The Project Gutenberg EBook of Hüben und Drüben; Erster Band (1/3), by 
Friedrich Gerstäcker

This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
whatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms
of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
www.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll
have to check the laws of the country where you are located before using
this ebook.



Title: Hüben und Drüben; Erster Band (1/3)
       Neue gesammelte Erzählungen

Author: Friedrich Gerstäcker

Release Date: March 7, 2019 [EBook #59028]

Language: German

Character set encoding: UTF-8

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HÜBEN UND DRÜBEN; ERSTER ***




Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
http://www.pgdp.net (This file was produced from images
generously made available by The Internet Archive)






Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1868 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.

Fußnoten wurden der Übersichtlichkeit halber an das Ende des jeweiligen Kapitels der betreffenden Erzählung verschoben. Umlaute in Großbuchstaben (Ä, Ö, Ü) werden in ihrer Umschreibung dargestellt (Ae, Oe, Ue).

Passagen in Antiquaschrift werden im vorliegenden Text kursiv dargestellt. Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original gesperrt gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt erscheinen.

Hüben und Drüben.

Verzierung

Neue gesammelte Erzählungen

von

Friedrich Gerstäcker.

Erster Band.

Verzierung

Leipzig,
Arnoldische Buchhandlung.
1868.

Leipzig,
Druck von Giesecke & Devrient.


Inhaltsverzeichniß.

Verzierung
    Seite
1. Die Gemeinde-Waise   1
2. Der Fuchsbau 150
3. Der ältliche Herr 297

[S. 1]

Die Gemeinde-Waise.

Verzierung

Erstes Kapitel.
Der Mutter Tod.

Im Herbst des Jahres 1848 war es, daß nach Osterhagen, einem ziemlich großen Dorf im —sischen, eine Frau mit zwei Kindern übersiedelte, deren Erscheinung im Anfang den guten Leuten, und besonders dem weiblichen Theil der Bevölkerung, außerordentlich reichhaltigen Stoff zur Unterhaltung bot und eine Menge von Combinationen und Vermuthungen hervorrief.

Paß oder Legitimation brauchte damals natürlich Niemand. Jeder ging und kam, wie es ihm gerade gefiel, aber die Frau betrug sich so still und anständig und verfolgte so harmlos ihre Bahn, daß man sie auch wohl hätte zu andern Zeiten gewähren lassen — und dennoch war manches Räthselhafte in ihrem Betragen.

Sie mochte etwa dreißig Jahre zählen, und ihr[S. 2] kleines Mädchen war etwa sieben, der Knabe etwa zwei Jahre alt; dabei ging sie so einfach, wie nur möglich, in einem schlichten Kattunkleid, und das kleine ärmliche Häuschen, das sie sich am äußersten Ende des Ortes miethete, bezeugte ebenfalls, daß ihr keine großen Mittel zu Gebote ständen. Trotzdem verrieth ihr ganzes Wesen, daß sie einst bessere, viel bessere Zeiten gesehen. Auch bildschön mußte sie früher einmal gewesen sein, ja sie war es eigentlich noch, hätte nicht der Gram oder vielleicht eine Krankheit so tiefe Furchen in ihr Antlitz gezogen. Und was für reizende Kinder hatte sie! Aber jedenfalls kam sie aus einem fremden Land, denn wenn sie selber auch vollkommen gut Deutsch sprach und ohne Zweifel aus Deutschland stammte, plapperte das kleine Mädchen ganz allerliebst französisch, und setzte dadurch nicht selten ganze Gruppen aufblühender Straßenjungen in unbegrenztes Erstaunen.

Ihr Name war, der eigenen Angabe nach, Frau Edmund, das kleine Mädchen hieß Valerie, der Knabe George, und wenn sie auch etwas Geld mitgebracht haben mußte, wovon sie im Anfang zehrten, so bemühte sie sich doch bald, Arbeit im Orte selber zu erlangen, um ihr Fortkommen in den schweren Zeiten zu erleichtern.

[S. 3]

Sie nähte und stickte wunderbar schön, und wenn auch Osterhagen eigentlich nicht der Platz für solche Arbeit war, so wußte sie den Kreis ihrer Kundschaft doch auch bald auf die nicht ferne größere Stadt auszudehnen, wohin sie anfangs selbst Proben ihrer Arbeit brachte, und dann später durch die Botenfrau mit dem Ort verkehrte.

Sie selbst zog sich dabei von jedem Umgang mit den Einwohnern Osterhagens zurück, wenn ihr auch Niemand deshalb Stolz vorwerfen konnte; sie war in ihrem ganzen Wesen freundlich, ja weit eher scheu und fast demüthig mit den Leuten, schien sich aber nie wohler zu fühlen als zu Haus, wo sie nur ihren Kindern lebte, und nur Abends, bei schönem Wetter besuchte sie den Kirchhof zu Osterhagen, und zwar dort ein besonderes Grab, von dem aber merkwürdiger Weise Niemand im Ort wußte, wer darunter lag. Es trug auch weder Namen noch Jahreszahl, und einige von den älteren Bewohnern des Dorfes wollten behaupten, es stamme noch aus den Kriegszeiten her.

Allerdings wurde die Fremde oft darnach gefragt, aber sie gab immer nur ausweichende Antworten, und da Niemand ein besonderes Interesse an ihr nahm, ließ man sie eben gewähren.

Dabei versäumte sie aber nicht, sich dem Unter[S. 4]richt ihrer Kinder, besonders des Mädchens, auf das Fleißigste zu widmen, und nach kaum einem Jahre sprach auch die kleine Valerie schon vollkommen gut deutsch und konnte jetzt in die Schule gesandt werden — aber sie blieb nicht lange dort. Die Kinder verspotteten und neckten sie fortwährend ihrer etwas fremdartigen Aussprache, ihres ganzen, ihnen viel zu zierlichen Benehmens wegen; sie kam fast jeden Mittag weinend nach Haus, und die Mutter beschloß deshalb, den Selbstunterricht im Hause fortzusetzen.

Im zweiten Jahre traf die arme Frau ein harter Schlag: der Knabe, ihr kleiner Liebling, erkrankte an der Halsbräune und starb nach wenigen Tagen in ihren Armen. Sie war ganz außer sich und lag viele Wochen an einem heftigen Fieber auf ihrem Lager.

Die kaum neunjährige Valerie besorgte in der Zeit im Haus die ganze Wirthschaft und pflegte dabei die Mutter Tag und Nacht. Diese erholte sich auch allerdings wieder, aber der Schlag hatte sie doch zu furchtbar getroffen, und sie kränkelte von da an sichtlich an einem bösen trockenen Husten, der sie häufig am Arbeiten hinderte.

Mit dem Gelde wurde es dabei immer knapper; anfangs war sie ein paar Mal in der Stadt gewesen und hatte, wie es sich in Osterhagen wenigstens aus[S. 5]sprach, dort goldenen Schmuck verkauft — davon lebte sie eine Zeit lang; endlich schien auch das erschöpft und einzelne ihrer wenigen Habseligkeiten mußten veräußert werden. Einmal erholte sie sich wieder, und ein volles Jahr lang schien es, als ob sie ihre Kräfte vollständig zurückerlangt hätte, aber es kam ein Rückfall, und jetzt ging es mit der armen Frau scharf bergab.

