich, Mutter.“ Sie sagte es ganz freundlich. „Ich ziehe den Regenmantel über das Kleid. Nein, laß nur. Ich habe schon noch Zeit.“
Die Neckargasse ging sie hinauf, dann an der Stadtkirche vorbei. In der schmalen Gasse, die nach der Stadtpost hinunter führt, gingen zwei Studenten dicht hinter ihr. „Der Ehrensperger, der hat’s in sich.“ Sprachen sie von Georg? Ihr feines Ohr fing den Namen sogleich auf.
„Ja, der. Stille Wasser — und so weiter. Ich hätt’s nicht hinter ihm gesucht. Der Hornstein, der auch am liebsten irgendwo hinaus möchte, wo kein Loch ist, nur nicht ins Pfarramt, der sagte gestern Abend zu ihm, ich hab’s mit angehört: „Mensch, wenn ich du wäre, ich hielte nie eine andere Predigt, als so eine. Was? Musik ist auch eine Predigt.“
„Jetzt geht,“ sagte der erste Sprecher wieder, „der Mensch drei Jahre unter uns herum. Ein guter Kerl, aber ein bißchen, na — soll ich sagen, langweilig? Und jetzt zum Schluß noch so ein Glanz. Der läßt noch von sich hören, denk’ an mich.“
„Du, aber mit seiner Musik ist er immer wieder aufgetaucht. Man hat ihn nur nicht so ankommen lassen. Heut freilich“ —, da bogen sie rechtsum und Lore mußte links gehen.
Das war aber noch der Mühe wert gewesen, auf die Straße zu gehen. Das wollte sie meinen. Nun, er sollte es zu spüren bekommen, daß sie in Zukunft mehr Respekt vor seiner Kunst haben wollte. Denn, sie mußte es gestehen, sie hatte ihn oft leer abziehen lassen, wenn er etwas von ihr begehrte, ein Zuhören, ein Mitschwingen. „Ach, schaff’ etwas anderes, etwas rechtes,“ hatte sie oft gesagt und manchmal nur, um ihn zu ärgern. Aber das kam nun anders, holla.
Konnten ihn seine Kameraden ehren, — sie konnte es gleichfalls und noch ein bißchen besser.
Sie rief in Gedanken das ganze Ehrenspergerhaus, das sie so gut kannte, zum Zuhören auf. Lauter Wohlklang war es, was die beiden vorhin gesagt hatten.
Es schoß ihr eine Blutwelle bis unters Haar, als es ihr einfiel: im Frühling, als das letzte Semester anfing, da hatte er daheim in Wiblingen davon geredet, daß er am liebsten jetzt noch umsatteln und Musik studieren wolle.
Er hatte es ihr erzählt. Wie sie da gelacht hatten und gewettert und sich geschüttelt: „sonst weißt du nichts mehr? ein Musikant? aber das konnte man kommen sehen. Immer zuviel den Willen hat man dir gelassen; rein überspannt bist du geworden.“
Jungfer Liese lebte damals noch und schüttelte den Kopf: „all’ das verstudierte Geld.“ Und die Schwägerin: „du denkst wohl, das finde man hier auf der Gasse?“ Und der Müller Hensler: „Kopf hoch, Bub, wenn man noch so sagen darf. Jetzt hast auf den Pfarrer studiert und jetzt wirst einer. Trink eins; das sind Grillen, die muß man fortschwemmen.“
Sie wußte es wohl noch, sie, Lore Maute, hatte mit eingestimmt, als er es sagte: „Ach, das wirst du doch nicht im Ernst wollen? Du sinnst dir auch Sachen aus. Aber so bist du immer gewesen. Ganz recht haben deine Leute.“ Er aber hatte darauf, halb zaghaft und halb trotzig geschwiegen und war bisher im alten Gleise weitergegangen. Es war nur eine Scheu vor dem einen, eine Sehnsucht nach dem andern in ihm, keine stürmende Gewalt, ein Möchten, kein Müssen.
Aber nun war es auf einmal, als breche sich etwas mächtig Bahn.
„Nur schnell, nur schnell nach Hause. Denn ich muß da sein, wann er kommt. Ich will mich weder vor Gertrud, noch vor sonst jemand scheuen. Ich habe viel hereinzuholen, und das will ich auch.“
Ging da der Mieter, der lange Sachse? Er sah über die Straße herüber und grüßte und sah sich noch ein paarmal nach ihr um. Das sah sie mit einer Viertelswendung des Kopfes. Ein kleiner Stich ins Herz — ach, so lauf doch. Sie hatte ihn ja nie ganz ernst genommen. Sie hatte nie zuvor irgend jemand ganz ernst genommen, es war immer ein wenig Spiel dabei gewesen trotz manches Kummers und mancher Wünsche und Hoffnungen. Aber so blieb es nicht immer. Nein, so blieb es nicht immer.
Die drei Wiblinger fuhren mit ihrem Wägelchen bei einem alten Bekannten vor, der einst mit dem Vater Ehrensperger auf der Wanderschaft gewesen und somit auch eine Art Studiengenosse von ihm war, sozusagen, da es heut schon so akademisch zuging. Jetzt hatte er einen Mehlhandel, den indessen seine Frau besorgte und der ihm Zeit genug ließ, sich einer kleinen Weinwirtschaft zu widmen, die er in einem niedrigen, halbdunklen Loch von Wirtsstube hielt. Es verkehrten da hauptsächlich Handwerksleute, die etwa einen Zwischentrunk unter die Arbeit hinein tun wollten und die ganz ohne Umstände in Schurz und Hemdsärmeln kamen, und solche, die sich zu einem stillen, dauerhaften Abendschoppen versammelten. Ihnen allen widmete sich der frühere Wandergenosse auf die Art, daß er sich sowohl zu den Morgen-, als zu den Mittags- und Abendgästen fest und beharrlich hinsetzte und ihnen bei der Trinkung seines Weines mit eigenem Beispiel voranging. Auch hielt er für den allgemeinen Nießbrauch eine birkene Schnupftabaksdose von riesigen Dimensionen im Umlauf, daraus konnte jeder Gast nach Belieben schnupfen und sich so das Hirn erleichtern, das ihm irgendwie schwer war. An diesem Tagewerk nun trafen die drei Wiblinger den Wirt und setzten sich sofort zu ihm nieder, um die alte Bekanntschaft aufzufrischen. Franz der Ältere und der Müller Hensler waren auch bald in einem Fahrwasser, das ihnen ganz vertraut war, indem sie mit aufgestützten Ellbogen an dem runden Tisch saßen und einmal übers andere mit dem früheren Wandergenossen anstießen, im Übrigen aber vorläufig die Mitwelt sich selbst überließen. Sie wurden noch um ein Weniges vergnügter und bekamen, — denn der Wirt war gleichfalls ein kurzer, breiter, dicker Mann und von ähnlicher Beschaffenheit, wie die Wiblinger, — alle drei rote Köpfe, und saßen so wie drei Leuchtkugeln in dem dunklen Loch von Wirtsstube.
Franz der Jüngere aber hatte sich ans Fenster gesetzt, um die Vorübergehenden zu betrachten, und war nicht gesonnen, den schönen Vormittag hier zu versitzen. Als er nun eine Weile so durch die Scheiben gesehen hatte und eben bei sich erwog, wie er den Alten, die ihm zu seßhaft wurden, für eine Weile davon und an den Schauplatz der heutigen Festlichkeiten kommen könne, da sah er unvermutet seinen Bruder Georg in der engen Gasse auftauchen. Er schritt einher, wie einer, der wohl weiß, daß die Welt ohne ihn nicht ganz das wäre, was sie nun ist, in festlicher Kleidung, mit Band und Mütze und mit einem hellen, heiteren Gesichtsausdruck. Er schien in diesem Augenblick der Aufmunterung nicht zu bedürfen, oder vielmehr schien er die Aufmunterung, die ihm taugte, selbst mit sich zu führen. Denn rechts und links von ihm gingen zwei Mädchengestalten, mit denen er in eifrigem Gespräch begriffen war und alle drei schienen sich schon in der erwünschtesten Feststimmung zu befinden, so verschieden sie auch sonst von einander sein mochten.
Eins der Mädchen kannte Franz; das war Gertrud Cabisius. Sie trug ein einfaches, hellgraues Kleid und schritt in ihrer bekannten, aufrechten Haltung und mit festen Tritten, denen man übrigens die Elastizität, die die Freude gibt, wohl anmerkte, neben Georg her. Franz sah aber flüchtig über sie weg. Da war die andere, die er nicht kannte. Oder doch? Oder sollte das die Lore sein? War so etwas möglich? Die war in ein lichtes Festgewand gekleidet und schien die düstere Gasse ganz zu erhellen, so leicht und hell und überaus anmutsvoll schwebte sie dahin.
Alle Wetter! sagte Franz und nahm seinen Hut vom Nagel. Es galt, er mußte sich sputen, die drei gingen rasch die Straße hinab, er konnte sie aus den Augen verlieren, wenn er säumte.
Die Alten sahen erstaunt hinter ihm drein. „Bleibt hier sitzen, bis ich komme,“ rief er noch unter der Tür. „Es ist der Georg, ich bringe ihn dann mit.“
Da blieben sie denn sitzen. Es war geschickt so, sie hatten ohnehin schon ihre Zweifel gehabt, wie der Student heut werde aufzufinden sein. Denn sie mußten es sich ja gestehen, sie hatten es ihm nicht mitgeteilt, daß sie kommen wollten.
„Glück muß der Mensch haben,“ sagte der Müller Hensler, und darauf stießen sie alle drei an. Nun konnten sie das Übrige vollends erwarten.
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*
Georg Ehrensperger, der konnte heut einmal aus dem Vollen leben. Es war kein Wunder, daß er aufgehellt aussah.
Rechts hatte er Gertrud Cabisius, und links Lore, und sie gingen wie ein schönes Doppelwesen, das zu ihm gehörte, mit ihm. Er führte sie in seine Stube und als er sie da hatte, da sah er von einer zur andern mit stolzer Freude und hätte am liebsten aus drängendem innerem Vergnügen heraus einen Purzelbaum geschlagen; aber das erlaubte dann wieder die sieghafte Männlichkeit nicht, in der er sich neuerdings befand.
So hatte er sich das hundertmal ausgedacht: Da saßen sie beide nebeneinander, Lore in ihrer funkelnden Schönheit und in guter, freundlicher Stimmung, lieb und lachend, wie sie oft, aber nicht immer war, und Gertrud in ihrer festen, geraden, klugen Art, die so sicher und selbstverständlich zu ihm gehörte, und die heute noch von einer festlichen Freude überglänzt war, so daß er sie nur ansehen mußte.
Es schien ihm, da er sie so beisammen hatte, alle Fülle unter sein Dach eingekehrt zu sein; denn was er an der einen manchmal vermißte, das hatte die andere an sich, und so bildeten sie ihm miteinander einen reichen Hort von Holdseligkeit, Liebe, Freundschaft und ernster stiller Klugheit, den er hätte am liebsten immer in erreichbarer Nähe behalten, um bald das eine, bald das andere nach Bedürfen daraus zu entnehmen.
Das war nun zwar nicht wohl möglich. Da er die beiden aber wenigstens zu dieser Stunde so erfreulich beisammen hatte, so konnte er sich für den Augenblick aller weiteren Gedanken entschlagen und die schöne Gegenwart genießen.
Er tat sein Möglichstes dazu. Er wollte so gern für heute, nur einen Tag lang, alle ernsten Pflichtgedanken in den hintersten Winkel seines Bewußtseins verschließen. Morgen, da mußte er sie ja wieder hervorholen. Er warf einen scheuen Blick nach den Büchern, die auf einem Tisch in der Ecke aufgestapelt lagen.
Dort drinnen lag ein ganzes Heer von Geistern und Geistchen verschlossen, und sie waren ihm nicht alle freundlich gesinnt. Lange nicht alle. Er hatte sie zum Teil etwas vernachlässigt, das ließen sie ihn empfindlich fühlen. Manche schienen ihm so trocken, wie der Wiblinger Feuersee an heißen Sommertagen, und manche so eigensinnig und widerspruchsvoll wie ein alter Schafbock. Manche aber, das war das Schlimmere, standen vor seinen Augen auf und wurden groß, immer größer und sahen ihn streng und ernst an.
„Lehre,“ sagten sie, „predige. Du weißt doch alles, was zu glauben ist? Du glaubst es doch? Nicht? Du sollst aber. Eidlich sollst du es versprechen. Vom Höchsten und Tiefsten sollst du reden, was es gibt: von dem Gott, der in und hinter allen Dingen ist. Aber nicht so geheimnisvoll. Klar und deutlich sollst du es sagen: Was? Das kann man nicht? Das kann man wohl. Du tust, als ob es keine Offenbarung gäbe, du. Du hast dich nicht mit uns auseinandergesetzt, wie du solltest.“
Ach nein, das hatte er nicht. Er hatte mit diesen Riesen nie recht gerungen. Er war ihnen öfters davongelaufen, denn er fürchtete sie. Es ging ihm, wie Mose, als er zum Ägypterkönig sollte: „Sende, welchen du willst.“
Nur, Mose war dann schließlich doch gegangen. Er aber? Was wollte aus ihm werden? —
„So, jetzt will ich mein Lied spielen. Hört zu.“
Als er mitten drin war, klopfte es und dann trat sein Bruder Franz herein.
„Nein, aber ihr seid gelaufen. Ich verlor euch auf einmal aus den Augen. Ein paar kleine Buben haben mir den Weg gezeigt. Grüß Gott übrigens.“
Er lachte, vergnügt und halb verlegen, daß er so plötzlich da sei. Denn hier fühlte er sich nicht so sicher, wie zu Hause. Er mußte hier den Jüngeren gelten lassen, dessen Geist sozusagen um die Wände webte. Es war doch ein anderes Verhältnis als in Wiblingen. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er hatte immer noch einen steil aufstrebenden Schopf.
„Der Vater ist auch hier und der Müller Hensler,“ sagte er. „Wir haben die Einladungskarte erhalten, da gedachten wir mitzufeiern.“
Bei diesen Worten sah Lore prüfend zu Georg hinüber. Ja, das hatte sie wohl gedacht, er hatte richtig die kurze, gerade Falte zwischen den Brauen. Die hatte er, wann er sich ärgerte.
Er dachte wohl, er hätte die Seinigen lieber an einem andern Tag empfangen? Er sah so aus. Die Bemerkungen des Müllers Hensler entbehrten oft eines gewissen Taktes, und die beiden Franze, Vater und Sohn, — nun ja, er hätte sie lieber ein andermal in dem neuen Haus umhergeführt.
Aber dann warf er plötzlich den Kopf zurück und sein Blick begegnete dem Lorens. Sein Lied, ja, das durften sie wohl hören; das war ja gerade geschickt. Sie sollten nur staunen, wie er in Ehren stand unter seinen Genossen. Und überhaupt, hinweg mit allem Ärger, heute sollte alles hell und freudig sein und war es auch.
Lore nickte ihm zu; so warm und so ermutigend.
„Ach, sei nur zufrieden, das machen wir alles. Laß mich nur sorgen. Du weißt, wenn ich will, — und ich will, — niemand und nichts soll dir heut die Festfreude stören.“
Das sagte sie alles mit einem raschen Blick und dann wandte sie sich triumphierend an Franz. Wie ehrlich entzückt der sie ansah. Er dachte gar nicht daran, seinen Augen irgend einen Zwang anzutun.
„Ja, ja,“ sagte sie und lachte. „Da ist nichts zu fragen und nichts vorzustellen. Das sind wir, beide. Müssen wir „Sie“ zueinander sagen? Ich meine nicht. Wir sind doch Nachbarskinder gewesen, und dann sind Georg und ich auch so gute Freunde.“
Ja, dagegen hatte Franz natürlich nichts einzuwenden. Es konnte ihm nichts lieber sein. Mächtig gemütlich war das. Das war ein Mädchen. Sie fing sofort an mit ihm zu plaudern. Und dann unterbrach sie sich plötzlich: „Wir müssen still sein, denn nun spielt uns Georg sein Lied vor. Fang noch einmal vorne an, Georg. Ja, du, Franz, heut müssen wir stolz auf ihn sein. Das wißt ihr in Wiblingen wohl noch gar nicht?“
Nein, davon wußten sie in Wiblingen nichts. Sie waren hergefahren, um ihn aufzumuntern. Er hatte doch sein Examen noch nicht gemacht? Worauf denn stolz?
Und dann saß Georg wieder am Klavier und spielte. Wenn er aufsah, dann fiel sein Blick auf Gertrud. Die hatte den Kopf vorgeneigt und horchte. Den Arm hatte sie leicht auf das Klavier gestützt. Er sah, daß sie sich mitfreute, als ob das Lied ihr eigenes wäre und daß sie alles verstand, was er darin zum Ausdruck bringen wollte. Das belebte ihn so, daß er sogleich fortfuhr und, wie er am liebsten tat, ein wenig phantasierte.
Hinter ihm saßen auf dem Sofa Bruder Franz und Lore. Zweimal ging die Tür. Einmal kam Meister Riedel herein. Den hatte er im Heraufgehen gebeten, zu kommen, denn er wollte ihn gern mit Gertrud bekannt machen. Er hatte ein sauberes Wams angezogen und sein blauer Schurz war neu. Er ließ sich dicht neben der Tür auf einen Stuhl nieder. Das zweite Mal kam der Rektor Cabisius. Er winkte mit der Hand, Georg solle fortfahren: „Wir sprechen uns dann nachher.“ Ja, das dachte Georg auch; aber unwillkürlich ging das auch in sein Spiel über, was er nachher bereden wollte.
Gertrud verstand ihn auch jetzt. Sie hatte einen besonderen Sinn des Verstehens für ihn.
Wie reich bin ich heut, — sagte ihr sein Spiel. — Alles ist um mich, was in Wahrheit zu mir gehört, alles ist freudig und freundlich. Ach, wie schön ist das Leben, eine Fülle hat es, auch für mich. Wo ist das Öde geblieben, das Leere, Hungrige? Wo ist das machtlose Nichtkönnen? Hohe, starke Wellen schlägt das Leben, und ich — ich werfe mich in die Fluten. Es trägt mich, — ja, es trägt mich.
Dann schlug er weiche, leise Töne an.
Hilf mir, guter Geist, sagten sie. Was soll ich tun? Es ruft mich nach zwei Seiten. O Gott, du frommer Gott, du Brunnquell aller Gaben. — Ja, da war wirklich die Choralmelodie dazwischen und rief nach einem Rat, nach einer Klarheit.
Ich, — ich sehe dich nicht, wie du bist. Aber ich will dir dennoch dienen.
„Du Lieber,“ dachte Gertrud, „versuch’ es nur, fang nur an. Es wird dir schon gelingen.“ Sie dachte wohl an das Examen und das Pfarramt. Georg sah plötzlich in ihr Gesicht, und irgend etwas drin reizte ihn. Sie sah so mütterlich-verständig aus.
Und auf einmal brach die zarte Melodie ab, die wie das Rufen einer Kinderstimme geklungen hatte: hilf mir, guter Geist, — und es tat ein paar rasche Schläge, hinunter — hinauf, dann brach ein Wetter aus dem Klavier.
„Ich will nicht immer sollen und müssen. Still. Laßt mich. Laßt mich meiner Wege gehen. Ich will es ergreifen, das, was mein ganzes Wesen will. Ich will es erreichen.“
Es war, als ob einer alles Schöne an sich risse mit einer drängenden Leidenschaft des Lebens.
„Jetzt geht es mit ihm durch,“ dachte Gertrud.
Sie war warm verständnisvoll mitgegangen bisher. Sie versuchte, auch das zu verstehen. Denn er brach immer von Zeit zu Zeit einmal über die Ufer, wie ein Bach im Frühling. Das war ihr so bekannt, daß sie lächeln mußte, wie jemand, der plötzlich an einem bärtigen Mann das Kindergesicht von ehemals wieder in irgend einem Zug entdeckt. Nur, es war diesmal ein verzweifelter Ernst darin, vor dem sie dennoch erschrak.
„Was hat er im Sinn?“ Mit einem jähen Aufschrei brach das Spiel ab. Da sprang Georg auf. Meister Riedel bewahrte den Stuhl vor dem Umfallen und dabei trafen seine Augen Gertruds Gesicht. Und er trat zu ihr und bot ihr die Hand und sie hatten von diesem ersten Augenblick an ein Wohlgefallen aneinander.
Lore war zu gleicher Zeit aufgesprungen. Wie Feuer brach es aus ihren Augen, sie atmete rasch und erregt. „Du,“ sagte sie, und achtete nicht auf die andern und streckte Georg beide Hände hin, „du bist anders als ich meinte. Du bist auf einmal aufgewacht. Du führst das alles aus, was du dir vornimmst. Das Letzte, das war schön. Das hab’ ich ganz verstanden.“
Jetzt war nichts Vorsätzliches, Bedachtes in ihr. Das Leidenschaftliche, das hatte sie aus allen Gedanken gerissen.
Ach, wie schön erschien sie ihm so. Und sie hatte ihn verstanden. Georg hätte sie am liebsten in den Arm genommen. Es sprangen Funken herüber und hinüber, aus ihren Augen in die seinigen, aus einer Seele in die andere.
Und in diesem Augenblick geschah es, daß Georg Ehrensperger mit Wissen und Willen eine neue Richtung in seinem Leben einschlug. Er ist sich sein Lebenlang der merkwürdigen Vorgänge dieses Augenblicks bewußt geblieben, da es ihm vor den Augen flimmerte und in Hirn und Herzen brauste vor dem Wogen und Wallen seines aufgestörten Blutes, und da doch unten in seiner Seele ein klarer, kühler Entschluß aufstieg: ich tue es.
Wie in einem Spiegel sah er sich: es ist nicht nur die Scheu, von inneren Dingen zu reden und nicht nur der Mangel an rechtmäßigem, erforderlichem Glauben, der dich abhält, in das Pfarramt zu treten, sondern noch viel mehr ein starker Zug in das weite und breite Leben hinaus, dessen Beschaffenheit du noch gar nicht kennst, und ein Wille, die reiche Welt ans Herz zu nehmen und ihren Pulsschlag zu erlauschen, auch da, wo sie nicht von geistlichen Dingen redet.
Zugleich aber fühlte er den starken Trieb, männlich in die Reihen zu treten und doch auch etwas zu leisten, das die Welt ohne ihn nicht hätte, etwas, das ganz und wahrhaftig seinem eigenen Wesen entspräche und also auf Wahrheit beruhe von innen heraus.
Es schien ihm, als ob aller Zweifel und alle Unklarheit seines Wesens von diesem Augenblick an abgetan sei, da er sich entschlossen hatte, die Gabe, die ihm als seine eigenste vorkam, zur Aufgabe und Führerin zu machen, koste es, was es wolle. Freilich sah er das alles zusammengefaßt als in einem Brennpunkt in den leuchtenden Augen des schönen Mädchens, das ihm darum von der Minute an so sicher und fest zu seinem neuen Weg gehörte, wie ein glänzender Stern, nach dem ein Wanderer die Richtung einhält.
Er bedurfte aber nicht so lang, um dies alles von sich zu wissen, als es Zeit braucht, es zu erzählen. Sondern in wenige Sekunden drängte sich die neue Erkenntnis zusammen, die ja freilich vorbereitet in ihm gelegen war. Es war, als ob jemand ein brennendes Streichholz an ein sorgfältig aufgeschichtetes Feuerholz gehalten hätte. Es flammte auf und brannte sogleich, hell und ohne Einhalt und gab nur wenig Rauch. Er hörte zu, was der Rektor Cabisius sagte, gab über dies und das Bescheid, und wußte nicht, daß sein junges, offenes, erregtes Gesicht so gar nichts verbergen konnte.
„Ich will hingehen und sie für mich gewinnen. Es ist ein Wunder, daß ich es kann. Sie ist für mich gewachsen, ich weiß es seit dieser Stunde. Und wenn ich sie habe, dann habe ich auch Melodien. Lauter Lieder von Freude, Jugend, Leben und Liebe habe ich dann. Lauter Lieder von der Schönheit. Wie ein quellender Brunnen wird sie für mich sein, aus dessen blinkender Flut ich unaufhörlich schöpfen kann. Und Gertrud. Gertrud geht mit uns beiden, wie bisher mit mir. Sie ist mein bester Kamerad. Das wird ein Leben.“ So dachte er und das trat ihm in die Augen, das machte sein ganzes Gesicht warm und glücklich.
„Du Lieber,“ dachte der Rektor, „du bist mir wie ein Sohn. Ich darf dich nicht halten. Ich muß dich dein Leben selbst erleben lassen. Schwer ist es. Ich möchte dir weite Umwege ersparen, denn das machst du. Aber ich darf nicht. Du möchtest dich sonst noch schlimmer losreißen. Ach, möchte ich noch für dich da sein, wenn die hohe Flut verlaufen ist. Siehst du, du willst alles mitnehmen. Satt trinken willst du dich an der Freude. Schaffen willst du und meinst es zu können, weil die Saiten deiner Seele zittern von Liebe und Leidenschaft und Begeisterung. Aber das Große, Echte, das wird nicht so leicht geboren. Und du bist nicht mit dem Geringeren zufrieden, du kannst es nicht sein, dazu ist dein Geist zu hungrig und zu tief.“
So waren der Beiden Gedanken, und daneben sprachen sie von dem neuen Haus und den Bundesbrüdern und kamen auch auf das Examen. Und auf einmal sah der Jüngere, wie warm und liebend die alten Augen auf ihm lagen, und er faßte die Freundeshand.
„Ach, ich möchte dir so viel sagen, alles.“
Da trat Gertrud zu ihnen.
„Wollen wir nun gehen? Es wird Zeit sein. Wir wollen doch dabei sein, wann der Schlüssel übergeben wird.“
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Im Glanz der Septembersonne lag das neue Haus. Es war ein Stück weit den Österberg hinangestiegen, um besser auf die alte Stadt, auf den schimmernden Fluß und auf das sonnige Tal heruntersehen zu können. Die neue Fahne in den Verbindungsfarben wehte, von einem leichten Lüftchen bewegt, die hellen Fensterscheiben glänzten; Kränze und Girlanden hingen an allen Türen und Fenstern.
Der Baumeister übergab den Schlüssel. Die Rechnung übergab er ein anderesmal. Der Rektor Cabisius als der älteste der alten Herren steckte den Schlüssel ins Schloß und öffnete die Tür, und sagte, was ihm der Augenblick eingab, als er alle die jungen und die alten Männer sah, die bereit waren, über die neue Schwelle zu schreiten.
Davon redete er, daß das Haus ein gemeinsamer Hort für sie alle sein solle, in dem sie sich zusammenfinden könnten, um sich immer neue Lust und neuen Mut zu allem Großen und Guten beieinander zu holen. Gott und den Menschen wollten sie dienen, jeder mit seiner Gabe; keiner sei nur für sich selbst da; auf jeden warte die Menschheit irgendwie. Kein Pfund solle vergraben, keine Kraft vergeudet, keine Fähigkeit ungenützt gelassen werden. Dazu wollten sie sich in Freundschaft verbinden.
Er sagte noch mehreres, worauf die Alten den Jungen und die Jungen einander die Hände reichten. Es war viel froher und ernster Mut zu starkem und rechtem Tun beisammen zu dieser Stunde. Und darauf floß der Strom der Verbrüderten und ihrer Gäste über die Schwelle. Gesänge erschallten, Scherz und Lachen und fröhliches Staunen füllte die Räume, Freude blitzte aus den Augen, Freunde fanden sich zusammen, sowohl junge als alte. Gertrud Cabisius stand dicht neben ihrem Großvater. Leise schob sie ihre Hand in seinen Arm. Wie schön war das alles. Wie weitete es ihr das Herz. War nicht Freundschaft, die sich in allem Großen und Guten fand, das Schönste, was es geben konnte? Da kam er, der ihr Freund und Bruder gewesen war, seit sie denken konnte, auf sie zu: „Was sagst du dazu, Gertrud? Was sagst du zu dem allem?“ Er hatte zwei oder drei Studenten bei sich und machte Gertrud mit ihnen bekannt. „Ihr wißt von ihr, ihr kennt sie; sie ist gescheiter, als wir alle. Sie ist meine ganz gute Freundin.“
Was sie dazu sagte? Es war, als ob das große Studentenbild in des Großvaters Stube lebendig geworden sei und sich hier herum bewege. Diese Menschen kannte sie alle. Sie hatte keinen von ihnen je gesehen, aber darum kannte sie sie doch. Sie, die nie dazu gekommen war, Mädchenfreundschaften zu pflegen (die lahme Kameradin aus der Volksschule ausgenommen), sie hatte das Gefühl, als ob sie diesen allen wesensverwandt sei. Hoch und stark klopfte ihr das Herz. „So gefällst du mir,“ sagte Georg zufrieden. „Du warst vorhin so finster.“ „Finster?“ „Ach nein, nicht gerade, aber so ausgelöscht. Ich sehe es so gern, wenn du ein vergnügtes Gesicht machst.“
„So?“ Sie lachte. Ja, das war vorhin auch nicht schön gewesen, was ihr geschwind übers Herz gekrochen war, als sie Georg und Lore miteinander beobachtet hatte. Eine ganz ungewohnte Empfindung. Eifersucht? Gertrud Cabisius und eifersüchtig? Ach, Unsinn. Sie brauchte es ihm zum Glück nicht zu sagen und wischte die noch einmal aufsteigende Erinnerung daran hinweg, wie einen Staubfleck vom Kleide. Das fehlte noch.
Einer der jungen Männer trat zu ihr hin und es stellte sich heraus, daß es ein alter Bekannter von der Wiblinger Lateinschule war und daß Gertrud mit ihm auf den Bänken gesessen hatte — einst: Fritz Hornstein, den sie hinter seinem Bart nicht mehr erkannt hatte.
Natürlich sprachen sie von Georg, und natürlich sprachen sie von ihrer gemeinsamen Kindheit. Georg und immer Georg.
„Wie warm sie wird,“ dachte Fritz Hornstein. „Wie natürlich und offen sie ist. Es ist kein Wunder, daß er stolz auf sie ist. Sie ist ein feines Mädchen.“
Als sie sich trennten, gab er ihr die Hand. Er hoffte, sie heute noch öfter zu sehen.
Ja, das hoffte sie auch. Es sollte sie freuen. Sie war nicht im mindesten befangen oder schüchtern, sie, die nie sonst in Gesellschaft kam.
„Ach, Großvater, ich wollte, ich wäre einer von diesen.“ Sie hing sich an seinen Arm. „Sind sie nicht glücklich?“
„O, Kind.“ Er strich ihr sachte über das Haar. Warum mußte ein Becher voll bittern Leides auf sie warten, da sich ihr Herz so willig jeglicher Freude erschloß? Er sah es kommen, daß sie von diesem Fest nicht so fröhlich heimging, wie sie gekommen war. Aber er hatte keine Macht, irgend etwas zu verhindern, was geschehen sollte. Er wußte, daß man das nicht konnte. Gott allein wußte, wie der Menschen Wege gehen sollten; er wußte, wo sie irren und sich täuschen und sich vergebliche Mühe machen mußten.
„Es muß ein Sinn in dem allem liegen, den wir nicht verstehen. Das Leben ist wie ein Gewebe, dessen Rückseite so verworren aussieht. Und alles, was wir tun können, ist: zu vertrauen, daß es von vorne klar und schön sei und daß der Weber keinen Webfehler machen werde.“
„Ja,“ schloß er sein Selbstgespräch, „und vielleicht wird es uns eines Tags von vorne gezeigt.“
Das letzte hatte er halblaut gesagt.
„Großvater, was willst du von vorne sehen?“
Gertrud machte ein fragendes Gesicht.
Aber nun bekam sie keine Antwort.
**
*
Sonne überall. Sonne über der ganzen alten Stadt, Sonne auf der Straße nach Niedernau, Sonne über dem Reitertrupp, der dahinsprengte, auf einigen braven, wackeren Gäulen und auf einigen alten, dürrbeinigen Kleppern, Sonne über den offenen Wagen, die nach einander hinausfuhren, alle voll fröhlicher, festlicher Menschen, Sonne über dem grünen Wiesenplan, Sonne auf den Angesichtern und in den Herzen.
Wer wird an einem solchen Tag an Schatten denken? Alles ist voll Licht und Farben, alles ist in Bewegung. Bunte Mützen und Bänder, helle Mädchenkleider, helles Mädchenlachen, Musik erklingt und fließt über die Wiese hin, auf der Wiese tanzen fünfzig Paare, nein, mehr. Wer hat sie gezählt?
Der Müller Hensler tanzt auf kurzen, flinken Beinen zwischen all’ den jungen Leuten herum; er hält die Putzmacherin Maute umfaßt, die ein Stück größer ist als er und in einer grünseidenen Bluse steckt. Alle Wetter, sie tanzt wie ein junges Mädchen, er muß ihr einmal auf den Rücken klopfen, um ihr seine Bewunderung zu zeigen. „Ja, das hat schon Maute immer gesagt. Henriette, hat er gesagt, wenn du sonst nichts könntest, tanzen, das kannst du.“
Ja, das wollte der Müller Hensler meinen, das konnte sie. Und Franz ist dazwischen und tanzt mit Lore, das heißt, wenn er sie bekommen kann; denn sie geht aus einem Arm in den andern. Herrlich sieht sie aus, jede ihrer Bewegungen ist Leben und Lust und Grazie, und sie wird weder heiß noch rot vom Tanzen. Leicht und ruhig atmet sie, sicher und überlegen geht sie mit den jungen Leuten um; aber wenn sie zu Georg kommt, dann ist sie anders. Dann sagen ihre Augen: „Siehst du mich? siehst du, daß ich schöner bin als alle? Das bring ich alles dir; ja, ja, staune nur; wage nur, frage nur.“
Und andere junge Mädchen sind da und gleiten über den Rasen, einfache, warmherzige, frische Geschöpfe, Schwestern der jungen, oder Töchter der alten Bundesbrüder, Lust und Frohsinn in den Augen, Lachen auf den Lippen. Und es kommt auch die Alten an und siehe da, der Rektor Cabisius erinnert sich noch eines Maienfestes vor sechzig — oder beinah sechzig Jahren, an dem er ein kleines Schulmädchen herumgeschwenkt hat, ein mageres, braunes Ding mit einem langen Zopf. „Wissen Sie noch, Frau Oberamtspfleger? Was meinen Sie, wir könnten’s noch einmal probieren.“
Wie sie sich wehrt, die alte Frau mit dem runzeligen Gesicht, und wie ihr Gatte, der rund und klein ist und engatmig, lacht und sie antreibt, und wie schließlich — „es ist ja nur zur Erinnerung,“ und anders ist es auch nicht — die beiden alten Leute ein Tänzchen machen. Wie sie junge, rührend junge Gesichter bekommen, alle beide. Wer hat zugesehen und hatte ein Mißfallen daran? Ach, niemand, niemand als der dürre, vertrocknete Professor Kauz, der die Lippen zusammenkniff und den Kopf schüttelte und sagte, daß das Alter zu ernst sei für solchen Tand. Er ist aber wohl niemals so recht jung gewesen, der Arme.
Und da waren außer den Tanzenden noch viele, viele Menschen, die zusahen. Sie saßen an Tischen und aßen und tranken, und gingen umher und unterhielten sich und taten, wie ihnen gefiel. Unter ihnen war Gertrud Cabisius. Wie ihr die Jugendlust durch die Adern strömte. Wie sie alle diese hellen Bilder in sich hinein gehen ließ. Ach, war sie denn seither nicht jung gewesen? Hatte man vergessen, ihr zu zeigen, wie junge Mädchen leben? Hatte sie selber nicht gewußt, daß sie ein junges Mädchen sei? Schlicht und glatt zurückgekämmt trug sie ihr Haar, einfach, fast schmucklos war ihr graues Kleid, ernsthaft, schwer und verständig ihr Denken, pflichtbewußt ihr Sinn. Hohe Ideale trug sie in sich, groß und weit war ihr Anschauen von Welt und Menschen, in wenige, starke und tiefe Züge faßte sich ihr Gemüts- und Herzensleben zusammen. Wo aber war das Weiche, Lachende, Harmlose der Jugend, das Zierliche, Leichte, Beschwingte, das diese Mädchen alle dahintrug, wie es ihr schien?
Gertrud konnte nicht tanzen und sie wagte auch nicht es zu versuchen, so oft auch einer der jungen Männer kam und sie bat. Nein, das konnte sie ja doch nicht. Sie war keins dieser leichten, heiteren Wesen, sie war anders als sie alle. Georg hatte es oft genug gesagt, aber nun sah sie es auch.
Doch, was schadete das? Noch war es Zeit, sich zu freuen, noch war sie ja jung, noch war nichts versäumt. Es brannte etwas in ihr. Heran mit der Freude und herein. Gertrud Cabisius tut ihr die Tore ihres Herzens auf. Es wartet etwas in ihr auf ein großes Werde, wie die Erde am Morgen auf den Sonnenaufgang wartet. Aber schickt die Sonne nicht das Morgenrot voraus? Färbt sie nicht die tausend kleinen mutwilligen Lämmerwölkchen rosig und golden? Es ist ein großer Augenblick, wann die Sonne kommt. Aber es geht nicht in der ganzen Natur so überaus feierlich und ernsthaft zu dabei. Es ist Raum für alles Frohe, Leuchtende, Lachende.
„Ja, das ist ja wahr,“ sagte der Großvater, „das Tanzen, das hast du ja nie gelernt. Rein vergessen hat man das.“ Er sah ein wenig hilflos aus. Zu Hause hatten sie nie an dergleichen gedacht.
„Vielleicht könntest du es doch, wenn du es nur versuchen wolltest. Meine Schwestern, als sie jung waren, pflegten miteinander auf dem Speicher zu tanzen, nur nach einer Mundharmonika, die mein Bruder zu blasen verstand. Sie hatten es in sich. Das liegt ja im jungen Blut.“
Ja, aber nicht in dem ihrigen. Das war doch wohl zu schwer dazu. Die Jugendlust hatte sie mit ihren Schwingen gestreift, und etwas in Gertruds Wesen antwortete ihr. Aber darum konnte sie nun doch nicht sogleich auffliegen. Das muß auch geübt sein.
Doch, zu dem allem war ja noch Zeit.
Fritz Hornstein kam und brachte noch einen Freund mit, Ernst Daxer, und da sie beide keine Lust hatten, „noch länger herumzuspringen“, wie sie sagten, so richteten sie sich gemütlich zum Zusehen ein und kamen auch bald in ein lebhaftes Gespräch, da konnte Gertrud denn von Herzen mittun. Und der Rektor Cabisius kam dazu und brachte seine alte Jugendbekannte mit und der Gatte der Jugendbekannten kam und wollte sich seine Frau nicht entführen lassen, und hatte in jeder Rocktasche eine Flasche Wein. Da lagerten sie sich an einem grünen Rain, fast am Waldrand und wurden so angeregt, daß Georg Ehrensperger, als er nach einiger Zeit auf der Suche nach Gertrud hierherkam, fast eifersüchtig sagte: „Hier geht’s ja herrlich ohne mich. Hier werde ich ja wohl gar nicht vermißt?“
Doch, das wurde er. Und Gertrud war zu einfach, um es nicht zu sagen. Sie hatte ihm immer nachgesehen, so lange er sich mit Lore im Reigen gedreht hatte, und so lange er an dem Tisch der Wiblinger gesessen war.
„Du bist nur so in Anspruch genommen,“ sagte sie.
Da war er froh, daß sie ihn vermißt hatte. „Das bin ich,“ sagte er. „Ich weiß nicht, wo anfangen. Ich bin froh, daß ihr über Nacht bleibet. Denn ich muß noch mit dir reden. Jetzt? Ja, jetzt kann ich nicht. Ich bin jetzt nicht ruhig genug dazu. Ich bliebe ja gern hier.“
Da stand schon Lore neben ihnen.
„Ach, es ist jammerschade, Gertrud, daß du nicht tanzen kannst. Wärest du nur früher gekommen, ich hätte es dich gelehrt.“
Sie schlug Georg leicht auf den Arm.
„Dich hab’ ich’s auch gelehrt, nicht? Es ist schade, Gertrud.“
Das war es, das dachte sie auch. Aber als sie sich besann, da war es doch nur darum, weil sie nicht mit Georg tanzen konnte. Nun hatte sie immer alles mit ihm geteilt, alles Ernsthafte, Pflichtgemäße, alles Große, Starke, alles Schwere, Drängende, Hungrige. Mußte sie nun auf der Seite stehen, wenn er leicht und froh und heiter war? Mußte sie andern überlassen, mit ihm fröhlich zu sein? Das war einen Augenblick ein bitteres Gefühl. Aber hinweg damit.
„Ich bin das alles nicht gewöhnt. Ich komme völlig aus dem Gleichgewicht. Ich will froh sein, wenn Georg nach dem Examen zu uns kommt. Das soll schön werden. Dann wollen wir auf unsere Art vergnügt sein.“
Sie nickte beiden freundlich zu, als sie nach einiger Zeit wieder abzogen. „Er gehört dennoch zu mir, sein Lebenlang tat er das schon. Es ist keine Frage.“
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„Du, höre, was ist diese Gertrud für ein Mädchen geworden? Unaussprechlich brav und gescheit und ein bißchen langweilig.“
Lore schüttelte den schönen Kopf. Sie ging neben Georg her nach dem Tisch der Wiblinger.
„Sag nichts über Gertrud. Sie ist — ach, du kennst sie nicht. Sag kein Wort über sie.“ Er sagte es fast rauh.
Da sah sie ihn an mit diesem Blick, dem er nie zu widerstehen vermochte, aus Schelmerei und Zärtlichkeit gemischt: „Ach, ich tu ihr nichts. Gewiß nicht. Ich bin nur so ein törichtes, nichtsnutziges Ding neben ihr. Ich bin nur neidisch auf sie.“ Da hatte sie ihn wieder gewonnen. Wie hatte er sonst oft nach einem solchen Blick verlangt; früher, da pflegte sie ihn andern zu schenken. Und nun flog einer um den andern zu ihm.
„Du, du wirst ausreißen, ich sehe es. Du wirst es durchsetzen, das, was du jetzt anfängst. Heute hast du mich vollends aufgeweckt, heute morgen in deiner Stube, als es dich so fortriß. Du sollst mir berühmt werden, du.“
„Mir?“ Er sah rasch nach ihr hin. „Mir, sagst du?“
„Ja.“ Sie lachte. „Ich habe es alles nie so verstanden, das mit deiner Musik, und daß dich das Studieren nicht so anzog. Aber das ist nun anders. Ich habe heute früh ein Gespräch mitangehört. Zwei sagten zueinander: ‚Du, der Ehrensperger, der hat’s in sich.‘ Siehst du, das denke ich auch. Pfarrer? ach, das kann jeder werden. Du sollst mir — au, du drückst mich. Du tust mir weh.“
Sie entzog ihm lachend ihre Hand, die er gepreßt hatte, daß es knackte.
„Komm in den Wald. Wir gehen nachher zu den andern. Hier sind wir schon dran. Ich — ich muß dir etwas sagen.“ Er atmete schwer.
„Was du wohl sagen willst? Muß das heute sein?“
Sie lachte, aber unsicher. Sie wußte wohl, worauf es hinauslaufen werde. Das Herz klopfte ihr. Wurde es nun Ernst?
„Ja, ich muß mit dir über das alles reden, heute noch. Und überhaupt. Komm.“
Da traten sie in die grünen Hallen ein. Still ging sie neben ihm, fern von den andern, und ihre herabhängende Hand lag leicht in der seinigen.
Die grünen Büsche schlugen hinter ihnen zusammen.
Die Buchen wölbten sich über ihren Häuptern.
Von draußen herein sangen die Geigen und Flöten.
„Lore, ach Lore. Daß du so sagst. Was ist das für ein Tag heute. Es wendet sich alles um und um. Ich muß das nicht tun, wovor mir so angst war. Es ist mir, als sei ich frömmer seit dem Augenblick. Es war so eine Quälerei, immer ein Wollen und Nichtkönnen. Das ist auf einmal von mir abgefallen. Jetzt sollst du sehen, daß ich dennoch ein Ziel erreiche. Ich will Schönes schaffen, Wahrhaftiges, etwas, das mein eigen ist. Alle sollen sich mit mir freuen. Du besonders. Das ist das Schönste, daß du daran glaubst.“ Er sah ihr in die Augen. Tat sie es wirklich? Ja, da stand es groß geschrieben.
„Lore, du warst noch nie so, wie heut. Es ist, als ob ich dich zum erstenmal sähe. Komm, laß dich ansehen. Du, was habe ich mich gequält, ja, auch um dich. — Nein, laß es mich sagen. Es ist ja wie ein Märchen. Das hat immer alles so hoch gehangen, was ich wollte. Wenn ich darnach griff, schnellte der Zweig zurück, an dem es hing. Wenn es in mir brannte, daß ich dem nachgehen müsse, was in mir tönen wollte, und ich versuchte es, dann kam wieder die Mutlosigkeit: du kannst es doch nicht. Und du darfst auch nicht. Du mußt am Wege bleiben. Du darfst nicht darnach greifen. Alles Schöne, nach dem mein Wesen verlangte, war wie Sünde. Heut nicht. Ist heut ein Wunschtag? Du kommst — ach, Lore, sieh mich nicht so an — und beugst mir den vollen Zweig herunter und sagst: du kannst. Und mir ist, ich könne. Ich will — — du, — du mußt dabei bleiben, — du mußt mit mir gehen, — ach, komm.“
Da schlug es über ihnen zusammen wie weiche, warme Wellen. Da vergaßen sie Reden und Denken über dem, was eins in des andern Augen geschrieben fand.
„Du, du.“ Sagten sie das Wort heut zum erstenmal?
„Du.“ Da schloß Lore die Augen, wie geblendet von einem großen Glanz und lehnte den Kopf an seine Brust, und sein Arm umfaßte sie. Sie aber rührte sich nicht darin.
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Ein Rotkehlchen hüpfte von Ast zu Ast und sah aus hellen Augen zu, wie den beiden jungen Menschen die Hände von den Schultern und ineinander glitten und wie sie darauf nebeneinander her gingen, schweigend. Auf einmal erschrak es und flatterte hinauf in den Wipfel einer jungen Buche. Denn das Mädchen hatte gelacht, ein so zwitscherndes, helles Lachen, daß das Vöglein aus einiger Entfernung sehen mußte, was darauf erfolge. Das Mädchen hatte ja doch seinen Genossen bei sich und brauchte ihn nicht zu rufen und ein solches Gezwitscher bedeutete in der Vogelsprache einen Lockruf. Da fiel dem Rotkehlchen sein eigenes Liebchen ein, das ein bißchen weiter drin im Wald wohnte und es breitete seine Flügelein aus und rief: ich komme.
Der junge Mann aber sah fragend aus. „Jetzt kannst du lachen?“
Da lachte sie noch einmal und noch viel heller. „Ja, du, so bin ich. Ich muß einmal lachen, wenn mir das Herz ganz voll ist. Das ist nicht so leichtsinnig, wie du meinst. Ich kann’s nur nicht sagen, wie es ist. Du mußt mich eben nehmen, wie ich bin, ich kann nicht anders sein. Du bist viel zu gut für mich, daß du’s nur weißt.“
„Ach du, du bist lieber und schöner als du weißt. Komm, wir wollen noch ein bißchen tiefer in den Wald gehen. Horch, wie es in den Bäumen weht. Wir wollen ganz still sein und auf die Stille ringsum hören. Du und ich miteinander. Kann denn so etwas wahr sein? Das ist über uns hereingefallen, eh’ wir uns versahen. Du, ist es denn wahr?“
„Natürlich ist es wahr. Wir dürfen aber nicht so lang da bleiben. Wir müssen wieder zu den andern gehen. Ich will mich zwischen deinen Vater und Franz setzen und mich mit ihnen anfreunden. Das ist jetzt nötig, nicht? Wir sagen ihnen heut noch nichts, gelt? Ich meine von uns zweien. Du mußt sie zuerst dafür gewinnen, daß du die Musik erwählt hast. Ach, du mußt es mir zuerst selber erzählen, nur rasch, so in der Kürze, wie du es angreifst. Also jetzt geht die Studiererei noch einmal an; das ist nun plötzlich sicher. Auf einmal hast du es gewußt; das mußt du mir noch sagen, wie das kam. Du gefällst mir so gut, wenn du entschlossen bist. — Nein, sei jetzt vernünftig. — Wenn du so bist, können sie dir nichts versagen. Du sagtest einmal, du habest mütterliches Vermögen, das kannst du doch dazu —“
„Lore, liebe Lore, red’ jetzt nicht davon. Wie kann man jetzt reden? Das kommt ja alles in Ordnung. Ich muß es ja selbst überlegen.“
„So komm hinaus auf den Festplatz.“
„Nur ein Weilchen, ein kleines. Ich kann jetzt nicht gleich unter Menschen sein. Wir sind wie das erste Menschenpaar hier, ganz allein. Wir sind für einander geschaffen. Still — — —. Siehst du das Stückchen blauen Himmel? Du, Lore“ — er sagte es leiser, „sieh, da, zwischen den grünen Baumkronen, — es ist wie im Garten Eden, am Anfang der Bibel, da ging Gott im Garten spazieren. Es ist wie ein blaues Auge, das da heruntersieht.“
„Ach, du Träumer. Das bist du immer gewesen.“ Sie betrachtete ihn wie etwas Neues, das man zum erstenmal sieht. „Du, du bist eigentlich doch ein geborener Pfarrer. Er guckt überall heraus bei dir. Wem fiele sonst so etwas ein?“
Da zuckte etwas wie ein scharfer Schmerz durch ihn durch. Verlor er das Köstliche mit dem Schweren, das er abwarf? „Nein.“ Das sagte er laut, daß sie ihn verwundert ansah. Und dann nahm er die Mütze ab und richtete sich hoch auf.
„Auch die Kunst hat ein Priestertum, Lore. Auch sie vermittelt das Göttliche an die Menschen. Ich will, wahrhaftig ich will ihrer wert sein.“
Es klang wie ein Gelöbnis. Sie sah ihn an und staunte über ihn. Und nach einer Weile sagte sie, fast beklommen: „Ich glaube, wir kennen einander noch nicht recht. Wenn du bei mir bliebest und ich sähe dich jeden Tag, dann könnte ich mich in das alles hineinfinden. Dann könntest du etwas aus mir machen. Glaub’ mir’s nur, ich spür’s selber, daß mir’s an vielem fehlt. Ach, Georg, ich bin ein armes Kind gewesen. Du weißt nicht, wie meine Mutter zuweilen war. Meine liebe Mutter. Nein, nein, du darfst nichts über sie sagen. Sie hat mich über alles lieb.“
Sie kehrte sich zu ihm und hatte die leuchtenden Augen voll Tränen. Aber als er nach einem Wort suchte, um sie zu trösten, schüttelte sie sich, daß die Tropfen sprangen und lachte mit nassen Augen.
„Kehr’ dich nicht dran, was ich sage. Sag’ lieber noch so etwas Schönes wie vorhin, daß ich einen rechten Stolz auf dich haben kann. Wenn ich stolz auf dich bin, dann habe ich dich am allerliebsten.“
„Ach du, ich bin auch stolz auf dich. Es ist, als ob du eine Quelle in mir aufgeschlossen hättest und ich könnte gleich morgen, gleich heut anfangen, zu komponieren. Wenn ich dich ansehe, dann tönt es gleich.“
„Weiter, das gefällt mir.“
„Siehst du, es ist etwas aus meiner Kindheit mit mir herübergegangen, das muß mein schönstes und bestes Lebenswerk werden. Das läßt mich nie mehr los. Es ist mir, als ob alles, was ich zu erleben habe, nur dazu sei, daß es immer besser töne.“
Und er erzählte ihr die Geschichte von dem Geiger, der das schönste Lied suchte, und einen Ton davon in allem Geschaffenen fand, da einen und dort einen, und der es nie zur vollen Harmonie bringen konnte und sie erst im Tode fand.
Er wurde warm dabei.
„Das möchte ich alles in Töne fassen, es ist mir, ich höre es schon. Das ganze Menschenleben liegt darin, Lieb’ und Leid, und was dahinter steckt, alles Fromme und alles Arge, und die ganze Natur, bis hinauf zu den Sternen. Alles hat seinen eigenen Ton. Dann, wenn ich das habe —“
„Ach, nun komm’. Das ganze Fest geht vorüber. Ich möchte noch einmal mit Franz tanzen. Ich habe es ihm versprochen. Du, ich kann ihn gut leiden, er ist so lebensfroh und so breit und stattlich. Das gefällt mir. Du? Du bist ganz anders. Niemand ist, wie du. Darum will ich dich gerade. Ich muß etwas ganz besonderes haben.“
Immer noch sangen die Flöten und Geigen. Ganz nah klangen sie jetzt wieder, und zwischen den Büschen schimmerte es hell herein.
„Du, ich will sehen, was Gertrud für ein Gesicht macht, wenn sie es erfährt. Nein, heute sagst du es ihr nicht mehr. Ich möchte es einen Tag lang für uns behalten. Was ist mit der Falte auf deiner Stirn? Die will ich heute nicht mehr sehen.“
„Gertrud soll ichs nicht sagen? Sie ist meine Schwester. Mein ganz guter Kamerad ist sie. Ich habe immer alles mit ihr geteilt.“
„Das sollst du auch. Morgen oder übermorgen.“ Sie sah ihn an, wie nur sie konnte. Es durchrieselte ihn ganz.
Dann traten sie aus dem Wald auf die Wiese. Dort war noch alles, wie zuvor.
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„Ha, hollah, ihr Waldläufer,“ rief der Müller Hensler und hob ihnen sein Glas entgegen, „hierher gesessen; was habt ihr für Geheimnisse miteinander auszubrüten? Ist das eine Art, wenn man Gäste hat?“
Georg staunte. Wie munter vermochte Lore jetzt zu sein. Als ob nichts geschehen wäre. Er konnte kaum ein Wort sagen. Still saß er da und sah in seinen Wein und schickte nur hie und da die Augen nach Lore hin. Am liebsten wäre er zu Gertrud gegangen und hätte ihr alles erzählt. Wie konnte er die Last seines Glückes und seines neuen Entschlusses tragen, ohne sie mit ihr zu teilen? Dort drüben war sie und er war hier.
Lore aber trieb tausend Possen mit den beiden Franzen, dem alten und dem jungen und tat sehr geheimnisvoll mit ihrem Waldgang: „Ja, das möchtet ihr wissen, das läßt sich denken,“ und neckte Georg: „Seht ihr’s, wie er sitzt und sein Geheimnis hütet? Ja, ihr wißt noch lange nicht, was hinter ihm steckt.“
War es möglich, konnte sie darüber scherzen?
Aber der Müller Hensler hielt nun den Augenblick gekommen, wo er seine Aufmunterungsgedanken anbringen konnte. (Er war auch selbst möglichst aufgemuntert.)
„Du, Georg,“ sagte er behaglich und knöpfte sich die Weste auf, „mach nicht so ein Gesicht. Das kommt alles in Schick und Ordnung. Die — die Herren brauchst du nicht zu fürchten, die wissen selber nicht alles. Was ein forscher Kerl ist“ — er blinzelte nach dem Bäcker Ehrensperger hinüber, „nicht, du?“
„Ach,“ lachte Lore, „wenn ihr glaubt, er fürchte sich. Er weiß nur noch nicht, ob er nicht lieber Musikdirektor oder so etwas werden will. Wir haben es beredet. Sie sind alle hinter ihm her.“
Da sah Georg groß auf und wollte etwas berichtigen. Aber sie blinzelte ihm zu: „Nun, störe mich nicht.“
„Musikdirektor? Das wäre. Ja, kann man das nur so vom Fleck weg? Ist das auch ein richtiges Brot? Er hat doch auf den Pfarrer studiert?“ Sie konnten der Sache nicht nachkommen. Nun fing die auch davon an.
Da ließ sie alle Raketen steigen, die sie hatte, und tat groß mit Georgs verschwiegensten Träumen, als ob sie schon Wirklichkeit wären.
Vielleicht glaubte sie es selber, vielleicht dachte sie auch: Stark auftragen hilft mehr. Die Mutter Maute nickte eifrig und sah mütterlich nach Georg hin. Wenn es Lore sagte, die mußte es ja wissen.
„Was?“ sagte Vater Ehrensperger und sah hilflos vom Müller Hensler zu Franz und von Franz zu seinem Jüngsten hin, „der Tausendskerl, nun will er noch das werden. Was? ich habe gemeint, die Musiker, die seien lauter arme Hungerschlucker. Wenn es auch wahr ist? Und was wird das noch kosten?“
Sein ohnehin schon roter Kopf war noch röter geworden.
„So sag doch auch etwas, Georg.“ Lore stieß ihn ein wenig an, und alle sahen auf ihn, der dasaß und schwieg.
Ach, hatte er je an dergleichen gedacht? Hatte er je glänzende Pläne entworfen? Das hatte er nicht getan. Hatte ihn denn Lore so verstanden? Sie baute ja Häuser darauf. Er mußte es ihr sagen, daß sie es recht verstehe, er hatte sich die Zukunft noch nicht so praktisch ausgedacht. Die Kunst — und Lore. Weiter war er noch nicht gekommen. Es würde schon einen Weg für beide zusammen geben. Da, als sie so glänzende Bilder malte, stieg etwas wie eine Traurigkeit in ihm auf: Wer den rechten Ton will finden, der muß in die Stille gehen und allein sein und horchen.
Aber das konnte er ja nicht sagen.
Sie schüttelten die Köpfe. Nun gab er wieder keine Antwort, so war er.
„Er ist zu bescheiden,“ sagte die Putzmacherin Maute. „Er macht nichts aus sich. Wir haben es ihm oft gesagt. Zu bescheiden und zu ideal. Dies war auch mein Fehler in meiner Jugend.
Maute sagte es immer: ‚Henriette du bist viel zu ideal.‘ Aber das macht sich später. Wenn man einmal Familie hat.“
Hi hi; sie lachte und sah sich im Kreise um.
„Das sag ich auch,“ sagte der Müller Hensler. „Forsch muß einer sein und auftreten.“
Er war nicht mehr so ganz auf der Höhe des Denkens. Er kniff Lore ins Ohrläppchen. „Die da, das ist ein Tausendsasa. Familie? Wenn du die da kriegen kannst, dann nimm sie nur. Die wird dich schon — ja so, du willst ja nun — ach, man wird auch noch ein Wort sagen dürfen, das flammt gleich zum Dach hinaus.“
Denn Georg war heftig aufgestanden. Eine jähe Blutwelle war ihm bis unters Haar gestiegen. Nun redete der Müller auch noch davon. Wollten sie ihm alles zerpflücken? Sollte nichts Schönes, Heiliges mehr verschwiegen in ihm leben?
Ach, wäre er doch mit Lore allein im Walde und könnte ihr recht sagen, wie er es meinte. Aber als er ihr in Gedanken seine Sorgen ausbreitete: ob es gelingen werde? ob es nicht nur ein Schattenspiel sei? und daß er ja noch gar nicht wisse, ob ihm die Kunst ein Haus bauen werde, oder nur eine Hütte — oder das auch nicht? — und ob sie Schönes und Schweres mit ihm teilen wollte? — da nahm sie plötzlich Gertruds Gestalt und Gesicht an.
Er strich sich übers Gesicht. Er atmete tief auf.
„Ich muß es ihr sagen. Gleich muß ich zu ihr hin. Sie muß dabei bleiben, wie bisher.“
Aber Lore sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt,“ sagte sie halblaut. Hatte sie seine Gedanken gelesen? Da setzte er sich wieder.
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Und es wurde Abend und die drei Wiblinger fuhren heimzu und waren weder über sich selbst noch über ihren Studenten so ganz im Klaren. Festlich umnebelt waren ihre Köpfe und ihre Gemüter, aber dunkel war ihr Wissen von der Zukunft. Eins stand fest: es mußte noch einmal Geld herausgerückt werden; aber dafür schien denn auch etwas ganz besonderes aus dem Jüngsten zu werden. Sie wollten es sich am Tag noch einmal überlegen. Sie hatten doch wohl noch nichts Sicheres versprochen? — Doch, das hatten sie, Lore, das Hexenmädchen, hatte mit ihnen darauf angestoßen, Franz der Jüngere wußte es noch genau. „Wir wollen der Frau noch nichts davon sagen, heute noch nicht, sie — sie ärgert sich sonst,“ sagte er, als das Wägelchen über das Wiblinger Pflaster rasselte. Er hatte den Tag über die häusliche Unlust ein wenig vergessen, nun kam das Gewicht wieder. Was half ihn die goldene Bretzel? Was half ihn die wachsende Habe, wenn nirgends eine Ruhe und ein Behagen war? So hatte er es nicht gemeint, als er sich ein Weib nahm.
„Was? Ich soll wohl die Junge fragen? Bin ich nicht mehr mein eigener Herr?“ Der Vater Ehrensperger wollte aufbegehren. Er konnte seinen Jüngsten werden lassen, was er wollte, er war noch eben so forsch, als er in seiner Jugend gewesen war.
Er konnte es sich leisten, wollte er meinen. Aber als er das sagte, sah er die junge Frau mit einem Licht unter der Ladentür stehen, und er machte sich etwas verlegen am Spritzleder des Wägelchens zu schaffen und schwieg und suchte sein Lager auf, so bald er konnte.
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„Wir wollen es ihr heute noch nicht sagen,“ sagte auch Lore und meinte Gertrud damit.
„Was sollen wir ihr sagen? Etwa, daß wir uns —,“ sie lachte leise — „es ist alles noch so unfertig. Sie ist so gescheit, sie würde uns für törichte Kinder halten. Du, das sind wir auch, nicht? Später, da soll sie alles erfahren, sie zuerst, meinetwegen. Nun sei nicht brummig.“
Ja, wie sollte er das erzählen? Aber es drückte ihn, daß er es nicht konnte. Er hatte ihr noch nie etwas verhehlt. Er wollte Gertrud nicht verlieren, das konnte er nicht, niemals.
Ach, wußten sie denn beide nicht, daß sie schon so vieles gesagt hatten? Sie waren Hand in Hand gegangen, als sie in den Wald gingen, und als sie wieder aus dem grünen Tor traten, da wetterleuchtete es auf ihren Gesichtern, wie von einer heißen und großen Freude und wie von einem neuen Erleben. Sie konnten es nicht verbergen und dachten auch nicht daran, es zu tun. Die Wiblinger merkten es nicht, und die Putzmacherin Maute — tat, als ob sie es nicht merke.
Aber wußten sie denn nicht, daß Gertrud in ihren Gesichtern zu lesen verstand? Dachten sie nicht daran, daß das Feuer ihrer Augen und die Unruhe in Georgs Wesen und das übermütige Lachen in Lorens Gesicht eine Sprache redete, die sie nicht mißverstehen konnte?
Sie dachten nicht daran. Aber darum war es doch so. Sie waren im festlich erleuchteten Saale. In hohen Wellen ging die Festesfreude, — Gesänge erschallten, Trinksprüche wurden ausgebracht, Freund- und Bruderschaften wurden geschlossen, es schäumte das Bier in den Krügen, es funkelte alter Wein in den grünen Römern, es leuchtete die Lebensfreude in jungen Angesichtern und in alten, jung gebliebenen Augen.
Der Rektor Cabisius saß mitten im Saal und war der Jüngsten einer und trug das Band über der Brust und sein weißes Haar glänzte wie Silber.
Das Festlied war durch den Saal geflutet; der junge Komponist fühlte sein Herz schwellen vom Glück der Gegenwart und vom verheißenden Leuchten der Zukunft. Was war schön, wenn es nicht diese Stunde war? Sie stießen mit ihm an, sie tranken ihm zu. Und Lore trat zu ihm, rasch und leicht kam sie durch den Saal auf ihn zu. Sie war stolz und froh. Fing sein Stern schon an, zu glänzen? Sie wollte ihren Teil daran. „Du,“ sagte sie, „Du bist der König.“ Er ließ seine Augen auf ihr liegen. „Deiner?“ fragte er, und sie nickte lachend: „auch, aber nicht nur meiner.“ Da zuckte er zusammen und hob die Hände und ließ sie wieder sinken. Zu Fäusten ballte er die niederhängenden Hände, damit er sie ihr nicht vor aller Welt um den Hals lege. „Und du, du bist die Königin,“ sagte er. „Deine?“ sie fragte es mit einem trunkenen Leuchten ihrer Augen. „Ja, meine ganz allein. Morgen gehn wir noch einmal in den Wald, da setze ich dir ein Krönelein auf.“
Ach, wußten sie nicht, daß hinter ihnen Gertrud an einer Säule stand? Sie war von der andern Seite her durch den Saal gekommen. Sie war immer zu Georg gestanden, wenn er Wichtiges erlebt hatte. Und sie wußte, daß ihm sein Lied wichtig sei.
Ja, da kam sie gerade bis an die Säule, und sie hörte und sah, und konnte keinen Schritt mehr vorwärts tun und konnte kein Wort sagen, und wußte nicht, wo sie hinsehen sollte, um ihre Not zu verbergen.
Und als die beiden weitergingen, da wandte sie sich leise um und ging mit schweren Tritten zu ihrem Platz zurück. Nun war das alles, was ringsum flutete, farb- und tonlos geworden. Nun waren es fremde, lauter fremde Menschen, die sich da herumbewegten. Was sollte sie unter ihnen? Sie war allein mit sich, und etwas in ihr schrie auf.
Still, daß es niemand hört.
„Großvater, bleibst du noch lang da? Ich — ich bin müde.“ Sie zwang sich, zu lächeln: „Ich bin das alles nicht gewöhnt. Feste feiern, das muß man auch üben.“
Er sah auf, er sang eben aus Herzensgrund mit. „O alte Burschenherrlichkeit, wohin bist du verschwunden?“ Die alten Herren, das heißt, die Alten unter ihnen, hatten sich zusammengesetzt und die Geister ihrer Jugend waren bei ihnen.
„Ist es schon so spät? Du siehst blaß aus, Kind. Ja, ich wollte, — das heißt, natürlich begleite ich dich nach Hause, wenn du willst. Oder, ja so,“ er sah sich suchend um, „das darf ich ja nicht, das will ja wohl der Georg, das ist sein altes Recht. Der ist ja wohl heut Hans in allen Hecken, nicht?“
Sie nickte, schwer und freudlos. Er hätte es sonst zu allen Zeiten gesehen, aber er war jetzt gerade ein wenig geblendet. Es ging so ein Klang aus alten, schönen Zeiten durch den Saal rund durch den Rektor Cabisius hindurch.
„Nun, da kann ich ja wohl noch ein bißchen bleiben? Soll ich dir den Georg holen? Nicht? Siehst du, da kommt er schon. So ein langer Mensch, er ragt über alle andern hinaus.“
Er nickte ihr zu. „Gute Nacht, Kind. Schlaf gut, morgen ist auch noch ein Tag.“
Da floh sie aus dem Saal. Was sollte sie noch hier?
Sie fand ihren Weg allein. Es war nicht so weit nach dem Gasthof zum Lamm. Und wenn es weit gewesen wäre, sie hätte sich nicht gefürchtet. Was gab es, das nun noch zu fürchten war? Ein schweres, schweres Steingewicht trug sie in sich, das wollte sie langsam und stumm zu Boden drücken.
Morgennebel wogten durch das Tal, von ferne rauschte der Neckar, still lag die Stadt, es war noch früh. Still lag das Gasthaus zum Lamm, nur der Hausknecht ging und öffnete die Haustür, und ein halbwüchsiger Bube saß in einem blauen Schurz auf der Steinbank und hatte eine Stiefelversammlung um sich und wichste darauf los. Es war eine erfreuliche Beschäftigung; man hatte sein redliches Teil an der Weltverbesserung, wenn man Stiefelputzer im Lamm in Tübingen war. Der Bub pfiff denn auch drauf los, was er konnte, ihn freute sein Morgen, das konnte man deutlich sehen. Aber nun unterbrach er sich, mitten im Liede von der Leineweberzunft, und riß seine hellblauen Augen weit auf. Es war aber auch kein Wunder. Wenn man vor Tau und Tag aufsteht, damit an allen Türen zu rechter Zeit die glänzenden Stiefel stehen, und da geht Nummer siebenundzwanzig in aller Gottesfrühe zum Haus hinaus, und hat natürlich ungeputzte Schuhe an, und macht ein Gesicht, — ein Gesicht, so geisterhaft ernst, daß man gleich —, der Schuhputzer wußte nicht, was man gleich konnte, etwas Erfreuliches sicherlich nicht. „Nummer siebenundzwanzig hat die Schuhe nicht herausgestellt,“ sagte der Hausknecht; „und da hat man’s nicht putzen können,“ sagte der Bub, und so fühlten sie sich beide unschuldig an dem Kummer von Nummer siebenundzwanzig, und der Bub fuhr fort, das Leineweberlied zu pfeifen. Es konnte ja einer nicht mehr tun, als seine Schuldigkeit.
Zum Haus hinaus und durch die morgenstillen Gassen schritt sie, die im Lamm Nummer siebenundzwanzig war. Sie wollte gern irgendwo hinkommen, wo keine Menschen und keine Häuser waren; es konnte jemand erwachen und zu ihr kommen und sie fragen: „was ist dir?“ — und konnte sie zu trösten versuchen. Sie hatte die Nacht hindurch auf den Morgen gewartet, bald schmerzhaft wach, bald, was schlimmer war, in einem dämmernden Halbschlaf. Nun war sie auf den Füßen und trug sich selbst hinaus aus dem Menschenbereich. Sie wußte nicht so recht, wo es hinging; ihre ernsten Augen suchten einen Ausweg aus dem Gäßchengewirre; sie machte wohl Umwege, aber endlich fand sie doch eine schmale Steige, die aufwärts führte. So mag einst Noahs Taube unsichere, suchende Flügelschläge getan haben, ob sie irgendwo in der Wasserwüste einen Ort finde, da sie ruhe, und endlich die Bergspitze gefunden habe, die über die unendlichen Wogen hinausragte.
Zwischen hohen Häusern, die eng aneinander standen, ging der Weg aufwärts; dann traten die Häuser zurück, ein weiter und freier Blick tat sich auf. Eine Linde hob ihre hohe und volle Krone in den Morgenhimmel hinein, ein Steintor stand weit offen, fast mechanisch ging Gertrud Cabisius hindurch. Dann stand sie im Schloßhof. Ein zuckender Schmerz: den wollte Georg mir heute zeigen. Still. Nichts denken jetzt. Sie ging durch den Hof und fand den Weg ins Freie, und ging weiter, ohne viel nach dem Weg zu sehen, dann kam der Wald.
Frisch und still war es hier oben, weiße Morgenwolken hingen in dem reinen Blau des Himmels, Tau lag auf allen Gräsern, leise rief der Wald, vom leichten Morgenwind bewegt: komm. Aus leichten Nebelschleiern traten die Berge der schwäbischen Alb und traten still in den Reihen und schlossen den weiten Raum, in dem sich ein Menschenkind des Alleinseins, der großen, großen Einsamkeit bewußt war. Rauschte der Neckar aus dem Tale herauf oder fing die Stille an zu tönen?
Gertrud trat in den Wald und ging noch eine kleine Strecke weiter hinein und wußte nicht, was sie hier drinnen wollte. Die Menschen waren ihr fremd geworden, mit einem Male alle. Sie hatte ihr Wesen von jeher so einig und ungeteilt auf ihn zu entwickelt, den sie seit gestern abend nicht mehr verstand. Wo war er hingekommen? Was war er ihr noch? War das das Werde, auf das ihr lebensreifes Ich gewartet hatte?
Weit offen war es gewesen für die hohe, große Gemeinschaft, nun standen die Hallen leer und öde, und ihre Seele fragte in die große Stille hinein: Ist niemand, der zu mir gehört, niemand? Und sie ging noch weiter hinein in die grüne Dämmerung, und schlang die Arme um einen Baumstamm und legte den Kopf an das rissige Holz. Sie war kein so starker Geist, daß sie allein stehen konnte, sie mußte etwas zu umfassen haben. Aber der Stamm schlug ihrem klopfenden Herzen keine Antwort. Da glitt sie an ihm nieder und sank in sich zusammen im Moos und schloß die Augen vor der Außenwelt. Und ihre Seele machte sich zitternd auf und rief mit ängstlicher Stimme in die Einsamkeit hinein, ob nicht einer drinnen sei, mit dem sie reden könne.
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Es war einmal ein kleines Kindlein gewesen, das war ganz allein auf der Welt und wußte noch nichts von sich und nichts von der großen Weite, die rings umher war. Das spielte mit Blütenblättchen und wollte sie alle haschen und als sich einige zu weit von ihm entfernten, da — wir wissen es, machte sich das Kindlein auf den Weg, sie zu holen. Und da, wer kann sagen, was ihm so die Augen auftat? — erschauerte es zum erstenmal vor dem Alleinsein. Es war aber Liebe um den Weg, die trat in die Kluft, und des Kindleins Augen spiegelten sich in anderen Augen und sein junges, erschrockenes Seelchen barg sich darinnen.
Und das Kindlein wuchs heran und lernte erfahren, daß die Welt viel und reiches Leben berge, und gewann eine Liebe zu allem Lebendigen und sah mit hellen und klugen Augen in die Runde und in die Tiefe und in die Höhe, und lernte auf die Pulsschläge des Lebens horchen und hatte Teil an dem allem, was da war, an der Oberfläche und unter der Oberfläche. Auch war ihm gesagt, daß alles Leben aus einer starken, lichthellen, unversieglichen Quelle fließe, die lernte das Kind staunend verehren, und das je mehr, je größer es wurde.
Treue und liebreiche Hände hatten es so nah an diese Quelle geführt, als das ehrfürchtige Menschen nur können, und es war schön, zu wissen, daß wie die Sonne über der Erde eine reine, große Liebe, die aller Weisheit und Kraft voll wäre, über allem Geschaffenen sei. Es war auch schön, selber jung und stark und voll frischer, treibender Kräfte zu sein und in ausbrechender Werdelust die Arme nach der ganzen Welt und nach dem Gott, der sie geschaffen hatte, zu breiten. Und es war schön, zu wissen, daß aus der Flut von gleichgeschaffenen Wesen eins ganz nah und mit Willen zu einem gehörte. Wo blieb da jegliche Furcht? Wo jedes Alleinsein?
Und nun war wieder ein Tag, da gingen dem Kind die Augen auf und es sah, daß es in Wahrheit allein sei, und — wir wissen nicht, ob es ein größerer Schauer war, als das erste Mal, denn wir wissen nicht, was eine kleine Kinderseele überflutet — da streckte es wieder die Hände aus. Bist du? wo bist du? halte mich. Es ist alles so leer, sie haben mich allein gelassen. Laß dich finden.
Der Morgen war in den Vormittag übergegangen, als Gertrud Cabisius wieder in die Stadt herunterkam. „Der alte Herr hat gesagt, Sie möchten sich nur um elf Uhr an der Bahn einfinden,“ sagte das Stubenmädchen. „Er ist ausgegangen, er kommt auch dorthin.“
Sie hatte dem Großvater einen Zettel hinterlassen, daß er sich nicht um sie sorge. Sie wußte, sie durfte seinetwegen ruhig tun, wie sie mußte, er würde sie nicht zuviel fragen.
Da, als sie eben in ihrem Zimmer einiges zusammenpackte und vor dem Augenblick bangte, da Georg zu ihr käme, um ihr alles zu erzählen (denn sie wußte, daß er das tue), da hörte sie seinen Schritt auf dem Gang und dann sein Klopfen. Da war er schon.
„Hast du nicht Herein gerufen? Wo steckst du? Überall habe ich dich gesucht. Gestern abend und heute früh. Ach, Gertrud.“ Er war blaß und erregt. Er trug ein Blatt Papier in der Hand. „Ich habe ein Telegramm von Wiblingen. Mein Vater hat einen Schlaganfall bekommen. Ich muß nach Hause. Ich will mit euch fahren. Ihr fahret doch nachher? Und ich, ich war böse, daß er gestern kam. Wenn ich ihn nun nicht mehr sähe?“ Er hatte ein hilfloses und verstörtes Knabengesicht, und er hatte große Lust, seinen Kopf in Gertruds Schoß zu legen. War das der Georg von gestern Abend? Das war der, den sie kannte. Ach, hatte er sich nur ein bißchen verlaufen und kam nun wieder?