Es war drei Jahre nach dem Tode ihres kleinen George, daß Valerie in einer Nacht ängstlich an die Thür ihrer Nachbarin, einer armen Wittwe, pochte, und diese um Gottes Willen bat, zu ihrer Mutter zu kommen, damit sie selber nach dem Arzt laufen könne.

Die alte Frau ging hinüber und fand eine Sterbende. Der Arzt, ein gewöhnlicher Dorfchirurg, kam, aber menschliche Hülfe konnte hier nichts mehr nützen — er wollte ihr den Geistlichen senden, aber sie hob abwehrend die Hand. Es war nur ein protestantischer Pfarrer im Orte, und sie selber gehörte der katholischen Kirche an. Nur ihr armes Kind winkte sie noch zu sich heran, legte mit ihren letzten Kräften die Arme um dessen Nacken, küßte es, flüsterte ihm ein leises „Gott schütze dich, meine Valerie“ zu, und sank dann todt auf ihr Kissen zurück.

Valerie saß neben ihrem Bett, die Hände im[S. 6] Schoos gefaltet, die großen, thränengefüllten Augen auf die lieben bleichen Züge geheftet. Die alte Nachbarin hatte der Todten die Augen zugedrückt und war dann fortgegangen, um die Anzeige beim Schulzen zu machen; der Wundarzt wurde ebenfalls abgerufen — so saß sie Stunden lang.

Endlich quälte sie der Hunger; sie hatte gestern den ganzen Tag keinen Bissen über die Lippen gebracht, auch heute Morgen noch nicht daran gedacht, irgendwelche Nahrung zu sich zu nehmen, auch nichts dafür im Hause. Jetzt verlangte die Natur ihr Recht, und sie stand langsam auf, um sich beim nächsten Bäcker ein Brot zu holen.

Draußen zogen die Leute zu Markt — das lebte auf der Straße, Fuhrleute knallten wie gewöhnlich mit ihren Peitschen, Kinder lachten und jubelten, ein paar Frauen zankten sich, weil die Eine der Andern den Korb umgestoßen hatte — und da drinnen in dem kleinen Haus lag ihre Mutter auf dem Todtenbett! Kümmert sich denn gar Niemand darum? Hatte kein Mensch einen Trauerblick für sie? und ging die Welt, während alles Elend der Erde nur allein über das arme Kind hereingebrochen war, indessen ihren ruhigen fröhlichen Gang?

Wie in einem schweren Traum schritt sie die[S. 7] Straße hinab, dem Hause des Bäckers zu, legte ihre Kupfermünze auf den Tisch und bat um ein Brot.

„Ja — sollst du haben“, sagte der Bäcker, der mit aufgestreiften Aermeln und ganz mit Mehl bestaubt hinter dem Fenster stand, „aber von voriger Woche seid Ihr noch sechs Groschen schuldig — sag’ Deiner Mutter, daß sie’s bald herüber schickt.“

„Meine Mutter ist todt“, hauchte das arme Kind.

„Oh du lieber Gott“, sagte die Frau, die daneben stand, und schlug die Hände zusammen — „sorg’ Dich nicht um die paar Groschen, Schatz, die werden uns auch nicht arm machen.“

„Sie sollen das Geld haben“, flüsterte das arme Mädchen, drehte sich ab und schritt langsam wieder dem Hause zu.

„Heh, Franzosenmädchen, Franzosenmädchen!“ riefen ein paar Jungen spottend hinter ihr drein. Sie hörte es wohl gar nicht — nur an dem Wagen einer Hökerin, die Blumen mit zu Markt nehmen wollte, blieb sie noch einmal stehen und kaufte für das wenige Geld, das sie noch bei sich trug, Blumen für die todte Mutter. Dann ging sie still nach Haus. Da aber, wie sie wieder das Zimmer betrat, als ihr in den bleichen, eingesunkenen Zügen der Geliebten der ganze über sie hereingebrochene Jammer in furchtbarer Wahrheit[S. 8] vor die Seele trat, da vermochte sie sich nicht länger zu halten. Auf das Bett der Mutter flog sie zu, warf sich über die Leiche, die sie krampfhaft mit ihren Armen umschlang und schluchzte laut.

Dann traten, nach einer langen Weile, Fremde in das Zimmer, Frauen, die sich hinsetzten und über die Verstorbene in ihrem Beisein sprachen. Ein Mann kam, der gleichgültig die Länge des Körpers maß; auch die „Leichenfrau“ traf ein, und das Alles wurde so laut und geschäftsmäßig betrieben, daß es das arme Kind, das in den letzten Tagen kaum gewagt hatte hier zu flüstern, wie mit Messern durch das gequälte Herz stach.

Aber auch das ging vorüber; die fremden Menschen ließen sie wieder mit ihrer todten Mutter allein, und sie behielt jetzt wenigstens Zeit, sie mit den Blumen zu schmücken und ihr Lager herzurichten. Erst dann kauerte sie sich neben der Geliebten nieder, den Kopf an ihren kalten Arm gelehnt, und verzehrte, mit dem Salz ihrer eigenen Thränen, das trockene Stück Brot.

Zwei Tage hielt sie bei der Theueren getreue Wacht — am dritten kamen die schwarzen Männer und legten sie in den Sarg.

Es war draußen recht schlechtes Wetter; ein kal[S. 9]ter Nordostwind fegte über das flache Land, und der Regen schlug in Strömen herunter — wer hätte da mit „zur Leiche“ gehen sollen. Schmucklos auf dem schwarzen Wagen stand der einfache Sarg, den zwei Pferde zu seiner letzten Ruhestätte führten, und hinter ihm, einen Blumenstrauß in den Händen, durch Sturm und Unwetter, in dem dünnen Kleid, folgte einsam und allein, wie es von jetzt ab durch das Leben gehen sollte, das arme Kind.

Trotz des schlechten Wetters hatte sich der protestantische Geistliche eingefunden und sprach ein paar freundliche Worte über das Grab der Armen; auch dem Kinde redete er zu und sagte ihm, daß es auf Gott bauen solle, so würde es noch gute Menschen finden, die sich seiner annähmen.

Und dazu der peitschende Regen auf den erweichten Lehm des Kirchhofs! Die Todtengräber hatten mit Ungeduld das Ende der Rede erwartet, und nur Valerie stand daneben und zitterte vor dem Augenblick, wo der Sarg in die Gruft gesenkt werden mußte.

Der Geistliche gab dazu das Zeichen — hastig gehorchten die Leute, die unter das schützende Dach zurück zu kehren wünschten — an den nassen Seilen rutschte er nieder, und Valerie warf ihm ihre Blu[S. 10]men als letzte Liebesgabe nach. Dann schaufelten die Männer das Grab wieder zu; der Geistliche stieg in den schon seiner harrenden Wagen — er konnte in dem Wetter nicht den Weg bis in den Ort zu Fuß zurücklegen — und nur Valerie, das Herz zum Brechen voll, ihre dünnen Kleider vollständig durchnäßt, suchte, wie sie gekommen, mit schweren Schritten ihre öde Heimath wieder auf.

Dann kam eine bittere, wehe Zeit für sie — der Verkauf der ärmlichen Hinterlassenschaft, um die bei Doctor wie Apotheker aufgelaufenen Schulden, das Begräbniß und noch manche andere Kleinigkeiten zu decken. Es mußte fast Alles verkauft werden, und zugleich drängte sich jetzt dem Ortsvorstand die Frage auf, was nun mit dem Kinde selber werden solle, da man dies doch nicht allein in der leeren Wohnung lassen konnte.