Da aber hob der Schmerz wieder sein Haupt:
„Nein, nein, das ist Ernst. Sein Herz gehört nicht dir, das gehört ihr — Lore gehört es. Weißt du nicht mehr: „Du bist meine Königin, meine ganz allein.“
„Gertrud, so weine doch nicht so. Du, warum weinst du? Wegen meines Vaters? Aber er lebt ja noch.“
Ganz erstaunt sah er sie an. Sie hatte ja nie irgend eine Gemeinschaft mit seinem Vater gehabt. Weinte sie aus Mitleid mit ihm? Er zog ihr die Hände vom Gesicht: „Bleib bei mir; du bist mein Kamerad. Was auch komme, Gertrud. Ich müßte dir so vieles sagen, aber ich bin jetzt so verwirrt.“
Da trocknete sie ihre Tränen und sah ihn mit ihren guten Augen an und zwang ein blasses Lächeln auf ihre Lippen.
„Sei still, red jetzt nichts. Ich bin — ach, du kennst mich ja. Hole dir, was du brauchst.“ Da zitterte ihre Stimme wieder. Und sie wandte sich ab und packte ihr Köfferchen fertig.
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Er hatte nie viel nahen Zusammenhang mit seinem Vater gehabt. Sie waren sich beide so unähnlich als möglich. Georg war mehr seiner Mutter Sohn als seines Vaters.
Seine Mutter war einst als ein Sonntagskind, — obgleich sie das nicht von sich wußte — ins Leben getreten, weich, lieblich und voll wunderbarer Hoffnungen, und hatte ihre hellen Augen unter die Tür ihres Hauses geschickt, um nach allen lichten und frohen und guten Geistern auszuspähen. Die wollte sie zu sich einladen und sie gut bewirten.
Wie sie zu ihrem Mann gekommen war, das war ihr später selbst unfaßlich. Sie war wohl noch nicht ganz wach und reif gewesen, als ihr verständige Leute zugeredet hatten, daß er ganz vorzüglich zu ihr passe; und sie hatte seine stattliche Gestalt und sein lachendes Gesicht für Zeugen von Kraft und Lebensfreude gehalten. Da erfuhr sie bald etwas, das war ihre erste Enttäuschung: sie konnten beide lachen, aber sie lachten nicht über dasselbe und nicht auf die gleiche Weise.
Nachher, als das Unglück kam, da konnten sie auch nicht miteinander weinen.
Sie gingen einander innerlich nichts an.
Der Mann schalt und polterte eine Zeitlang und ging dann seiner Wege; die Frau aber, die immer noch nach dem Lichten, Hellen ausgesehen hatte, — ihre Kinder an der Hand, da der Mann nicht mitgehen wollte — die wurde nun plötzlich von düsteren Riesen niedergeworfen, von Schmerz und Schuld und Verzweiflung, und in ein enges, dunkles Gefängnis geworfen und da ihr Lebenlang behalten. Sie schickte aber, wie wir wissen, aus diesem Gefängnis beständig nach Boten aus, da sie so sehr nach Licht und Liebe hungerte und wurde schließlich von einem unter ihnen nach Hause geführt. Von dieser Frau nun hatte Georg Ehrensperger ein Erbe überkommen, das war schön und schwer zugleich.
Das war die Sehnsucht nach allem Schönen, das im Leben liegt, sowohl in und hinter den Dingen, als außen an ihnen, und der starke Drang, es alles in seinem Leben zu vereinigen.
Es war so ein hungriger Mensch und er träumte, wie jener, viel vom Sattwerden. Er glaubte aber jetzt auf dem Wege dazu zu sein.
Nun saß er in dem lederbezogenen Großvaterstuhl neben seines Vaters Bett und spürte plötzlich, daß auch dieser ihn etwas anging und langte nach der Hand, die schwer auf der Decke lag und hätte gern etwas zu ihm gesagt. Aber unten am Fußende saß der Müller Hensler und sah auf einmal aus, wie ein alter Mann, da er gestern noch ein feuriger Jüngling gewesen war, und schüttelte den Kopf, einmal ums andere; und neben ihm stand Franz und hatte die Augen voll Tränen, denn er war von seines Vaters Art und stand ihm menschlich nahe. Auch war er neben aller Neigung zu kräftigem und sorglosem Lebensgenuß weich von Gemüt und floß leicht über.
Da konnte Georg nichts sagen. Er war eben angekommen und war noch verwirrt und bedrückt von dem raschen Wechsel: Gestern Lebensfülle und ein Klingen aller Saiten — und heute die ernste Schnitterarbeit des Todes. Da, als er so saß und in seinem Innern bewegt war und nach einem Ausdruck dafür suchte, geschah etwas, das ihn gegen seinen Willen komisch berührte, also daß er das Gesicht zwischen Lachen und Weinen verzog, wie wenn einer niesen will und nicht kann: Nämlich der Müller Hensler hob halb unbewußt an, sachte die Daumen umeinander zu drehen, als ob er seinem alten Freund diese seine gewohnte Beschäftigung nun abnehmen und weiter führen müsse. Und dazu sagte er wehmütig vor sich hin: „Ja der Wein, — ja, ja. Sein Lebenlang hat er ihm nichts getan, das kann ich bezeugen. Noch nie. Und nun auf einmal.“
Es war nämlich schon lange eine Streitsache zwischen dem Wiblinger Doktor und dem Bäcker Ehrensperger gewesen. Der Letztere hatte um ein Mittel gebeten, da ihn öfters ein Engsein am Halse und dazu ein Flimmern vor den Augen und ein Sausen in den Ohren befiel.
Aber der Doktor hatte ihm kein Mittel gegeben. Fußbäder sollte er nehmen, und Wasser trinken — und dann das Weinverbot.
Aber um des Weinverbots willen ging der Doktor der Hochachtung des Bäckers Ehrensperger verlustig.
— „Wenn er sonst nichts weiß. Wozu die studieren, das möcht ich wissen. Mir hat der Wein noch nie etwas getan. Aber man ist verkauft, sobald man einen Arzt frägt. Krank ist man von dem Tage an.“
Denn der Doktor hatte kurz und trocken den Schlagfluß in Aussicht gestellt, falls seine Vorschriften nicht befolgt würden.
Schwer war es. Wenn man sich zur Ruhe gesetzt hat und will noch ein paar gute Tage haben in seinem Alter und hat das Geld dazu. Was soll man dann mit sich anfangen? Nicht einmal trinken soll man.
Man brauchte ja dem Doktor nicht alles zu glauben. Aber unbehaglich war es von nun an doch. In jedem Krug voll roten Heilbronners saß ein Ungetüm, es konnte einem alles entleiden.
Da hatte er sich nun gestern entschlossen, da, als sie bei der Ausfahrt im Wagen den Uhlbacher tranken, sich nur auch einen Tag lang der unangenehmen Gedanken zu entschlagen und „zu leben, wie ein Junger“, so sagte er.
Das hatte er auch getan in seiner Weise.
Aber nun mußte er die Rechnung bezahlen.
Es war in der Nacht noch geschehen. Niemand wußte, wann und wie der Schlaganfall gekommen war. Als der Vater nicht herunterkam, ging Franz hinauf und sah nach ihm und fand ihn, halb im Bett und halb außer dem Bett, mit offenen, unruhigen Augen und schwerem Atem. Das ließ sich Georg alles erzählen und verwand rasch das Komische, das ihm angeflogen war, und war fast froh, daß er etwas wie Trauer empfand und hätte sie gern noch tiefer gespürt. Eine Stunde, nachdem Georg gekommen war, hob der Kranke den Kopf ein wenig und zwinkerte dem Müller Hensler zu, und sah seine Söhne an und formte mit den Lippen undeutliche Worte. Sie verstanden nur weniges: „Immer gutes Brot gebacken — der Kleine, der will — ich bezahl’s — Franz, du — nein, nicht die Junge —.“ Er hatte einen Pik auf seine Söhnerin. Und dann sah er sich mit dem Müller Hensler unterwegs und der ging ihm zu schnell und er mußte keuchen, um mitzukommen: „Immer — langsam — voran, — die — die Jüngsten sind wir — auch nicht mehr.“
Da kam der Anfall noch einmal und machte ein Ende.
Und er war ein geruhlicher, starker und dicker Mann gewesen, und hatte auch ein geruhliches Leben geführt und hatte nicht viel Hunger gelitten, so viel man weiß. Sie begruben ihn aber an der Seite der Frau, die ihm so lang vorangegangen und ihm so unähnlich gewesen war, und als es Zeit war, da setzten sie ihnen beiden miteinander einen Stein, und schlossen das Grab mit einem Gitter ein und es war nun weiter kein Unterschied zwischen ihnen beiden zu sehen.
Ihre Söhne aber trugen, ein jeder in seinem Teil, ihre Art weiter, und suchten und fanden ihren Weg durchs Leben, der eine leichter, der andere schwerer, und werden einmal ein jeder ein Ziel erreichen.
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Wer aber ist nun besser gefahren? sagt es, ihr Schläfer.
Es ging ein alter Mann durch den Garten des Todes, es war in einer Dämmerstunde, wenige Wochen nachdem sie den Bäcker Ehrensperger begraben und ihm viele und teure Kränze auf den Hügel gelegt hatten.
Er kam von etlichen Gräbern her, die er liebend besucht hatte. Es waren solche darunter, die längst eingesunken und nur mit langem Kirchhofsgras bewachsen waren, und solche, die noch in guter Hut und Pflege standen. Er stand nun still vor dem neuen Grab und dachte an einen, der seinem Herzen teuer war und der vor wenig Tagen einen neuen Weg eingeschlagen hatte, um, so es ginge, einer edlen Kunst Meister zu werden.
Das sänftigt das Herz und stillt die Gedanken, wenn man die langen Reihen der Schlafenden grüßt und ihrer Wege und ihres Ruhens gedenkt.
Ihr, die ihr Lasten truget und Hunger littet und wunde Füße bekamet von steinigen Wegen; ihr, die ihr euch sehntet nach Freude, nach Licht und nach vollem Leben; ihr, die ihr brennende Herzen hattet und stürmisches Verlangen, sagt, habt ihr etwas von dem gefunden, das ihr erhofftet? Hat euch jemand in Empfang genommen, als ihr müde nach Hause kamet? Habt ihr nun gesehen, was des Hungers und der Sehnsucht allertiefster Grund war und ist euch eine Stillung dafür geworden? Ihr schweiget, soviel wir auch fragen mögen.
Wie, oder habt ihr andern recht gehabt? Ist es genug, zu nehmen, was am Wege liegt und an der Oberfläche? Reut es euch nicht, daß ihr meintet, das Beste sei, gut zu essen und gut zu schlafen und sich keine überflüssigen Gedanken zu machen?
Ihr hattet nichts, wonach ihr euch sehnen mußtet, ihr seid satt gewesen. Seid ihr das noch? Sagt, seid ihr besser gefahren?
Und auch ihr schweiget, soviel wir auch fragen mögen. Es bleibt uns nichts, als selber unseres Weges zu gehen, dem Drange nach, der in unserer Brust lebt. Wir müssen etwas suchen, das wir nun nicht haben; wir können nicht anders. Wir verfehlen es oft dabei und gehen nicht immer gerade aus und verstehen uns selber nicht immer recht. Aber wir gehen dennoch weiter. Und wenn wir hie und da meinen, uns im Kreise zu drehen und umsonst zu suchen, was unsres Herzens Verlangen ist, so fällt es uns tröstlich ein, daß einer, auf den wir viel halten, und der etwas von Menschenseelen verstand, gerade die Hungrigen und Armen und Verlangenden glücklich, ja selig pries, weil irgendwo eine Fülle für sie sei. Und dann fangen wir von neuem an, zu suchen, und fangen am Kleinen an und werden nicht satt davon und suchen das Größere. Aber es ist etwas in uns, das will das Größte und gibt sich anders nicht zufrieden.
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Der Rektor Cabisius hatte etwas getan, was er selten tat, er hatte ein Machtwort gesprochen. Er hatte so lang als möglich damit gewartet. Wie damals, als seine Enkelin klein war und ihren ersten Schritt wagte, hatte er zugesehen, was da werden wolle. Aber als es Zeit war, streckte er die Hand aus und sagte: „Doch, Georg, du machst nun dennoch das Examen. Ja, ja, ich rede dir nicht drein. Ein gezwungener Pfarrer, ein Mußtheologe, davor behüt’ uns Gott. Das Höchste und Schönste darf man nicht unwillig tun. Wenn Jesus einen seiner Zwölfe hinter sich hergeschleppt hätte, — nein, nein, ich versteh’ dich. Gut versteh’ ich dich. Aber das Examen machst du dennoch. Ich sage dir: Verweht und verloren kämest du dir vor, wie einer, der allerlei angreift und nichts zu Ende führt, wenn du so davongingest. Nun ja, mach’ kein so bedenkliches Gesicht. Du wirst keine Glanznummer davontragen. Es wird nur gerade reichen. Aber das ist ja nicht so wichtig. Du wirst an mich denken, wenn einmal Schwierigkeiten kommen, — die kommen überall, Georg, es wäre nicht gut, wenn sie nicht kämen, — und du dich daran erinnerst, daß du nicht als Hasenfuß in die Weite gelaufen bist, sondern als ein Mann, der wußte, was er wollte.“
Georg Ehrensperger hatte es nicht für so nötig gehalten. Aber wenn der Rektor so sagte. Da ging er richtig hinein und hielt eine Probepredigt, über die einige der Herren staunten: „Der will umsatteln? Der hat keine Freude an der Sache? Ich wollte, sie wären alle so frisch dran hin.“ Aber die so sagten, wußten nicht, daß dem Prüfling die frische Luft der Freiheit zur offenen Kirchentür hereingeblasen hatte, als er seinen Text verlas und daß ihn heimatlich anrührte, was ihn nicht binden und verpflichten wollte. Auch hatten sie ihm einen Text gegeben, der ihm ein Stück Sphärenmusik war und über den er am liebsten auf der Orgel gepredigt hätte: „Eine andere Klarheit hat die Sonne, eine andere Klarheit hat der Mond, eine andere Klarheit haben die Sterne. Und ein Stern übertrifft den andern an Klarheit.“ Das übrige, das ja freilich die Hauptsache war und himmlische und irdische Körper, verklärte und natürliche Leiber miteinander verglich, kam — es muß gestanden sein, — etwas kurz dabei weg. Es war mehr ein Lobpreis nach der Weise des alten Liedes, das er einst von Hollermann gelernt hatte: „Alle die Schönheit Himmels und der Erden ist verfaßt in dir allein,“ und war eine Kandidatenpredigt, wie andere auch. Aber es ging ein warmer Zug von Gottesbegeisterung hindurch, so daß die Herren, auch die, die über einen pantheistischen Anklang darin leise den Kopf schüttelten, nicht anders konnten, als freundlich zu gestehen, daß Georg fähig gewesen wäre, und nicht nur mit knapper Not, verwendet zu werden. In der Kinderlehre ging es nach dem Spruch: „Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde, und was wollte ich lieber, denn es brennete schon?“ Aber die Buben und der Herr Kandidat blieben miteinander an der Beschreibung eines Bismarckfeuers hängen, in das ein jeder von den Studenten seine Fackel warf, und eh’ der Kandidat zu der sehr tiefsinnigen Nutzanwendung kam, ein jeder müsse dazu beitragen, daß das Höhenfeuer durch die Nacht leuchte, war die Zeit um. „Die Herren aber hatten nur gesehen, daß,“ sagte einer, „der Kandidat selber noch ein Kindskopf sei.“ Es wurde ihm aber nicht übel vermerkt. „Denn,“ fuhr der vorgenannte Professor fort, „immerhin wußte er die Kinderköpfe, die vor ihm saßen, anzufassen und das ist mehr als nichts.“
Alles in allem, obgleich die eigentlichen Wissenschaften nicht gut wegkamen und im Schriftlichen hie und da ein schönes, leeres Blatt Georg Ehrenspergers Namen trug, gedieh das Ganze nicht so übel, als sich der Kandidat vorher in schwarzen Stunden ausgedacht hatte. „Und es ist nur schade,“ sagte der Müller Hensler, wenn er darauf zu sprechen kam, „daß er das Forsche erst jetzt angefangen hat, wo er nach den Herren nichts zu fragen hat.“ Er wußte ja freilich nicht, daß das, was er Forschheit nannte, nur aus dem neuen, frischen Gefühl der Freiheit herkam.
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Der Wind trug halbverwehte Töne auf seinen Flügeln daher. — — „behüt dich Gott, Philisterhaus.“ — „Horch,“ sagte Georg, „sie singen einen hinaus. Heut abend kommt’s an mich. Ich weiß nicht, soll ich lachen oder weinen, nun ich Tübingen Lebewohl sage. Ich bin den ganzen Morgen durch die Straßen gewandert und bin auf dem Schloß gewesen und habe alles mit den Augen gestreichelt.
Es ist so eine Sache. Die andern, die bisher mit mir gegangen sind, die fangen nun an, zu amten. Ich aber — manchmal kommt es über mich, Lore: Nun habe ich so viel schöne Zeit verstudiert, und“ —
„Verstudiert?“ Lore lachte. „Das geht an. Es ist nicht so übermäßig gewesen, gelt? Du, was hast du nur immer getan?“ Sie saßen in dem schmalen Mauergärtchen, an dem der Neckar vorüberfloß. Astern und Dahlien blühten darin und rotviolette Malven; Herbstfäden waren von einem Stengel zum andern aufgespannt und hie und da glänzte ein lichter Tropfen an dem zarten Gespinste, wie eine Träne. In den Kronen der Platanen drüben in der Allee wühlte der Wind. Er spielte auch mit dem Haar des schönen Mädchens und legte eine der rötlichen Locken auf die Stirne herein. Georg griff darnach und zog sie spielend über die Finger.
„Was ich getan habe? Du weißt es. Ich habe mich nicht so zusammengerafft, wie ich gesollt hätte. Es war mir immer, als ob ich das Rechte, das mich ganz füllen sollte, noch nicht hätte; da suchte ich es überall. Einmal, da half ich einem Weingärtner, draußen in der Neckarhalde, Erde tragen, wohl zwei Stunden lang. Er ließ sich die Hilfe gefallen, aber er hielt meine Arbeit doch für einen Studentenulk; er dachte, es komme noch irgend ein Unsinn hintendrein und sah sich zuweilen mißtrauisch um.
Aber es war nur das drängende Verlangen, etwas zu tun, das der Mühe wert wäre, getan zu werden. Begreifst du das? Es kommt manchmal mit Gewalt über mich. Ich möchte der Welt etwas geben, das sie ohne mich nicht hat, etwas Großes, Schönes.“
Aber sie schüttelte lachend den Kopf.
„Ach, du denkst dir immer so sonderbare Sachen aus. Weißt du nichts anderes mit mir zu reden? Nun hast du doch, was dir noch gefehlt hat, nicht? Neulich sagtest du es.“
Sie sah ihm tief in die Augen, lockend und verheißend: da hast du mich, das wolltest du doch?, und lehnte den Kopf an seine Schulter.
„Nun rede von etwas anderem. Du mußt dich beeilen, daß du etwas recht Schönes schaffst, ich will nicht zu lange warten. Du mußt sehr oft hierher kommen. Du sagst, wenn du neben mir sitzest, fallen dir die schönsten Melodien ein. Das gefällt mir. Sag noch so etwas Hübsches.“
Sie sah ihn mit glänzenden Augen erwartungsvoll an. Da strich er ihr weich und zärtlich über das Haar: „Du Liebste, du mußt mich ein wenig trösten. Nun bin ich fast vierzehn Tage zu Hause gewesen und habe Gertrud fast gar nicht zu sehen bekommen. Sie war so anders als sonst, so still und ernst. Ernst war sie immer, aber nicht so wie jetzt. Und immer in Tätigkeit. Den ganzen Tag mit etwas Dringendem beschäftigt, und immer in der Dämmerung bei den Turmwartsleuten, wo die Frau krank ist. Und nie ein rechtes Gespräch mit ihr. Was das nur ist? Sie war in ihrem Leben noch nie launisch. Nun sagte der Rektor, als ich es ihm klagte: ‚Du mußt sie jetzt gewähren lassen. Man hat Zeiten im Leben, da kann man nicht mit den andern gehen, da muß man für sich sein.‘ — Ich verstehe es nicht. Was sagst du dazu, Lore?“
Aber sie hütete sich wohl, zu sagen, was sie davon dachte.
Tausenderlei Dinge fragte sie und zog ihn spielend in ihre Gedankenkreise. Da vergaß er, was ihn drücken wollte.
Und dann kam Frau Maute aus dem Hause und war sehr mütterlich, und Georg mußte das über sich ergehen lassen, obgleich er immer ein gewisses Grauen davor hatte. Er hatte sich nicht in Lorens Mutter mitverliebt. Aber da war nun nichts zu machen. Er mußte von Franz erzählen, den beide Frauen ins Herz geschlossen hatten, und von seinem Examen, und von seinen Plänen für das neue Studium. Und darauf bekam er eine Menge Ermahnungen, sich ein wenig zu beeilen, und — sagte Frau Maute, auch ans Praktische zu denken. Allzu ideal, das sei für die ersten Jugendjahre gut, aber — hi hi — wenn man einmal — sie blinzelte nach Lore hin —, da stand Georg auf.
Es brannte etwas in ihm, aber nicht für Frau Maute.
Morgen ging er nach München. Und übermorgen wollte er anfangen, zu arbeiten, zu lernen, dann selber zu schaffen, das drängte ihn am meisten. Auf der Neckarbrücke stand er still und winkte nach dem Mauergärtchen hin. Mußte er nicht umkehren? Wie konnte er nur fortgehen? Würde ihm Lore von weitem das sein können, was er in der Gegenwart von ihr hatte? Am liebsten hätte er sie mitgenommen. Aber dazu war ja keine Möglichkeit; jetzt noch nicht. Weiter! „Streck dich nach vorn aus allen Kräften, im Zeitstrom, der vorüberrauscht.“
Wo hatte er nur das gelesen? War es nicht bei Gertrud gewesen? Er wußte es nicht mehr. Aber nun klapperten es die Räder des Zugs, unaufhörlich dasselbe, es nahm eine Melodie an, eine monotone: „Im Zeitstrom, der vorüberrauscht.“
Wenn nur die Menschen mehr darauf ausgingen, die Freude zu suchen.
Sie vermissen sie, sie rufen nach ihr. Daß sie von ihr verkürzt seien, sagen sie klagend.
Aber sie machen sich nicht auf, voll guten, mutigen Willens, sie zu finden.
Und die Freude ist überall und will sich finden lassen. Denn sie liebt die Menschen.
Nur ist ihr Gewand schlicht, und ihre Augen sind ernst, und ihre Hände zeugen von Mühe und Arbeit. Da schrecken manche, denen sie ans Herz treten will, zurück und machen erstaunt die Augen auf: Du bist es? So siehst du aus? Ach, entschuldige, dich habe ich nicht gemeint. Ich — ich hätte gern etwas mehr Geld, oder etwas mehr Behagen, oder ein Haus im Grünen, oder einen hübschen Titel. Oder ein großes, sonniges Glück, oder ein machtvolles Können. Siehst du, das nenne ich Freude. Wer aber bist du?
Und die Freude zieht weiter. In dieser Sprache kann sie nicht mitreden. Sie stammt aus einem ganz anderen Lande und bringt nichts, als sich selbst. Aber es geht ihr nicht bei allen so. Manche nehmen sie auf, denen teilt sie das Geheimnis des Frohseins in sich selbst, denen zeigt sie das Leben, das nicht von Zufälligkeiten abhängt.
Kennt ihr Menschen, bei denen die Freude eingekehrt ist? Die durch das dürre Land gehen und machen sich daselbst Brunnen? Wenn ihr sie kennet, so geht zu ihnen hin, denn es ist gut bei ihnen zu sein. Sie haben die Bitterkeit und das Alleinsein und den Neid und was der dunklen Geister mehr sind, nicht über sich herrschen lassen. Sie haben selbst geblutet und verstehen die andern. Sie haben neue Quellen des Lebens entdeckt und bieten die Schale mit dem frischen Trunk den andern: Nun trinket auch ihr. Seht ihr’s? Man bleibt nicht liegen. Das Leben ist an sich ein Frohgeschenk, auf, laßt uns hindurchschreiten, denn es wird lichter, nicht dunkler.
Ja, solches haben die Menschen, bei denen die Freude eingekehrt ist. Solches lehrt sie die Himmelsbotin in langen, dunklen Tagen und Nächten und führt sie an der Hand ins weite, große Leben hinein.
Kennt ihr sie? Laßt euch nicht davon abschrecken, daß ihre Züge oft eine Schrift tragen von viel überstandenen Schmerzen, und daß manche von ihnen nicht viel Leichtes, Lustiges zu sagen wissen. Wenn es euch schwer dünkt, zu leben, dann geht zu ihnen. Dann seht ihr in leuchtende Augen, und fühlet linde Hände und höret liebreichen Trost von einer Stimme, die ist wie einer Mutter Stimme.
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Es war eine Zeit, da glaubte Gertrud Cabisius nicht mehr an die Freude. Sie hatte sich weit aufgetan und hatte sie empfangen wollen, da war das Leid gekommen. Nun wußte sie nicht, was das Leben von ihr wollte. Sie war so ganz ungeteilt nach einer Richtung hin gegangen. Nun sollte sie umwenden und wußte nicht, wohin? Es war leer, wohin sie blickte. Es stand in den Büchern, die sie aufschlug, es tönte aus den Liedern, die die Jugend sang, es stand auf Weg und Steg geschrieben, — daß es anders sei, als vordem. Ja, anders, aber wie sollte das werden?
Es war aber ein guter, tüchtiger Kern in ihr. Der bewahrte sie vor allzu großer Selbstbejammerung. Da biß sie die Zähne übereinander und versuchte, ihre Arbeit zu tun, wie sonst. Es traf sich, daß das junge Dienstmädchen krank wurde und oben in der Kammer lag, und es traf sich, daß der Rektor Cabisius ein Starleiden bekam und nicht mehr selber lesen konnte. Lauter Trost, lauter Tagesaufgaben, nicht für die Zukunft, nichts Großes, Weites, nur für die Stunde, für jetzt. Und Gertrud kniete auf den Steinfliesen des Küchenbodens, und fegte ihn sauber, und kochte Krankensuppen für das Mädchen, das ungeduldig und stöhnend in seiner Kammer lag und sich selbst bejammerte und sich nach heimatlichem Kraut und Speck sehnte. Und sie band die Küchenschürze ab und kam zu dem alten Herrn ins Zimmer: „Soll ich dir vorlesen, Großvater?“
Da las sie ihm viel und lange vor, und er wählte große, ausweitende Stoffe, die aus alter Zeit zu uns herüberreden von Glück und Not und Kampf der Menschen.
Aber er schüttelte leise den Kopf: „Noch ist ihr Wesen nicht dabei,“ wenn des blinden Ödipus dunkles und schweres Schicksal und Antigones Kindesliebe und ihre stille, gelassene Todbereitschaft keinen hellen, hohen Klang in die Mädchenstimme brachten, wenn alle die starken, großzügigen Gestalten wie Schatten durch das Zimmer glitten.
Er ermahnte sie nicht, er war ganz unberedt dem still getragenen Kummer seines Kindes gegenüber; er wartete nur. Wie man auf den Frühling wartet und weiß: er muß doch kommen, so wartete er darauf, daß in den tiefernsten Augen und auf den blassen, verstummten Lippen ein neues Leben erscheine.
„Du wirst sie zur Freude führen, ich kann es nicht,“ sagte er, und wußte, wen er damit meinte.
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Gertrud war lange nicht mehr zu ihrer lahmen Freundin gekommen. Was konnte sie jetzt in das leere, stille Leben hineintragen, sie, die selbst nichts hatte?
Auch regte sich in ihr die Angst vor dem Gleichartigen in ihrem Schicksal. Sollte sie in Zukunft ebensowenig zu erwarten haben, als Veronika? Es war ihr, als müsse sich in dem stillen Mädchen ein kleines Triumphgefühl regen: Siehst du, dir ergeht es nicht viel anders als mir.
Aber eines Abends, als es dämmern wollte und alles so grau und leer aussah, und das Mädchen wieder in der Küche hantierte und der Großvater einen Besuch bei sich drinnen hatte, da, als Gertrud sich hin und her besonnen hatte: Will ich, will ich nicht? Da schlug sie dennoch wieder den Weg nach der Heinersgasse ein und nach der niedrigen Stube, in der Veronika am Fenster saß, seit sie sich denken konnte.
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Befand man sich hier auch „im Zeitstrom, der vorüberrauscht“? Oder war der einfache, schier ärmliche Raum, der Veronikas ganze Jugend gesehen hatte, ausgenommen von dem Wellenschlag des Lebens, ein trockenes Bachbett ohne rinnende Wasser? Es war ein und jeden Tag dasselbe: Ein mühsames Aufstehen und Sichschleppen bis zu dem Fensterplatz, ein mühsames Regen der Hände und ein mangelhaftes Gelingen der Flickarbeit, die sie förderten. Anderes bekam Veronika nicht leicht zu tun. Ihre Mutter hatte Kundenhäuser zum Waschen und Putzen, da brachte sie die zerrissenen Röcke und Hemden der Dienstmädchen oder die Schürzen und Blusen der Knechte zum Flicken mit heim.
Die gaben das Tagewerk des stillen, feinen Mädchens. Jetzt ruhten ihre Hände. Es war halb dunkel in der Stube, nur das weiße Gesicht mit den dunkeln Augen hob sich, da es dicht neben dem Fenster am Holzrahmen lehnte, lebendig heraus. Da kam Gertrud herein, nicht so rasch und lebhaft, wie sonst, schon ein Erlebnis, eine Mitteilung auf den Lippen, sondern ein wenig zögernd und still, und setzte sich auf einen Stuhl und fing nach einer Weile ein gleichgültiges Gespräch an. Aber sie verstummte wieder bald, und holte sich einen kleinen Holzschemel, und ließ sich darauf nieder, und barg ihr Gesicht in Veronikas Schoß.
Die legte ihre Hände still auf das volle, dunkle Haar und strich sachte darüber, und nach einer Weile hob Gertrud den Kopf ein wenig und sagte leise: „frag mich nicht. Ich sag dir’s, wenn ich kann. Nicht jetzt.“
Nein, Veronika fragte nicht.
Aber sie wußte, daß nun die Stunde für sie gekommen sei, nach der ihr wacher Geist oft gefragt hatte, wann die Tage kamen und gingen, eine unabsehbare, stille Schaar, die sich an den Händen faßte und einander so gleichsah, so verzweifelt gleich: Wozu bin ich? Bin ich nur für mich? Ist niemand, der meiner bedarf? Sie wollte ihren Teil an den andern und nicht nur empfangend, nehmend und gebend begehrte ihr reiches Wesen in die Reihen der Lebendigen zu treten.
Ihrer Mutter, das wußte sie, war sie eine Last. Eine geduldig getragene, aber dennoch eine Last; sie konnte dem müdgeschafften Weib, wenn es spät abends heimkam, so wenig mehr sein. Es brauchte nur Ruhe und seinen kargen Schlaf, war es nicht ein rechtschaffenes Kreuz, nun auch noch die Tochter versorgen zu müssen? Was aber das Mädchen zu geben hatte in seiner stillen, feinen Art, dafür war sie wohl zu stumpf geworden in den harten Arbeitsjahren.
Einmal hatte Veronika Worte für das gefunden, was ihr Leid und ihre schwere Fülle war. Es hatte sich ihr zu einem Lied gestaltet und als sie es mit den ungefügen Fingern mühsam niederschrieb, fühlte sie sich einigermaßen erleichtert. Hier ist es:
Das Lied hatte sie damals nach langem Zögern und Besinnen Gertrud gezeigt, aber die hatte keine rechte Antwort darauf gehabt. Sie wußte, wem ihre Flut gehöre. Nun war es anders. Bei beiden war es anders, als damals.
„Sag, Veronika, wie erträgst du dies Leben hier? Brennt es nicht in dir, daß du aufspringen möchtest, und irgendwo eintreten, in irgend eine Lücke, die sonst niemand — ach, Veronika.“
Wie sie es ertrug? Fingen nicht die Wände an zu reden von der großen Sehnsucht, die sich in dem kleinen Raume barg, und von dem Leben, das ganz still und unaufhaltsam hier erwuchs, einer Kellerpflanze gleich, die sich nach dem Lichte streckt?
Es war vollends dunkel geworden. Aber draußen stapfte der Laternenanzünder über das holperige Pflaster. Sein Lichtlein glomm an den Fenstern vorbei, nun ein leises Klirren an der Laterne schräg gegenüber, dann fiel ein heller Lichtstreifen hier herein auf ein angstvoll fragendes Gesicht, das sich wartend emporhob, und auf ein anderes, das vom Widerschein einer inneren Freude erhellt war.
„Doch,“ sagte Veronika, „es brennt manchmal. Aber nun nicht mehr so wie früher.“
Sie schwieg eine lange Weile. Dann sagte sie leise: „Ich möchte es dir recht sagen können, Gertrud. Es ist das erste Mal, daß ich davon rede. Ich sage es dir auch nur, weil — weil“ — sie suchte nach einem Wort.
„Weil ich dich brauche,“ sagte Gertrud.
Ein warmer Schein glitt über des lahmen Mädchens Gesicht.
Das war das Wort, das hatte sie so gern einmal aus eines Menschen Mund hören wollen. Nun kam es, und daher, von wo sie es nie erwartet hätte. Ging es so wunderbar zu im Leben? Sollte sie etwas für Gertrud haben? O wie gern wollte sie es ihr geben.
„Siehst du, du kamst seltener und seltener und nun so lang nicht mehr. Und ich saß hier und nähte und war so allein. So würde es wohl das ganze Leben hindurch fortgehen, dachte ich; es war mir kein Trost, daß der Doktor sagte, ich könne gut alt werden. Draußen gingen die Menschen vorbei, ich sah sie vom Fenster aus und dachte mich in ihre Schicksale hinein. Wie sie arbeiteten und sich regten und einander brauchten. Ja, da brannte es freilich. Wenn ich doch stürbe, dachte ich. Denn ich lebe ja doch nicht. Sie alle leben, nur ich nicht. Und ich flüchtete mich in die Bücher und suchte mich zu vergessen. Aber überall stand da vom Leben und von Taten und bewegten Schicksalen der Menschen. Und immer schwerer fiel es auf mich hinein, daß ich vergessen sei, nutzlos und allein. Wenn es doch nur ein Ende hätte.
Da trugen sie eines Tags den alten Höpfner hier vorbei, weißt du? Den Kleiderhändler in dem grünen Haus, hinten am Burgeck. Er hatte Kinder und Enkel, und war reich, man sagt, die halbe Stadt sei ihm Geld schuldig. Er war sein Leben lang gesund und frisch. Aber seit einiger Zeit war er schwermütig, kein Mensch wußte, warum. „Es lohnt sich wahrhaftig nicht der Mühe, alt zu werden,“ soll er öfters gesagt haben. Ja, und da machte er ein Ende, du weißt es. Aber als sie ihn auf der Bahre vorbeitrugen, wassertriefend, schlaff und mit gebrochenen Augen, da fuhr es mir wie ein heißer Schreck ins Herz: das Leben ist an sich etwas Großes, Heiliges. Man darf es nicht gering achten und nicht wegwerfen wie etwas Wertloses. Man muß suchen, dahinter zu kommen. Es muß etwas daran sein. Den ganzen Tag ging es durch mich durch: lieber Gott, zeig mir das Leben, das ich leben soll. Laß mich nicht so am Rand des Todes hingehen, lebendig tot.
Ich konnte nichts arbeiten, ich war so schwach und so erregt. Da legte ich mich ins Bett und schloß die Augen und rings um mich war es dunkel, und als es Nacht wurde, da gingen die wachen Gedanken in einen Traum über.
Da stand ich auf einem hohen Berg und wußte, ohne zu sehen, daß rings um mich Menschen waren. Aber ich war dennoch so furchtbar allein unter ihnen, denn sie gehörten nicht zu mir, nicht einer. Und es war graue Dämmerung und ringsum eine weite, weite Öde und ich stand und sah da hinein.
Da wurde ich gewahr, daß dicht vor mir ein Abgrund aufgähnte, tief und schrecklich. Von drüben aber, über dem Abgrund, rief es mich, laut und lauter: komm. Und ich wußte, hier waren die Menschen, drüben aber die große Einsamkeit, und in die Einsamkeit hinein rief mich einer, der mit mir reden wollte. Es war grausig. Es trennte mich von allen Menschen, nach denen ich mich doch sehnte. Und der Spalt klaffte, und es wehte kühl da herüber, und ich war so klein, aber das unbekannte Etwas, das mich rief, das wurde immer riesiger, immer mächtiger und zog mich, und es war Sehnsucht und Furcht zugleich in mir. Da schloß ich die Augen und wagte den Sprung.“
Sie schwieg. „Und dann?“ fragte Gertrud.
„Und dann? — es ist so schwer zu sagen. Ich weiß nicht, was zu mir geredet wurde, vielleicht nichts. Vielleicht empfing ich es ohne Worte, das, was mich erfüllte, als ich wach wurde, mitten in der Nacht, das starke, hohe Gefühl davon, daß ich mit Gott allein gewesen sei, und daß das so bleiben müsse, innen, ganz innen in mir. Daß das Leben an sich ein hohes, frohes Gut sei, ein unantastbares. Es hängt von nichts Äußerem ab, es ist ganz für sich. Es ist das Allergrößte. Aber es ist schwer zu sagen.“
Sie sah ein wenig verlegen aus, weil sie das nun erzählt hatte, aber Gertrud hob den Kopf: „Weiter.“
„Ja, weiter? Siehst du, seither hat Manches angefangen, anders zu werden. Es verlangt mich immer noch nach den Menschen, ich möchte zu ihnen gehören. Das liegt wohl so in uns, das müssen wir verlangen. Als du vorhin sagtest: „Ich brauche dich,“ da war ich froh; es war mir, als habe ich seit Jahren darauf gewartet, daß das ein Mensch sage. Wir dürfen die Kammern unseres Herzens nicht leer stehen lassen, es ist nicht gut für uns. Auch hängen wir mit den andern zusammen und sie mit uns. Aber weißt du, ganz innen, da — ach, du weißt es selbst, da muß man etwas allereigenstes haben, das von nichts anderem abhängt. Es ist wie im Märchen vom Marienkind. Weißt du noch? Du hast es mir erzählt. Es durfte alle Himmelstüren aufmachen, nur die zwölfte nicht, dort saß die heilige Dreifaltigkeit in goldenem Glanz. — Die zwölfte Kammer, die müssen wir für uns behalten, da darf kein Mensch hinein, nicht in Lieb und nicht in Leid. Sie mögen sich in die elf andern teilen. Du, Gertrud, ich glaube, man muß allein gewesen sein, eh’ man recht mit den andern gehen kann.“
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Durch die nächtlichen Gassen ging Gertrud Cabisius.
Aus allen Fenstern blinkten Lichter. Dort drinnen saßen die Menschen nun beisammen. Mütter besorgten ihre Kleinen und brachten sie zur Ruhe, Väter verließen das Tagewerk ihrer Hände und traten in den Kreis der ihrigen. Waren keine Einsamen unter ihnen? Hingen sie alle mit einander zusammen? Am Himmel hing zerrissenes Gewölk; da und dort leuchtete ein Stern auf, ja, wenn man näher hinsah, waren ihrer viele, mehr, als man anfangs dachte. Gertrud ging langsam. Aber es war nicht das mutlose Schlendern, das sagte: es hat ja doch alles keinen Zweck. Es war, als ob die Gedanken leise bäten: verscheuch’ uns nicht, geh sachte, wir müssen uns erst besinnen.
So war das? „In die zwölfte Kammer darf kein Mensch eingehen, sei es in Liebe oder Leid. Sie müssen sich mit den elf anderen begnügen.“
Ach, still, ihr Gedanken. Hatte sie Georg Ehrensperger denn das ganze Haus übergeben gehabt? Hatte sie ihn auch in die zwölfte Kammer geführt und gar kein eigenes, ganz eigenes Leben mehr für sich behalten?
Da lag ihre Not. Sie konnte ihm nun nicht weniger geben, als vordem, und nichts anderes, als ihr Ich. Sie besaß sich selbst nicht mehr. Er beklagte sich darüber, daß sie anders geworden sei; er verstand sie nicht. Gott Lob daß er sie nicht verstand. Aber wie waren sie nun einander fern und fremd. Gott wußte es.
Wußte er es?
Sie tat einen tiefen, tiefen Atemzug. Die zwölfte Kammer. Sie mußte sie wieder für sich bekommen, sie mußte ja leben, sie wollte es auch. Noch war es ja Zeit. Noch lag das Leben vor ihr, das durfte sie nicht versäumen; auch nicht vertrauern.
Sie richtete sich hoch auf. Hatte nicht auch sie jene Stimme vernommen, die in der großen Einsamkeit redet? Hatte sie bisher gezögert, den großen Sprung zu wagen, über den klaffenden Riß hinüber? Ja, aber nun wollte sie nicht länger zögern. Sie wollte versuchen, ernst und ehrlich, ob es weh tat oder nicht, das Leben zu leben, das vor ihr lag. Sie wollte in sich hineinhorchen, und tun, was ihr da gesagt wurde.
O Georg. Sie mußte ihn ja dennoch lieb haben. Ja, das durfte sie auch. Das konnte sie ja nicht anders.
Gott wußte es.
„Großvater, ich habe dich lange allein gelassen. Sei nur nicht böse. Ach, du und böse! Viel zu gut bist du für mich. Ganz im Dunkeln sitzest du? Hat dir Marie kein Licht gebracht? Nun bleib’ ich den Abend vollends bei dir.“
Er hörte wohl den frischeren Ton in ihrer Stimme.
„Es ist gut, daß du da bist. Ich brauchte kein Licht, du weißt, ich kann doch nicht lesen. Auch bin ich nicht allein, wenn ich so im Dunkeln sitze. Da kommen sie alle zu mir und reden von alten Tagen; Anne, — ich meine deine Großmutter, und die andern alle. Aber nun freue ich mich, daß du da bist, Kind. Komm da her, so — es ist ein Trost, dich da zu haben.“
War es das? Es tat wohl, so etwas zu hören.
„Horch, — still, Nössel, ich glaube, — ja, wahrhaftig, es ist so. Hast du’s auch gehört?“
Meister Nössel hatte es auch gehört. Er nickte eifrig mit dem grauen Kopf und hielt ihn dann horchend vor.
„Da, noch einmal.“
Dann ging ein zufriedenes Leuchten über seine Runzeln. Er stand vor dem Rektor Cabisius. Der hatte einen grünen Schild über den Augen; man konnte nicht sehen, welchen Ausdruck sie hatten; aber der Mund lächelte, weich und froh. „Daß ich das jetzt grad so mitangehört habe,“ sagte Meister Nössel. „Das freut mich. Das hätte die Judith auch gefreut, wenn sie noch da wär. Ja, die Judith.
Ich hab’ so gedacht: trägst den Schlafrock noch herauf vor Dunkelwerden. Er hat ein ganz neues Ärmelfutter, Rektor, und da, das Loch von der Pfeife, das hineingebrannte, das hab’ ich unterlegt und gestopft. Und da hab’ ich gedacht: redst ein Stückchen mit dem Rektor, er sitzt da so allein. Da macht mir die Gertrud das Haus auf, mit ihrem ernsthaften Gesicht. Nein, sag nichts, Rektor, ich weiß schon, es ist ihr ein Hagelwetter über ihr Feld gegangen. So etwas merkt man. Was hat unsereiner denn noch für eine Freude, als das bißchen Jugend, das um einen herum ist? — Ja, und sie guckt jetzt immer an einem vorbei, die Straße herunter, als ob etwas kommen müßte und käm doch nicht. So auch heut. Aber dann hat sie sich gleich einen Ruck gegeben und mich freundlich angesehen. — Daß du wieder froh wärest, hab’ ich gesagt. Aber gesagt hab’ ich nichts.
Und jetzt das.“
„Setz dich doch, Nössel. Was stehst du da vor mir? Das hab’ ich immer gewußt, daß sie sich wieder herausreißt. Sie ist ein gesegnetes Kind. Aber wenn man’s dann zum erstenmal wieder merkt, daß es aufwärts geht. Es ist so still gewesen im Haus, die Zeit daher.“
Und dann schwiegen sie beide.
Da kam es noch einmal. Aus dem Nebenzimmer kam es, und tönte unter schwatzende Kinderstimmen hinein. Ein kurzes, helles Mädchenlachen.
Das mochte andern Leuten nichts so besonderes sein; aber die beiden Greise horchten andächtig darnach hin.
Es war ja Gertrud, die gelacht hatte.
Wie auf den ersten Frühlingsgesang der ersten Lerche, so horchten sie darauf.
„Sie hat die Kinder von den Turmwartsleuten bei sich,“ sagte der Rektor.
„Die Frau ist krank, seit der Geburt des Jüngsten, da holt sie sich die größeren Kinder, so oft sie kann. Und sie lernt und spielt mit ihnen, und flickt ihnen die Strümpfe und die Kittel.
Aber das alles hat sie seither so ernsthaft getan, sogar das Spielen; es kam alles wie aus einem tiefen Brunnen heraus. Es war nur, um etwas zu tun, nur um sich den Tag zu füllen.
Und jetzt hat sie gelacht. Es ist ein Gottessegen.“
Draußen ging der kurze Tag in die Dämmerung über. Es war ein absonderliches Wetter für den Anfang Dezember. Grauweiße, schwere Wolken hingen am Himmel, es konnten Schneewolken sein. Aber dabei strich ein lauer Wind durch die Gassen, und wenn er stillstand, dann war die Luft schwül, wie vor einem Gewitter.
Nun kam Gertrud herein. Ein pfeifender Windstoß fuhr mit ihr in die Stube und draußen schlug das Gangfenster klirrend zu. „Ich will die Kinder fortbringen,“ sagte sie.
„Es zieht ein Wetter herauf. Merkwürdig ist das: Morgen ist der zweite Advent, und heute streiten sich Sommer und Winter in der Luft.“
„Geh’ nur.“ Meister Nössel saß neben dem Rektor und beide hatten sich eine Pfeife angezündet. „Wir sind hier gut versorgt, bis du wieder kommst. Was können wir Alten anders tun, als uns bescheiden? Geh’ nur.“
Da zog sie mit den drei Buben ab. Die hatten gestrickte Sturmhauben über die kurzgeschorenen Köpfe gezogen und trabten, die Hände in den Hosentaschen, lustig durch das Wetter. Heißt das, der Älteste und der Jüngste taten so. Der Älteste war ein kräftiger, untersetzter Bub, der schon den Bücherranzen auf dem Rücken trug und seine Stumpfnase keck in die Welt streckte. Er machte gescheite Bemerkungen über alles und jedes und der Jüngste, der sein verkleinertes Abbild war bis zu den etwas krummen Füßen herunter, sah stolz zu ihm auf und mühte sich, mit ihm Schritt zu halten. Der mittlere von den Brüdern ging dicht neben der Patin, und nach einiger Zeit zog er eine Hand aus der Tasche und hielt sich damit an Gertruds Rockfalten. Er war ein feines, blasses Bübchen mit versonnenen Augen und etwas zaghaftem Wesen. „Ich weiß nicht, wie ich zu dem komme, ich weiß gar nicht, wie ich ihn unterbringen soll,“ pflegte Frau Lieselotte zu sagen, wenn sie von ihren Buben sprach. „Er gleicht weder meinem Mann noch mir im Geringsten, er hätte müssen ein Mädchen werden, als Bub ist er völlig aus der Art geschlagen.“
Aber gerade diesen Zweiten hatte Gertrud besonders ins Herz geschlossen. Die Freundschaft war gegenseitig und sie war in letzter Zeit besonders gewachsen.
„Komm, Leonhard,“ sagte Gertrud und nahm die kleine, warme Kinderhand in die ihrige. „Guck, wie die Wolken fliegen; ganz tief hängen sie herunter, schier um den Turm herum.“
„Wohin fliegen sie?“, wollte der Bub wissen. Aber das konnte die Patin auch nicht sagen. „Wir steigen schnell hinauf, von droben aus sieht man’s besser, weit fliegen sie jedenfalls, über die Berge hin, vielleicht bis ans Meer. Dort kommen sie her; sie werden wieder heim wollen zu ihrer Mutter.“
„Komm.“ Nun strebte Leonhard selber vorwärts, den Brüdern nach, die schon im Turmeingang verschwunden waren. Man hörte ihre Stiefel dröhnend poltern, die vielen Stufen der Schneckentreppe hinauf. Er wollte auch heim zu seiner Mutter. Er hing an der heiteren, raschen, lebhaften Frau, er konnte es nur nicht so zeigen, er war ein wenig scheu. Seit sie aber krank war und im Bett lag, stahl er sich hie und da zu ihr hin und strich über ihre Decke. Da nickte sie ihm dann ein paar mal zu: „Du bist mein gutes Büble.“ Dann war sein Herzlein voller Glück. Das war früher nicht vorgekommen.
Jetzt waren sie oben. Vater Entenmann stand oben an dem hölzernen Treppchen. „Leise,“ sagte er, „es ist am besten, ihr geht gleich oben hinauf in eure Kammer. Die Mutter hat’s heute schwer gehabt und will jetzt schlafen. Das Kleine schläft auch.“ Da erblickte er Gertrud, die hinter den Kindern drein kam. Sie sah, daß er Kopf und Schultern ein wenig schlaff und müde trug und daß sein Gesicht sorgenvoll aussah.
Er nickte ihr zu, ernst und trübe. „Es ist ein Kreuz, es will gar nicht besser kommen. Wo will das noch hinaus? Ich muß jetzt zum Läuten gehen; ich wecke sie wieder auf damit; sie hat sich eben zum Schlafen hingelegt.“
Da kam Frau Lieselottes Stimme aus der Stube; die Tür war nur angelehnt: „Jammere doch nicht so, Mann. Die Kinder sollen mir gute Nacht sagen. Herein, ihr Buben.“
Sie traten ans Bett und waren überfroh, daß sie noch hinein durften, und daß die Mutter aussah, wie sonst, ja, noch ein wenig lachen konnte. Sie wußten nicht, daß dieses kleine Lachen und jedes arme Wort, das sie zu ihnen sagte, ein Stück Arbeit sei. Sie sollten es auch nicht wissen. Sie sollten ihre heitere Mutter sehen, so lang es sein konnte.
„Sie haben schon gegessen,“ sagte Gertrud. „Reisbrei mit Zucker und Zimt,“ sagte Ernst, der Älteste und verzog das Gesicht in der Erinnerung zu einem Lachen, das ihn seiner Mutter ähnlich sehen ließ. „So? Dann geht zu Bett. Dann wollen wir alle schlafen. Seht ihr’s? Das Kleine schläft schon.“
Sie legte sich müde hin. Da gingen sie auf den Zehen hinaus, aber das konnten sie nicht verhindern, daß es dennoch polterte, besonders, als sie die leiterartige Stiege zu dem Verschlag erklommen, in dem sie schliefen, alle drei.
Droben wehte der Wind durch den engen Raum, rüttelte an den zwei kleinen, vergitterten Fenstern, die gleich über dem Boden angebracht waren, suchte sich seinen Weg zwischen den Dachziegeln und Sparren durch, nahm so recht die Backen voll, huh —, als Gertrud die Tür öffnete und die Kinder hineinschob. Sie sah etwas bedenklich drein: hier sollten sie schlafen? Im Sommer hatte sie nie etwas daran gefunden; es war ein prächtiges Schwalbennest, so hoch oben, weit über den Glocken. Aber nun; würde es die Schwälbchen nicht fortwehen heut Nacht bei dem Unwetter? Den Buben kam es lustig vor, auf drei steckten sie schon unter der Decke, nur die Stumpfnasen und die hellen Augen guckten heraus. Der Große und der Kleine lagen beieinander in einem großen Bett, Leonhard allein in einem Gitterbettchen. „Still, der Vater läutet.“ Da rührte sich nichts mehr. Alle vier horchten sie still.
Der Sturm brauste durch die Lüfte, er sang und pfiff und orgelte und riß die Wollen herum, daß sie angstvoll flogen, flogen wie scheue, gejagte Vögel. Und dazwischen fand die Glocke ihren Weg. Sie hatte ihren ganz eigenen, starken Ton in dem großen Konzert, das über das Städtlein hin hallte. Wie eine einzige Singstimme, die über einem ganzen Orchester liegt. Gertrud neigte den Kopf horchend vor. Wie anders läutete der Mann, als vor zwei Jahren noch. Oder lag das an ihrem Zuhören? „Aus tiefer Not laßt uns zu Gott von ganzem Herzen schreien.“ Hieß so der Choral, den die Glocke in den Sturm hinein sang? Oder war auch etwas Freudiges dabei? Etwas Starkes, Ausweitendes einmal sicherlich. Gertrud fühlte es, o das war gut, das war besser als alles Weiche, Laue. Da fuhr eine Helle durch die Kammer. Unter die Decke mit den Bubenköpfen, alle drei in einer Sekunde. Aber sie streckten sie sofort wieder hervor. „Es hat geblitzt.“ Ja, das hatte es. Nun kam auch schon der Donner. Von fern, fernher kam er auf schwerem Wagen gefahren. Nun war er über ihren Häuptern, da schien er zu bleiben. Wollte er denn nicht mehr aufhören? War das eine Stimme. Riesenhaft überschrie sie den Sturm: horchet alle, ihr da unten. Still, wenn ich zu reden habe. In der Kammer war es dunkel geworden, schon während des Läutens. Aber nun kam ein Meer von Helle herein, ganze Lichtfluten, die warfen sich gegen die Wände, und zogen sich wieder zurück, und kamen wieder, hell — dunkel — hell — dunkel. Und darüber die machtvolle Stimme, vor der der Sturm zu schweigen schien.
„Dote, komm zu mir.“ Leonhard saß mit großen, angstvollen Augen in seinem Bett. Als sie sich zu ihm herunterbeugte, schlang er beide Arme um ihren Hals: „Bleib da, bleib bei mir.“
Er barg sein Gesicht an ihrem Hals. Da durfte es auch bleiben. Sie kniete an dem Bettchen nieder: „So, du kleiner Kerl, komm.“ Da sahen sie miteinander in das Wetter hinein und war keines von ihnen allein und der blonde Kopf wühlte sich nur fester in die beschützenden Arme hinein, wenn der Donner stark und neu seine Stimme erhob.
Das war ein Blitzen, grell und hell. Die ganze Stadt und die Berge ringsum und der Wald, alles lag sekundenlang taghell da. Es wollte nicht regnen, so tief die Wolken hingen, nur hie und da fielen einzelne Tropfen, wie schwere, zornige Tränen. Als ob die ganze Natur, wie ein gescholtenes, trotziges Kind, mit dem Fuß aufstampfe und das Weinen verbisse.
„Dote, du, hör, ist es wahr, daß der liebe Gott zornig ist und zankt, wenn es donnert? Ich — ich fürchte mich ein bißchen.“ „Ich auch,“ das kam aus dem großen Bett, in dem die beiden andern Brüder einander fest umschlungen hielten, aus Not, nicht aus Zärtlichkeit. Unter der Decke hervor kam es, kläglich und halb erstickt von dem Federgebirge, das sie sich über den Kopf gezogen hatten.
Dann noch einmal: „Fürchtest du dich auch, Dote? Du?“
Es blieb eine Weile still. Die Buben horchten begierig hin. Aber beim nächsten Blitzen sahen sie in ein helles, warmes Gesicht.
„Nein, ich fürchte mich nicht. Es ist nirgends etwas zu fürchten. Zornig? ach nein, das ist er nicht. Er muß nur so laut reden, daß die Leute auf ihn horchen sollen; sie vergessen ihn sonst und sind selber so laut. Er ist stärker als alles und größer als alles. Aber man vergißt es so oft.“
Vergaß sie, daß sie zu den Kindern redete? Sie dachte an ihre eigene Furcht und Not. Aber sie war ja auch ein Kind, nur daß ihr die Furcht, die atemraubende, große, ein wenig vergangen war.
„Und mit dem hellen Licht, das er in die Nacht hineinwirft mit seiner Hand, — es fährt durch die ganze Welt, schneller als Wind und Wolken, viel schneller, — da, habt ihr’s gesehen? — damit leuchtet er in alles Dunkle hinein und grüßt uns: Nun seid still. Das bin ich. Ich kenne euch alle, ich weiß von euch allen. — Seht ihr? So ist das. Da ist nichts zu fürchten.“
Da waren sie zufrieden. Das durfte der liebe Gott wohl. Er leuchtete stark in die Kammer herein; eigentlich tat man am besten, die Augen zuzumachen. Dote Gertrud war ja da, die konnte über alles Auskunft geben, was die drei Entenmänner betraf. Ernst, Leonhard und Gotthilf hießen sie, und drunten war noch ein kleiner Bruder namens Johann, den die Mutter immer Hanselmann nannte. Der liebe Gott würde aber wohl den rechten Namen wissen wollen. Auch redete er nun schon ein wenig leiser. Es war aber dennoch gut, den Kopf noch eine Weile unter der Decke zu lassen. Was mochte es sein, daß er so laut in die Welt hinein rief? „Dote Gertrud!“ Aber sie gab keine Antwort mehr. Sie hatte selber zu horchen. Sie strich leise mit der Hand über das blonde Haar, das an ihrer Brust lag, aber ihre Augen sahen in die Weite. Wer will die Gedanken anhalten, die mit den Wolken fliegen, über die Berge hin, ins weite Land hinaus? Suchten sie einen, der dort war, etwa in der Richtung der Tannengruppe auf dem Bühel, die jetzt eben in hellem Lichte stand, nur weit, weit dahinter? Was mochte er jetzt tun? Wie mochte es ihm ergehen? Es trieb ihr etwas unruhig das Herz um. Er hatte dieser Tage geschrieben, an den Großvater und sie miteinander; er vermißte sie, bat um Briefe, es ging kein froher Ton durch sein Schreiben hindurch.
Gertrud konnte den Brief fast auswendig. Es stand auch von Lore darin. „Habt sie lieb um meinetwillen. Gertrud, du, besonders du. Du bist immer meine Schwester gewesen, mein ganz guter Kamerad. Bleib es uns beiden. Du bleibst es doch? Ich — ach es ist von weitem schwer zu sagen, ich wollte, ich könnte einen Abend bei euch sitzen. Auf der Truhe, auf meinem alten Platz.“
Ach, wie sollte sie das machen? Wie konnte sie ihm eine Schwester sein? Das war sie nicht. Nein, sie hatte Lore nicht lieb, sie konnte sich nicht helfen. Kam es nun wieder? Hob der Schmerz aufs neue sein Haupt?
Hilflos sahen ihre Augen in das Blitzen und Wettern und Toben hinein.
„Ich will ja. Ich will wollen. Es ist, als ob ich in Nesseln griffe, so weh tut das. Aber worum er mich bittet, das muß ich tun. Ich — ich will es versuchen. — — —“
„Du Starker, Gewaltiger, Großer, nein, ich will mich nicht vor dir fürchten, so hart du hereingreifst in mein Leben. Was willst du aus mir machen? Du mußt es wissen.“
Wie die Wolken flogen vor seiner Hand, wie er allem auf den Grund leuchtete mit seinem Blitz, wie sein Sturmwind alles Schwüle, Schlaffe, Weichliche hinausfegte!
„Und hältst doch die Welt an deinem Herzen. Das mußt du, aus dir selbst heraus mußt du das. Du hast sie gemacht. Auch mich. Ein Recht haben wir an dich. Du mußt uns Leben schaffen, denn du riefst uns.“
Schwächer rollte der Donner, fernehin zog er und verhallte, leise fing es an zu regnen und hörte bald wieder auf und es wurde stiller. Es war, als ob jemand dem geschlagenen Kind, der Erde, die Tränen abtrocknete, und zu dem Donner und dem Wind sagte: Nun ist es genug, nun laß sie schlafen. Fernehin zogen die Blitze, ein paarmal noch zuckte es auf, drüben am Horizont; es war, als würde das Licht weiter getragen, um nun in eine andere Kammer zu leuchten. Zwischen den Wolken hervor drängten sich ein paar Sterne, stille, friedlich brennende Lichter der Nacht: Nun schließt getrost die Augen, ihr Menschen, nun sind wir da und wachen.
Tiefe, lange Atemzüge. Gertrud kam mit ihren Sinnen in die Kammer zurück und wurde gewahr, daß Leonhard schwer in ihrem Arm lag und die Augen geschlossen hatte und schlief, und daß die beiden Brüder, drüben in dem großen Bett, auch schliefen. O, ihr Kinder. Sie mochte sich nicht rühren. Wie warm und traut war es, die Ärmchen um den Hals zu fühlen, wie tief und friedlich kam der Atem aus der kleinen Brust herauf. Aber nun machte sie sich doch leise los. „Bleib bei mir,“ das kam aus tiefem Schlaf heraus, dann ein Seufzer, nun lag der Blondkopf auf dem Kissen und schlief weiter.
„Es ist doch schön, wenn jemand ‚bleib bei mir‘ sagt, und wenn es auch nur ein Kind ist. Und wenn es auch nicht meines ist. Ich will gehen und Frau Lieselotte gute Nacht sagen, und will ihr sagen, daß ich mich um die Kinder, — ach nein, ich will ihr nichts sagen, sie soll gesund werden und ihren Reichtum behalten; heimgehen will ich und den Großvater pflegen. Wer ist so gut und liebreich, wie er? Und will für ihn — für Georg will ich —“
Da dröhnte das Treppchen von Vater Entenmanns schweren Tritten. „Still, sie schlafen alle. Ich komme. Das war ein Wetter. Aber nun ist es vorüber.“
„Ich wollte längst nach euch sehen, aber ich konnte nicht abkommen. Das Kleine schrie, und die Frau brauchte mich. Es ist ein Leid, Gertrud; sie trug uns alle, so lang sie gesund war, es gibt keine so frische, heitere Frau mehr wie sie. Nun liegt sie so da.“
„Sie trägt euch noch immer; sie hat Mut und Vertrauen, das ist es; das hat sie auch jetzt noch. Sie weiß, daß es uns nicht ziemt, Ihm Vorschriften zu machen, wenn wir’s uns auch freilich manchmal anders wünschen, als es kommt. Ich wußte nicht, was an ihr ist, ich weiß es erst, seit sie krank ist.“
Er ließ den Kopf sinken. „Es ist nicht leicht. Und dann das Wetter heut abend. Das ist so ungewöhnlich um diese Zeit. Er bedeutet sicher etwas Schlimmes. Es ist nicht genug an dem, was schon ist, es muß noch mehr kommen. Die Wolken hingen so tief herunter, fast zum Fenster herein. Um den zweiten Advent, Gertrud. Was sagst du dazu?“
„Was ich sage? Wir sollten es machen wie die Kinder. Du solltest sie schlafen sehen. Unter Blitz und Donner sind sie eingeschlafen, weil ich sagte, es sei nichts zu fürchten. Was wissen wir von Zeit und Unzeit? Ich glaube nicht, daß etwas zur Unzeit über uns kommen kann. Wenn wir das sicher wüßten, dann bedeutete alles etwas Gutes.“ Er mußte sie ansehen. Als er ihr die Treppen hinableuchtete und der Strahl seines Lämpchens ein paarmal ihr Gesicht traf, staunte er, wie es ernst und doch froh war, und wie sie den Kopf und die ganze Gestalt aufrecht trug, hoch und sicher, und doch so warme, kindliche Augen hatte.
„Ein wenig besonders war sie immer, aber nicht so wie jetzt. Schön kann man sie nicht heißen,“ — Konrad Entenmann, Flickschuster und Nachtwächer, hatte so gut wie andere Leute seine besondere Anschauung über die menschliche Schönheit, — „das nicht, aber es ist etwas an ihr. Ich weiß aber nicht, was es ist.“
Er wußte nicht, daß die Freude an ihr Herz getreten war und es leise angerührt hatte. Die rechte, echte Freude, die nichts bringt, als sich selbst, die an das Leben glaubt und in sich selber Teil daran hat, obgleich sie nichts zu besitzen scheint, die aus ewigen, unversieglichen Quellorten kommt. Noch war sie zaghaft und still, noch stritt das Heer der dunklen Geister um den Vorrang. Aber zuweilen stieg sie aus dem Grund der Seele empor und trat bis in die Augen, da kam ein warmes Leuchten hinein. Da freute sich, wer hineinsah; wie sich einer freut, der im Tal wohnt, wo noch die Schatten liegen und der hoch am Berg ein Fenster aufblitzen sieht wie von Feuer, weil die ersten Sonnenstrahlen darein geflogen sind.
„Streck dich nach vorn aus allen Kräften — im Zeitstrom, der vorüberrauscht — vorüberrauscht, vorüberrauscht — klapper, klapper — nun standen die Räder. Eine hohe Halle, ein Menschengetriebe, ein Sausen und Brausen von der großen Stadt her, ein einsamer Mann, der aus dem Wagen stieg und sich hineinwagte in den „Zeitstrom, der vorüberrauscht.“ Fest und still sah sein Gesicht aus. Nun galt es; es galt, Ernst dahinter zu setzen. Das wollte er auch und nichts anderes. Aber da fiel es ihm ein, daß ja doch sehr viel schöne Dinge, helle, lichte Wellen in diesem Zeitstrom seien. Darüber mußte er sich ja doch wohl freuen dürfen. Also Kopf hoch und die Arme gereckt: komm her, du reiches Leben.
Nun mußte zuerst eine Wohnung gesucht werden. Er hatte bisher immer in engen Gassen gewohnt; man denke an Frau Mollenkopfs Stube, und dann in Tübingen. Diesmal nun sollte es aber etwas anderes sein. Da geriet er in ein Prachtsgebäude, er mußte allen Mut zusammennehmen, um den Hausmeister zu fragen: Hier sei ein Zimmer mit gutem — vorzüglichem stand auf der Wohnungsliste — Klavier zu vermieten? und wohin er sich da begeben müsse? Der Hausmeister führte ihn in den dritten Stock. Frau Amtsgerichtssekretärswitwe Habermaas. Glänzende, polierte Treppen, dicke Läufer darauf, farbige Scheiben in den Treppenfenstern. Das Zimmer oben, das zu vermieten war — rote Plüschmöbel, große Öldrucke in breiten Goldrahmen, hohe Alabastervasen mit künstlichen Sträußen links und rechts von dem geschliffenen Spiegel, der diese Pracht widerstrahlte. Die Dame sehr majestätisch, dick, so um die vierzig herum, hatte lockig frisiertes Haar, eine Schmelzgarnitur auf der Brust, eine goldene Brille auf. „Ah, Musiker, angehender Künstler? Das trifft sich“ —. „Bitte, nein, so dürfen Sie nicht sagen.“ Aber es war nicht aufzuhalten, Georg mußte erfahren, daß die Dame „nahe daran“ gewesen sei, sich gleichfalls „dieser Laufbahn“ zu widmen. „Welcher Laufbahn?“ fragte Georg, aber sie sprach schon weiter. Ebensogut hätte er den Uracher Wasserfall aufhalten können. Das sei ausgezeichnet; der Herr könne versichert sein, daß sie — Verständnis und so weiter. Er wagte nicht, das Zimmer nicht zu nehmen, er nahm es. Aber es war ihm wind und weh darin. Als sie ging, wurde es besser. Er sah aus dem Fenster. Da unten wogte der Menschenstrom vorbei; es klingelte, tutete, schwirrte, es fuhr mit Wagen, Straßenbahnen, Rädern; eine Abteilung Militär ging vorbei, da, schräg hinüber über den Platz, da war ein Schilderhaus, ein Posten wurde abgelöst, weiter. Ein großer Brunnen ließ vielstrahlig seine Wasser springen, schön abgezirkelte Blumenbeete rings herum, Sonne lag darauf. Irgend etwas rauschte wie von ferne; das war aber wohl in seinem Kopf, — „im Zeitstrom, der vorüberrauscht.“
Er wandte sich nach innen. Das Klavier war gut, das war die Hauptsache. Die Öldrucke hätte er gern von der Wand genommen, aber das wagte er doch nicht. Die Dame war so überaus imposant, so liebenswürdig sie auch war. Sie kam wieder und fragte nach seinen Wünschen. Dann: „werden Sie wohl Stunden geben? Singstunden? Nein? Ah, Sie studieren noch. Wäre es unbescheiden, zu fragen, was Sie —“, mit sechs Fragen hatte sie alles aus ihm heraus. Er war machtlos, er mußte es sagen, wonach sie fragte. Theologie studiert? und umgesattelt? was, um zu komponieren? — eine ehrfurchtsvolle Neigung des Kopfs und der Schultern, dann ein neckisches Lächeln: „Der Herr ist noch nicht verlobt, da kann man schon“ —. Er hätte sie hinauswerfen mögen, aber er sagte mit innerem Zähneknirschen: „Doch, ich bin, das heißt, beinah,“ er stotterte. Wieder das Lächeln; als verstehe sie alles von ferne. „Aha, und das hängt dann wohl mit dem Wechsel zusammen?“ Da stieg ihm der Grimm doch bis in den Hals. „Ich bin evangelisch,“ sagte er grob. „Bei uns können die Pfarrer heiraten. Sie sind wohl katholisch?“
Sie sah ihn wieder lächelnd an. „Der Herr hat eine Künstlernatur, das flammt leicht auf. O, ich verstehe.“
Wenn sie doch nur irgend etwas nicht verstanden hätte. Aber sie verstand alles. Es war zum davonlaufen. Und das tat er auch. Das war das erste, was sie nicht verstand, als er nach einem Monat umzog. Aber sie faßte sich. „So sind die Künstler. Immer Veränderung. Der Herr will in eine einfachere Gegend ziehen? Ah, ich verstehe, es ist wegen der Stille. Ja, still ist es hier, in der Mitte der Stadt, nicht. Das versteh’ ich so gut.“
Da konnte er ja ruhig gehen. Er hatte bereits eine neue Stube gefunden. Draußen lag sie, am Rand der Theresienwiese, vier Stock hoch, frei, still und mit einem weiten Blick über das Isartal hin, bis ans Gebirge. Einfache Möbel, aber sauber, einfache Leute.
Die Hausfrau fand er, als er kam, in dem Gemüsekeller, von dessen Ertrag sie lebte, umgeben und umhangen von Rot- und Weißkraut, Zwiebel- und Knoblauchkränzen, Rettichen, Tomaten und allerhand Rüben. Da saß sie, rund, rot und frisch glänzend, wie eine Schnecke in einem Salatboschen und strickte an einem Strumpf. Viele Worte verlor sie nicht. „Emerenz,“ sagte sie und drehte den Kopf ein wenig, „Emerenz, zeig dem Herrn den Weg. Er hat das Zimmer gemietet.“ Da fand es sich, daß noch ein lebendes Wesen in dem Raum war, sozusagen ein junges Schnecklein, das in einer andern Falte des Salatboschens gesessen war.
Es war ein schmales, schlankes, bräunliches Ding von vielleicht elf Jahren, hatte das Ende eines schwarzen Zopfs im Munde und ergriff einen Schlüsselbund. Mit diesem rasselte sie einladend.
Dann stiegen sie mitsammen hinauf.
Als sie oben waren, steckte der Schneider, der auf dem gleichen Boden wohnte, den Kopf heraus. „Na, Emeritz, vermietet?“ Sie lachte vergnügt. Sie war nicht im mindesten scheu. Das Zimmer war zwei Monate leer gestanden und daran hatten ihre Freunde, die Schneidersleute, teilgenommen. Das war eine Sache von Wichtigkeit. Der neue Herr war hier nicht so beklommen, wie bei Frau Habermaas. „Emeritz, sagen Sie?“ „Ja.“ Der Schneider lachte. „Ist sie nicht grad so ’n Vögelchen? Ich streu’ den Emeritzen den ganzen Winter Futter hinaus, da kommen sie immer an mein Fenster. Aber ich sag’ sie ist auch so. Sie ist so leicht und flink und hüpft so und hat so schwarze Augen, alles wie ein Emeritz. Ha ha.“ Dann schlug er die Tür zu, machte sie aber gleich nochmals auf: „Wünsch’ gute Angewöhnung.“ Ja, das kam dem neuen Herrn selbst so vor, als ob er sich gut angewöhnen würde. Emerenz war schon drin. Sie ging auf knarrenden Stiefelsohlen, deren Musik ihr offenbar Vergnügen zu machen schien, hin und her, tat rasch und leicht die kleinen Dienste, die der Einzug verlangte. Dann nahm sie den gläsernen Wasserkrug und ging, ihn zu füllen. Krach, flog die Stubentür und dann die Glastür zu. „Das,“ dachte der neue Herr, „muß ich ihr abgewöhnen.“ So, schon wieder erzieherisch? Er mußte lachen, als es ihm einfiel. „Ich hätte Schulmeister werden sollen.“ „Ja, das kannst du ja noch. Du kannst ja nun Musiklehrer werden,“ sagte sein Inneres. Aber da schüttelte er sich. Sein eigener Musiklehrer fiel ihm ein, ein ganz feiner, vornehmer Musiker; der war zerschunden und verbraucht vom Stundengeben. Immer wieder von vorne an, Tonleitern und Fingerübungen. „Nein, das könnte ich nicht.“ Das sagte er laut. Er wußte ja, was er wollte, zuerst und vor allem komponieren. Damit hatte er ja schon begonnen. Aber ob es damit allein ging? — „Ach, zum Donnerwetter, muß denn immer irgend ein Zweifel sein?“ Da ging er ans Klavier und öffnete es. Noten hatte er noch nicht da, aber das tat nichts. Er mußte sich nur ein wenig Luft machen und mitten in den breiten Akkorden, die er versuchsweise anschlug, kam ihm eine kleine, hüpfende Melodie zwischen die Finger. Er mußte lachen. Das war Emeritz. Er beschloß, sie auch so zu nennen, der Name gefiel ihm. War sie nicht mehr da? Doch, da stand sie, mitten in der Stube, und horchte. „Hör einmal. Weißt du, wer das ist? Das bist du.“ Da riß sie die Augen mächtig auf. „Ich? bin ich denn im Klavier drin?“ „Ja, du, da ist die ganze Welt drin, die will ich nach und nach herausholen.“ Ha ha. Der neue Herr, das war ein „gspassiger“. „Ist denn die Mutter auch drin? und der Schneider? holen S’ den auch einmal heraus.“
Da holte er den auch. Er war ein großer, starker Mann, mit einem Körper wie ein Schmied, aber mit einer weichen, hohen Stimme und einem Schelmengesicht, grauem Haar und Stoppelbart. — Sieh, da schritt er über die Tasten, schweren Schrittes und stolperte ein wenig, — „ist sie nicht wie ein Vögelchen?“ sagte er. Emeritz war außer sich vor Vergnügen. Das konnte lustig werden. Wupp, war sie draußen, knallte die Tür zu, dann hörte Georg sie drüben. Der Schneider wohnte Wand an Wand mit ihm. Sie redete eifrig. Dann kamen verschiedene Schritte, schwere und leichte. Und als es klopfte — herein — da stand Emeritz und lud mit einer Handbewegung ein. „Das gibt ein Gaudi,“ sagte ihr Gesicht. Da stand der Schneider und zwei Buben drängten sich neben ihm in der Türöffnung, und hinter ihnen sah ein dünnes, spitzes Gesicht hervor. Was? Die Spitalbäbel von Wiblingen? Nein, doch nicht. Aber so ähnlich. Jungfer Roggenbart, die Patin der Buben; sie hielt ein zerrissenes Hemd in der Hand und hatte den Fingerhut auf. Sie war am Flicken.
Na? Georg war doch etwas überrascht. Fing das so an? Das war doch ein wenig —. Aber da sah er, wen der Schneider in den Armen hielt. Ein Bübchen, so um sechs oder acht Jahre herum, blaß und elend, der Kopf lag an des Vaters Brust und die Augen, — weitoffen und glanzlos — er war blind.
„Ach, verzeihens, aber die Emeritz, ha ha, sie hat gesagt, — es ist aber doch gar zu keck, — der Herr, der hole uns alle aus dem Klavier heraus. Ha ha. Da hab’ ich gedacht — der Bub, der Theodor, das ist sein Leben, wenn er Musik hört. Er ist mein Jüngster und das Weib ist gestorben.“
Ja, natürlich durften sie hereinkommen. Sie sollten nur alle Platz nehmen, das sei dann die Einweihungsfeier. Da kamen sie, Jungfer Roggenbart machte tausend Komplimente, schließlich aber saß sie auf einem Stuhl und versuchte sich noch dünner zu machen, so, dachte sie, nehme sie wenig Platz weg.