Jetzt wurde, freilich etwas spät, nachgeforscht, woher die Familie stamme und wo sie also ihr Heimathsrecht habe, aber die darum befragte Kleine wußte nichts, als daß sie bei ihrer damaligen Uebersiedelung weit bis zu dieser Stelle hergekommen wären. Papiere fanden sich gar nicht, und Valerie gestand ganz offen, daß sie, kurz vor der Mutter Tod, ein Kästchen voll Briefe habe im Ofen verbrennen müssen.

[S. 11]

Jedenfalls hatte die Sterbende Alles vernichten lassen, was Licht über Valerie’s Herkommen geben mochte. Weshalb das geschehen war, wußte natürlich Niemand zu sagen, aber daß es in Osterhagen augenblicklich die schlimmste Auslegung erfuhr, läßt sich denken — der andere Fall wäre gegen Menschennatur gewesen. Es verstand sich fast von selbst, daß sie oder ihre nächsten Verwandten irgend ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben mußten, wonach denn der Name „Edmund“ auch ein angenommener war — und das letztere fand allerdings darin eine Art von Bestätigung, daß der Gerichtsbeamte in dem letzten, noch gebliebenen Betttuch das mit einer Krone versehene Zeichen V. de F. fand, über welches das Kind natürlich keine Aufklärung geben konnte.

Der jetzige Ortsvorstand erklärte freilich, und zwar während dieser Untersuchung und in Gegenwart des Kindes, daß sein Vorgänger im Amt vollständig gewissenlos gehandelt habe, eine solche vagabundirende Familie in der Gemeinde zuzulassen und dieser dadurch eine Last aufzubürden; aber die Sache wäre einmal geschehen und nicht mehr zu ändern, und jetzt könnten sie sehen, wo sie das Kind unterbrächten.

Valerie saß, während das Alles verhandelt wurde und die fremden Menschen über das Eigenthum ihrer[S. 12] Mutter nach Gutdünken verfügten, still und lautlos in der Ecke des Zimmers und starrte mit ihren großen dunklen Augen die Männer an. Sie weinte auch nicht — kein Wort der Klage kam über ihre Lippen, keins des Vorwurfs oder der Bitte, ihr dies oder das zu erhalten, was ihr vielleicht als Andenken theuer gewesen wäre. Das Furchtbarste, was hatte geschehen können, war geschehen, und alles Andere schien sie nicht mehr zu kümmern — nicht einmal, daß man sie, als Alles ausgeräumt worden, im Abenddunkel allein in der leeren Wohnung zurückließ, und nur der alten Nachbarin verdankte sie’s, daß die Leute nicht auch noch den Strohsack und eine alte Decke mitnahmen — sie hätte sonst nicht einmal einen Platz gehabt, wohin sie ihr müdes Köpfchen legen konnte.

Allerdings beabsichtigte man nicht, sie ihrem Schicksal vollständig zu überlassen; das wäre nicht angegangen, da sie noch nicht einmal confirmirt war; aber heute Abend wenigstens konnte nichts mehr in der Sache geschehen; morgen früh in der „Gemeinde-Sitzung“ mußte das erst entschieden werden, und die Waise indessen in der alten Wohnung bleiben. Die Leute handelten dadurch auch nicht gerade herzlos mit der Verlassenen; der Geistliche selber hätte sie gern zu sich in’s Haus genommen, aber das beherbergte[S. 13] fünf eigene Kinder und eine arme alte Verwandte, und bei seinem geringen Gehalt wußte er selber oft nicht, wie er sich ehrlich und anständig durchbringen sollte, er durfte sich keine solche neue Verpflichtung aufladen — schon der eigenen Kinder wegen.

Auch die Frau des Bäckers hätte es vielleicht möglich gemacht, wenn sie nicht gerade eines verstorbenen Bruders Kind, auch ein Mädchen in Valerie’s Alter, zu sich genommen. Was sollte sie mit zweien anfangen, und ihr Mann wollte auch nichts davon wissen. Der Ortsvorstand beschloß allerdings, einige der wohlhabendsten Familien im Orte darum zu ersuchen, das Kind zu erziehen, d. h. in Arbeit zu nehmen; Niemand schien aber gewillt, eine solche „Verantwortlichkeit“ zu übernehmen, denn wer wußte denn, wie sich die Fremde anließ, und ob nicht durch sie gerade Streit und Unfrieden in der Familie entstand.

So blieb dem Vorstand denn nichts übrig, als sie in das Gemeinde-Armenhaus — ein kleines steinernes Gebäude, das nicht weit vom Kirchhof stand — einzuquartieren. Von dort aus konnte sie noch bis zu ihrer Confirmation die Schule besuchen und nachher in Dienst genommen werden. Indessen war man dann auch im Stande, Nachforschungen über ihre Abkunft anzustellen, wenn dieselben auch nur wenig Er[S. 14]folg versprachen. Wußte man doch nicht einmal, nach welcher Richtung, nach welchem Lande man sich deshalb wenden solle, und war sie gar wirklich aus Frankreich herüber gekommen, wie man allgemein glaubte, so ließen sich dafür nicht mehr die geringsten Beweise bringen — Frankreich hätte sie deshalb auch nie wieder angenommen und versorgt.

Zweites Kapitel.
Das Gemeinde-Haus.

Valerie hatte, so lange ihre Mutter lebte, nie das Bedürfniß gefühlt, sich an irgend Jemand Anderen anzuschließen, und deshalb auch mit Kindern ihres Alters wenig oder gar keinen Verkehr, nie aber Umgang gehabt. Diese spotteten ja auch nur über ihre Sprache und ihr ganzes fremdartiges Wesen, und herzlich gegen sie war keines von allen gewesen. Was brauchte sie auch Fremde — ihre Mutter galt ihr Alles auf der Welt, und sie sehnte sich nicht hinaus zu den Menschen.

Jetzt plötzlich war ihr Alles mit einem Schlag genommen, und sie selber nur auf Die angewiesen, von denen sie sich früher zurückgezogen, ja von denen sie[S. 15] zurückgestoßen worden, und wie unglücklich sie sich dabei fühlte, läßt sich denken. Aber sie klagte weder, noch weinte sie. Als ob sie im Unglück ergraut wäre, so packte sie das Wenige, was ihr noch geblieben, zusammen und verließ das Haus — das einzige, das sie als Heimath kannte, um in das Gemeinde-Haus überzusiedeln. Dort lebte eine arme alte Frau in der einen Stube, der sie zugetheilt wurde, und die zugleich die Aufsicht über sie führen sollte, worauf diese auch sehr gern eingegangen war, da sie das Kind als Aufwartung recht gut gebrauchen konnte.

Das Gemeinde-Haus stand, wie gesagt, nicht weit vom Kirchhof und war insofern eines der stattlichsten Gebäude im Dorfe, da es ganz neu und massiv aus Sandstein aufgeführt und mit Ziegeln gedeckt worden; öde genug sah es freilich noch aus, denn kein Baum oder Strauch befand sich auf wohl vierzig Schritt im Umkreis; nur rother, lehmiger Boden, bei Regenwetter fast unnahbar. Dicht hinter dem Haus hatte der kleine Ort auch einen Brunnen graben lassen, aber das herausgeworfene Erdreich lag noch in hohen Haufen rings umher und machte den Platz dadurch nur noch wilder und trostloser.