Aber dem Herrn war es nun plötzlich nicht mehr um eine Spielerei zu tun. Das blinde Kind, und dann die kleine Gemeinde, die da so selbstverständlich saß, war das ein Zeichen, daß er nun dennoch den Geringen, Armen dienen solle, er mochte tun, was er wollte? Es schien ihm plötzlich so. Den Kindern an Jahren und den Kindern am Gemüt. Wie hatte er, damals im Wald, zu Lore gesagt? „Auch die Kunst hat ein Priestertum. Auch sie vermittelt das Göttliche an die Menschen.“ — O du Pfarrer, hatte Lore gesagt.
Da nickte er ihnen rasch zu, warm und freundlich, und spielte ihnen vor, was ihm einfiel, eine Haydnsonate, und dachte nicht, daß sie das am Ende nicht verstehen könnten. Als er sich einmal flüchtig umsah, sah er in andächtige Gesichter und spürte einen guten Geist des Aufhorchens, der belebte ihn sehr und er nahm mit ihnen die kinderreinen Töne in sich hinein.
Sie sagten nichts, als er geendet hatte, aber er sah, daß ein feiertägiges Gefühl in ihnen war und daß das blinde Kind ein feines Rot auf dem Gesicht hatte, das ging spielend auf und ab und bis unter das blonde Haar. War es etwa nichts, ein solches Rot der Freude in ein solches Gesicht zu bringen? Ja, das konnte er fühlen: dies war ein guter Anfang. Möchte er nur immer so offene Zuhörerschaft haben, auch wenn er etwas Eigenes zu geben hatte.
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Sie gaben ihm viel damit, daß sie von ihm nahmen.
Wenn ein schwerer, reicher Mensch seine Fülle mit sich herumträgt: Gedanken und einen Widerhall von der großen Weltharmonie, dann kann ihm nichts Besseres widerfahren, als daß eine hungrige Menschenseele — oder ihrer etliche — sich, bereit und herzlich willig zum Empfangen, vor ihn hinstellt: Nun tu dich auf und laß regnen, denn ich bin ein dürres Land, das des Segens bedarf.
O, wer von uns fordert, der gibt uns überschwenglich viel. Gemeinschaft gibt er uns, und Teil an der Menschheit, deren Glied wir sind, und Teil am Leben, dessen Kind wir sind. Das alles geben sie ihm, der vergeblich versuchte, mit Seinesgleichen Verkehr, verstehenden Umgang zu pflegen.
Nach den Besten unter denen, die mit ihm desselben Weges gingen, verlangte es ihn je und je. Aber es war wohl seine Art so, sein Schicksal oder wie man das nennt: er konnte sich gerade ihnen nicht aufschließen.
Er hatte gedacht in das gelobte Land der Gleichstehenden, Gleichempfindenden zu kommen, als er nach München ging. Da spukte noch das Bild herum, das ihm Hollermann einst gezeichnet hatte: ein aufgetanes Tor, durch das sie alle schritten, bärtige Männer und Jünglinge. Und alle, alle machten Musik. Den ganzen Tag nichts anderes.
Ja, Musik. Aber er war in seinem Leben noch nicht so allein gewesen, als gerade unter ihnen. Das lag wohl an ihm selbst. Aber darum war es doch so.
Er nahm ein paarmal einen Anlauf.
Einmal, im Winter, fing er an, sich, schüchtern zuerst, dann nach und nach mutiger, an einen Lehrer anzuschließen. Der war ein feiner Musiker und ein feiner, verstehender Mensch, der ermutigte ihn und lockte allerlei Zutrauliches und allerlei von dem, was ihn schaffend bewegte, aus ihm heraus. Zweimal besuchte ihn Georg; das dritte Mal wurde er abgewiesen. Der Professor lag krank: überreizte Nerven. Dann reiste er ab, irgendwo nach dem Süden für längere Zeit. Da war Georg wieder allein.
Einmal faßte er sich ein Herz und lud drei Mitstudierende in sein Zimmer ein. Emeritz machte die Hausfrau und trug das kalte Nachtessen auf. Nachher saß sie auf einem Schemel und hörte zu. Ihr Herr spielte wunderschön, sie wußte, daß er das selber gemacht habe, was er spielte. Es wäre vielleicht besser gewesen, er hätte nur einen eingeladen, oder wenigstens nicht den großen, rotbärtigen Schweizer dazu, der mit gekreuzten Armen am Fenster stand und so merkwürdig lächelte. Aber gerade zu dem hatte er so einen besonderen Zug. Er fühlte aber wohl seinen Blick auf sich ruhen, so überlegen oder wie es war. Denn er verwirrte sich, fing an, zu hasten, um fertig zu werden, spielte schließlich so seelenlos, sprang dann auf: Ich bin nicht in der Stimmung, es geht nicht. Dann, unter dem Zwang der ruhig-verwunderten Blicke des Schweizers nahm er sich zusammen und spielte zu Ende.
Nachher, als sie fort waren, — sie hatten noch heftig gestritten — saß Georg am Tisch und sah stumm vor sich hin. Emeritz ging hin und her, räumte ab, blieb wieder wartend stehen. Dann sagte sie: „Heut hab’ ich was gesehen, was Feines.“
„So? Was denn?“ Er sagte es gleichgültig.
„Halt eine Prinzessin in einem rotseidenen Kleid, wissens, drüben in dem Wachsfigurenkabinet. Sie kniet am Boden und ein Räuber steht vor ihr und will sie totschlagen. Sie sieht dem Fräulein Lore gleich, bloß daß das Fräulein Lore lacht und die Prinzessin lacht nicht.“
Das hätte ein andermal gezogen. Sie führten hie und da Gespräche über Lore, deren Bild auf einer braunen Holzkonsole stand, Freude und Lebenslust in den Augen, Sonne in dem ganzen Gesicht.
Heut sah er nur flüchtig auf. Wie konnte man so strahlend aussehen?
Also das war nichts gewesen.
„Der Theodor hat eine Mundharfen ’kriegt,“ setzte Emeritz wieder an. „Er hat gern blasen wollen, so arg gern. Er kann sie aber nicht halten, seine Händ zittern so. Jetzt weint er und hat doch keine Augen. Armer Tropf du, hat der Schneider zu ihm gesagt.“
Da stand er auf und holte das Büblein herüber. So tat er hie und da. Er gab ihm ein Lied und lehrte es zuhören und freute sich, wenn er das lichte Rot der Freude entstehen sah und es störte ihn nicht, wenn ein paarmal die Tür knarrte und noch eins hereinkam. Er, der die reiche Welt hatte ans Herz nehmen wollen, war froh, wenn er ein paar Menschen fand, die er an der Hand nehmen und sie an den „Zeitstrom, der vorüberrauscht“ führen konnte: „Da, hört ihrs? nun horchet mit mir hinein.“ Und obgleich sie nichts von der Kunst wußten oder verstanden, empfingen sie doch eine Ahnung von dem großen Rauschen, das unter der Oberfläche hingeht. Das war ja auch etwas.
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Frühling, kurz nach Ostern. Er war in einer Hauptprobe gewesen, Bach, ein Orgelstück, dann eine Kantate: „Liebster Gott, wann werd’ ich sterben.“ Er war voll davon. Den Klavierauszug trug er unter dem Arm. Als er an der Glastür war, zögerte er. Dann machte er die Tür zu der Schneiderswohnung auf. „Willst du etwas hören, Theodor?“ Das wollte er immer, das war keine Frage. Aber da war auch der Vater und die drei andern Buben und da war Jungfer Roggenbart, die saß und flickte Strümpfe. — Heut sei der Mutter Todestag, sie seien alle in der Kirche gewesen. „Ja, dann kommt nur alle mit herüber.“
Das paßte denn auch vorzüglich für heute. Nicht der Text allein — er sang ihn — die ganze Musik handelte von Sterben und Auferstehen. Aber doch mehr vom Auferstehen. Da lagen die Gräber um die Kirche her, Orgelton kam heraus, aber hier draußen war es auch lebendig. Vögel sangen in den knospenden Zweigen, ein Wind wehte hindurch, es war sicher ein Tag gemeint, wie heute, um Ostern herum. Das lag alles in der Musik, das spürten sie, sie hätten es nicht sagen können. Das lag darin, daß das Leben über den Tod siege. Es war etwas Festliches; es war wie in der Kirche und doch wieder nicht. Es gehörte ihnen so zu eigen, es schwebte nicht in Weihrauchwolken hoch oben, es war hier in der Stube. Es war ihr eigener Herr, der es spielte. Ja, so weit waren sie schon gediehen, daß sie Beschlag auf ihn legten in aller Bescheidenheit und Stille, ohne daß er es wußte.
Im Vertrauen und untereinander gesagt, es kam ihnen ein schönes, festliches Leben vor, das er führte. Wenn er nicht so gut und freundlich gewesen wäre, sie hätten es ihm kaum gegönnt. Sie mußten alle tüchtig arbeiten; er aber, wenn er morgens aus dem Haus ging, hatte er Notenhefte unter dem Arm und wenn er heimkam, machte er auch Musik. Saß er aber still über seinen Büchern, so wußten sie, daß sie ja auch davon handelten, und — ja, manchmal las er in dicken Notenbüchern, wie andere Leute im Gebetbuch. Emerenz wußte es, die war ja am meisten um ihn. So eigentlich geschafft war das nicht. Aber wie gesagt, sie hielten doch viel auf ihn. Abends war er viel aus. Da hörte er wohl auch Musik? Dann, wenn er heimkam, ging er oft noch lang in seiner Stube hin und her, hin und her, das konstatierten sie von rechts und links. Aber warum er es tat, das wußten sie nicht.
Jungfer Roggenbart saß und hatte die Hände gefaltet, denn nun ging das ganze in einen Choral aus. Da ging draußen die Vortür. Emerenz drehte rasch den Kopf. War sie denn nicht geschlossen? Nein; da wurden Männertritte hörbar, jemand räusperte sich, putzte die Füße ab, dann klopfte es. Natürlich, der Herr hörte nichts, er sang und spielte aus Leibeskräften. Der Schneider übernahm es „Herein“ zu rufen und alle hoben erwartungsvoll die Köpfe. Aber als die Tür aufging, da brach ihr Herr auch das Spiel ab, kurz und rasch. „Fritz Hornstein, du, — Mensch, — da steht er auf einmal.“ Er hatte eine Reisetasche umhängen und hatte den großen Filzhut in der Hand. Er sah so kurzsichtig auf die Leute, die Brillengläser waren überlaufen, als er ins Zimmer trat; er nahm die Brille ab und putzte sie. Dann, als er wieder sehen konnte, lachte er mit Mund und Augen. „Du hältst also hier bereits Konzerte? Das geht schnell voran, muß ich sagen. Oder — oder habe ich eine andere Versammlung gestört? Ja, jetzt seh’ ich’s: Du hast es nicht ertragen können, daß du der Theologie den Abschied gabst und fängst nun hier auf eigene Faust an — —,“ „ach laß doch, Fritz. Ich habe diesen Leuten etwas vorgespielt, das ist alles. Es sind gute Leute, feine, sie sind fast wie bei uns daheim.“
Das war ein hohes Lob, das sah Fritz Hornstein ein.
„Ja, dann laß dich nicht stören. Da ist noch ein Sitzplatz, ich höre zu.“ Aber es war gerade aus. Der Schneider nahm sein Büblein auf den Arm, und Jungfer Roggenbart knixte und dann bekam Fritz Hornstein von allen einen Händedruck, eh’ sie gingen. Zuletzt stand noch Emeritz da und machte fragende Augen. Sollte sie das Nachtessen nun dennoch bringen? Es stand schon in der Küche bereit, Tee pflegte Georg sich selbst zu machen.
„Komm her, Emeritz. Siehst du, Fritz, das ist ein verzauberter Vogel, den hab’ ich mir eingefangen, er trägt mir alles, was ich brauche, im Schnabel herbei. Es ist ein Emeritz. Sieht man’s nicht an den Augen?“ Emeritz lachte. Der Gast auch. „Ja, und am Gezwitscher, da kann man’s auch merken.“ „Sie leiht mir ihre Ohren, so oft ich’s brauche; sie kann kritisieren. Mit einem einzigen Seufzer kann sie alles sagen, was sie ausdrücken will, wenn sie mir zugehört hat, je nachdem es ein bedauerlicher, entzückter oder unzufriedener Seufzer ist. — Bring Wein, Emeritz. Ich habe ein paar Flaschen Remstäler, sie haben ihn von daheim geschickt.“ Dann waren die Freunde allein.
„Also so betreibst du deine Studien? Volkskonzerte?“
„Nein, jetzt sei ernsthaft, du. Ich freue mich, daß du da bist. Bist du für länger hier?“
„Für fünf Tage, dies ist der dritte. Ich habe, um es gleich zu sagen, eine kleine Erbschaft gemacht, siebenundvierzig Mark, nachdem die Sporteln abgezogen sind. Nun bin ich daran, sie sofort wieder hinauszubringen. Die Mühe ist nicht so groß, es ist bald geschehen.“
Ja, das wollte Georg Ehrensperger gern glauben. Siebenundvierzig Mark, — er wußte, wie das Geld hier in München davonlief, obgleich er nicht großartig lebte.
„Nein, das ist so: Ich bin Vikar bei einem uralten Pfarrherrn mitten im Schwarzwald, drei Filialdörfer und jedes zwei Stunden vom andern entfernt. — Nicht ganz zwei Stunden, — aber doch, man sieht und hört da nichts von der Welt. Man gibt und gibt aus, den ganzen Winter lang — Unterricht, Krankenbesuche — schließlich war ich so ausgebeutelt wie ein leerer Mehlsack und ging ganz trübselig einher. Vorigen Herbst noch in Tübingen und nun so. Da regt und rührt sich nichts Geistiges. Von was kann man mit den Leuten reden? Und dann, mein alter Herr. Mensch, wie lang ist das her, seit er jung war. Da hatte der aber eine Idee.
‚Sie sollten ein bißchen hinaus, Herr Vikar,‘ sagte er. ‚Nur ein paar Tage. Etwas sehen und hören. Sie werden mir sonst mauderig.‘ Ich — Käfig auf und hinaus. Der alte Herr war einst auch hier in München, als er noch jung war. Er taute plötzlich auf, als er darauf zu reden kam. Alles lag in wohlverschlossenen Schubladen in seinem Gedächtnis aufbewahrt. Nun zog er eine um die andere auf. Ich sage dir, er wurde ganz jung. Ich freue mich geradezu, bis ich es ihm wieder erzählen kann, was ich nun sehe. Ich glaube fast — im Vertrauen gesagt — man bildet sich das so ein bißchen ein, daß unsereiner mit den Alten nichts anzufangen wisse. Schließlich waren sie doch auch einmal jung, nicht?“ Aber Georg Ehrensperger hatte noch nie gemeint, daß mit den Alten nichts anzufangen sei. Davor war der Rektor Cabisius gewesen, und — und die andern alle. Er war eher ein solcher, der mit den Jungen nichts anzufangen wußte.
„Und du,“ fuhr der Gast fort, „seit ich nun hier so herumstreife, geht mir’s sonderbar. In all’ dem Gewimmel und Getriebe seh’ ich mein stilles Dörflein vor mir. Ganz anders als vorher. Als ob mir hier erst die Augen aufgingen, — wie es so daliegt in seiner Wälderstille. Und alles ist so einfach und so lebendig. Wie aus dem Boden gewachsen. Und dann, meine Konfirmanden, es sind helle, aufgeweckte Kinder darunter. Heut, vor mehr als einem Bild, dachte ich, — ich war in beiden Pinakotheken, — da möchtest du deine jungen Leute hinführen. So gänzlich unverbildet wie sie sind. Da merkte ich an mir, daß doch etwas herüber und hinüber geht zwischen ihnen und mir. Ich habe nicht für mich allein genossen; immer fiel mir jemand ein, dem ich dies und jenes erzählen wolle, wann ich heimkomme.
Jetzt sag: Bin ich doch schon verbauert? Oder was ist es? Denn ich glaube, ich freue mich ja wahrhaftig wieder auf mein kleines Nest, so sehr ich alles genieße.“
„Verbauert? Du? Beneiden könnt’ ich dich. Ich, wenn ich dabei geblieben wäre, — eine kleine Landgemeinde, nichts anderes. Ich sage dir, das sogenannte geistige Leben in den Städten, na — ich kann wohl nicht so mitreden; ich bin immer meine eigenen Wege gegangen.“
„Das bist du. Aber nun von dir, Joseph, Träumerseele. Erzähl’ mir von dir, was du schaffst, lebst, liebst. Erzähl’ mit von deinem Schatz, deiner Gertrud. Ich freue mich, daß sie zu dir gehört. Ich weiß nicht, ob ich sie einem andern gönnen möchte. Am Hausweihfest, da hatte ich meine Freude an ihr. Ich dachte: der Ehrensperger, der ist ein Glückskerl. Das geht so sicher neben ihm her, und wenn er hie und da — du nimmst mir das nicht übel — davonläuft und nach farbigen Schmetterlingen hascht — dann ist es immer für ihn da, wenn er zurückkommt. So hat’s nicht jeder.
Mensch, was machst du für ein Gesicht? Hast du eine Erscheinung? Was ist mit dir?“
Gradaus sah Georg Ehrensperger und seine Augen weiteten sich.
War ein Blitz vor ihm niedergefahren? War er bisher blind gewesen? Gertrud — Gertrud? War sie nicht seine Schwester? Nicht sein bester Kamerad? War es möglich, daß sie —? Ach nein, das war es nicht. Oder? Sie war nicht mehr die Alte und er hatte sich viele Gedanken darüber gemacht. War es das? Um Gottes willen. Er atmete hastig auf. Nein — doch? „Nein.“
Das sagte er laut. Er zwang sich zum Lachen. Er lachte hart und kurz auf.
„Diesmal hast du doch nicht recht gesehen, Alter. Gertrud und ich sind wie Geschwister. Sie ist — wir sind nichts weniger als verliebt ineinander. Ha—ha. Und kurz — ich bin — ich dachte, du hättest das gemerkt, mit Lore Maute verlobt, so gut wie verlobt. Ja, eigentlich kann man wohl so sagen. Ich sage es dir, es ist ja natürlich noch in weitem Feld.“
„Was?“ — Der Gast war unsäglich verblüfft. Er konnte es nicht gleich verbergen. Lore? Er kannte sie, das heißt, so flüchtig. Er hatte schon mit ihr getanzt und gelegentlich ein wenig gescherzt. Lore? Ja, aber dann —. Er konnte es nicht lassen, er pfiff leise zwischen den Zähnen.
„Nun, dann verzeih’,“ sagte er trocken. „Das habe ich freilich nicht gewußt.“ Und sonst sagte er nichts.
Da fing Georg Ehrensperger an, eifrig von seinem Leben und von seinen Studien zu erzählen. So still er vorher gewesen war, so lebhaft wurde er nun. Als sollte weder ein Wort noch ein Gedanke mehr dazwischen fallen.
„Das heißt geschafft,“ sagte er, „kann ich dir sagen. Vom Morgen bis zum Abend. Üben, üben, üben. Dann Tonsatz, Kompositionslehre — Selbststudium, so viel dazwischen Platz hat. Abends Konzerte, Opern. Aber es geht mir anders damit, als ich dachte. Mensch, es kann nichts Neues mehr geben. Es ist alles schon da. Größer, gewaltiger, als es noch einer sagen kann. Manchmal ist es mir, als ob das alles, was ich in mir selber hatte, in graue Fernen entschwände. Wo ist es? Was war es nur? Und was bin ich selbst? Ein Zwerg bin ich, der vor lauter Riesen steht.
Als ich noch ein halbwüchsiger Bub war, dann ein Student, da war es mir, als ob ich Erd’ und Himmel in mir trüge und es alles klingen lassen könne. Dann fand ich Lore — und sie mich. Da war alles Jubel und Reigen. Nun muß ich mich da hindurchbeißen, durch all’ das Fremde, und dann versuchen, ob mir noch etwas Eigenes bleibt. Aber,“ er straffte sich unwillkürlich, „das will ich auch.“
Er sah flüchtig nach dem Nebentisch hinüber. Dort lag eine dicke Mappe. Sprach sie nicht laut davon, daß er es tat?
Sein verschwiegenstes Schaffen war darin, aller Jubel und alle Angst und alle auffahrende Ungeduld, alle Hoffnung und alles Streben.
Dort lag die Mappe und rührte sich nicht. Nein, er wollte lieber nichts von ihr erzählen.
„Das will ich auch,“ sagte er nochmals, wie um sich selber zu vergewissern.
„Sie sagen alle: ohne ernstes Studium geht es nicht, ohne Lehrer auch nicht. Also. Obgleich es mir oft ist, als ob es mich arm mache und leer. Denn das ist ja nicht meines, was ich treibe, das ist das der andern. Dann geh’ ich einen Tag lang fort, hinaus, auf den Starnbergersee, nach Nymphenburg, in den Wald, irgendwo, wo ich mich auf mich selbst besinnen kann. Dann hör’ ich es wieder von weitem.“
Er sprach unruhig, erregt, so, als ob unten in seiner Seele ein starker Wellenschlag wäre. Es wetterleuchtete in seinen Zügen von Glück und Not.
Und Fritz Hornstein sah ihn an und mußte ihn liebhaben trotz seiner Enttäuschung mit Gertrud Cabisius.
Einen Augenblick überlegte er auch, ob er nun nicht die Einladung des Rektors annehmen solle, ihn und die Enkelin einmal zu besuchen. Nun konnte er ja ruhig hingehen, er kam dort niemand ins Gehege. Aber dann schüttelte er den Kopf: „das ist keine von denen, die den Gegenstand vertauschen.“
**
*
Als die Freunde auseinandergingen, war es spät in der Nacht. Sie waren schließlich im Dunkeln gesessen.
Nun, als er allein war, zündete Georg die Lampe an und holte ein kleines Bündel Briefe hervor. Nur ein kleines. Sie waren von Gertrud und sie hatte nur selten geschrieben. Lorens Briefe lagen daneben; viele kleine, leichte Blätter, oft nur halb beschrieben, hellfarbiges Papier, ein schwacher Duft von Maiglöckchenessenz kam ihm entgegen. Zwischen den zierlichen und oft ein wenig hüpfenden Buchstaben sah ihm ihr helles, lachendes Gesicht heraus.
Gertruds Briefe, ihre festen, weißen Bogen mit den klaren, geraden Schriftzügen, lagen so schlicht dabei.
Warum konnten sie nur nicht mehr miteinander gehen wie in der Kinderzeit, alle drei? Da stieß er die Schublade zu, daß die Lampe klirrte und setzte sich an den Tisch, um zu lesen.
Und wie er las, ein Blatt ums andere, da war es ihm, als ob er Gertrud von weitem sähe, wie sie abschiednehmend grüßte und mit der Hand winkte: nun ist es alles aus und vorbei.
Er versuchte, es nicht zu glauben, was Fritz Hornstein gemeint hatte.
Es waren ja so herzlich einfache Briefe. Sie fragten nach seinem Leben und Schaffen, zart und ohne zu drängen. Dann erzählten sie vom Rektor Cabisius, daß er nun fast blind geworden sei, aber aus seiner reichen, inneren Welt heraus so viel sonniges, liebreiches Leben spende, und dann einiges von Gertrud selbst. Das heißt von dem, was sie arbeitete und las und ein weniges von dem, was sie drüber dachte und von dem sie meinte, daß es ihn beschäftigen könne. Und immer etwas, das ihm Mut machen sollte.
Aber wenn er die Briefe zum zweitenmal las, dann war es ihm, als ob jeder Satz etwas verhalte, etwas Unausgesprochenes. Als ob die rechte Hand geschrieben und die linke vorsichtig eine wunde Stelle beschützt hätte, die keine Berührung vertrage. Da senkte sich eine schwere, bittere Traurigkeit auf ihn. Er hörte die Betglocke auf dem Wiblinger Kirchenturm und sah die Lichter hinter den Scheiben brennen und wußte, daß er nach Hause mußte und konnte doch nicht.
Bitterlich kam da das Heimweh über ihn.
Als das zweite Jahr in München um war, bekam Georg die Nachricht, daß seine Schwägerin gestorben sei.
Da kaufte er sich einen schwarzen Filzhut, ein Florband um den Ärmel und eine Fahrkarte nach Hause.
Er war ihm um Franz. Der hatte ja doch niemand als ihn. Er empfand auf einmal mit Macht den starken natürlichen Zusammenhang mit ihm.
Aber als er ins Haus trat und in die Ladenstube, fand er da schon einige Leidtragende: den Müller Hensler und zwei schwarzgekleidete Frauen — Lore und ihre Mutter. „Lore, du?“ Sie ließ das Kuchenmesser, mit dem sie eben hantiert hatte, fallen und drehte sich rasch um. „Du — o — Georg — wir hatten dich erst heut abend erwartet — o —“ Da umschlossen sie schon seine Arme. „Still.“ War sie noch schöner geworden? In dem schwarzen Kleid sah sie so groß und schlank und vornehm aus. Da kam Frau Maute heran. Sie hatte eine breite Schürze aus Trauerkattun an und etwas aus schwarzem Krepp gemachtes auf dem Kopf und ihr Gesicht drückte eine Mischung von feierlichen, traurigen und angenehmen Gefühlen aus.
Sie war mit einem Plan hierhergekommen, den sie gleich nach der Beerdigung dem jungen Witwer zu offenbaren gedachte. Vorderhand zeigte sie durch die Tat ihre verwandtschaftliche Gesinnung für Franz, indem sie geschäftig hin und her ging, dem Müller Hensler einschenkte, die Blumenspenden der Wiblinger in Empfang nahm, hie und da eine Nachbarin in die Totenkammer führte, in der die junge Frau lag, die einst so rührig hier herumgewirtschaftet hatte, und indem sie hie und da ein Federchen oder Härchen sorgfältig von Franzens schwarzem Rock entfernte, das etwa daran hängen geblieben war.
Alle diese Taten vollbrachte sie unter vielen und mütterlichen Reden, die sie in etwas kläglichem Ton hervorbrachte, denn sie hielt denselben für am Platz und passend bei dieser Gelegenheit. Auch hatte sie für Zwei gerührt und bewegt zu sein, da Lore sich ganz natürlich und anmutig betrug als ein Wesen, das durch sein bloßes schönes und erfreuliches Dasein genug zum Trost der betrübten Menschheit beiträgt.
„Gelt, du wunderst dich, daß wir da sind?“
Sie lehnte sich an Georg und sah ihm in die Augen.
„Sag etwas; du bist ganz verstummt.“
Ja, er hatte sich im ersten Augenblick gewundert, wie man sich im Traum wundert, daß etwas plötzlich da sei, das man fern glaubte. Aber er war froh genug, daß sie da war.
Alles zweifelhafte, unruhige Denken, das ihn in letzter Zeit oft gequält hatte, wenn er an sie dachte, verstummte vor ihrer leiblichen Gegenwart.
Aber als er nicht gleich etwas sagte, hielt es Frau Maute für angezeigt, eine Erklärung zu geben.
Sie klopfte Franz, der im Großvaterstuhl saß, auf die Achsel.
„Wenn man so nah verwandt ist. Wir konnten ihn doch nicht im Stich lassen, — jetzt. Hi hi.“ — Sie vergaß sich und lachte geschwind ein bißchen. Dann suchte sie schnell wieder den leidtragenden Ton hervor, nahm die Schürze vor die Augen und sagte hinter derselben hervor:
„Es ist vollends so schnell gegangen, man hätt’s nicht gedacht. Vor ein paar Wochen, als Franz bei uns war“ —
„Franz war bei euch?“
„Ja, hab’ ich dir das nicht geschrieben?“ Lore streichelte Georgs Hand. „Er war beim Doktor für seine Frau, da besuchte er uns natürlich.“
„Ja, wir haben die Verwandtschaft ein bißchen gepflegt,“ sagte Müller Hensler behaglich, „nicht, Franz?“
Franz nickte. Er sah stark mitgenommen aus, trug sich etwas schlaff und machte einen älteren Eindruck, als es seine achtundzwanzig Jahre wollten.
„Müller Hensler war auch mit in Tübingen? Das habt ihr mir alles nicht mitgeteilt.“
„Ja du, du stecktest ja bis über die Ohren in deinen Arbeiten. Was hast du für Briefe geschrieben — hu. Ich traute mich nicht mehr mit so kleinen Ereignissen an dich heran.“ Lore machte ein trotziges Mäulchen. „Es ist nur gut, daß du endlich wieder einmal da bist.“
Da mischte sich Frau Maute wieder ein.
„Er hatte es schwer, der arme Franz. Es tat ihm gut, ein bißchen bei uns zu sein. Ich — wenn man selbst Mutter ist — aber nun wollen wir ihn wieder herauskriegen.“
„Mutter,“ sagte Lore, „da kommt jemand mit einem Kranz.“ Da enteilte sie und man hörte von draußen herein ihre klägliche Stimme, mit der sie irgend eine Teilnahmsbezeugung quittierte.
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Wenn jetzt Jungfer Liese dagewesen wäre. Wenn sie jetzt wieder Schlüsselbund und Geldtasche an sich genommen hätte, sie, die Getreue, die so ungern ihre beiden Franze, den alten und den jungen, aus ihrer Obhut entlassen hatte.
Aber sie war nicht mehr da, um die alten Pflicht- und Würdezeichen an sich zu nehmen. Da mußten sich andere Leute dazu bequemen, und das taten sie auch. Man muß es ihnen lassen, daß sie es äußerst bereitwillig taten.
Es war je länger je mehr mit Hängen und Würgen gegangen, sowohl was die Putzmacherei als die möblierten Zimmer betraf. Sie waren zu nichts gekommen und es hatte nirgends recht hinreichen wollen. Dazu kam, daß Lore nicht mehr recht Lust hatte, in Tübingen zu sein.
„Ach, es wächst immer wieder so junges Gemüse daher, was will ich davon? Ich wollte, Georg machte voran.“
Ja, das hätte Frau Maute auch gewollt.
Als Georg, etwas später als die andern, denn er hatte die bekannten Gräber besucht und an Frau Judiths Grab Meister Nössel getroffen, — als er vom Kirchhof zurück kam und in die Ladenstube trat, wo alle um den Kaffeetisch saßen, verstummte ein lebhaftes Gespräch, das sie soeben geführt hatten.
„Sag’s ihm, Franz.“ „Nein, du.“ „Nein, ich,“ sagte Lore und machte ihm an ihrer Seite Platz.
„Was würdest du dazu sagen, wenn wir hier blieben, die Mutter und ich?“
„Man kann doch Franz nicht im Stich lassen. Er muß doch jemand haben.“ Das sagte Frau Maute. „Und da du wohl doch noch nicht so schnell Hochzeit machen kannst, so dachten wir,“ sie brach ab und sah ihn erwartungsvoll an.
Wie merkwürdig das alles war. Eben noch dort draußen der eisgraue Mann, Meister Nössel, der ein ganzes Stück seiner Kindheit und Jugend in ihm wachgerufen hatte, dann im Heimgehen die alten Gassen und Häuser, unter den Akazien Mütter mit Kindern — mit den Müttern hatte er selber als Kind gespielt — nun hier in seinem Vaterhaus, in der alten Ladenstube, wo noch die beiden Edelleute an der Wand hingen, wie vor Zeiten, dieser Kreis von Menschen, niemand neues dabei, nur so neuartig zusammengeschlossen.
Franz, der nur zwei Jahre älter war als er, saß da als Witwer, hatte schon alles erlebt, was in ein Menschenleben herein gehört, was wollte er nun noch?
Und Lore, seine Lore, die sollte hier daheim sein, indes er draußen war? Und ihre Mutter sollte hier schalten?
Frau Maute im Ehrenspergerhaus? Wie merkwürdig.
Er fand nicht gleich eine Antwort, er sah fragend von einem zum andern.
Der Müller Hensler saß neben Frau Maute und sah sehr einverstanden aus.
„Jetzt wird’s wieder gemütlich hier,“ sagte er. „Jetzt werden wir wieder jung miteinander. Mach voran, Musikante, dann kommst du auch dazu.“
„Ja, mach voran.“ Das sagte auch Franz. Er hatte den schwarzen Rock ausgezogen und saß in Hemdärmeln da. Es war mühselig und traurig zugegangen in seinem Leben die letzten Jahre her. Er hatte seiner Frau alle Erleichterung und alle Pflege angedeihen lassen, die sie sich nicht selber als zu teuer verbat. Er glaubte sich nichts vorwerfen zu müssen. Jetzt, glaubte er, dürfe er ein wenig aufatmen.
„Platz hat’s genug,“ sagte er. „Ihr könnet im Oberstock wohnen, heißt das, den Tag über gibt’s genug zu tun so unten herum. Da ist die Wirtschaft und der Laden und die Küche, und —“
„Und der Krautgarten und das Baumgut,“ sagte Lore und lachte. „Heidi, das gibt ein Leben. Dauert mich nur mein alter Riedesel in Tübingen, sonst kein Mensch. Und derweil macht mein Herr Musikdirektor seine wunderbaren Sachen fertig, von denen kein Mensch etwas rechtes erfährt, und dann — — jetzt mach du weiter, Georg.“
Da sahen sie alle auf ihn.
Und dann? Er saß da und sah vor sich hin.
Es war ihm auf einmal, als ob er nicht daher gehöre. Gar nicht in diese Stube und in diesen Kreis. Er hätte allein mit Franz auf das Baumgut gehen mögen, wie in Kindertagen und eine Weile mit ihm von ganz harmlosen Dingen reden, oder allein mit Lore in den Wald gehen. Er hatte ihr so viel zu sagen, so viel. Er konnte es nicht hier tun, vor allen, er konnte es nicht.
Er sah sie bittend an: „Kommst du ein wenig mit mir?“
Aber sie merkte es nicht. Oder wollte sie nicht?
„Du, Georg,“ sagte sie, „die Mutter hat erfahren, daß man fürs Komponieren fast gar nichts bekomme. Man möge noch so schöne Sachen hinbringen. Sag, ist das wahr? Du kannst dir denken, daß ich keinen schlechten Schreck gekriegt habe. Aber du verstehst es wohl besser, gelt? Du mußt ja wissen, worauf es hinausläuft. Sag.“
Und alle sahen ihn an und wollten wissen, „worauf es hinauslaufe“. Das war so natürlich — so natürlich. Aber es wandelte ihn dennoch die Lust an, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen aus innerem Grimm heraus. Er mußte sie im Sack ballen, daß er es nicht tat. Sie hatten ja doch ein Recht, zu fragen. Aber wie tausendmal er sich selber schon gefragt hatte, das wußten sie ja nicht.
Er atmete schwer. „Ich habe mit dir davon reden wollen, Lore,“ sagte er endlich, da sie ihn alle ansahen.
„Du kannst nicht sagen, du wissest nichts von dem, was ich schaffe, ich habe es dir immer geschrieben.
Ich habe etwas angefangen, das, wovon ich dir einst sagte, im Wald, an jenem Tag, etwas unsäglich Schönes. Die ganze Welt ist drin. Ich höre es im Wachen und im Traum. Das muß werden. Es wird auch. Aber laß mir Zeit dazu, Lore, glaub’ an mich, sei geduldig. Sieh, manchmal ist es zum Greifen nahe, dann entschwindet es wieder in alle Fernen.“
Er sprang auf, lehnte sich an das Fensterkreuz und redete im Stehen weiter. Seine Augen lagen auf Lore, er suchte in ihrem Gesicht. Suchte er den hellen Funken, der damals von ihr zu ihm gesprungen war, zündend, verheißend, befruchtend?
„Ich — ich habe es dir schreiben wollen. Ich will aus dem Konservatorium austreten, es ist nichts für mich. Es ist da so viel zu hören und zu lernen, das mich nichts angeht innerlich. Ich will einmal nur auf das horchen, was aus mir herauswill. Sonst kommt mir hundertmal das Fremde dazwischen.“
Er sah sie alle der Reihe nach an. Sie machten verdutzte Gesichter.
„Ja,“ sagte Frau Maute, „davon ist ja aber nicht die Rede und das verstehen wir auch nicht so. Es ist nur die Frage, worauf es schließlich hinausläuft. — Doch, Lore, das muß ich als Mutter doch fragen.“
Und Franz und Müller Hensler nickten bedächtig dazu und nahmen breite Schlücke von dem roten Wein, der in den Gläsern stand; denn mit dem Kaffee waren sie nun fertig.
„Ich kann es euch nicht sagen,“ dachte er trostlos. „Ihr versteht mich doch nicht. Ihr fraget nur: was bringt es ein?“ Dann raffte er sich auf.
„Laßt mir noch ein wenig Zeit,“ sagte er. „Wenn ich das Werk fertig habe — es brennt mich und ich muß es schaffen, dann freut ihr euch mit mir. Dann wird sich das Weitere auch zeigen. Dann ist mir auch um eine Stellung nicht bange. Ich will es ihnen schon in die Ohren bringen, sie müssen es hören. Glaub’ daran, Lore, du hast es doch immer getan.“ Sein Gesicht sah so warm und bittend in das ihrige, es wurde ihr so frühlingshaft zu Mute, als ob sie vor einem Baum stände, der war voller Knospen, und der Baum gehörte ihr, und wenn er in Blüte stände, dann sollte sie Hochzeit machen. Aber als sie aufstand und ihm liebe, vertrauende Worte sagen wollte, sah sie zufällig in den Spiegel und sah, daß ihre Mutter, die hinter ihr stand, ihr zuwinkte: „Sei nicht zu nachgiebig; du mußt ihm den Ernst zeigen. Du weißt, er ist ein verträumter Idealist.“ Und sie trat zwar zu ihm und legte den Arm um seinen Nacken und sah ihn an; aber es war nicht das gläubige Leuchten, nach dem er sich sehnte, in ihren Augen, sondern eine drängende Glut: „liebster Mensch, man ist nur einmal jung. Siehst du mich? Da hast du mich. Komm bald. Du hast es mir versprochen.“ Und in ihm schrie etwas auf, das hatte er lange und oft in sich verstummen heißen: „an einem wirst du schuldig. An Lore oder an deiner Kunst. Es ist anders, als du gemeint hast. Schuldig wirst du, so oder so. Du wirst wohl ein Brot suchen müssen; du bist dazu verpflichtet, bald. Aber das war es nicht, nach dem du ausgingest.“
Er wußte nicht, wo er hinsehen sollte, um seine Not zu verbergen und verbarg sein Gesicht in ihrer Hand und sagte nach einer Weile, daß er jetzt gehen wolle, um den Rektor zu besuchen. „Und Gertrud,“ dachte er im stillen, und auch da war ein Druck, wie von Schuld oder Furcht oder Sehnsucht. Er hatte sie jetzt zwei Jahre lang nicht gesehen und wußte nicht, wie er ihr gegenübertreten sollte, ihr, der er am liebsten alles ausgeleert hätte, was in ihm umging von Glück und Not.