Und das Innere? — Das ganze Haus bestand aus sechs Zimmern, einem Erker oder Mansard[S. 16]stübchen und einer Küche. Bewohnt war es nur zur Hälfte von drei Parteien: jener alten Frau, der Witwe eines emeritirten Schullehrers; einem alten wüsten Burschen, der seit etwa dreißig Jahren auf Märkten und Messen mit einer Drehorgel und Mordgeschichten herumgezogen war und jetzt, da er nicht mehr fort konnte, an seine Gemeinde zurückgeliefert wurde, und einem blinden Schuhmacher, der eigentlich in ein Irrenhaus gehört hätte, denn er hielt sich für den König David und sang fortwährend Psalmen. Das aber ärgerte den alten Bänkelsänger, und sowie der Schuhmacher drüben in seiner Stube einen Psalm begann, fiel er mit einer seiner alten Mord- und Räubergeschichten ein, so daß diese Zwei zusammen tagtäglich ein ohrzerreißendes Concert lieferten.

Drei von den Zimmern standen öde und leer, so daß es im Winter eigentlich nie warm wurde; aber auch selbst die bewohnten Zimmer besaßen nur das Allernothwendigste von Hausgeräth — ein Bett mit Strohsack und wollener Decke, einen rohen Stuhl und eine wie mit der Axt zugehauene Kommode. Die Oefen waren ziemlich gut, aber von außen zu heizen, und das Kochgeschirr in der Küche, mit ein paar blechernen Tellern und Löffeln, zum gemeinschaftlichen Gebrauch für alle Insassen.

[S. 17]

Da hinein kam Valerie — dort sollte sie ihre Jugend verbringen, und als sie zuerst die Schwelle überschritt, war es ihr, als ob sie zum Tode geführt würde. Aber auch hier kam kein Laut über ihre Lippen, keine Thräne mehr in ihr Auge; still und geduldig ließ sie Alles mit sich geschehen, denn sie hatte ja keinen eigenen Willen, und wie ihr der Ortsvorstand bemerkte, mußte sie der Gemeinde noch dankbar dafür sein, daß diese sich einer solchen, eigentlich gar nicht hierher gehörenden Last angenommen hätte. Er schien auch wirklich eine Art Dank dafür zu erwarten, aber Valerie erwiderte keine Silbe. Schweigend folgte sie ihm in das öde Zimmer zu der alten Frau; schweigend, nur mit einem schüchternen Gruß, legte sie ihr kleines Bündel ab und kauerte sich dann, beide Elnbogen mit ihren zarten Händen fassend, in der Ecke auf den Boden nieder.

Die alte Frau ließ sie auch anfangs gewähren und betrachtete sie nur manchmal kopfschüttelnd; es mochte ihr selber wunderbar vorkommen, ein so zartes Wesen als Genossin im Armenhaus zu erhalten. Aber ihre eigene Bequemlichkeit ging ihr doch zuletzt über jede etwa zu nehmende Rücksicht, und sie sagte nach einer Weile:

„Wie heißt Du, Kind?“

[S. 18]

„Valerie“, erwiederte das junge Mädchen scheu, und die Alte schüttelte ganz erstaunt wieder den Kopf.

„Wer hat nur je in aller Welt davon gehört, daß Aeltern ein Kind Falleri getauft hätten? Falleri fallera singen die Kerle draußen, wenn sie was im Kopfe haben, und das muß ein komischer Pfarrer gewesen sein, der den Namen in sein Kirchenbuch geschrieben hat. — Aber das schadet nichts, Kind“, setzte sie beruhigend hinzu, „er klingt wenigstens lustig, und was Lustiges können wir in dem Elend hier gebrauchen, Schatz, das weiß der allmächtige Gott.“

Valerie sah scheu zu ihr hinüber; die Alte nickte so heftig und unheimlich mit dem Kopf und sah dabei so stier vor sich hin, daß sie sich ordentlich vor ihr zu fürchten begann; aber die Frau Kunze — wie sie mit Namen hieß — war nur einmal wieder in ihre alten Erinnerungen hinein gerathen, in ihre Jugendjahre, wo sie auch bei fremden Leuten gedient, dann mit dem Schullehrer des Dorfes ein Verhältniß angesponnen, der sie zuletzt hatte heirathen müssen, dann die ganze Jammerzeit ihrer Ehe hindurch in Noth und Kummer hinlebend mit fünf Kindern, die sie alle, eines nach dem andern, begraben mußte, zuletzt mit dem Bescheid des Oberconsistoriums, der ihren Mann noch in seiner besten Lebenszeit emeritirte; dann das Elend nachher[S. 19] und zuletzt der Tod des Gatten, der sie, mit ihrer Pension von achtzehn Thalern jährlich, auf das Gemeinde-Armenhaus anwies, als letzte Zuflucht. Wenn sie das Alles aber bedachte, kam ihr immer der wunderliche Gedanke, wie es denn möglich sei, daß der liebe Gott Menschen auf die Erde setzen könne, denen er auch nicht ein einziges Jahr, ja keinen Tag, keine Stunde des Glückes gebe, und die ihr Dasein in Jammer und Leid bis zum Grabe fortschleppen müßten, und daß sie dabei nicht freundlich aussehen konnte, ließ sich denken.

Aber das Grübeln allein half ihr nichts; das hatte sie das ganze Jahr hindurch alle und alle Tage, und die halben Nächte dazu; es wurde Zeit, daß sie etwas zu essen bekamen, und sie sagte deshalb:

„Komm, Kind, das nützt Alles nichts — das Grübeln bringt uns nicht weiter und der Kopf wird Einem nur schwer und das Herz auch. — Sieh Dich ein bischen in der Küche um — ich zeige Dir, wo Alles steht, und mach’ Feuer an, daß wir wenigstens ein paar Kartoffeln bekommen — weiter gibt’s nichts, außer Sonntags, da kriegen wir Fleisch — oder manchmal auch keins, wenn es Hirsebrei setzt. Du wirst so jetzt für die Küche sorgen müssen, denn meine alten Knochen wollen nicht mehr recht fort, und es wird[S. 20] auch wohl Zeit, daß ich mich zur Ruhe setze, denn eine Hülfe im Haus hat’s mir noch nie abgeworfen. So alt ich bin, ich habe nur immer mir selber und anderen Menschen helfen müssen.“

Die Alte murmelte noch immer fort einzelne Worte vor sich hin, stand aber doch jetzt selber auf, um dem Kind seinen neuen Wirkungskreis zu zeigen und die bisher gethane Arbeit auf dessen Schultern zu legen.

Valerie folgte ihr willenlos in die Küche und begriff bald die Behandlung des sehr einfachen Kochherdes, versprach auch, das Geschirr immer hübsch rein und sauber zu halten, was die alte Frau, wie sie selber eingestand, in der letzten Zeit etwas vernachlässigt hatte. Du lieber Gott, „es ging eben nicht mehr recht, und man konnte es nicht verlangen“.