Aber als er, um dem Denken ein Ende zu machen, an der Glocke des Rektorhauses zog, da guckte ein junges Dienstmädchen heraus und sagte, daß der Herr Rektor und das Fräulein verreist seien für etliche Tage, und daß der Herr Rektor sich einer Augenoperation unterziehe.
Also brauchte er sich nun nicht mehr zu besinnen: will ich? will ich nicht? sondern konnte gleich umkehren, denn da war nichts für ihn zu holen. Er brachte es aber nicht über sich, fortzugehen, sondern klinkte die Gartentür auf und schritt zwischen den buchseingefaßten Beeten durch den Gemüsegarten, kam bis unter die Obstbäume, die dies Jahr nicht viel trugen und setzte sich in schweren Gedanken unter den Süßapfelbaum. Wo waren die Bubenträume, die er hier gesponnen hatte? Und wo war Gertrud, der er sie erzählt hatte?
Hier waren sie zu dreien gesessen, damals, eh’ Lore nach Tübingen ging. Ein Schwarzköpfchen sang in der Hecke am Stadtgraben sein Abendlied; die Zweige des Baumes rauschten leise in einem weichen Wind, und er saß und die Augen fielen ihm zu. Er war in der Nacht gereist und der Tag war unruhig gewesen. Aber plötzlich sah er staunend auf. Unter den Bäumen kam ein alter Mann daher, gebückt, grau — nein, das war nicht möglich — doch — es war der alte Hollermann. Ganz so wie einst sah er aus, nur daß das Hinfällige, Schlaffe, Runzelige wie übersonnt oder durchschienen war von etwas Festem, Frohem, Starkem.
Nun blieb er stehen, stützte sich auf seinen Stock und sah auf den Dasitzenden.
Der erschrak und das Herz klopfte ihm.
„Ach,“ sagte er unsicher, „das bist du? Bist du das und kommst zu mir? — Das kann ja doch aber nicht sein. Du bist ja doch gestorben.“ Da lächelte der Alte. Es war ganz sein stilles, feines Lächeln von einst; es ging aber über den ganzen Mann hin.
„Ja, gestorben, das nennt ihr so, weil ihr keine andere Bezeichnung wisset. Ihr sehet nicht so besonders weit hinaus, ihr auf Erden. Aber dafür könnet ihr nichts. Wir nennen das nur „sich verändern“, und ich habe mich verändert, das ist wahr. Und es ist gut so.
Aber davon wollte ich nicht reden. Ich wollte dich nur fragen: Hast du etwas gefunden?“
„Gefunden?“
„Ja, du wolltest ja doch das schönste Lied suchen, das, bei dem die ganze Welt mitsingt? Du bist doch noch auf der Suche?“
Da senkte Georg den Kopf in großer Traurigkeit.
Der Alte aber sah ihn immer an mit seinen ruhig betrachtenden Blicken.
„Was hast du denn für einen schweren Sack auf dem Rücken? Es rasselt darin und poltert, so kannst du ja nicht horchen.“
Das hatte der Jüngere selber nicht gewußt, daß er den Sack trug. Also daher kam der schwere Druck, den er empfand? „O, es sind nur Steine drin,“ sagte er. „Ich muß ein Haus bauen für Lore, sie sagt, ich habe es ihr versprochen. Ich habe es nicht so bedacht, daß ich das muß. Aber darum ist es nun doch so. Da muß ich jetzt die Steine tragen. Es ist schwer, ich kann mich nicht bei dir aufhalten. Horchen? Nein, horchen kann ich auch nicht.“ Aber der Alte wuchs so sonderbar. Er schien die Bäume zu überragen und seine Augen wurden immer leuchtender und durchdringender.
„Du,“ sagte er, „du Sonntagskind, du gehörst dennoch zu den Horchenden. Du mußt die Steine wegwerfen, du kannst jetzt kein Haus bauen. Das weißt du ja selber. Du mußt ja doch das Lied suchen. Du willst nicht, du mußt. Hörst du nicht, wie es klingt?“
Da zog eine ferne, leise Musik an ihnen vorüber und Georg horchte mit klopfendem Herzen.
„Das war’s, das ist’s.“ Aber als er aufspringen wollte, rasselten die Steine in dem Sack.
Und er warf sich vor Hollermann auf die Kniee und umfaßte ihn.
„Hilf mir,“ sagte er. „Du siehst mich durch und durch. Du weißt, wie es ist.“
Aber Hollermann sagte nichts mehr. Nur mit einer sonderbar linden, feinen Hand streichelte er den Knieenden, immer von der Stirn bis zum Nacken, daß es ihn durchrieselte wie von einer belebenden Wärme. Da wurde es ihm so leicht zu Mute, so leicht und frei.
„Ich will aufstehen und ihm nachgehen,“ sagte er.
„Ja,“ sagte Hollermann, „und da ist auch die Geige.“
Da sah Georg mit Staunen feine, silberglänzende Fäden, wie aus Mariengarn gesponnen, die gingen von seiner Brust aus und waren an den Bäumen und Sträuchern ringsum befestigt und Hollermann rührte daran, da klangen sie, teils stark teils leise.
„Ein Ton die Schuld, ein Ton die Liebe, ein Ton die Sehnsucht, ein Ton das Alleinsein, das große, herbe, ein Ton die Mühe — kannst du sie alle? Du mußtest sie alle erleben, um sie zu kennen.“
„Still.“ Georg horchte atemlos. Das klang alles in seinem Herzen, aber draußen in der Welt klang es mit.
„Einiges fehlt noch,“ sagte Hollermann und lächelte.
„Das mußt du noch suchen. Und einiges, das weißt du, findest du erst in dem andern Land. Aber laß dich nicht irre machen, es ist doch da und ist wirklich. Davon sollst du singen: Was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig —.“
Jetzt war es auf einmal nicht mehr Hollermann, sondern Frau Judith, und dann war es Meister Nössel, und dann Georgs Mutter, wie sie aussah an dem Tag, dem einen, da es Licht bei ihr geworden war. Und dann kam die Rektorin Cabisius daran, und weit weg tauchte der Rektor auf, und Gertrud noch weiter, wie ein Schatten, aber alle waren sie da und er hörte Hollermann sagen: „Sind wir nicht viele? Sind wir nicht eine feine, stille Gemeinde? Nun wollen wir ihm das Lied singen. Leise, — man muß hören, daß alles mitsingt.“
Da entstand ein wogender, schwebender Gesang, ein feines und doch starkes Klingen. Die Sterne standen am Himmel und ließen silberne Töne niederfallen, die Bäume regten singend ihre Äste und jedes Blättlein schwang leise mit, der Wind trug auf seinen Flügeln von ferne her starke Harmonieen, irgendwo rauschte es, da war doch aber kein Fluß? Ach nein, Gertrud sagte: „Im Zeitstrom, der vorüberrauscht.“ Und aus den wenigen Menschen im Garten waren viele, unzählige geworden, wie Schatten glitten alte Bekannte und fremde Gesichter an ihm vorbei, und sie sangen alle:
und alles ringsumher sang mit. Das Lied hatte Georg schon früher einmal gehört, er wußte nur nicht mehr, wo. Ihm brannte das Herz und er versuchte mitzusingen, aber da wurde alles undeutlich und zerfloß, und er saß mit offenen Augen und klopfenden Pulsen unter dem Süßapfelbaum. Es war ein Klingen und Schwirren in ihm, das zog mit den Strömen seines wallenden Blutes auf und ab; es rauschte leise wie von weichen Gewändern, es war ein Schimmern zwischen dem Gesträuch hindurch, wie von weißen Fittichen, da rieb er sich die Augen und stand auf und war allein.
Der Mond ging heute früh auf, er kam schon am Horizont herauf und warf einen milden, silbernen Schein da herein. Drüben über dem Stadtgraben war die Seilerbahn, die aufgespannten Seile schimmerten weiß in dem bleichen Licht, irgendwo sang eine Männerstimme — ein Volkslied — „und so will ich wacker streiten, und soll ich den Tod erleiden“ — mehr war nicht zu hören.
Und Georg Ehrensperger, der mutlos und schweren Herzens hierher gekommen war, reckte sich, daß er aufrecht und hoch den Gartensteig wieder zurückging und in seiner Seele gingen hohe Wellen. „Ich kann noch nicht gleich heimgehen, ich will noch in den Wald hinauf. Die Nacht möchte ich durchwandern, ganz allein. Still, daß kein Ton vergeht. Wie ein Segen ist es auf mich herabgekommen.“ Und er beugte den Kopf, wie um es besser tragen zu können, was ihn wie ein schwerer Reichtum füllte, und trug den Hut in der Hand. Vor den Fenstern des Rektorhauses blieb er stehen und grüßte die Abwesenden. „Ihr gehöret dennoch zu mir. Ich gehöre dennoch zu euch.“ Dann schritt er durch die Gassen. Es war niemand mehr draußen. Das war ihm recht. Die Brunnen plätscherten, hinter den Scheiben entzündeten sich die Lichter, er ließ das Städtlein mit seinen Heimwesen hinter sich und ging die kleine Anhöhe hinauf, den Dinkelsbühl, und kam in den jungen Eichenwald, der dort droben steht.
Als einem, der lang in der Fremde gewesen und dann heimgekommen ist, war es ihm.
Kühl und weich war das Moos am Waldrand, in das er sein Gesicht drückte. Ganz still standen die jungen Bäume und horchten. Aber sie hörten nicht, was er redete, es kam nicht über die Lippen.
Vielleicht wußte er es auch selber nicht so genau, was alles in starkem Lebensdrang aus seiner Seele strömte. Ein Dank und eine Freude und ein Sich-hin-geben-wollen an die Welt. Ein Gebet: Bleib mir nah, du — du ew’ger Geist, des Wesen alles füllet —, bleibet mir nah — ihr, die ihr zu mir gekommen seid — schließet einen Kreis um mich. Das und mehr. Es wurde immer stiller, größer, es ging immer mehr nach innen.
Leise ging der Nachtwind über ihn hin.
Er ist schon über manchen hingegangen, der in der Nacht „auf einen Berg besonders“ ging, um sich in der ewigen Einheit zu fassen, und um den rechten Ton zu finden, am Morgen mit den Menschen vom Ewigen zu reden.
Es war ziemlich spät, als Georg wieder den Berg hinabstieg. Alles war still umher, er fing hie und da leise an zu summen: „Alle die Schönheit Himmels und der Erden ist verfaßt in dir allein“ und dann brach er wieder ab: „still!“ und sagte:
Sie hatten auf ihn gewartet und waren etwas ärgerlich, daß er so lange ausgeblieben war. Und Lore saß im Großvaterstuhl und rührte sich nicht, als er hereinkam. War sie böse? Daran hatte er gar nicht gedacht, er wollte ihr sein ganzes, volles Herz bringen, das hatte ihm zuletzt die Schritte beflügelt. Da sah sie auf und sah ihn an und wollte irgend etwas Gekränktes sagen und blieb staunend still. So rein und schön war der Glanz seiner Augen und so still und fest seine ganze Haltung, so sehr leuchtete ihr seine hohe Liebe entgegen und dann noch etwas, das sie nicht kannte, etwas Sieghaftes, Heiliges.
„Komm,“ sagte er. „Ich muß morgen früh abreisen, wir haben nur den einen Abend. Komm mit mir in meine Kammer herauf, in der ich mit vierzehn Jahren schlief. Nein, sag nichts, ich muß dir viel erzählen.“
Da führte er sie an der Hand aus der Stube und die Treppen hinauf bis unters Dach, und die Zurückbleibenden schüttelten ratlos die Köpfe: „Was hat er jetzt wieder? Ist das ein närrischer Mensch.“ Und ratschlagten, ob denn jemals etwas aus ihm werde, und fanden große Beruhigung in der Erkenntnis, daß „so etwas“ sonst nicht in der Ehrenspergersfamilie daheim sei, — wenn er aber nur nichts Ungutes von seiner Mutter geerbt habe.
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Sie war viel hin- und hergezogen worden, so lang er fern war. Etwas, das Beste in ihr, das strebte nach ihm, das kam zur Entfaltung in der Gemeinschaft mit ihm, in seiner Liebe, und in dem Willen, mit ihm in seiner Welt zu leben.
Aber da war so viel anderes daneben. In ihr selbst und in ihrer Umgebung. Nun saß sie neben ihm, auf der Kiste, die er sich einst zu einem Sofa geträumt hatte. Das alte bunte Umschlagtuch seiner Mutter lag noch darüber ausgebreitet von lang her. Sie sah zu ihm auf mit erstaunten Augen. Was hatte er nur? Da war nichts zu kritteln und zu tadeln, er stand sicher und hoch in einer reinen, schönen Welt.
Und ohne den Druck und die Unsicherheit des Nachmittags fing er an, ihr von seinem Werk zu erzählen, das ihm jetzt wie ein Ganzes vor der Seele stand, ja, das ihm innerlich fertig zu sein schien, so gewaltig tönte es.
„Könnt’ ich dich nur dazu hineinhorchen lassen, Lore. Das wär das Beste. Denn mit Worten ist es schwer zu sagen. Aber dennoch. Also du weißt: Da geht einer aus und will das schönste Lied suchen. Ein Geiger. Er hat es im Traum gehört, jetzt läßt es ihn nicht mehr los, er muß es wieder haben. Zuerst hört man den Traum, das fängt ganz fein an mit Streichinstrumenten die tragen eine Melodie wie auf Fittichen. Dann will es eine einzelne Geige nachbilden, das ist immer er; aber es tönt ihm anders, nicht so, wie er es gehört hat. Dann geht er auf die Wanderung und sucht immer. Da kommen Vogelstimmen, Wasserwellen, Winde, Gewitterstürme. Überall ist ein bißchen davon drin, aber nur da ein Ton und dort einer. Und immer wieder die Geige, die ihn festhalten will, und immer wieder bricht sie ab und verstummt, weil da so viel anderes hereinklingt. Und er merkt, daß er in der Natur allein das Lied, das ganze nicht findet, und er geht unter die Menschen und will das ganze, reiche Leben kennen lernen. Da muß es doch irgendwo tönen. Da — da müßten eigentlich Chöre hinein, ich weiß noch nicht, — sind spielende Kinder, und singen junge Burschen und Mädchen, weißt du, Lore, nach Hinkelsbach zu am Sonntag nachmittag, und er spielt ihnen zum Tanz auf, und erschrickt, denn er hat auf einmal die Melodie vergessen, die immer auf dem Grund seiner Seele war. Und zieht weiter und im Alleinsein fängt sie wieder an zu tönen.
Er kommt durch Städte und Dörfer und findet allen Reichtum und alle Armut und lernt Liebe kennen und alles Verlangen und alle Not und auch die Schuld und auch die Sehnsucht. Das alles tönt in den Menschenherzen, das hört man immer von den Instrumenten, und es klopft auch in dem seinigen, das ist immer die einsame Geige. Und überall ist etwas darin von dem schönsten Lied, aber es ist nie das ganze. Er kommt auch in die Kirche, — das hab’ ich schon, Lore, ich möchte es dir vorspielen, — da ist ein breiter Strom von einer tiefen, feierlichen Musik, und er glaubt schon, hier am Ziele zu sein, denn ein paarmal klingt stark und deutlich die ersehnte Melodie heraus, aber — weg ist sie wieder, auch da nicht das Ganze, und das Bruchstück nicht ganz rein. O, wo bist du?
Da ist ein Stück weit müde, hoffnungslose Grauheit in der Musik und nur die Geige, sein eigenes Herz, summt sich hie und da die paar Takte, die es noch weiß. Aber siehst du, Lore, er gibt das Suchen nicht auf, das ist es, was ich sagen möchte. — Was sagst du? ich sei dennoch ein Pfarrer? weil ich das Predigen nicht lassen könne? Ja, das muß ja wohl so sein. Und sieh, es ist auch nicht umsonst. Denn als alle die andern Stimmen schweigen und er alt wird und still, da — da ist zwei — drei Takte lang Pause in der Musik, — da tönt ihm auf einmal die Traummelodie wieder, irgendwo her, immer schöner, immer stärker, und er hört plötzlich, daß alles Geschaffene mitklingt, nicht mehr bruchstückweise, ganz, und er erkennt, daß sie nicht im Leben drin, daß sie das Leben selber ist. Das geht nun nicht aus, das ist ewig, das geht für ihn erst an. Und er will rasch mitklingen, denn die Saiten seiner Geige zittern schon, und er spielt und spielt, da reißt eine Saite um die andere, jauchzend brechen sie ab — dann ist die Geige still — dann hört man nur noch die Melodie im Orchester, leiser — immer leiser, bis es alles wie in weite Fernen entschwindet.“
Sie wagte kein Wort zu sagen, als er nun aufatmend schwieg. Sie sah ihn nur an, wie man ein fremdes, schönes Bild ansieht, das dennoch so rätselhaft bekannte Züge trägt. Er war so anders, als sie ihn sonst kannte, so erhoben, — so glänzend von dem inneren Licht, das ihn zu erhellen schien. Aber dann wußte sie doch, daß er ihr gehörte und sie strich sich mit der Hand über die Stirn, wie um die Befangenheit abzustreifen. „Und das hörst du alles in dir drin?“ fragte sie. „Das kannst du alles in Töne bringen?“ Da nickte er. „So Gott es mir hütet. So stark war es noch nie wie heut Abend. Es war oft eine Qual in den letzten Monaten — ach, wir wollen jetzt nicht mehr davon reden. Ich glaubte, ich hätte mich verlaufen. Sie fragten immer: Wo hinaus? Und ich wußte es nicht. Und dabei entschwand mir alles. Lore, das kommt nicht, wenn man es zwingen will, es kommt nur ungerufen. So kam es heute.“
Da ging auch durch sie etwas Großes hindurch, ein Glauben an ihn, — oder ein Glauben an seinen Glauben.
„Geh,“ sagte sie, und er sah das Leuchten ihrer Augen wieder, „geh und halt’s fest, und wenn du es festgenagelt hast, dann komm wieder. Und dann — gelt dann —.“ Er legte leicht die Hand auf ihren Mund. „Sag nichts sonst, heute nicht. Es kommt alles, eins ums andere.“ Und schloß sie in seine Arme. „Du, o du, wenn ich nicht mehr zwischen beidem hin- und hergerissen bin, und kann froh an dich denken und froh an meinem Werke sein — halt die Hände darüber, Lore — dann komm ich einst zu dir — dann sind wir beide gesegnet, du und ich.“
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Als der Morgen graute, ging er aus dem Haus seiner Väter. Lore hörte ihn, wie er die Treppe hinabstieg und hörte die Haustür ins Schloß fallen und hörte seine raschen, festen Tritte auf dem Pflaster des Marktplatzes. Sie sah zu ihrer Mutter hinüber, die lag auch wach, sie blinzelte zwischen verschlafenen Lidern zu der Tochter herüber. „Na, ihr habt’s ja wichtig gehabt gestern abend. Was habt ihr denn jetzt ausgemacht?“ „Ausgemacht? Ach, er hat mir erzählt, was er schafft.“ „Ja, und dann?“ Lore drückte den Kopf in die Kissen und dehnte sich wohlig. „Dann hab ich ihm versprochen, daß ihr ihn in Ruh lassen sollt. Er weiß selber, was er zu tun hat. Hörst du? Sie machen schon die Ladentür auf. Ist das Franz? Das Frühaufstehen, weißt du, Mutter, das ist eigentlich nicht so meine Sache.“
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Er ging im dämmernden Morgen nach der Bahn, die Seele voll frischen Mutes und Glaubens, das Herz erwärmt von der alten Heimat und von Lore, die nun dort leben sollte. In wenigen Tagen schon wollten die beiden Frauen nach Wiblingen umziehen. Ach — es konnte ihm ja nur lieb sein. Sie war so wohl behütet in seiner Heimat. Er konnte so ruhig an sie denken und konnte einmal heimkommen und sich erfrischen an ihr — an allem Heimatlichen, bis — ja bis er ganz kam und sie zu sich holte. Wann? wohin? Das lag heute nicht so schwer auf ihm. Es fand sich, eins ums andere, jetzt, da er so reich an tönenden, treibenden Kräften wieder auszog.
„Ach, das habe ich nicht gesagt. Das habe ich vergessen. Sie soll Gertrud besuchen, bald und oft. Sie soll lieb mit ihr sein. Ich will es ihr schreiben, so bald ich nach München komme. — Gertrud — sie muß unsere Schwester sein, sie wird es auch, sie war die meinige, so lang ich denken kann. Das muß wieder zurecht kommen, es muß ja.“
Da hallten feierliche Schläge vom Turm. Und weit tat sich ihm das Herz auf. Die Morgenglocke. Mit der alten vertrauten Stimme rief sie ihn und gab ihm alles mit auf den Weg, was sie von jeher für ihn gehabt hatte. Es war aber alles schon vorher wach, wer weiß, ob sie sonst den Weg in sein Inneres gefunden hätte. Er nahm den Hut ab. Die Morgenluft spielte mit seinem Haar.
„Ich — ich will dir nicht entlaufen. Ich will dir dennoch dienen. Das wahre mir zur Leuchte.“
Und alle die alten, vertrauten Gestalten standen um ihn und nickten ihm zu und er war der ihren einer.
Ein Frühlingstag, ein ganz rechter und echter. Alles, was blühen konnte, drängte und trieb und machte die Augen auf, alles, was zwitschern und schwirren und summen konnte, tat es, alles, was sich zu freuen vermochte, nahm, falls es den Winter hindurch aus der Übung gekommen war, einen neuen Anlauf dazu.
Im Rektorgarten blühten Syringen und Goldregen, und in den Beeten Narzissen und Kaiserkronen, es schwatzten die Staren und schmetterten die Buchfinken, es saßen um den steinernen Tisch unter dem großen Nußbaum drei Kinder, ebenfalls blühend, ebenfalls in lauten und lebendigen Tönen in das allgemeine Konzert der Daseinsfreude einstimmend.
Der Rektor Cabisius ging nicht wie an jenem ersten Frühlingstag, da wir ihn kennen lernten, in den Steigen auf und ab. Er saß an der sonnigsten Stelle des Gartens in einem Korblehnstuhl und ließ sich anscheinen, ohne daß er das Licht erblicken konnte. Denn er war jetzt bis auf einen kleinen, ganz kleinen Schein blind geworden. Aber die Pfeife hielt er noch in der Hand und als seine Enkelin zu ihm trat, da saß er umgeben von einem leichten Rauchwölkchen und taktierte, wenn er wieder ein paar Züge getan hatte, nach irgend einer Melodie, die er zu vernehmen schien, und sein Gesicht war so klar und heiter wie je. Vielleicht war es die Jubelouvertüre der Schöpfung, zu der ihm auch das Kindergeschwätz gehörte: „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium,“ vielleicht auch zeigte ihm ein inneres Licht die Eingangshalle zu den Gefilden, die wir mit unseren guten Augen nicht zu erblicken vermögen und es klang feierlich in ihm: „wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum.“ Jedenfalls sah er aus, als ob er einer von denen sei, bei denen es „um den Abend licht“ wird.
Und das stimmte ja freilich nicht mit den äußeren Tatsachen. Aber darnach fragte der Rektor Cabisius nicht so viel.
„Großvater, du bekommst Besuch,“ sagte Gertrud. Und da kamen auch schon hinter ihren raschen, festen Tritten die etwas schlurfenden, von Stockstößen begleiteten des Meisters Nössel den Gartenweg herauf. Sie gab dem Großvater nur geschwind die Hand, eine breite, kräftige, nicht eben zarte Hand, denn sie mußte ihn hie und da ihres Dabeiseins versichern. Dann führte sie den alten Mann zu ihm. „Da ist noch ein bequemer Stuhl, Meister Nössel, und — ja, und Konrad soll noch eine Pfeife herunterholen, und da steht der Tabak und das Feuerzeug. Ich muß wieder zu meinen Kindern.“ Und dann ging sie wieder an den Tisch hinüber und hatte es sehr wichtig und sehr mütterlich mit einem großen Brotlaib und der Butterdose, und sah nicht, wie der eine der beiden alten Männer ihr kopfnickend nachsah und wie der andere zu seinen Worten lächelte: „Wenn sie die Judith so sehen könnte, wie sie da hantiert und so ein helles Gesicht hat und so aufrecht ist.“ Ja, da waren die beiden Alten wieder an ihrem Lieblingsthema angelangt: die Vorangegangenen, und die alten Zeiten, und das, was noch aus den alten Zeiten in der Gegenwart mit ihnen lebte, — das Kind.
Es war ein reiches und ein herzerwärmendes Thema, und all’ das Lebendige rings umher gab eine gute Begleitung dazu. Es hatte in diesem Garten von jeher und immer wieder Kinder und Blumen und Vögel gegeben, und auch mütterliche Frauen, die sich an Kindern und Blumen und Vögeln zu freuen wußten, — auch dann, wenn in ihrem eigenen Leben schon einiges abgeblüht und verklungen war. Gertrud paßte nicht schlecht in die Fußtapfen ihrer Vorgängerinnen in diesem Garten. Sie hatte wacker aufgehoben, was ihr an Leid des Lebens auf den Weg gelegt worden war, und sie trug es nun nicht wie einen Trauerflor um sich her, sondern sie hatte es, da es ja freilich nicht von flüchtiger Art war, tief in sich hineingeschlossen. Da wohnte es, ganz nah bei der „zwölften Kammer,“ von der schon einmal die Rede war, und trat ans Tageslicht nur in einer reifen, warmen Mütterlichkeit gegen alles, was eines Schutzes oder einer Hilfe zu bedürfen schien, in einem ernsten und klugen Verstehen von allerlei Nöten, die den Menschen in ihrem Bereich — auch nicht immer auf der Stirne geschrieben standen.
Es war Feiertag und sie hatte sich die Kinder geholt. Es waren die drei Buben der Türmersleute, die drei Entenmänner, die damals bei dem Adventsgewitter so heldenhaft die Köpfe unter die Decke steckten. Sie waren seitdem um ein gutes Stück gewachsen, hatten helle, kurzgeschorene Köpfe und lebhafte Augen, und Gertrud ging damit um, ihnen ein gut Teil von dem allgemeinen Wissen, das sie selber einst so hungrig in sich aufgenommen hatte, zukommen zu lassen. Warum war sie nicht Lehrerin geworden, wie einst bestimmt war? Warum sahen die beiden, der Älteste, starke und der Mittlere, zarte, mit so hungrigen Augen drein, wenn sie ihnen hinten unter dem Süßapfelbaum von den Wundern und Sagen der alten Griechen und von den Taten unserer eigenen Vorväter und zuweilen auch von dem Zug der Kinder Israel durch die Wüste erzählte? Der Jüngste, der war ein wenig dick und ein wenig denkfaul, der mochte ja ihretwegen Flickschneider werden, obgleich — wenn sie das sagte, dann erschien sie noch einen Zoll höher als sonst — droben auf dem Turm Meister Nössel auf dem Schneidertisch gesessen war, der sich mit allerhand Weisen und Gelehrten messen konnte. Sie wollte das ihrige tun, daß diese ihre Patenkinder, sie mochten werden was sie wollten, Teil hätten an den geistigen Gütern der Menschheit. Ja, macht nur die Augen auf, ihr Buben. Dote Gertrud hat so vieles in sich angesammelt, sie hilft sich selbst, wenn sie euch hilft.
Aber was versteht ihr davon?
Ihr rennet davon, alle drei, wenn ihr euer Vesperbrot gegessen habt und spielet unter den Bäumen, „Frau Mutter leih mir d’ Scheer“, nach einiger Zeit liegt einer von euch, der kleine, feine Leonhard, unter dem jungen Birnbaum am Stadtgraben und verschränkt die Hände hinter dem Kopf und guckt nach dem blauen Himmel, der zwischen dem Geäst hereinsieht und guckt den Wolken nach. Wer hat dich gelehrt, gerade so träumerisch dreinzusehen, wie Georg Ehrensperger, und gerade so leise vor dich hinzusummen, als ob dir etwas Schönes durch Kopf und Herz ginge?
Abgewendet hat sich Gertrud, als sie dir eine Weile zugesehen hatte und nun steht sie an dem Bretterzaun, der den Garten von der Straße nach Hinkelsbach trennt und sieht hinaus — hinaus.
Weißer Staub liegt auf der Landstraße, ein Lüftchen kommt und wirbelt ihn in die Höhe. Kinder verlassen den schmalen Steig, der neben der Straße hergeht und schlürfen mit den Schuhen durch den Staub, es ist so lustig, wenn sich das schwarze Leder weiß färbt. Mögen die Eltern auf dem ehrbaren Steig einhergehen und ihre sauberen Feiertagskleider schonen. Ihr Teil Staub bekommen sie dennoch, so gut wie die hellbegrünten Hecken am Weg und das junge Gras davor. Aber es schadet nichts, der Frühlingswind ist lustig und der tanzende Staub ist lustig, und die weißen Wölkchen, die durch den blauen Frühlingshimmel schimmern, sind lustig, und in Hinkelsbach ist eine große Bauernhochzeit, da wird’s erst recht lustig werden. Da müssen die Wiblinger dabei sein, die Metzger und die Bäcker und die Schuster und die Schneider, die alle mit den Hinkelsbachern zu schaffen haben. Es ist Pflicht, sie tun es der Kundschaft zulieb, wenn sie mit Kind und Kegel hinausziehen und essen und trinken und tanzen und sich im saubersten Staat zeigen. Sie greifen heut tief in den Beutel in dieser Pflichterfüllung. Wieder eine Gruppe und wieder eine, und nun kommen zwei, bei deren Anblick Gertrud Cabisius — nicht so ganz ruhig bleibt. Ein stattlicher, breit gewachsener Mann in hellgrauem Anzug, im Knopfloch eine rote Nelke, im Gesicht heiteres Behagen, kräftige Lebenslust, in der ganzen Haltung eine behäbige, vermögliche Bürgerlichkeit. Und ein hochgewachsenes, schönes Mädchen, nicht mehr so ganz jung, nicht so viel jünger als Gertrud, so recht reif und voll erblüht, im weißen Kleid, Korallen um den feinen Hals, leuchtend roten Mohn auf dem großen, gelben Hut.
Sie gehen im Takt, rasch, leicht, wie auf Federn; falls es auch für sie ein Pflichtgang ist, — er fällt ihnen nicht schwer. Worüber sie nur so viel zu lachen haben? So hell und herzlich kommt es heraus, so leicht und unbeschwert.
„Grüß Gott, Gertrud.“ Lore sagte es so übermütig, so sieghaft.
Schier ein bißchen Mitleid ist auch dabei, oder meint Gertrud das bloß? So etwa: „Was weißt du von Lebensfreude, du — du Großmutter? Ich — ich weiß davon. Du auch, Franz, gelt?“
Da ist wieder das Lachen. Und Gertrud weiß nicht recht, warum es ihr so ins Herz schneidet.
Vorüber.
Hintendrein kommt ein anderes Paar, der Müller Hensler, kurz, dick, rot im Gesicht, auch eine Blume im Knopfloch, Lore hat sie ihm hineingesteckt. Überhaupt, Lore. Wer kann sich noch denken, daß sie einmal nicht dagewesen sei? Der Müller Hensler nicht. Die Gäste in der Weinwirtschaft auch nicht. Franz? — Franz auch nicht.
Frau Maute geht in einer lilaseidenen Bluse, mit roten Blümchen besät, neben ihm her, ein wohlhabendes Lächeln um Mund und Augen, den Ansatz zu einem Doppelkinn auf der Perlborte des Halskragens ruhend, das rotblonde Zöpfchen sauber aufgesteckt unter einem meergrünen Spitzenhütchen.
„Immer jünger,“ sagt der Müller Hensler, wenn er sie ansieht. Er selbst wird auch immer jünger. Man weiß nicht, was noch werden mag. Wenn ihm nur der Wein nichts tut. Der Doktor hat dieselben Bedenken bei ihm, wie beim Bäcker Ehrensperger.
Vorüber.
Gertrud sieht ihnen nach und weiß nicht, daß sie es tut. Denn ihre Gedanken sind fern von hier, bei einem, der in diesem Augenblick in der kleinen, altersgrauen Kapelle, auf der Anhöhe am Isarufer sitzt. Es ist eine Orgel drin, und er läßt sie erklingen. Er hat geschrieben, daß ihm dort zuweilen, zwischen den grauen Steinwänden, an denen nur wenig Schmuck haftet, hie und da ein Heiligenbild, hie und da ein Kränzlein — daß ihm dort zuweilen schöne, schöne Melodien, wie in feierlichem Zuge kommen.
Nun sieht sie ihn dort sitzen, ein blindes, elendes Bübchen bei sich, das sitzt ganz still da und hebt die lichtlosen Augen und horcht. Wie die Klänge zu der offenen Tür hinausschweben in das grüne Dunkel des Busch- und Baumwerks draußen. Wie Gesang einer Gemeinde, die körperlos hier drinnen versammelt ist.
Hie und da ist Emeritz bei ihnen; hie und da kommt der Schneider, Theodors Vater, wenn er seine Kundengänge gemacht hat. Dann lädt er das Büblein auf seinen Rücken und trägt es heim, ein zweiter Sankt Christoforus, nur daß ihn das leichte Gewicht nicht niederdrückt, den breiten, starken Mann. Ihn drückt etwas anderes; ihn drückt der Kummer um das Kind. Daß es so hinleben soll, so lichtlos, so arm. Aber das Kind lächelt. „Es ist so schön gewesen, Vater.“ Bilder einer reichen Welt sind an ihm vorbeigezogen, die hält es noch fest.
Und nun ist der Komponist allein. Gertrud sieht ihn; sie sieht ihn deutlich. Wie er aufsteht und in dem dämmerigen Raum hin und her geht. Das weiß sie, daß er so zu tun pflegt. Aber sie weiß nicht, ob er mutig und froh darein sieht, ob er das, was ihm durch den Sinn zieht, fassen konnte, oder ob er sich müde daran zerarbeitet.
„Es wird so anders als ich dachte,“ schrieb er neulich an den Großvater, „es wird religiös, ernst, sehnlich — und ist doch keine Kirchenmusik. Ich weiß nicht, wer es aufführen soll und nicht, wie ich es nennen soll. Es ist keine Symphonie, kein Oratorium, es ist eine musikalische Dichtung. Aber ich kann nichts anderes schaffen als das. Alles, was ich habe, strömt dahin. Es muß mich doch noch segnen. Ich bin jetzt weit voran. Ich denke bis zum Sommer fertig zu werden.“ Dann, wenn er nach Haus geht, das heißt, in seine Stube zurück, geht er den Strom entlang, und sieht den Abendhimmel sich darin spiegeln, und die Ufer, und kommt zu den Menschenwohnungen und sieht Kinder auf der Straße spielen, und sieht ein Paar mit einander gehen, und sieht den Blick, mit dem sich die beiden ansehen, und erschrickt, daß er so allein sei und kein Auge habe, in das er das seinige senken könne, nun seine Seele zurückgekehrt ist aus der Welt, die er ahnend, tönend festhalten wollte.
Dann, das weiß Gertrud, ruft er sich ein Bild vor die Seele, das gehört ihm, — sie ist es aber nicht, es ist Lore. — Und er breitet im Geist die Arme nach ihr aus. „Bald, bald.“
Wie sie da am Zaun zusammenschrickt, als müsse sie noch die beiden stattlichen Gestalten dahinschreiten sehen, die vorhin vorbeigingen.
Weißt du es, Lore, daß er die Arme nach dir ausbreitet? Wartest du ebenso auf ihn? Sicher, gläubig, still und fest? Warum kommst du nie mehr zu Gertrud Cabisius? Du habest so viel zu schaffen, sagst du? Sie hat dich aufnehmen wollen, um seinetwillen, sie hat ihr Herz bezwungen, daß es dich hereinließ. Und nun Lore? — Vorüber. Kein Staubwölkchen zeigt mehr, wo ihr gegangen seid. Leer und still die Straße.
Und Gertrud wendet sich um und geht zu den Kindern und spielt mit ihnen, und geht zu den Greisen, die schon durch ein langes Leben gegangen sind. Dauert es lang, bis man so alt wird? Still.
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In der Krone zu Hinkelsbach ging es hoch her. Er war eine stattliche Bauernhochzeit mit vielen Gästen. Wagen an Wagen drängte sich vor der Tür, Ellbogen an Ellbogen saß man in der großen Wirtsstube, Paar an Paar drängte sich im Tanzsaal. Die Wiblinger waren mitten drunter. Die Kinder tanzten draußen im Hausöhrn und hinter dem Haus auf der Wiese, die Alten drinnen.
Auf einer kleinen Erhöhung waren die Musikanten untergebracht. Ein alter Baßgeiger, kurzatmig, den Kopf tief zwischen den Schultern eingebettet, strich, beständig mit den kleinen Äuglein zwinkernd, so eifrig auf seiner Baßgeige hin und her, als sei sie ein Stück Brennholz und der Bogen eine Säge, die es zu zerkleinern habe. Didel dudel dudel — didel dudel dudel. Neben ihm blies ein Klarinettist von fast schwindsüchtiger Hagerkeit, lang und oben vornübergebeugt, mit düsterm Gesicht in sein Instrument hinein. Wie lange mochte er noch Atem haben, um die Töne hervorzubringen, die den Bauern und den Städtern in die Beine fuhren?
Didel dudel dudel — didel dudel dudel. Und noch zwei Musikanten. Ein Geiger und ein Harfenmädchen. Sie schienen zusammenzugehören, wenigstens tauschten sie hie und da einen Blick des Einverständnisses, der Geiger aus feurig blitzenden Augen, an deren Blinken indessen zum Teil der reichlich genossene Wein schuld sein mochte. Wenn solch ein Strahl das Mädchen traf, dann hob es für flüchtige Sekunden die dunklen, etwas schwermütigen Augen, die in einem bräunlich-blassen Gesicht standen, und langsam färbte eine aufsteigende Röte ihre Haut bis unter das krause dunkelbraune Haar.