Der blinde Schuster war indessen auch schon ungeduldig geworden, machte seine Stubenthür auf und fluchte — obgleich er sonst nur immer Psalmen sang, — auf gotteslästerliche Weise heraus, was denn das wäre, ob nicht bald Feuer angemacht würde, und sie heute etwa gar nichts zu essen haben sollten.

Valerie erschrack — der Mann sah gar so böse und so entsetzlich schmutzig und widerlich häßlich aus; aber heute noch unter der Anleitung der Alten ging sie willig an die Arbeit, holte Wasser, zündete Feuer[S. 21] an, wusch das von der letzten Mahlzeit noch stehen gebliebene Geschirr auf und prüfte die aufgesetzten Kartoffeln mit der Gabel, bis sie weich und gar waren. Dann wurde in der Küche auf dem Küchentisch gegessen, und der blinde Schuhmacher wie der alte Bänkelsänger trafen dort, nach gemeinschaftlichem Uebereinkommen, Mittags zusammen — weniger freilich der Unterhaltung wegen, als um sich gegenseitig zu zanken, wonach dann Jeder, unter den gemeinsten Schimpfworten, sein eigenes Nest wieder aufsuchte.

Unter solcher Gesellschaft verlebte jetzt das arme Kind seine Zeit, und wie es im Anfang vor Ekel über den ihm überall entgegenstarrenden Schmuz kaum essen konnte, und sich mit seinem Teller Kartoffeln scheu und zitternd vor den rohen Worten der Streitenden in eine Ecke zurückzog, fühlte es sich nur dann glücklich, wenn es von Niemand beachtet wurde, und seine Arbeit, der es sich ja so gerne unterzog, ungestört verrichten konnte.

Glücklicher Weise schrieben die Gesetze vor, daß ihre „Erziehung“ nicht vernachlässigt werden durfte — sie mußte die Schule besuchen, und mit welchem Eifer würde sie gelernt haben, wenn ihre Mitschülerinnen nur ein klein wenig freundlicher gegen sie gewesen wären! Aber sie wurde geneckt und verspottet,[S. 22] wo das nur heimlich geschehen konnte, und wagte nicht einmal sich zu beklagen, aus Furcht, die schon so rohen Kinder nur noch mehr zu reizen.

Der alte Geistliche nahm sich freilich ihrer an und würde das auch nicht gelitten haben, wenn er es eben erfahren hätte; der Schulmeister aber, eines jener gedrückten Wesen, der mit einem Gehalt, bei dem er fast verhungern mußte, täglich sieben Stunden Unterricht geben sollte, sah es nicht, oder wollte es nicht sehen. Er hatte gerade Aerger genug mit der Bande auf eigene Faust, und dachte nicht sich noch in Privatsachen zu mischen. Ueberdies gehörten ja auch die ungezogensten Bälger gerade den reichsten Bauern im Orte an, und mit denen mochte er es ohnehin nicht verderben — der Dirne aus dem Armenhaus wegen.

Das war eine furchtbare Zeit für das arme Kind, ein stärkerer Charakter, als ihn Valerie besaß, hätte dazu gehört, sie unbeeinflußt von ihren bösen Wirkungen zu ertragen.

Wie hatte ihre selige Mutter für sie gesorgt, um ihren Geist und Körper auszubilden, wie auf Reinlichkeit gesehen, und selber Alles in ihrem kleinen, wenn auch noch so ärmlichen Haus so sauber gehalten, daß das Ganze wie ein Puppenstübchen aussah, und[S. 23] wie anders, wie furchtbar anders war das jetzt geworden!

Was vermochte der alte mürrische Schullehrer sie noch zu lehren, was selbst das jetzt zwölfjährige Kind nicht schon wußte! Was lag ihm auch daran, ob seine Schüler und Schülerinnen etwas lernten — er hielt eben seine Stunden, käute die alten, schon tausendmal gebrauchten Phrasen und Formen wieder und dankte Gott, wenn es Sonnabend Mittag war.

Geistig erhielt Valerie deshalb von diesem Lehrer gar keine Hülfe und Unterstützung, und körperlich ging sie in ihrer wüsten Umgebung täglich mehr zu Grunde.

Wohl sträubte sie sich lange dagegen; die Lehre, das gute Beispiel ihrer wackeren Mutter wurzelten noch zu fest in ihrem Herzen, und sie versuchte fast das Uebermenschliche, sich über dem Schlamm zu halten, der sie von allen Seiten umgab — aber lieber Gott, es war ja doch nur ein Kind, das geleitet sein wollte; es fehlte ihr ja noch der freie feste Wille der Erwachsenen, und wie eine alte Eiche starr und eisern gegen den Sturm die Wurzeln in den Boden krallt, so biegt sich der junge Schößling seiner Gewalt und behält die Neigung, die er ihm gezeigt.

So gab sich auch Valerie mehr und mehr dem[S. 24] bösen Einfluß hin, der auf sie einwirkte; was half ihr auch alles dagegen Ansträuben, sie konnte sich ihm ja doch nicht mehr entziehen. Anfangs ja, suchte sie sich noch die Sauberkeit zu erhalten, in der sie ihre verstorbene Mutter erzogen; sie wusch und besserte an ihrem Kleidchen, an ihrer Wäsche aus, wo ihr nur ein Augenblick Zeit blieb; als aber der Winter mit Eis, Schnee und bitterer Kälte hereinbrach, und ihr kein eigenes Plätzchen blieb, an dem sie sich aufhalten konnte, fing sie ebenfalls an gleichgültig gegen sich selber zu werden; trieb sie doch schon der bittere Frost hinter den Ofen, da ihr die dünnen Kleider keinen Schutz gegen die Kälte gewährten.

Auch Morgens scheute sie sich aufzustehen und Feuer anzuzünden, bis sie die Alte von ihrem ärmlichen Lager jagte; dann natürlich konnte sie sich ihr Haar nicht machen, band die vollen, aber wirren Locken nur flüchtig in einen Knoten zusammen und ging an ihre Arbeit. Auch ihr Kleid war so fadenscheinig geworden, daß Ausbessern gar nichts mehr half; es zeigte dabei überall Spuren von Fett und andern Flecken; kurz, sie begann zu verwildern, und Niemand war, der sie gewarnt und ermahnt hätte — nicht einmal der Schullehrer, dessen erste Pflicht es gewesen wäre.

[S. 25]

Begegnete ihr der Geistliche dann einmal in einem solchen Aufzug, so blieb er wohl kopfschüttelnd vor ihr stehen und schalt sie ihres unordentlichen, schmutzigen Aussehens wegen, aber der alte Mann hatte auch andere Dinge im Kopfe, um der Sache auf den Grund zu gehen. Daheim lagen ihm zwei Kinder schwer krank am Nervenfieber fast den ganzen Winter hindurch, und das lastete ihm mit einem solchen Druck auf dem Herzen, daß er seiner nächsten Umgebung kaum mehr als einen flüchtigen Blick widmen konnte.

So verging der Winter, und der Sommer kam wieder, aber keine bessere Zeit für das arme Kind, dem die Gesellschaft in dem öden Gemeinde-Haus immer entsetzlicher wurde. Der alte Bänkelsänger trank. Wo er das Geld dazu her bekam, wußte Niemand; aber er hatte fortwährend wenigstens einige kleine Münzen, und wenn ihn Jemand darum frug, behauptete er immer lachend, er wisse einen verborgenen Schatz im nächsten Berge, aus dem er sich hole was er brauche. Manchmal war er allerdings zwei bis drei Tage fort, Niemand wußte wohin, und wenn ihn der Ortsvorstand dann zur Rede setzen wollte, und ihn frug, wo er sich ohne Legitimation im Lande umher getrieben, lachte er jedesmal und behauptete,[S. 26] er habe oben in den Hügeln Kräuter gegen seinen bösen Husten gesucht — brachte auch in der That jedesmal einen ganzen Arm voll Pflanzen mit, die er aber, allem Anschein nach, irgendwo aufs gerathewohl ausgerissen hatte, denn der Dorfbader, der die Sache verstehen mußte, erklärte sie sämmtlich für werthlos in der Medicin, und der alte Lidrian benutzte sie auch nie weiter, sondern warf sie nur in eine Ecke, wo sie ein paar Tage lagen und welkten, und dann von Valerie hinausgetragen wurden.

Der Zustand des blinden Schusters verschlimmerte sich dabei ebenfalls mit jedem Tage, ohne daß die geringste Veränderung mit ihm getroffen und er an einen sicheren Platz geschafft worden wäre. Sein bis dahin stiller Wahnsinn ging oft in laute Tobsucht über, daß sich das arme Kind oft in Angst und Schrecken aus dem Haus flüchtete und draußen im offenen Feld Schutz suchte.

Der Schulze hatte eine Eingabe gemacht, und es kam ein Arzt aus der Stadt heraus, um den Schuster zu untersuchen; da er sich aber gerade in der Zeit vollkommen ruhig verhielt, erklärte der Arzt, es hätte noch nichts zu sagen und man solle wieder zu ihm schicken, wenn er aufs Neue in einen Wuthanfall geriethe.

[S. 27]

Die Zeit rückte jetzt auch heran, wo Valerie zur Confirmation vorbereitet werden sollte, und es verstand sich von selbst, daß das im protestantischen Glauben geschah; der ganze Religionsunterricht war ja auch in der Richtung gewesen, und Valerie selber hatte dabei keinen Willen, wagte auch in der That nicht den geringsten Widerspruch. Jetzt aber mußte sie viel lernen; ganze Seiten voll Bibelsprüche und Katechismusverse, und wenn ihr das auch ziemlich leicht wurde, so ließ ihr der Lärm im Hause doch selten dazu Ruhe. Der blinde Schuster sang seine Psalmen dazwischen, der alte Bänkelsänger brüllte seine frechen Lieder, und dazu hatten sie jetzt noch eine arme Frau mit zwei kleinen Kindern, Zwillingen, einbekommen, die Beide den ganzen Tag und die halbe Nacht schrieen.

Da brach der wilde Geist eines Abends wieder bei dem Tollen los — Valerie saß gerade in ihrem Eckchen, mit dem Buch auf dem Schoos, hinter dem Ofen, als er in das Zimmer stürmte und mit solcher Gewalt gegen den Ofen anrannte, daß dieser zusammenbrach und die niederstürzenden Stücke das Kind schwer am Kopf beschädigten.

Glücklicher Weise kamen gerade ein paar Knechte von der Arbeit aus dem Feld an dem Haus vorüber,[S. 28] die den jetzt vollständig Wüthenden fassen und mit ihren Geschirrleinen binden konnten.

Valerie hatte eine nicht unbedeutende Verletzung erhalten und lag Stunden lang ohne Bewußtsein; der Bader wurde auch gerufen, ließ ihr natürlich zur Ader und verband sie, und sie kam wieder zum Leben, mußte aber lange das Bett hüten und durfte in der ganzen Zeit nicht lernen. Pflege hatte sie auch weiter keine als die alte mürrische Frau, und sie verbrachte auf ihrem harten Strohsack eine lange, trostlose Zeit.

Aber auch das ging vorüber; ihre jugendliche Natur half ihr über die sonst vielleicht gefährlichen Folgen der Verwundung hinweg, und sie konnte sogar in einiger Zeit wieder die nöthigen Arbeiten für ihr Examen vornehmen.

Der Aufenthalt im Hause wurde indessen immer trostloser, denn der Bänkelsänger schien, durch das Fortschaffen seines bisherigen Cumpans, des blinden Schusters, fast außer sich gerathen. Allerdings hatte er mit diesem bisher in ewigem Zank und Streit gelebt, aber gerade dieser Zank war ihm zuletzt Bedürfniß geworden, und als er ihn entbehren mußte, wurde er vollständig unleidlich — und trotzdem schien er eine Art von wunderlicher Zuneigung zu dem Kind gefaßt zu haben, die er sich aber doch nicht wollte merken[S. 29] lassen, weil sie ihm vielleicht selber absurd vorkam. So lange sie aber krank lag, war seine erste Frage an jedem Morgen, wie es der „Falleri“ ginge, und Nachts saß er manchmal Stunden lang an ihrem Lager und half mit, ihr nasse Tücher um den Kopf zu legen, oder reichte ihr auch wohl den Becher mit Wasser, wenn sie danach verlangte. Der alten Schulmeisters-Witwe erzählte er auch dabei einmal, daß er früher ein Kind gehabt, ein kleines Mädchen, so zart und hübsch wie die „Falleri“, aber sie war ihm gestorben, die Mutter ebenfalls, und wie sie auf dem Todtenbett gelegen, hätte sie gerade so ausgesehen wie die „Falleri“.

Diese Zuneigung schien übrigens nur so lange zu dauern, wie das Kind wirklich krank und halb bewußtlos war. Kaum erholte sie sich wieder, als er sein altes Leben begann und sich gar nicht weiter um sie bekümmerte; ja, als sie nur eben erst ein klein wenig im Haus herumwirthschaften konnte, schimpfte und fluchte er wieder auf sie wie vordem, und sang alle seine alten schauerlichen Lieder, von denen bis dahin keines über seine Lippen gekommen.

[S. 30]

Drittes Kapitel.
Zur Confirmation.

So nahte die Zeit, wo Valerie confirmirt werden und dann auch das Gemeinde-Armenhaus verlassen sollte, denn der Schulze hatte ihr schon einen Dienst bei einem Bauer ausgemacht, dessen Schwiegermutter an einer bösartigen Krankheit litt, und wo sie die Pflege derselben übernehmen konnte. Wozu brauchte auch die Gemeinde länger die Last zu tragen, wenn sich das Mädchen erst einmal selber mit ihrer Hände Arbeit ernähren konnte? Es war eigentlich eine Sache, die sich von selbst verstand.

Valerie war indessen vierzehn Jahr alt geworden — wenn sie sich auch kaum noch auf den Tag ihrer Geburt erinnerte, denn wer hatte sich, seit ihre Mutter gestorben, wohl noch um den gekümmert! Stark gewachsen mußte sie auch in der Zeit sein, denn ihre Kleider wollten ihr nirgends mehr passen und reichten ihr kaum mehr bis über die Knie, und neue hatte sie ja nicht dazu bekommen. Aber wie bleich und mager sie aussah, und wie verwahrlost, wie schmutzig und abgerissen! Auch der freundliche kindliche Zug von Anmuth war aus ihrem Antlitz gewichen, der es früher erhellte und die Grübchen in ihre runden Wangen[S. 31] rief. Finster und verdrossen sah sie aus, und wenn sie ja einmal draußen bei der Arbeit und ganz in Gedanken mit ihrer klaren Stimme sang, so waren es nur die wüsten, häßlichen Lieder, die sie von dem alten Bänkelsänger den ganzen Tag hören mußte, und die ihr deshalb in den Ohren klangen — und dazu die Vorbereitung zur Confirmation! Aber das störte sie nicht; welche Andacht konnte sie auch mit in die Kirche zu einem Gott bringen, von dem sie sich verlassen glauben mußte, während sie von den Menschen unter die Füße getreten wurde. Sie beobachtete — wie es Tausende ebenfalls thun — die anbefohlenen Formen und Formeln, und nahm das Ganze als eine eben nicht zu umgehende Ceremonie, die sie ja auch überstehen würde, so gut wie die Andern.