Sie trug ein grünes Kleid, das zu einer längst verklungenen Zeit ein Prachtstück gewesen sein mochte, mit vielen Garnituren und Falten, und um den bloßen Hals ein Kettlein aus kleinen Goldblechmünzen, und ihre Schuhe sahen unter dem Saum ihres Kleides hervor wie solche, die für glatte, ebene Wege gemacht und widerwillig steinige, mühselige Straßen gegangen waren. Didel dudel dudel. Sie griff ihre Akkorde dazu wie eine, die es aufgegeben hat, in der weiten Welt noch etwas besseres zu suchen als tanzenden Bauern aufzuspielen, den schwermütigen Unterton zu dem Gekreisch und Gelächter der Geigen und Klarinetten, heute hier, morgen dort, — weiter, weiter, ohne Heimat, ohne friedlichen Rastort. Was ihr der Geiger war, wer konnte es wissen? Ein Trauring blinkte nicht an der Hand der Harfnerin, an der seinigen saß ein Siegelring. Er führte den Bogen nicht ohne Geschick, es hatten schon schlechtere Musikanten als er hier gefiedelt. Didel dudel dudel.
Dachte Lore Maute an einen andern Tanzsaal, einen weiten, grünen Wiesenplan am Saum des Waldes? Damals waren die Englein auf weiß schimmernden Wölkchen gesessen und hatten aufgespielt, alles war Glanz und Jubel und Seligkeit gewesen, alles Jugend, Jugend. Das war lang her seitdem, es ging ins vierte Jahr. Sie hatte damals wohl auch mit Franz getanzt — heimlich lächelnde Blicke des Einverständnisses mit Georg tauschend. Es war so anders als heut.
Warum kam er auch so lange nicht? Warum tat er sich nicht um eine Stelle um, ein Brot? Warum mußte mit Gewalt jenes Werk vorher fertig sein, von dem man nicht einmal wußte, ob es dann Geld und Ehren brachte? Sah so das Glück aus, nach dem Lore Maute, die schöne, bewunderte Lore ausgeschaut hatte, seit sie denken konnte?
„Komm, Franz.“ Und sie tanzten, tanzten, ruhig, sicher, beherrscht und gut im Takt, sie, — warm und angeregt vom Wein und von der Frühlingsluft und von der Musik, und von dem Anblick des schönen Mädchens, das er im Arm herumschwenkte — er —. Er war ein stattlicher Mann, gerade im besten Alter, und heiter, und gutmütig, und hatte schöne, weiße Zähne; wenn er lachte, sah er hübsch aus. Und seine Augen und seine Gedanken waren gleicherweise hell, nüchtern und aufs Reelle gerichtet.
„Prosit, Frau Base,“ sagte der Müller Hensler und stieß mit Frau Maute an. Sie saßen an einem Ecktischchen und sahen in das Gewühl der Kommenden und Gehenden. Mit dem Tanzen war es bei dem Müller Hensler vorbei, trotz seines jugendlichen Gemütes, es fehlte am Atem. „Prosit, Herr Vetter.“ Frau Maute lächelte süß und sah in den offenen Tanzsaal hinein, wie in einen vollen Geldbeutel. Was sie da sah, gefiel ihr. Jetzt setzte die Musik aus, „die Jungen“ kamen herein, hochatmend und vergnügt. „Jetzt etwas zu essen her, aber viel und etwas Gutes,“ sagte Franz. „Ich muß hier etwas draufgehen lassen, sie kaufen viel bei mir. Ihr wißt es.“ Ja, das wußten sie. An ihnen sollte es nicht fehlen, wenn die Kundschaft künftig schlechter wurde. Die Musikanten kamen auch in den Saal. Ganz hinten beim Schenktisch ließen sie sich nieder. Das Harfenmädchen war nicht dabei. Der Geiger ließ die Augen unruhig umherlaufen. Als sie nach einer Weile nicht kam, stand er auf und ging mit großen Schritten durch den Saal und durch die offene Tür in den Tanzraum. Dort mußte er sie gefunden haben, denn er führte sie an der Hand mit sich herein. Sie sperrte sich, es mußte etwas zwischen ihnen gegeben haben. Die Gäste sahen auf und einige lachten. „Nimm dich zusammen,“ raunte der Geiger und sah sie zornig an. Da ging sie mit gesenktem Kopf neben ihm her; er hielt ihr Handgelenk umspannt wie mit einem Schraubstock.
Als die beiden an dem Tisch der Wiblinger vorübergingen, fing Lore einen Blick von Franz auf, der ihr nicht gefiel. Was wollte er? „Du,“ sagte er, so mit einer spöttischen Lustigkeit, die man nicht an ihm gewöhnt war, „du, Lore, was meinst du, das Harfenspielen wird nicht so schwer zu erlernen sein?“
„Das Harfenspielen?“ Sie sah ihn groß an. „Warum, willst du es üben?“
„Nein,“ er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und ließ seine Augen über sie hingehen, „ich dachte nur so bei mir, die Musikerfrauen können doch auch zuweilen, wenn Not an Mann geht, den Männern im Handwerk helfen. Sauber ist die da auch, nimm mir’s nicht übel, wenn du auch schöner bist. Du könntest immerhin zeitig anfangen.“ Jetzt hatte sie ihn verstanden.
„Sei still,“ sagte sie. Ihre Stimme war klanglos und ihre Augen flammten zornig auf. „Was fällt dir ein?“ Sie kehrte sich mit einem Ruck von ihm ab. Die Alten hatten nichts bemerkt, sie waren eifrig mit Essen beschäftigt. Da erschrak er, weil er sie nun verletzt hatte. Er wußte nicht, wie es ihn so plötzlich angekommen war, das zu tun. Er war aufgeregter, als er von sich selbst gewöhnt war.
„Lore,“ sagte er halblaut, „Lore, es war ja nur ein Spaß. Es fiel mir so ein. Sieh einmal den Geiger an, er sieht dem Georg ein bißchen gleich. Lore. Ich mein’s doch gut mit dir. Das weißt du doch. Jetzt sei nicht bös. Guck, ich hab’s schon lang sagen wollen: er bringt’s ja doch zu nichts. Ich mag ihn, er ist mein einziger Bruder. Aber das sag’ ich doch. Er bringt’s zu nichts. Er ist nicht praktisch und nicht nüchtern. Ich will dir sagen, was er ist: er ist zu ideal.“
Jetzt war er ganz bei der Sache. Die Worte flossen ihm leichter von den Lippen als sonst.
„Guck, er hat immer bei allem so einen Gedanken, wie es eigentlich sein müßte. Da kommt er mit dem, was ist, nicht ins Glatte. So war’s beim Pfarrer werden. Er sei nicht fromm genug dazu, er wäre nicht wahrhaftig, wenn er’s würde, hat er gesagt. Und so ist’s jetzt. Das weißt du selber. Ist er etwas? Wird er etwas? Immer so eine Eigenbrötlerei, anstatt drauf loszugehen. Sich ein bißchen gut dran machen bei den Lehrern, ein Examen machen, dann sich irgendwo niederlassen, hier in Wiblingen, wenn’s sein muß. Er könnte Stunden genug kriegen und könnte Organist werden. Aber nein, da muß komponiert sein. Und was? Ach, ich ärger’ mich ja zu sehr, komm, wir wollen tanzen, Lore.“
Sie saß längst wieder gerade neben ihm, sah in ihren Schoß, während er redete, und über ihre Mienen spielten unruhige Lichter. Als er sie zum Tanzen aufforderte, stand sie auf, ohne ein Wort zu sagen und ging hoch und aufrecht neben ihm her.
Sie dachte jetzt nicht gut an den Fernen. Franz hatte recht. Er brachte es zu nichts. Jahr um Jahr verging — sie sah jetzt nicht mehr das stille, tiefinnerliche Glück, das sie zuweilen in seiner Gegenwart überschattet hatte, — sie sah auch nicht mehr das Leuchten seines Sterns, seiner Zukunft, — sie sah nur den Sonderling, der, nicht mehr im schönen, stolzen Sinn, anders war, als alle andern. Ein Zorn überkam sie, eine jähe Blutwelle stieg ihr bis unters Haar, bis in die Fingerspitzen. Franz sah es. „Du könntest es besser kriegen. Ihr passet ja nicht für einander.“ Er sagte es kaum hörbar. Als nichts darauf erfolgte, fuhr er fort: „Ihr drücket einander, — du ihn und er dich. Lore, du solltest — du solltest einen Knopf an die Geschichte machen — einen Schluß, mein’ ich. Er ist froh — schließlich — nicht gleich, — aber bald. Und du auch. Und dann — dann nimmst du mich. Dann bleibt alles in der Familie.“ Er lachte ein wenig, so, als sollte es ein Spaß sein und war doch Ernst.
„Sei still.“ Sie brachte es kaum heraus. „Sei doch still. Ich frag’ ihn; er soll mir’s sagen. Ich will keine alte Jungfer werden. Ich nicht. Das kann er nicht verlangen.“
Der Geiger und das Harfenmädchen kamen Hand in Hand auf ihren Platz bei der Musik zu. Sie waren scheints wieder einig.
Als Lore sie sah, verdunkelten sich ihre Augen, so mächtig schoß ihr das Blut in die Stirn. Wer wagte es, sie mit einer herumziehenden Musikantenbraut zusammenzustellen?
Dort in Wiblingen stand das solide, gedeiliche Ehrenspergerhaus. Dort konnte sie Herrin sein, wenn sie wollte. „Komm, Franz.“ So hatte sie noch nie getanzt. Alles war Leben, Wallung, zornige und hingebende Leidenschaft an ihr. Der Müller Hensler stand unter der Tür und pfiff leise zwischen den Zähnen, als er sie sah. Sie hatten ja recht, es war gewiß das Gescheiteste, wenn sie zusammenkamen, die Zwei da. Indessen, er konnte sich nicht helfen, der „Pfarrer“, der Musikant, der Georg tat ihm doch leid. Allein, die Lore blieb ja in der Familie, und alles konnte einer auch nicht haben: das schönste Mädchen und alle Freiheit, zu leben wie er wollte. Es fiel ihm eine Geschichte aus Georgs Kindheit ein. Da hatte man ihn gefragt: „Willst du lieber Kirschen oder Butterbrot?“ und er hatte nach kurzem Besinnen gesagt: „Lieber Kirschen und Butterbrot.“
So ging es aber nicht das ganze Leben hindurch, da konnte ihm niemand helfen. Er tat ihm aber dennoch leid.
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Als an diesem Abend die Wiblinger nach Hause gingen, ziemlich spät und ziemlich lebhaft angeregt, da saß der, der einst „Kirschen und Butterbrot“ gewollt hatte, an einem Kinderbettchen und drückte die trockenen, überwachten Augen und die heiße Stirn in die kühle Decke, die darauf lag. Drüben in seiner Stube beschien die Lampe viele verstreute Notenblätter, ein offenes Klavier, ein unberührtes Nachtessen. Die Lampe flackerte unruhig, denn beide Fenster standen offen, und hie und da hob der Wind ein Blatt und trug es ein Stück weit, bis es auf den Boden fiel. Wollte er Georg Ehrenspergers „schönstes Lied“ in die weite Welt hinaus tragen, damit es bekannt würde? Er, der Wind, war ja auch darin, und die Frühlingsnacht mit ihren wundervollen Sternen. Es war ja aber noch nicht fertig. Da mußte wohl der Wind noch warten. Darum ließ er die Blätter, eins ums andere, nahe beim Fenster zu Boden fallen. Georg war nur zur Erfrischung auf eine Weile zu dem blinden Theodor hinübergegangen. Der war seit einigen Tagen krank. Nicht schwer, nur ein bißchen fiebrig und matt. Er lag in der Wohnstube und war allein. Der Schneidervater war vorhin ins Bett gegangen, er war rechtschaffen müde. „Nehmen Sie nur die Lampe mit,“ hatte Georg gesagt. „Wir brauchen kein Licht, gelt, Theodor?“
„Nein.“ Ein schmales, heißes Händlein schob sich in seine große Hand.
„So, jetzt sind wir allein. Willst du noch nicht schlafen, Theodor? Sag’s, wenn du müde bist.“
„Nein, ich schlafe noch nicht. In deiner Hand klopft es so stark. Da, in den Fingern, und überall. Was tut da so?“ „Das tut überall so, in meiner Stirn und in meinem Herzen und überall. Das ist mein Blut. Das ist so unruhig, weil mich etwas stark umtreibt.“
„Was treibt dich denn so stark um? Was ist das — umtreiben?“
„Ach, sieh, es ist mir auf einmal angst geworden: es ist so viel, viel Musik in der Welt. Allein in dieser Stadt, lieber Bub, so viel. Du glaubst es nicht. Und jetzt will ich doch auch kommen und sagen: hört auf mich. Und wenn jemand horcht, wem wird es dann Freude machen?“
Sie waren so gute Freunde geworden. Immer bessere mit der Zeit. Sie verstanden einander ausgezeichnet. Was dem einen an Jahren abging, das hatte er an wartender, sehnlicher Armut voraus, die hungrig auf- und annahm, was in das verdunkelte, abgeschlossene Kinderleben dringen wollte.
„Ach, das gefällt allen. Es ist ja so schön.“ Er war aber doch ein bißchen bedenklich. So viele Musik war? Wo denn nur? War die Welt so reich? Und würden die andern einmal eine Weile still sein, daß man Georg Ehrensperger hören konnte? „Also sieh, auf morgen, da ist mir’s angst. Da will ich zu einigen Leuten gehen, die etwas verstehen, meine Mappe unter dem Arm, und will ihnen etwas vorspielen. Weißt, die Stellen, die dir so gut gefallen. Ich will sie fragen, ob sie mir zur Aufführung helfen wollen. Oder, Theodor, — ob mir’s einer abnimmt, ganz und gar, und druckts — viele hundertmal, du. Ach, das darf ich ja fast nicht denken. Aber schön wär’s. Und dann — Konzert in den Mathildensälen — oder sonstwo, und das ganze Orchester setzt ein — ob sie mir’s auch fein genug spielen, — und ich, ich sitze ganz hinten und horche, und du bist auch dabei. Und wer noch? in einem weißen Kleid und hat eine einzige, rote Rose vorn stecken? und sieht mich an: du, so schön hätt’ ich mir’s nicht gedacht? Wer? Und sagt: du, ich bin stolz. Alle die vielen Menschen hören auf dich?“
„Das Fräulein Lore,“ sagte Theodor vergnügt. Es war nicht das erste Mal, daß sie davon sprachen.
„Und dann nachher kommt sie zu mir und sagt: Theodor, wenn wir aber einmal in einem schönen Haus mit einem großen Garten dran wohnen, dann hol’ ich dich, dann mußt du zu uns auf Besuch kommen. Das sagt sie, weil sie die Kinder gern hat und weil ich dein Freund bin.“
Man sieht, daß die zwei miteinander die allerbeste Meinung von dem Fräulein Lore hatten. Sie konnten gar keine bessere Meinung von irgend jemand haben.
„So, jetzt muß ich wieder hinüber und du mußt schlafen. Schlaf dich gesund. Wirst du schlafen können?“
„Ich weiß nicht. In meinem Kopf drin ist alles ganz wach. Spiel’ mir noch etwas. Spiel’ das, wie die Kinder auf der Wiese tanzen. Das tu’ ich auch, wenn ich in den Himmel komme und gesunde Füße habe, und Augen, und kein Rückenweh. Spiel’ mir das, dann schlaf’ ich ein.“
Da ging Georg Ehrensperger in seine Stube hinüber und sah, daß die Lampe am Erlöschen war und was der Wind für Arbeit mit seinen Notenblättern gemacht hatte. Und löschte das Licht und nahm seine Geige und spielte beim Sternenschein dem blinden Kind das Schlaflied: wie gesunde, frohe Kinder auf einer Wiese tanzen und springen und einander Blumenkränze aufs Haar drücken und ein heiteres Lied singen. Auf der einen Seite, Wand an Wand mit ihm, hob die dicke, brave Gemüsehändlerin, Emeritz’s Mutter, das runde Haupt, das in einer gestrickten Schlafhaube steckte und sagte mit gutmütigem Brummen: „Na, geht er heut gar nimmer ins Bett? muß er vollends zu Haut und Knochen werden?“ und beschloß, ihm morgen einen extrazarten Rettich zu spendieren, wann er kommen würde, um die Miete zu bezahlen. Und schalt Emeritz, die neben ihr im Schlafe lachte: „Ja, jetzt lachst du. Steh’ auf und tanz’, im Nachthemd meinetwegen. Das möchtest du, Nichtsnutz! Und gestern hast du ihm die staubigen Stiefel unters Bett gestellt. Das kommt mir noch einmal vor. So einem Herrn, den die Engel Gottes hüten müssen, daß er in der schlechten Welt nicht unter einen Wagen kommt, so unbewußt ist er.“ Und küßte das Kind, das immer noch lachte, auf den Mund. Das tat sie bei Tag niemals. Da hörte sie aber auch Georg Ehrenspergers Geigenspiel nicht. Und auf der anderen Seite zogen durch die Seele des elenden Bübleins die lieblichen, heiteren Klänge wie lichte, festliche Boten aus einem Land, in dem es keinerlei Mangel, noch Dunkelheit, noch Schwäche gibt und zogen sich in einen purpurnen Traum hinein, der das Kind in seine Arme nahm.
Denk daran, Georg Ehrensperger, wenn du morgen saure Tritte tun wirst und Achselzucken und befremdete Mienen sehen und ablehnende Worte hören.
Denk daran, daß du einem armen Kind wohl getan und ein anderes lachen gemacht und einer Mutter das Herz zum Wallen gebracht hast. Denk daran, wie viel festliche Stunden du deinen Freunden, den armen Leuten, schon bereitet hast und wie dir selber im Ringen mit dem schaffenden Geist der Ernst und die Schönheit und die Tiefe des Lebens aufgegangen ist. Und laß deine Hände sinken, wenn sie unruhig nach dem Kranz, den der Ruhm flicht, greifen wollen. Aber die Augen laß nicht sinken, Georg Ehrensperger.
Es ist eine alte Geschichte und schwer zu erzählen, die Geschichte von dem Geiger, der das schönste Lied suchte. Sie ist schon oft erzählt worden in vielen Sprachen, zu allerlei Zeiten. Sie ist die Geschichte vieler. Ja, sie geht durch die ganze Menschheit hindurch. Wer erlebt sie nicht mit? Nur die ganz Satten, ganz Heimischen wissen gar nichts davon zu sagen. Die andern alle sind irgendwie am Suchen und sind es ihr Leben lang und bis an den Tod.
Aber es sind doch immer noch einzelne, die Sonntagskinder, die Horchenden, von denen wir schon einmal geredet haben, denen vom Paradies her noch das Rauschen der vollen Lebenswellen in den Ohren klingt, die sind von einem Verlangen getrieben, sie wieder zu hören, ganz rein, ganz stark, — und die andern auch hineinhorchen zu lassen.
Still!
Es ist ein langer, schweigender Zug, der an unsern Augen vorübergeht.
Auch jener gehört dazu, der ahnend sagte: Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben. Auch Er — ach er wie kein anderer, der seinen Glauben und seine Liebe durch eine Welt voll Enttäuschungen und Mißerfolge und Nichtverstehen hindurchtrug und dennoch in der letzten Stunde noch einem armen Menschen versprach, daß er jetzt dann gleich — heute noch — sagte er, mit ihm das Rauschen der Paradiesesströme hören werde.
Auch Jabal und Jubal, als sie zum erstenmal Pfeifen schnitten und versuchten, das, was sich nicht in Worte fassen ließ, den Menschen in Tönen zu sagen.
Auch alle Propheten und Dichter und Künstler und Priester aller Zeiten und Völker, so fern sie nur wahrhaftig das, was vom Ewigen in ihrer Seele lebendig wurde, — und nichts anderes — aufnahmen und ihm nachgingen, immer hinter ihrem Glauben und ihrer Hoffnung her, immer wieder in die Stille gehend und sich sammelnd, wenn ihnen die Melodie verloren ging, immer wieder den andern mitteilend, dass sie Gott in und hinter dem Leben vernahmen.
Auch jener alte Mann gehört zu ihnen, den Georg Ehrensperger am Abend eines Tages, an dem ihm allerlei Hoffnungen fehlgeschlagen hatten, in der kleinen, grauen Kapelle am Isarufer fand, von einer Schwäche befallen, und den er sorgsam nach Hause führte. Der hatte in seiner Stube, vier Treppen hoch in einer engen Gasse, achtundzwanzig Mal dasselbe Bild an der Wand, in Bleistift-, Kreide- und Kohlezeichnungen und in Aquarellfarben ausgeführt, einigemal sehr mangelhaft, einigemal besser, einmal in einer reifen warmen Schönheit. Es war ein Stückchen kahle Heide, an deren Rand ein kleiner Weiher lag, in dem sich eine Birke spiegelte. Ein armes, einfaches Stück Land, aber auf dem letzten Bild war alles, Heide, Weiher und Birke vom Lichte der scheidenden Sonne golden übergossen. Man sah den feurigen Ball nicht mehr, nur die Flut des segnenden Lichtes, das von ihm ausging. Kein Läublein schien sich an der Birke zu rühren, kein Wellchen in dem Weiher, kein Gräslein in der Heide; es war, als ob alles den Atem anhielte, um nicht durch eine Regung einen funkelnden Tropfen des goldenen Reichtums zu verlieren.
„Ich habe nichts sonst zu hinterlassen,“ sagte der alte Mann, als Georg still davor stand, „nichts als das, wenn ich davon gehe. Ich habe es hundertmal versucht, es schien mir ein Bild meines Lebens zu sein. Aber die Sonne hat mich doch gesegnet, einmal doch. Sie ist doch da, auch wenn man sie nicht sieht. Man muß nicht an ihr verzagen. Man kann sie nicht so malen, wie sie ist,“ er lächelte fein, „ich einmal nicht; — wir haben auch wohl keine Augen, um hineinzusehen — höchstens wenn sie sinkt, ganz zuletzt. Aber sie segnet uns doch.“
Und Georg wußte, daß ihm hinter dieser Sonne eine andere stand, der er nachging in Liebe und Verlangen, und daß er hoffte, irgend einmal rechte Augen dafür zu bekommen.
Ja, er gehörte auch zu jenem stillen Zug, von dem wir sprachen. Und Georg Ehrensperger auch.
Sie wissen nichts von einander, oder doch nur selten. Sie gehen viel allein, in Armut und mit sehnlichen Herzen, und es gehört zu ihrer großen Hoffnung, daß irgendwann einmal das große, herbe Alleinsein aufhöre.
Alle guten Geister....
Da grüßen sie einander durch Länder, Zeiten und Ewigkeiten hindurch und sind dennoch eine Gemeinde untereinander. Es ist eine alte Geschichte und oft ist es auch eine leidvolle Geschichte, schwer zu erzählen, die Geschichte von dem Geiger, der das schönste Lied suchte.
Wenn er es in sich selber vernimmt und seine Finger sind schwer und seine Geige hat keine Saiten dafür.
Wenn die andern herumstehen und die Köpfe schütteln: Was ist das? Das ist wirres Zeug, dunkles. Ein Narr bist du.
**
*
Der Frühling und der Sommer war vergangen, es war Herbst geworden.
Daheim in Wiblingen lag die Sonne auf den reifenden Trauben in den Weinbergen und auf den Apfelbäumen droben am Berg in dem Obstgut, wo einst die Kinder miteinander Kirschen gebrochen hatten, und auf Lore Mautes breitrandigem Strohhut, unter dem ihr lachendes Gesicht hervorsah. Sie stand unter einem Rosenapfelbaum und hatte einige niedrige Zweige zu sich heruntergezogen und brach die reifen Früchte in einen Korb. Oben auf einer Leiter stand Franz und hatte einen Zwerchsack umhängen. Er war an der gleichen Beschäftigung. Heitere Reden flogen hinauf und hinunter, neckische Sonnenlichter tanzten in den Zweigen, im herbstlichen Duft und in glänzenden Farben lag die Landschaft da.
Es saß einer fern davon am Isarufer und sah in die ziehenden Wellen des Flusses, auf denen auch die Sonne lag und hatte doch ein anderes Bild vor Augen, das schützte er sich nach einer Weile mit der vorgehaltenen Hand, damit es ihm nicht vergehe. Darauf war mit freundlichen, warmen Farben die Heimat gemalt, das ganze Städtlein und die Berge und Felder ringsumher und die Häuser und die Menschen. Ach ja, die Menschen. Ihrer bedurfte er am meisten zu dieser Stunde. Dachten sie seiner? Einige waren, die wußten, was er jetzt, heute, vorhatte. Da stärkte er sich im Gedanken an ihr Dabeisein, an Lores vor allem. Sie ging es vor andern an, darum schuf er sich von ihr, was er in ihr suchte, treues und ernstes Gedenken.
Als es von einem nahen Kirchturm sechs Uhr schlug, stand er auf, mit stillem, gefaßtem Gesicht, obgleich es hinter seiner Stirn und in den Händen pochte und zuckte, und ging in die Stadt. Es war Zeit. Drinnen auf der Theresienwiese ging es laut und farbig zu. Es war ein Menschengewühl und ein Gelärme von schriller Karussellmusik, von Moritatensängern und Schießbudenausrufern. Das Oktoberfest hatte begonnen. Durch all das Gewühl hindurch ging Georg Ehrensperger seiner Wohnung zu. Wie es ihm plötzlich im Ohr klingelte, als wollte sich etwas anmelden von ferne her. Das war’s, der Lärm rief es in ihm wach, er hatte lang nicht an jenes hinterlassene Wort des alten Hollermann gedacht: „wer den rechten Ton will finden, der in allen Dingen beschlossen liegt, der muß in die Stille gehen und horchen. Und darf nicht fragen: ist es so den Leuten recht? Sonst lärmen ihm die Trommeln und Pfeifen der Jahrmärkte dazwischen.“
Ja, aber jetzt mußte er doch darnach fragen, jetzt, da sein Werk fertig dalag und nach Menschen begehrte, zu denen es reden könne. Es sollte ihm nicht gehen, wie jenem alten Musiklehrer, den er kannte. Der hatte ihm einst geschriebene Noten gezeigt, drei Schubladen voll, lauter eigene Kompositionen, die nie vor Menschenohren hatten klingen dürfen, weil sie ihm niemand abgenommen hatte. „Da steh’ ich manchmal davor,“ hatte er gesagt, „und höre, wie es da drinnen wimmert und klagt und heraus will. Noten sind doch lebendig, — lebendig begraben sind sie.“
Nein, so nicht, so sollte es ihm nicht gehen.
Da stieg er seine Treppen hinauf. Emeritz kam ihm entgegen, als er die Tür aufschließen wollte. „Der alte Herr ist schon drin, der eine, der schon zweimal dagewesen ist.“ Sie sah wichtig und feierlich aus. Da atmete Georg auf. „Der alte Herr,“ das war der Lehrer, der sich so freundlich und verstehend um ihn angenommen hatte. Der half ihm, der so allein für sich hingegangen war, auch jetzt, daß einige Männer, Musiker von Fach, und einige Laien, die im Geruch standen, etwas rechtes zu verstehen, sich bereit fanden, einmal eine oder zwei Stunden daran zu rücken und sich das Werk des jungen Sonderlings, der so eigene Wege ging, vorspielen zu lassen, wenn auch nur im Klavierauszug. Man konnte doch sehen, ob etwas daran war. Denn einen Verleger dafür hatte er nicht gefunden, „bis jetzt noch nicht,“ hatte er nach Hause geschrieben.
Das sollte nun heute geschehen.
„Grüß Sie Gott.“ Der alte Herr schüttelte ihm die Hand.
„Lassen Sie sich nicht draus bringen, durch nichts. Das Leben ist ja doch noch mehr, als die Kunst.“
Georg mußte ihn scharf ansehen. Steckte etwa der Rektor Cabisius hinter ihm? So hätte der auch sagen können.
Aber da klingelte es schon, und wieder, und wieder. Die Stube füllte sich, man begrüßte sich, man tuschelte, räusperte, nahm Plätze ein. Dann war es Zeit, anzufangen.
Alle guten Geister ...
Die Herren hatten ein beschriebenes Blatt in der Hand, eine Einführung in das Ganze. Darüber steckten sie die Köpfe zusammen. Er hatte es selbst geschrieben zum besseren Verständnis.
Georg zwang sich, nicht mehr nach ihnen hinzusehen.
Dann fing er an. Dann breitete er alle die Zeugen seiner stillen Stunden, der frohen und der bösen, vor fremden, horchenden Ohren aus. All’ sein Ringen mit dem Innersten, das es gab, daß es einen Ausdruck finde, das zeigte er diesen Leuten. Eine Zeitlang ging es gut. Er hielt sich fest am Zügel: Nicht denken jetzt, nicht fragen. Aber dann lief doch ein Gedanke zu einem Spalt hinaus: Ob einer, auch nur einer, mit dem Herzen dabei ist? Und eben, als er das fragte, bekam sein einziger näherer Bekannter unter ihnen den Schlucken und schluckte ein paar mal laut hinaus, eh’ er Zeit fand, es zu unterdrücken. Es war ein nervöser Reizzustand bei dem Mann, das wußte Georg, er störte ihn oft. Aber warum kam es gerade jetzt? — Weiter — Aber der Spalt ließ sich nicht mehr schließen. Ein Unruhgeistchen um das andere schlüpfte herein und saß auf den Tasten oder rumorte in seinem Gemüte. Alle Fehler, die sein Werk hatte — und es hatte deren viele, wenn man es kritisch ansah, — die fielen ihm jetzt auf, mehr, immer mehr. Es war ihm, als ob er sie zählen müsse. Und in seinem Kopf klopfte etwas hart und hölzern den Takt dazu, tak — tak — tak.
Seine Lieblingspartieen kamen, da eine, dann wieder eine, dahin wollte er sich retten, wie auf selige Inseln. Einmal gelang es auch, da atmete er auf und wußte: das ist schön, da mögen sie sagen, was sie wollen. Aber dann mußte er wieder weiter schwimmen, und da hörte er hinter sich ein Stühlerücken und — hatte da nicht der Deckel einer Dose geschnappt? — Weiter. —
Aber er war nicht mehr der Geiger, der das schönste Lied suchte, er war es nicht mehr selbst, er selbst, wie während des Schaffens. Er saß daneben und spielte etwas fremdes, das sagte nicht das, was in ihm lebte, es war anders und er kannte es nicht mehr.
Hilf mir, guter Geist, — bleib bei mir! Bleib da drin, in diesen Tönen, wie du drin warest, als ich sie schuf. Wo bist du? — Jemand stand auf und ging, jemand trat ans Fenster und öffnete einen Flügel, da gellte wie ein Hohnschrei die Jahrmarktsmusik herein. Darauf wurde er freilich wieder geschlossen, aber der Schrei blieb hier drinnen.
Er wußte, daß er bis zum Ende spielen mußte. Sie saßen doch nun einmal da, und er saß auch da, und die Noten standen auf dem Papier. Aber er wußte auch, daß dann irgend etwas sonst noch zu Ende sei. Was? Nicht denken jetzt, fertig machen.
Und plötzlich spürte er wieder so ein Summen und Klingen im Ohr, wie vorhin auf der Straße. Und er wußte, daß da drüben, Wand an Wand mit ihm, die kleine Gemeinde der Hausfreunde sei und liebend horchte, mit dem Herzen, nicht nur mit den Ohren, — und dann taten sich die Wände auf, und weiterhin auf der Welt waren noch mehr solche Menschen, und — ja und Gertrud Cabisius sah ihn an, ganz wie einst und horchte auch. Da schwanden die Ängste, die fast körperlich gewesen waren, und die Männer hinter ihm. Wie im Traum spielte er weiter und merkte nicht viel davon, daß es allmählich unruhig wurde in der Stube, und daß jemand neben ihn trat, um zu sehen, ob es noch nicht bald aus sei, und daß eine fette Stimme etwas von absolutem Mystizismus sagte, und daß der Inhaber dieser fetten Stimme ging, eh’ es aus war.
Er ging hinter seinem Lied her und es war ihm, als ob sich, wenn nun der Schluß kam und die Saiten sprangen und der Geiger starb, die vollen Chöre von drüben herüber hören lassen müßten, von daher, wo es „bessere Geigen“ gab.
Aber es geschah nichts so Wunderbares.
Es geschah ein Stühlerücken und Aufstehen und er selbst merkte, daß er auch aufstand und daß einiges zu ihm gesagt wurde, und daß ihm jemand ein Glas Wasser einschenkte und hinhielt. Da trank er und kam in die Welt zurück, und sie schenkte ihm auch einen Becher ein, der war gefüllt mit einiger zögernden Anerkennung dessen, was „immerhin musikalisch“ daran sei, und ein wenig Hoffnung, daß „bei tüchtigem Studium schon noch etwas herauskomme“, und mit viel lächelnder Gleichgiltigkeit. Da wußte er und war plötzlich wach geworden, — es war ein scharfes, wehtuendes Wachsein, — daß er zu denen gehöre, die das hohe Lied des Lebens, das in ihnen erklingt, nicht singen können, nicht so, daß es in den Menschen widerhallt. Da sprang auch in ihm eine Saite. „Die wird nie wieder ganz.“ Das wußte er. Einmal bekam er einen guten Händedruck. Der war von dem „alten Herrn“. Aber es brauste so wunderlich in Georgs Ohren, er hörte nicht recht, was gesagt wurde. „Ich komme morgen wieder, ich habe Ihnen allerlei zu sagen.“ Dann ging der alte Herr zögernd fort. Er stieg allein hinter den andern drein die Treppe hinunter; das Herz war ihm voll. Das war doch echte Musik gewesen, dennoch, obgleich er, der sie geschaffen hatte, wohl nie zu den Meistern zählen würde, die die Welt anerkennt. Er wollte es ihm sagen, morgen. Als Georg sich nach einiger Zeit umsah, war er allein.
Nicht ganz allein. Emeritz stand an der Tür und machte fragende Augen. „Ob Sie nicht zum Theodor kommen könnten?“ Aber sie fragte umsonst. Er rührte sich nicht. Er saß da, wie einer, der nun nicht mehr weiter kann und auch nicht will und nicht weiß.
Da wetterte sie in ohnmächtigem Grimm und Mitleid die Stubentür und dann die Gangtür zu, und polterte die Treppen hinunter; es sollte poltern, sie wollte es so. Und schwang dabei die Schultasche, die sie in der Hand hatte, daß die Schiefertafel am Treppengeländer verkrachte. Aber mochte sie doch verkrachen, es gab noch mehr Verkrachtes in der Welt. Sie hatte deutlich gehört, was die Herren beim hinuntergehen zueinander sagten; es war viel Spöttisches darunter gewesen, und sie hatte es sofort den Schneidersleuten erzählt und wollte es jetzt der Mutter erzählen.
Aber sie wußte nicht, daß er, dem ihr grimmiges Mitleid galt, droben in Hast und Eile eine Reisetasche packte und nach dem Fahrplan sah. Es war ihn plötzlich angekommen, heimzugehen. Was sollte er noch hier? In seiner Kammer neben dem Taubenschlag wollte er sich besinnen, was nun aus seinem Leben zu machen sei. Und er wollte sich von Liebe umfangen und trösten lassen, und am Glauben der Liebe wollte er wieder an sich selbst glauben lernen.
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Als der alte Herr am andern Tag wieder kam, um sich mit Georg zu besprechen, da saßen Theodor und Emeritz schluchzend beisammen. Er sei fort, sagten sie, in aller Frühe sei er abgereist, und ob er wieder komme, das wisse kein Mensch. Hier liege auch ein Brief an ihn, den müsse man ihm nachschicken nach Wiblingen. Und dann schmiegten sie sich von neuem aneinander, um ihre Betrübnis besser tragen zu können. Lorens Bild aber lächelte noch von seinem Eckbrett herunter. Das hatte er zurückgelassen? Er war ja zu ihr selbst gegangen.
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Es war eine Zeitlang, wohl drei Monate, nachher. Ein stilles Zimmer, grün gestrichene Wände mit wenig Schmuck daran. Beim letzten Schein der sinkenden Sonne saß einer und schrieb.
„Weißt du noch, Gertrud, das Märchen von dem Fuhrmann, der „noch nicht arm genug“ war? Zuerst fiel ihm sein Pferd, dann sein Hund, dann seine Frau, dann sein Haus, dann er selbst. Nun, ich selbst lebe noch. Und vielleicht bin ich jetzt auch arm genug. Denn mehr als mich selbst — und was für ein Ich — habe ich nicht mehr. Es lebt aber irgendwo in mir etwas wie eine tiefe, schauerliche Freude, dochzuleben und dazusein. Das muß für den Anfang genügen. Es muß ja auch denen, die um mich herum sind, genügen, zu leben. Denn viel mehr als das Leben selbst haben sie, die nicht einmal das Licht sehen können, nicht.
Ich will aber versuchen, dir alles der Reihe nach zu erzählen, du bist es wert, du Getreue. Es ist nur nicht leicht, und du mußt verzeihen, wenn hie und da eine Blase aufsteigt und zerplatzt, ich habe hie und da noch einen bittern Geschmack in mir. Es wird ein langer Brief werden.
Also das hast du erfahren, ich schrieb es mit drei Worten deinem Großvater, und du, die du sein Auge bist, hast es ihm wohl vorgelesen: Es war nichts mit dem Lied, das ich singen wollte. Davon zu reden nützt ja nichts. Du weißt, wie es von Anfang an war: als ich mich von der Theologie abwandte, weil sie mir zu groß und zu schwer war, da mußte ich erfahren, daß etwas von ihr meinem Wesen gemäß sei und meine tiefste Neigung besitze. Als ich vor der Kanzel floh, weil ich der Meinung war, daß man den Glauben nicht lehren könne, das Innerste im Menschen, das allem Zugang der Menschen verborgen sei, — da merkte ich erst, daß ich dennoch einen Zug dazu hatte, ihnen zu predigen, wenn man so sagen will. Ich wollte ihnen etwas bringen, ein Aufhorchen auf das, was die Stille redet, einen Glauben an das Innerliche, Unsichtbare, das erst das eigentliche Leben ist, und daran, daß die Sehnsucht nach dem Ewigen Recht behalte.
Und weil mich Worte dazu so unvermögend und arm dünkten, wollte ich versuchen, es in Tönen zu sagen.
Meiner eigenen Sehnsucht und ihrer wollte ich damit nachgehen. Nun, du weißt es, ich bin beides nicht, kein Priester und kein Künstler. Ich wollte es nur sein. Andere sind es, das ist der Unterschied.
Aber genug davon. Ich war noch nicht ganz arm. Ich hatte ja noch meine Liebe. Das war Schmerz und Trost zugleich. Schmerz, weil ich ihr noch kein Haus bauen konnte, — ich wollte jetzt mit ihr beraten, wie es zu machen sei, und wollte ihr auch die Freiheit anbieten; aber mein Herz lachte: das nimmt sie nicht an. — Und Trost, weil ich von jemand sagen konnte: meine Heimat du.