Eine Schwierigkeit hatte es dabei: ihre dürftige, abgerissene und schmutzige Kleidung. — So konnte sie nicht vor Gottes Altar treten, wie der Geistliche sagte, und der Schulze sollte Rath schaffen. Aber woher nehmen und nicht stehlen; denn neue Kleider aus dem Gemeindesäckel zu bezahlen, war noch nicht dagewesen und konnte auch von keiner Gemeinde verlangt werden.

Vielleicht gab es aber da eine Hülfe, denn der Schulze hatte bemerkt, daß Valerie an einer Schnur[S. 32] einen goldenen Schmuck um den Hals trug, und zwar ein kleines Kreuzchen und einen einfachen Ring. Das Kreuz hatte sie selbst einst von ihrer Mutter, die es bis dahin getragen, zu Weihnachten bekommen — der Ring war der Trauring der Verstorbenen, den sie ihr von der kalten Hand gezogen und als theueres, einziges Vermächtniß aufbewahrte. Diese beiden Stücke sollte das Mädchen hergeben, um mit dem Erlös derselben die für sie nöthigen Kleidungsstücke zu beschaffen, und der Ortsschulze hielt das für so in der Ordnung, daß er es nicht einmal nöthig glaubte, selber ein Wort deshalb zu verlieren, sondern eine Magd in das Gemeindehaus sandte, um die „Goldsachen“ nur einfach abzuholen. Valerie erfuhr aber kaum, was man von ihr verlange, als das sonst so scheue und schüchterne Mädchen auf das Bestimmteste erklärte, die Kleinodien nicht herzugeben, so lange sie selber lebe, und die Magd mußte unverrichteter Sache wieder abziehen.

Jetzt aber wurde der Schulze böse. Das dumme, einfältige Ding widersetzte sich, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit helfen konnte, die bis dahin nur von der Gemeinde getragene Last zu erleichtern? Das war zu arg und verdiente strenge Ahndung, und seinen Hut aufsetzend und den Amtsstock nehmend,[S. 33] ging er selber mit großen Schritten nach dem Gemeindehaus hinüber.

Hatte er übrigens geglaubt, den fraglichen Gegenstand nur durch seine Erscheinung zu ordnen, so fand er sich da vollständig getäuscht, denn Valerie, wenn sie auch keinen Blutstropfen mehr im Gesicht hatte, erklärte ihm mit fester entschlossener Stimme, das Kreuz und den Ring gebe sie nicht her — das sei das letzte, was sie von ihrer seligen Mutter habe, und das wolle sie behalten, und Gott würde eben so gnädig auf sie herabblicken, ob sie nun in ihren Fetzen zum Altare trete, oder in einem neuen weißen Kleide, mit dem sie doch nachher nicht wisse, was sie damit anfangen solle, denn bei ihrer Arbeit könne sie es nicht tragen.

Der Schulze ärgerte sich vielleicht eben so viel über ihre Weigerung und Widersetzlichkeit als darüber, daß er ihr im Herzen Recht geben mußte — das Kleid wäre allerdings nur für den einen Tag gewesen, denn im Staate konnte die „Gemeinde-Waise“ natürlich nicht herumgehen; aber was ging das ihn und das Dorf an! Sollten sie sich etwa von der Nachbarschaft nacherzählen lassen, daß sie ihre Kinder in Lumpen und Fetzen zum Abendmahl gehen ließen, und hatte überhaupt so ein Ding, das hier gar nicht hergehörte[S. 34] und nur aus Gnade und Barmherzigkeit erhalten wurde, einen eigenen Willen?

Der Schulze war gerade kein böser Mensch, aber leider voll von jenem Beamtendünkel, der nur zu Vielen in den Köpfen spukt. Wie er sich dabei vor seinen Vorgesetzten oder der oberen Behörde in der Stadt bückte und nie gewagt hätte, eine Einrede laut werden zu lassen, ei, so verlangte er es auch von seinen Untergebenen, und wenn er einmal etwas angeordnet hatte, mußte es auch befolgt werden oder — er wäre ja nicht mehr Schulze im Dorf gewesen.

„Hör’ einmal, Falleri“, rief er deshalb und ging mit großen Schritten auf das scheu zu ihm aufblickende junge Mädchen ein, „ich will Dir etwas sagen — glaubst Du etwa, daß wir unsere Gemeinde-Armen mit goldenem Schmuck herumlaufen lassen, und dann trotzdem Alles aus unserm eigenen Beutel bezahlen? — Wenn Du ein klein wenig Ehrgefühl hättest, wärst Du schon lange von selber gekommen und hättest uns die Sachen für die Gemeindekasse eingeliefert, um wenigstens Alles zu thun, was in Deinen Kräften steht, die für Dich entstandenen Kosten nur einigermaßen wieder gut zu machen. Aber Gott bewahre, die Mamsell denkt gar nicht daran, und will sich jetzt auch noch weigern, wo sie vom Gericht dazu aufgefordert wird.[S. 35] Her damit, Du unnützes Ding, oder ich lasse Dich wahrhaftig auf die Straße setzen.“

Er streckte dabei die breite Faust nach dem Kinde aus, das aber, todtenbleich, doch mit funkelnden Augen krampfhaft den letzten Schmuck seiner verstorbenen Mutter in der kleinen Hand faßte und nur bittend rief:

„Ach, lassen Sie mir das Kreuz und den Ring, Herr Schulze — ich will ja gewiß arbeiten, daß mir das Blut unter die Nägel kommt, nur um Alles wieder abzuverdienen — aber nur das nicht — nur das nicht!“

„Hilft Dir nichts — her damit!“ rief aber das Dorf-Oberhaupt, das sich jetzt seiner Würde etwas zu vergeben glaubte, wenn es von dem ausgesprochenen Willen abstand; „ich habe es einmal gesagt, und es muß geschehen — willst Du es hergeben, Du kleine Hexe?“

„Oh Du lieber Gott!“ rief Valerie, indem sie die ihr heiligen Erinnerungszeichen mit ihren schwachen Kräften vertheidigte, — „ist denn gar kein Mensch auf der weiten Welt, der einem armen Kinde hilft!“

„Hallo!“ rief da eine laute trotzige Stimme von der Thür aus, „was geht da vor?“

Der Schulze ließ überrascht die Hand des Kindes[S. 36] los und drehte sich nach der Stimme um, erkannte aber nur den alten Bänkelsänger, der freilich mit einem, wahrscheinlich draußen aufgegriffenen Stück Buchen-Stangenholz auf ihn zuschritt und seiner ganzen Erscheinung nach fast so aussah, als ob er über den Schulzen herfallen möchte.