Daß ich dir das erzähle, Gertrud. Aber ich habe sonst keinen Menschen und du hast von Kind auf zu mir gehört.
Ich bin zu spät gekommen. Sie hatte so lang gewartet, als sie konnte. Als ich kam, saß sie an der Nähmaschine und nähte rot- und weißgestreifte Hemden für Franz, und Franz bog eben ihren schönen Kopf zurück, daß er in seinen beiden bloßen Armen lag und sie hatten ein Lachen des Glücks in ihren Gesichtern. Zu lachen, Gertrud, hatte sie nicht viel bei mir, und sie lacht so gern und ist so schön, wann sie lacht. Ich hoffte, es später auch noch zu lernen. Aber es hatte zu lang gedauert. Da ging ich leise von der Tür zurück, die war offen gewesen, und stieg in meine Kammer hinauf. Weißt du, Gertrud, meine Kammer unter dem Dach. Später kam Lore nach. Der Lehrling hatte mich hinaufgehen sehen und es ihr gesagt.
Ich darf ihr nicht zürnen, Gertrud. Sie konnte nicht anders. Franz, der ist ja mein Bruder, der hätte eigentlich —, nun, es hat wohl so sein müssen. Was ist eine Liebe, die keinen Boden hat, keinen rechten, natürlichen Nährboden? Er aber ist Bäcker, Weinwirt und Hausbesitzer und — ich darf nicht bitter sein, ein heiterer, nüchterner Mensch, der keinen vergeblichen Träumen nachgeht. Nur, ich habe sie sehr geliebt, und eine Seite ihres Wesens, die ich kenne, die hätte doch wohl zu mir gepaßt.
Zu dir konnte ich damals nicht gehen, Gertrud, das verzeihst du mir. Es zog mich mit Gewalt zu dir, und du hättest mich aufgenommen. Aber ich konnte doch nicht.
Eins noch aus jenen Tagen: ich kann so gar nicht durchfahren. Ich hätte, wär’ ich ein ganzer Mann gewesen, sogleich wieder gehen sollen, irgendwo hin. Ich gehörte ja doch nicht in dieses Haus. Aber sie kamen herauf und setzten mir auseinander, wie es gegangen sei, ganz verständlich, es war gar nichts dawider zu sagen, und Lore bat mich tausendmal, zu sagen, daß es so besser sei auch für mich. Ich glaube, ich habe sogar so etwas gesagt. Da blieb ich drei Tage. Ich war auch so stumpf und müde. In dieser Zeit schickten sie mir einen Brief von Fritz Hornstein nach, der fragte mich, ob ich „noch nicht genug von der Freiheit“ hätte. „Denn du gehörst ja doch zu uns und in ein Amt gehörst du auch.“ — So? In ein Amt? In was für eins? Ich mochte nicht weiterlesen. Wie ein verlorenes Paradies stand das Ideal meiner Jugend — du kennst es, — vor mir. Sollte es jetzt gut genug sein für einen verlaufenen Musikanten?
Es schüttelte mich. Ich war ja ärmer als je. Was hatte so einer, wie ich, zu geben?
Aber schließlich las ich doch weiter. Falls es dir mit dem Neuschaffen nicht so klappt — verzeih’, daß ich das für möglich halte, aber es kommt ja vor und ich meine, in deinem letzten Brief so etwas gelesen zu haben —“ (ach ja, ich meine es auch), „ich wüßte dir einen Posten, dem ich dich gönnen möchte, wenn er dir auch nicht lang genügen wird. Es wird von einer Blindenanstalt ein Musiklehrer, der auch sonst einige Stunden, am liebsten Religion und Weltgeschichte, und etwa Literatur zu geben hätte, gesucht.
Seit ich das weiß, muß ich immer an dich denken, wie ich dich unter dem Häuflein armer Leute antraf, damals in München. Du magst machen, was du willst, du gehörst dennoch zu uns. Im übrigen wirf mir getrost einige Grobheiten an den Kopf, falls es dir nicht paßt.“
Jetzt bin ich da, Gertrud, und merke erst, wie arg zerbrochen. Ich will aber versuchen, zu leben und nun dennoch —.“
Als Georg Ehrensperger, Musiklehrer und Vikar der Blindenanstalt, droben in seiner einsamen Stube im dritten Stock soweit geschrieben hatte, legte er die Feder weg und es flutete in heißen Wellen über ihn hin, daß er nicht wußte, was er dennoch wollte, und er ließ den Kopf tief auf die Brust herabsinken und saß mutlos da.
Da ging die Tür geräuschlos auf und ein Zögling des Hauses, ein blasser, feiner Jüngling mit lichtlosen Augen stand da und sagte: „Ich habe geklopft, aber Sie haben es nicht gehört. Es ist Besuch für Sie da.“
Besuch?
Feste, wohlbekannte Tritte auf dem Gang, eine liebe Stimme.
„Georg.“ Da trat sie, der er soeben sein Herz ausgeschüttet hatte, herein zu ihm und nahm ihn bei der Hand. „Grüß Gott.“
Er konnte nicht gleich reden. „Gertrud.“ Das war alles. Es war auch nicht nötig, mehr zu sagen, er schickte sie nicht fort, das merkte sie dennoch.
„Da, lies, das ist für dich,“ sagte er.
Aber sie wußte ja alles. Ahnte er denn nicht, wie sie mit ihm fortgelebt hatte?
„Wie kommst du hierher, Gertrud? Wie hast du mich gefunden?“
Eine tiefe Röte überzog ihr ernstes Gesicht. Sie kämpfte einen Augenblick mit der Versuchung, ihm zu sagen, daß sie ein Kind im Hause besucht und nicht habe versäumen wollen, ihn auch —. Weg damit. „Ich bin nur zu dir gekommen.“ Das Herz schlug ihr bis an den Hals, aber sie sagte es dennoch. „Ich mußte, ich habe immer zu dir gehört, Georg. Ich habe so lang gezögert, ich hatte — ach, das ist ja gleich. Da bin ich.“
Da zum erstenmal seit — ach seit langer Zeit, überkam ihn eine Bewegung, die warm und weich und schmerzvoll zugleich war und die heiße Tropfen in seine Augen trieb und auf seine Hände fallen ließ. Er dachte nicht daran, sie zu verbergen. „Du bist — mein guter Kamerad,“ wollte er sagen, aber es ging nicht, er schüttelte den Kopf. Da sagte sie es selbst. „Das will ich jetzt auch sein.“
Er mußte sie ansehen. Er hatte sie ja lang nicht gesehen.
Es war eine ernste, reife Schönheit in ihrem Gesicht und Wesen; sie sah älter aus, als ihre Jahre es wollten, aber so sicher und aufgerichtet und auf irgend eine Art froh, von innen heraus. Nun saß sie neben ihm.
Sie las seinen Brief, damit er nicht reden mußte. Dann legte sie ihn zurück auf den Tisch.
„Und nun dennoch?“ fragte sie leise mit den letzten Worten des Briefs.
Da schüttelte er den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich meinte, dennoch irgend einen Teil an den Menschen haben. Aber ich weiß nicht, welchen. Ich habe ihnen nichts zu geben. Ich habe nur einen starken Zug zu ihnen, das ist alles. Ach, Gertrud, es geht ein Riß durch mein Leben hindurch. Der läßt sich vielleicht notdürftig flicken, mehr nicht. So viel Mißratenes, so viel verlorene Zeit, vergebliches Streben, unklares Wollen, — ach, es ist nicht aufzuzählen. Und dann auf einmal gar nichts mehr zu haben, nichts, Gertrud. Weg ist alles Schöne, auf das man hoffte, weg wie ein Traum.“
„Das verstehe ich besser, als du denkst,“ sagte sie, und verbarg ihm ihre Augen nicht.
„Man glaubte ein Ziel zu haben, einen eigenen, bestimmten Inhalt für sein Leben, und auf einmal steht man da und hat ganz leere Hände.“
Das mußte sie erlebt haben, das spürte man, und Georg wußte nun, daß auch das wahr sei, was er sich hie und da auszureden versucht hatte, daß er ihr, an die er nicht in einer solchen Liebe gedacht hatte, das Leid des Lebens gebracht hatte. Das kam auch noch hinzu, er senkte den Kopf noch ein wenig tiefer.
„Aber das wird wohl so sein müssen. Die den Armen etwas bringen wollen, eine Liebe oder eine Botschaft, die müssen selber arm gewesen sein. Wie könnten sie sonst die andern verstehen? Warte du nur, es geht dir nichts Gutes ganz verloren, du mußt es nur zuerst wagen, ohne alles dazustehen, ganz allein und ohne Besitz.“
Sie zögerte, ob sie das auch noch sagen solle, was ihr von unten heraufstieg und auf den Lippen lag, dann fuhr sie leiser fort, wie man von einem schönen Geheimnis redet: „Es bekommt alles ein anderes Gesicht für einen von da an. Alles, auch Er, du weißt, wen ich meine. Von dem ihr so oft so zaghaft redet — ich meine, ihr Theologen, weil ihr nicht recht wisset, wo ihr ihn unterbringen sollt. Von da an, wo man sich wundert, daß er die Armen selig preist. Gerade die, die es in sich selber — im Geist, sagt er, — sind. Er muß es auch gewesen sein, sonst könnte er es nicht tun. Dann wüßte er es nicht. Da tritt er einem ganz nah, ganz nah. Alles versteht man anders von da an. Da geht ein neuer Weg in die Welt hinaus, zu den andern. Man versteht sie, wenn sie schwer an sich tragen und hat sie lieb. Das spüren sie. Das schließt sie auf. Ach — fang’ nur an — sagen ist nichts, erleben, das ist alles.“
Er sah sie immer an, solang sie sprach. Er trank das alles in sich hinein, wie man frisches Wasser trinkt.
Nun war sie wahrhaftig wieder auf seinen Weg gekommen, wie damals auf der Landstraße, als er verstört und erschrocken bei dem invaliden Drehorgelmann stand, und wieder faßte sie seine Hand und sagte: „Komm, wir gehen nach Hause.“
Wie war sie ernst und stark, wie war sie gesund und frisch.
Unten läutete eine Glocke, das war für ihn das Zeichen zu einer Stunde.
„Geh’ mit, ich will dir alles zeigen, die Menschen, die großen und die kleinen, und das ganze Haus. Es ist mir heimatlicher, wenn du alles gesehen hast.“
Und sie durchwanderte mit ihm das Haus, und hörte zu, wie er einen blinden Knaben im Orgelspiel unterwies, und saß mit gefalteten Händen dabei, als er nachher eine ernste, schöne Musik ertönen ließ, die ihr fremd war und sie doch vertraut anmutete. Die war aus seiner eigenen Seele geflossen, das wußte sie, und wußte auch, daß er neu aufstehen und das Leben angreifen werde, ja, daß er es im Grunde schon getan habe.
Da ging eine große Freude durch ihr ganzes Wesen hindurch, viel größer, als in jener Nacht, da sie zu erkennen glaubte, daß sie beide, Georg Ehrensperger und Gertrud Cabisius für einander geschaffen seien.
„B’hüet Gott.“ Sie reichte ihm die Hand, da eben die Blinden in langen Reihen mit stillen Tritten in den Saal kamen, und die Abendandacht beginnen sollte. Er konnte sie nicht zur Bahn geleiten.
„Bleib nur. Du weißt, ich mußte kommen. Gelt, du verstehst es. Ich bin deine Schwester, das bleib’ ich. Du hast es immer gewußt, ich nicht immer.“
Da ging sie hin. Er sah ihr nach, bis sie um die Ecke verschwand.
Dann atmete er hoch auf. Untergehen? Nein.
Die Fenster standen weit offen, die laue Abendluft trug den Duft der Reseden und Levkojen vom Garten herauf ins Zimmer. Es war ein stilles Zimmer. In dem großen Lehnstuhl saß der Rektor Cabisius. Er hatte das weiße Haupt auf die Brust gesenkt und dämmerte so zwischen Schlaf und Wachen dahin. Die Zeit war gekommen, da er von dem allem, was ihn hier umgab, Abschied nehmen sollte. Es war kein Losreißen, er ging still und gern. Das große Studentenbild sah von der Wand herunter auf den Greis. Wo waren alle die jungen, kraftvollen Gestalten hingekommen? Sie hatten alle ihren Weg durch die Welt gemacht und waren wieder gegangen; neue Generationen waren nach ihnen gekommen. Er war wohl der Letzte von den Alten, damals Jungen.
Der Greis regte sich und hob den Kopf.
„Ja, Anne, so jung als möglich.“
„Hast du etwas gesagt, Großvater?“
Unter der offenen Tür des Nebenzimmers erschien Gertrud.
Sie trat zu ihm. Er lächelte und öffnete die Lider seiner blinden Augen. Das tat er wohl aus alter Gewohnheit, denn die Gestalt seines Kindes, das vor ihm stand und ihr Gesicht mußte er ja mit andern Augen wahrnehmen, als mit den erloschenen seines Leibes.
„Ich glaube, ich habe mit deiner Großmutter geredet. Sie ist jetzt immer neben mir. Sie sagte in ihrer raschen Art, wie sie früher oft sagte: „Wir müssen so jung als möglich sein, Alter. Für das Kind. Du bist aber kein Kind mehr, Gertrud.“
„Du bist aber so jung als möglich gewesen, Großvater, du bist es für mich gewesen. Ich danke dir so herzlich dafür.“ Sie kniete neben ihm und legte ihren Kopf in seinen Schoß.
„Du Kind, du bist lebensreifer, als ich je gewesen bin. Das hat das Leid getan, das große Alleinsein. Ich habe es gewußt, wir haben nur nie darüber geredet. Aber jetzt, da ich gehe, sag, Gertrud, wie ist es? Ich muß es Anne sagen können. Wie ist es mit dir und Georg?“
Er mischte Traum und Wirklichkeit durcheinander.
„Ach, Großvater, da ist nichts zu sagen. Er ist wieder bei mir, wie einst. Er hat mich lieb und ich gehöre zu ihm, wie ich es von Kindheit an tat. Aber wenn du das meinst, das eine: ich bin ihm nicht das Weib, nicht sein anderes Ich. Ich weiß es. Das kann nie kommen, das ist nicht. Das ist ein Rätsel des Lebens, das Gott allein weiß. Ich weiß nicht, ob irgendwo jemand lebt, der zu ihm gehört; bis jetzt weiß er nichts davon. Manchmal denke ich, wir werden so leben und alt werden und davongehen, und irgendwo sei die Lösung des Rätsels, die andere Seite des Gewebes, die wir dann zu sehen bekommen. Aber ich weiß es nicht. Bis dahin, — man muß sich stillen und nichts verlangen, und sein Leben füllen, so gut man kann. Sie sind ja alle irgendwie in Not, die Menschen. Man muß sie lieb haben und verstehen, nicht in ihrer Sünde, in ihrer Not. Das tat Er auch.“
Sie schwieg. Der Abend dunkelte durch das Zimmer. Der Greis schlief wieder. Er war so müde.
Draußen wurden Schritte hörbar, rasche, kräftige Tritte.
Das kleine Dienstmädchen verhandelte etwas mit jemand, dann klopfte es an die Tür des Nebenzimmers.
„Herein.“
„Grüß Gott, Gertrud.“
„Grüß Gott, Georg.“ Sie war aufgestanden und ihm entgegengegangen.
„Lebt er noch?“
„Ja.“
„Ich habe nicht bälder kommen können. Es war so vieles in den letzten Wochen und Tagen, Prüfung und Jahresfest, und, Gertrud, ich habe es nicht lassen können, ich habe einiges von meinem Eigenen mit den Blinden eingeübt, einen Chor, und ein Orgelstück, und ein Andante für Klavier und zwei Violinen. Es ist aus dem Alten, das nicht schweigen will. Sie haben es mir so lebendig abgenommen, du glaubst nicht, wie froh es mich gemacht hat. Sie haben nicht so viele Tore ihrer Seele, durch die das Leben aus- und einströmt, darum sind sie gesammelter, einheitlicher. Wir hatten kein Publikum dazu, wir waren unter uns. Es war aber ein Fest.“
Sie sah auf ihn und freute sich, daß er so hell und frisch dreinsah und dachte, wie eine Mutter denkt: „Wie hat er sich herausgerissen und ist des Seins und Lebens mächtig geworden. Ach, das ist ja nicht so wichtig, was sein Amt und Titel ist, und ob seine Altersgenossen weiter sind, als er. Was er ist, das ist das Wahre, und er ist ein Mensch und Mann, an dem Gott selber seine Freude haben kann.“
Sie saßen aber still in der Stube neben des Rektors Studierstube. Von drinnen kam ein leichtes, kurzes Atmen und hie und da ein Wort, im Halbschlaf geredet.
Da, nach längerer Zeit, fingen sie an, sich flüsternd zu unterhalten.
„Wenn er aufwacht, dann will ich zu ihm hineingehen. Ich möchte ihm noch so vieles sagen, aber das werde ich ja nicht können. Weißt du, mit dem Danken, es ist so eine Sache. Wer sich selber von Herzen gab, der will keinen Dank dafür. Und so gab er sich, sein Leben lang, wenigstens seit ich denken kann.“
„Seit wir denken können. Das ist so ziemlich das gleiche.“
„Ja.“ Er dachte zurück, so weit er konnte.
„Weißt du noch?“ Da machten sie es wie die Alten, die ganz Alten und tauchten in den Jungbrunnen der Kindheitserinnerung ein. Tausend und eine Erinnerung. Hie und da wurden sie lebhaft und verfielen in lauteres Reden, dann erschraken sie vor dem eigenen Ton ihrer Stimmen und flüsterten wieder.
Frau Judith schritt am Stock durch das Gemach, und Jungfer Liese, und die Rektorin, und Hollermann. Und dann glitt ihr Schifflein unvermerkt in das breitere Flußbett des Lebens hinaus.
„Du, Gertrud, wo bist du mit deinen Gedanken?“
Sie schrak auf. Sie hatte soeben einen kleinen Privatausflug gemacht, davon sollte er nichts wissen.
„Ja?“
„Ich bin heute nachmittag drüben gewesen, bei Franz und Lore. Sie wissen gar nicht, was sie mir alles zuliebe tun sollen. Aber, du — du hörst nicht recht zu.“
„Doch, ich höre alles.“
„Du, Lore geht ins Korpulente. Das ist sehr heilsam für mich. Diese Frau mit den dicken Backen und der breiten, gestreiften Schürze habe ich nicht gekannt. Heute, als ich kam, stand sie unter der Ladentür und sah hinaus. Ich hatte ein wenig Mitleid mit ihr; man sollte es nicht glauben, aber es ist doch so. So, als ob ihr Gesicht fragte: ‚Ist das jetzt alles?‘ Und, Gertrud, es ist ja tatsächlich alles. Sie hat ihren Franz und ihren rundköpfigen Buben, und ein gutes Geschäft und viel Geld. Aber ich weiß, irgend etwas in ihr hungert nach mehr. Sie ist nicht zufrieden mit dem allem.“
„Und das ist ihr Bestes,“ sagte Gertrud. „Das ist ein Faden, der sie ans Innerliche, Ewige knüpft. Wenn sie älter wird, wird das Heimweh steigen, und zuerst wird sie meinen, es sei nach dir, und dann wird sie erkennen, daß es nach deiner Welt ist. Und sie wird ihrem Sohn davon erzählen, und wird den Armen Brot und Liebe geben, und wird ihren Mann davor behüten, daß ihm gut Essen und Trinken alles wird. Und das hast du ihr gegeben.“
Da schwiegen sie wieder.
Die Hausglocke schellte.
„Das ist Meister Nössel. Er kommt jeden Abend um diese Zeit und sieht nach dem Großvater. Es ist ein Wunder, daß er es noch kann, er ist so eingetrocknet und zusammengerunzelt wie eine Hutzel. ‚Wenn mich nur der liebe Gott nicht abzurufen vergißt,‘ sagte er gestern. Ich glaube, er ist in Sorge darum. Aber es ist nicht mehr viel Leibliches an ihm, man kann ruhig sein in dieser Hinsicht.“
Da kamen trippelnde Schrittlein und schwere Stockstöße näher.
„Guten Abend.“
„Guten Abend, Meister Nössel.“
„Ist er noch da? Ja? Ich dachte, er sei heut gegangen. Heut sind’s elf Jahre, daß Judith starb. Ich hätte nicht gedacht, daß es noch so lang daure, bis ich nachkomme.“
„Still.“
Vom Turme hallten die feierlichen Schläge der Betglocke.
„Er hat’s doch gelernt. Das Läuten, meine ich. Ich habe einst im Ärger gesagt: Das lernt er nie so recht, er läutet anders, weil er anders ist. Aber er hat’s doch gelernt. Er hat inzwischen viel erlebt und auch erlitten, das macht’s.“
Dann schwiegen sie wieder.
Der letzte Hall, noch einer.
„Und wenn das Leben neiget sich, laß uns einschlafen seliglich.“
Das hatte Meister Nössel gesagt. Sonst begehrte er ja auch nichts mehr. Das andere, das Unruhige, Müdmachende, Glück und Leid und Sorge und wie alle die Erdengeister heißen, das lag weit dahinten, nicht vergessen, nicht verachtet, aber ausgedient.
„Gute Nacht.“ Er gab seinem alten Freund die Hand, der war in Träumen und kannte ihn nicht.
„Das tut nichts. Wir — wir kennen uns doch wieder, wenn es Tag wird, Joachim Cabisius. Schlaf wohl, schlafet alle wohl.“
Sie hörten die Stöße seines Stockes auf der nächtlichen Gasse. „Bleibst du da, Georg? Ich bleibe die Nacht auf; wenn du willst, bleib bei mir. Der Doktor war da, kurz, eh’ du kamst, er sagt, es könne ganz leise ausgehen, wenn das Herz versage. Aber ich glaube es noch nicht. Er erwacht hie und da und spricht dann ganz klar und wie sonst, wenn auch fast ganz ohne Stimme. Hörst du?“
Sie traten leise zu ihm, da redete er undeutliche Worte, und, da er müde an die Seitenlehne gesunken war, wie ein schlaftrunkenes Kind, brachten sie ihn miteinander zu Bett.
Der Mond war heraufgestiegen und leuchtete wie vor Zeiten in die altbekannte Stube und wunderte sich, daß die lange Pfeife unbenützt am Haken neben dem Stehpult hing und daß alle die Geister und Geistchen, die sonst auf weißen Rauchwölkchen da herumspukten, schwiegen und den Atem anhielten. Als er aber bis an das weiße Bett hinleuchtete, das sonst nicht in diesem Raum gestanden war, da hörte auch der Mond auf, zu flimmern und herumzuspielen. Ganz still lag sein Licht auf dem Boden und an den Wänden und blieb auf dem Bett und der ruhigen Gestalt darin liegen.
„Es tut ihm nicht weh, du brauchst den Vorhang nicht zuzumachen, Georg.“
Da setzte der sich auf die Truhe, wie einst und sah sich um, wie die Stube in dem weichen, ruhigen Licht dalag und dachte, daß es jetzt auch anders werde, da ihr alter Bewohner davonging.
„Was willst du nun anfangen, Gertrud? Hast du dir etwas ausgedacht?“
Sie zuckte nun doch ein wenig zusammen. Was hilft das Ausdenken? „Ich bleibe vorläufig da. Ich habe es alles mit dem Großvater besprochen. Ich will Veronika zu mir nehmen, meine lahme Freundin, der die Mutter gestorben ist, und will mich um meine Patenkinder annehmen, so gut ich kann. Eines von ihnen, (du kennst ihn ja, es ist Leonhard, der mittlere Bub von den Türmersleuten, — der ist so zart und kann nicht gut so oft die vielen Stufen steigen), bekomme ich vielleicht ganz ins Haus. Dann will ich sehen, ob ich ihm etwas von allem dem geben kann, was er —“ sie zeigte nach dem Bett hin — „was er mir gab. So ist noch manches.
Ich habe früher an einen bestimmten Beruf gedacht, Krankenpflege, oder Lehrerin, oder sonst etwas. Aber daraus ist jetzt nichts geworden, und ich glaube, es ist auch besser so.“
Sie saß da so hell im Licht und Georg sah, wie es in ihren Zügen arbeitete und wie dann ein Lächeln darüber ging.
„Das ist jetzt so. Ich passe wohl nicht recht in irgend einen Model, ich bin so ein wenig anders geraten als andere Mädchen. Ich stieße wohl da und dort an, wenn ich nicht sein dürfte, wie ich gewachsen bin. Da muß ich sehen, daß ich mir selber ein Leben zimmere. Es wird auch schon gehen.“
Im Stillen dachte sie: Und dann will ich für dich da sein, so oft du eines treuen und ehrlichen Menschen bedarfst, der zu dir gehört.
Sie sagte es nicht; sie war doch wohl noch nicht heil genug, um ganz rückhaltslos von ihm und sich zu reden.
Aber er sagte es selber.
„Das ist gut für mich,“ sagte er. „Ich muß dich immer finden können. Ich weiß ja nicht, was noch aus mir wird, obgleich ich vorläufig bei meinen Blinden bleibe und noch nicht ans Fortgehen denken mag. Wie lang das noch dauert, weiß ich nicht. Was sagst du Gertrud?“
„Was ich sage? Du sollst einmal einen Schritt um den andern tun und einen Tag um den andern nehmen, wie du das bereits angefangen hast. Es wird eines aus dem andern herauswachsen, eine Aufgabe aus der andern und ein Können aus dem andern. Das sage ich und sonst nichts.“
„Doch noch eins, Gertrud.
Ich weiß nicht, was meine Altersgenossen von mir denken. Hie und da kommt einer — sie sind aber nicht alle so, lange nicht, — so ein bißchen mitleidig, ein bißchen vorsichtig zurückhaltend zu mir, neulich beim Jahresfest, oder wenn einer das Haus betrachten will, und glaubt dann, nachsichtig mit mir reden zu müssen, wie mit einem, der eigentlich etwas wie eine ‚verfehlte Existenz‘ ist. Und das, Gertrud, das will ich nicht sein. So sehe ich mein Leben nicht an, es komme, wie es wolle.“
„Das bist du auch nicht. Durch das alles hindurch geht ein gerader Weg zum rechten Leben, weißt du, dazu, ‚das Leben zu haben in sich selbst‘. Das kann man freilich den andern nicht sagen. Sie sehen nur das Äußere. Aber das wird gerade gut sein. — Gut sein müssen,“ setzte sie doch mit einem leichten Seufzer hinzu. Denn leicht war es nicht immer, das wußte sie wohl.
„Ja, und das sollst du mir hie und da sagen. Dazu will ich dich finden können — und zu manchem anderen. Du weißt es. Wenn ich es nicht mehr weiß, will ich dich fragen können.“
Sie nickte ernst und einverstanden.
„Das will ich. Das sollst du können, mein Bruder.“
Und so sah Gertrud Cabisius’ Glück aus?
So sah es aus.
Sie hatte sich einst weit aufgetan, um ein ganz großes, ganz volles Menschenlos in sich zu empfangen. Und nun war sie zufrieden, — nun fand sie eine tiefe Freude darin, dem, den sie liebte, ein ruhender Punkt, hie und da eine Zuflucht, eine Weggenossenschaft zu sein?
„Es wird nicht allen so gut,“ dachte sie dankbar. „Es ist mehr, als ich an bösen Tagen hoffen konnte.“
— Wer will sagen, was ein ganzes Menschenlos sei? Vielleicht wird im Entbehren, im tiefen Leid des Einsamseins stärker als im warmen, sonnigen Glück die Ahnung davon wach, daß das hier „nicht alles“ sei.
Daß die kurze Spanne Zeit, die wir unser Leben heißen, nur ein Teil jenes großzügig angelegten Planes sei, in den sich der Schöpfer der Menschengeschlechter nicht hineinsehen läßt. Wie der Geiger, der das schönste Lied suchte, so sucht die Menschenseele einen Ort, da es „bessere Geigen“ gibt, damit einmal, endlich einmal das ganze Konzert von großen, schrecklichen und herrlichen Dingen, die die Menschenbrust zu Zeiten fast zersprengen wollten in Liebe und Sehnsucht, zur Aufführung kommen könne, oder da in dem ungeahnt Allergrößten das jetzt Große untersinke und verstumme.
Mitternacht war vorüber. Sie saßen noch da, manchmal still für sich und in Gedanken jedes, manchmal flüsternd, Gegenwärtiges und Zukünftiges beredend. Daß Georg einen Brief von Emeritz, seiner Münchener Freundin, habe, und daß es ihm gelungen sei, den blinden Theodor in der Anstalt unterzubringen. Gertrud wollte ihn einmal über eine Vakanz zu sich holen und freute sich darauf.
„Er soll es gut haben,“ sagte sie lebhaft und dämpfte sogleich wieder ihre Stimme; die leisen, schwachen Atemzüge, die nur in der tiefen Stille der Nacht hörbar sein konnten, gaben hier drinnen den Ton an. Es ist nichts Geringes, dabeizusein, wenn ein ernster, Gottes und des Lebens bewußter Mensch sich anschickt, in die dunkle Flut unterzutauchen, deren Grund und anderes Ufer wir nicht kennen.
Ein Uhr.
„Horch, er redet.“
Sie traten ans Bett.
Immer ein Wort mit versagender Stimme, schnell aufeinander, dann langsamer, deutlicher, dann kam mehr Stimme hinein.
Immer dasselbe — „ewig — ewig — ewig.“ Immer lauter, immer staunender wurde der Ton. „Ewig — ewig — ewig.“ Sonst nichts. Sie versuchten ihn anzureden. Aber für den leisen Laut einer Menschenstimme war Joachim Cabisius nicht mehr da, er, der zu vergehen schien an etwas ganz Riesigem, ganz Unfaßbarem.
„Ewig — ewig — ewig.“
Es dauerte immer noch fort. Fast nicht zu tragen für die Zuhörenden, denen der Vorhang noch nicht gehoben ist, der ihm sich aufzurollen scheint. Es war so riesig, alles andere versank davor.
„Ewig — ewig — ewig.“
Sie waren ans Fenster getreten, dicht nebeneinander und hatten sich fest an den Händen gefaßt.
„Daß uns werde klein das Kleine, und das Große groß erscheine,“ sagte Gertrud leise.
Dann nach und nach wurde es stiller, dann ganz still.
Waren auch ihm die Saiten zersprungen, als er in den vollen Chor einzustimmen versuchte?
Er hatte sein Lebenlang zu der stillen, schönen Gemeinde der „guten Geister“ gehört, die in allerlei Sprachen und auf allerlei Weise, ein jeder nach seiner Art „loben Gott den Herrn“ und deren Bundeslied, ob ihnen schon die Worte vielfach nicht bewußt sind, doch durch alles Geschaffene tönt:
Wenn wir Ohren hätten.
Aber es wird so gut sein, wie es ist und wird gut werden, wie es wird.
**
*
Der Morgen graute ganz von ferneher. Kaum ein erstes, blasses Dämmern drang durch die Nacht. Die kleine Nachtlampe fing an zu flackern in dem kühlen Wind, der über die Berge herkam und draußen in den Bäumen rauschte und in die Stube hereinwehte. Da standen sie auf von ihren Sitzen und deckten ein weißes Tuch über das liebe, stille Gesicht.
„Ich gehe, Gertrud. Ich will mit dem Morgenzug reisen und meine Stunden halten, wie sonst. Morgen komme ich wieder.
Ich komme immer wieder, du weißt es. Dieses Haus ist mir eine Heimat gewesen und dieser Mann ein Vater, und du — du bist mir eine Schwester. Meine einzige. Bist du es nicht?“
„Doch, Georg.“
Ihr bleiches, überwachtes Gesicht glänzte von einem inwendigen Licht.
Sie gaben sich die Hände.
Das leise Sausen draußen schwoll stärker und stärker an.
Als sie ihm die Haustür öffnete, stand der Morgenstern über dem Nachbarhaus:
„Wohlauf in den Tag hinein, so lang er währt. Ist er auch jetzt noch grau, er wird hell und heller werden wann die Sonne kommt.“
Vor ihnen lag das Leben. Sie hörten leise seine Ströme rauschen in der Morgenstille. Es würde schon Wege geben, hindurchzugehen.
Auf dem Dach, auf dem spitzen Giebel sang eine Amsel und sang die anderen Vögel wach. Wußten sie nicht, was heut nacht geschehen war? Sie sangen ihr altes Lied:
Sie können kein anderes. Es ist ihnen das Lied des Lebens, und wollte Gott, wir alle könnten, über Leid und Tod hinüber, alle nur das einzige, das Lied des Lebens, zu dem die Saiten in uns aufgespannt sind.
Kurt Aram in der „Frankfurter Zeitung“: „Aus Württemberg wächst uns, wie es scheint, wieder einmal ein neues Erzählertalent von Bedeutung zu. Man wird sofort an die Erzählerart Wilhelm Raabes erinnert. In den letzten Jahren kamen mir eine ganze Menge von Romanen unter die Hände, die sich in der Art dieses Meisters versuchten, aber kläglich scheiterten, weil ihre Verfasser blutige Dilettanten waren. Mit Anna Schieber jedoch versucht sich ein Talent in der Art Raabes, und zwar nicht nur, weil sie ihr besonders gut gefällt, sondern auch weil ihr diese Art innerlich entspricht. Manche ihrer Gestalten erinnern direkt an Raabesche Figuren. Und doch sind sie ihnen nicht einfach nachgemacht, sondern wirklich von ähnlicher seelischer Art, also keine imitierten Puppen, sondern tieflebendige Menschenkinder... Dies schöne Buch wird seinen Weg schon machen.“
Dr. Hch. Lhotzky im „Leben“: „Ein ganz ungewöhnlicher Roman, fesselnd und erquickend zugleich. Niemals ist mir ein Buch vorgekommen, das ich so bedingungslos jedem in die Hand geben würde. Die Verfasserin ist ein Segensmensch und wahrscheinlich durch viel Einsamkeit und herbes Leid hindurchgegangen. „Sonst wüßte sie ja nicht zu trösten.“ „Man muß allein gewesen sein, eh’ man recht mit den andern gehen kann.“ Das ist weit hinausgewachsen über das übliche Christentum und steht im wahrhaft Menschlichen und Göttlichen. Menschen, die solches verstehen, habe ich mir immer ersehnt, und freue mich, daß sie erstehen. Wer irgend jemandem ein liebes Buch schenken will, ein Buch zum immer wieder Lesen, schenke dieses. Aus ihm kann man sehen und hören lernen, was den Vielen meistens entgeht.“
Dr. C. Busse in Velhagen & Klasing’s Monatsheften: „Mit heller Freude und daneben mit einem verwunderten Kopfschütteln muß ich heut von einem Buche erzählen, das anders ist als andere Bücher, das wie eine schöne Predigt ist und doch mehr als eine Predigt, das Menschen vor uns hinstellt, die wir zu Vätern, Brüdern, Schwestern, Freunden haben möchten, das alles Gute in uns anspannt, das uns fröhlich und getrost macht: Wie ein Märchen aus einer schönen, verlorenen Heimat ist das Buch, aber vielleicht wie jedes gute Märchen voll der höchsten Wahrheit.“
Verlag von Eugen Salzer in Heilbronn.
Vortreffliche Erzählbücher!
Helene Christaller, Meine Waldhäuser. Bilder aus einem Dorfe. 2. Aufl. Mk. 2.—, geb. Mk. 3.—.
Fritz Philippi, Von der Erde und vom Menschen. Bauerngeschichten. Mk. 3.—, geb. Mk. 4.—.
Fritz Philippi, Unter den langen Dächern. Neue Erzählungen vom Westerwald. 2. Aufl. Mk. 3.—, geb. Mk. 4.—.
Fritz Philippi, Hasselbach und Wildendorn. Erzählungen aus dem Westerwälder Volksleben. Mk. 2.40, geb. Mk. 3.20.
Die Erzählungen des Westerwälder Roseggers gehören zu der besten Heimatkunst.
A. Supper, Leut’. Schwarzwaldgeschichten. 1.-3. Aufl. Mk. 2.20, geb. Mk. 3.—.
A. Supper, Da hinten bei uns. Erzählungen aus dem Schwarzwald. 5. Aufl. Mk. 2.20, geb. Mk. 3.—.
Türmer-Jahrbuch 1906: „Diese Frau vereinigt mit scharfem Tiefblick in die Seele des Bauerntums eine starke Liebe zu dessen unverwüstlichen Kräften. Ihr Buch gehört zu dem wertvollsten, was die Heimatkunst bislang hervorgebracht hat.“
Dr. Karl Storck.
A. Supper, Der schwarze Doktor. Eine Erzählung aus Würzburgs düsterer Zeit. Mk. 2.20, geb. Mk. 3.—.
A. Supper, Der Mönch von Hirsau. 2. Aufl. Kart. Mk. 2.—, geb. Mk. 2.80.
Grüß Gott: „Wir können das Buch wohl Steinhausens „Irmela“ und Webers „Dreizehnlinden“ zur Seite stellen. Duftig wie das erste und dramatisch wirksam wie das zweite Stück — so tritt der Mönch von Hirsau in die Reihe der neuromantischen Dichtungen, die religiöse Tiefe mit humaner Weitherzigkeit verbindend.“
Aus der verlorenen Kirche. Religiöse Lieder und Gedichte für das deutsche Haus. Gesammelt von R. Günther. Geb. Mk. 3.—.
Lit. Rundschau f. d. evang. Deutschl.: „Unter den Sammlungen religiöser Gedichte in weitestem Sinn ist dies die umfassendste und planvollste. Ein schönes Buch, das wir herzlich begrüßen, warm empfehlen für Haus und Schule.“
Anmerkungen zur Transkription
Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden übernommen, auch wenn verschiedene Schreibweisen des gleichen Wortes nebeneinander verwendet wurden. Nur offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.
Text, der im Original gesperrt gesetzt war, wurde hier fett dargestellt, da manche E-Book-Reader keinen gesperrten Text anzeigen.
End of the Project Gutenberg EBook of Alle guten Geister..., by Anna Schieber *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ALLE GUTEN GEISTER... *** ***** This file should be named 54469-h.htm or 54469-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/4/4/6/54469/ Produced by Heiko Evermann, Norbert Müller and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was produced from scanned images of public domain material from the Google Books project.) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit www.gutenberg.org/donate While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works. Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. 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