„Na?“ rief dieser, ihn halb erschreckt, aber auch erstaunt ansehend, „habt Ihr Euch etwa um das zu kümmern, was ich thue? Was wollt Ihr hier?“

„Ah, Sie sind’s, Herr Schulze“, sagte der Mann, ohne indessen den Knüppel, den er in der Hand trug, fortzulegen, „bitte tausend Mal um Entschuldigung, wenn ich gestört haben sollte, aber mir war’s, als ob ich die Falleri schreien hörte, und wer Der was thut, dem schlage ich den Schädel zu Brei zusammen.“

„So, und was geht Euch die Falleri an, wenn ich fragen darf?“

„Was sie mich angeht?“, lachte der Alte ingrimmig vor sich hin — „hat sie vielleicht Jemand Anderen, den sie was angeht, auf der Welt? Aber was gibt’s denn, Falleri — Teufel noch einmal, Kind, wie blaß Du aussiehst — bist Du unartig gewesen?“

„Den Ring und das Kreuz meiner seligen Mutter will mir der Schulze wegnehmen, um mir ein Kleid davon zu kaufen“, stöhnte das Kind.

[S. 37]

„Ih, sieh mal an“, sagte der Bänkelsänger lachend, „was Du Dir für Sachen in den Kopf setz’st, Schatz; der Schulze Dir die Goldsachen von Deiner Mutter selig mit Gewalt wegnehmen wollen? Du bist wohl nicht recht klug im Kopfe. Das fällt ihm doch gar nicht ein.“

„Mit Gewalt hab’ ich’s ihr auch nicht wegnehmen wollen“, sagte der Schulze mürrisch, denn die Sache wurde ihm selbst unangenehm, „aber sie soll’s hergeben, damit sie anständig in der Kirche erscheinen kann.“

„Aha“, nickte der alte Bänkelsänger vergnügt vor sich hin, „der Andern wegen, damit sich die der armen Falleri nicht zu schämen brauchen. Ja wohl, Herr Schulze, verstehen das — auf die Falleri käm’s weniger an. — Aber, wie viel Geld hat sie denn wohl zu einer neuen Fahne nöthig? — natürlich mit Spitzen besetzt und Manschetten und wie die Dinger alle heißen, auch eine Schleppe hinten dran, damit sie das Dorf hübsch rein hält, wie die großen Damen in der Stadt.“

„Und was habt Ihr darnach zu fragen?“ erwiderte mürrisch der Schulze — „Ihr gebt’s ihr doch nicht.“

„Na, wer weiß“, lachte der Alte ingrimmig in sich hinein, „ich selber hab’s allerdings nicht, sonst säß’ ich[S. 38] wo anders als in der — gesegneten Bude hier; aber gute Menschen gibt’s überall — seelensgute Menschen, Herr Schulze, das kann ich Sie versichern, und ich treib’s für das Mädel auf — wenn ich nur erst weiß, wieviel es ist, denn die Gemeinde soll das nicht zu zahlen haben.“

Ihr wollt das Geld schaffen?“ sagte der Schulze und sah den Alten mistrauisch an. „Hört einmal, Brenner, Ihr habt überhaupt immer Geld, und ich möchte eigentlich wohl wissen, wo Ihr das her kriegt, denn betteln dürft Ihr nicht, und —“

„Stehlen ist vollends nicht gestattet“, lachte der alte Bänkelsänger laut auf, „aber beruhigen Sie sich, Herr Schulze, die paar Groschen, die ich dann und wann auftreibe, kann ich mir auch wohl noch einmal gelegentlich verdienen. Wissen Sie, ich habe einen Herrn in der Stadt, dem gebe ich Gesangunterricht, und wenn ich auch gerade keinen Louisdor für die Stunde kriege, etwas fällt doch immer ab, und vielleicht zahlt mir Der auch das Geld für die Falleri als Vorschuß.“

„Und wie heißt Der?“ frug der Schulze, der kein Wort von der ganzen Sache glaubte.

„Darf ich nicht sagen“, erwiderte verschmitzt lächelnd der Alte; „es ist ein vornehmer Herr, der[S. 39] heimlich zum Theater gehen will und es nicht vor der Zeit verrathen mag. Aber ich schaffe das Geld, und weiter wollen Sie ja doch nichts. — Muß nur vorher wissen, wie viel es ungefähr ist, damit ich nicht zu wenig bringe.“

„Hm“, sagte der Schulze, allerdings nicht von der Persönlichkeit erbaut, mit der er hier unterhandeln sollte, „Den möchte ich doch kennen, Brenner, der Euch Geld borgt, denn Der gehörte jedenfalls dahin, wohin wir neulich den Schuster geschafft haben. Aber wenn’s wirklich einen solchen Narren giebt, so holt vier Thaler von ihm, denn die brauchen wir. Die Falleri muß ganz neu gekleidet werden, bis auf Strümpfe und Schuhe hinunter, und wenn wir auch Alles alt kaufen können, läuft’s doch dahin jedenfalls auf.“

„So?“ lachte der Bänkelsänger, „also mit alten Sachen wollen Sie die Falleri neu kleiden. Na meinetwegen, wenn’s der Gemeinde recht ist, ich habe nichts dawider. Und bis wann muß das Geld da sein?“

„Spätestens bis morgen Abend, denn heute über acht Tage ist schon Grüner Donnerstag.“

„Alle Wetter“, lachte der Alte, „das ist kurzer Kredit; aber es kann nichts helfen; die Zeit ist wirk[S. 40]lich nicht mehr lang, und die Tage fliegen nur so, wenn man alt wird.“

„Habt Ihr mich aber zum Besten gehabt, Brenner“, sagte der Schulze finster, „so nehmt Euch in Acht. Ihr steht so auf der Kreide, das kann ich Euch versichern. — Und was wolltet Ihr denn eigentlich mit dem Stocke da, he?“

„Mit dem Stück Holz?“ frug der alte Bänkelsänger mit der unschuldigsten Miene von der Welt. „Du lieber Gott, was kann man mit einem Stück Holz anders wollen als Feuer machen. Es wird Essenszeit, Herr Schulze, und die paar Kartoffeln kann man doch nicht roh essen.“

Der Schulze warf ihm einen mürrischen Blick zu, und es war, als ob er das Mädchen noch einmal anreden wolle; aber er mußte sich anders besonnen haben, denn er drehte sich plötzlich kurz auf seinem Absatze herum und verließ das Haus. Valerie aber, die noch immer gefürchtet, daß der finstere Mann seinen ersten Versuch, ihr die Kleinodien zu entreißen, wiederholen könne, stand regungslos in ihrer alten Stellung, das goldene Kreuzchen und den Ring fest mit ihren kleinen Händen haltend, in der Ecke und verwandte kein Auge von dem Schulzen, bis er die Thür hinter sich ins Schloß geworfen. Der alte Bänkelsänger[S. 41] aber, sich auf den Knüppel stützend, den er noch immer in der Hand hielt, rief mit seinem heiseren Lachen:

„Hab’ keine Bange mehr, Falleri, Der kommt nicht wieder, da kannst Du sicher sein, denn er traut nicht, und so alt diese Knochen auch sein mögen, so viel Kräfte hätten sie doch noch gehabt, um dem Schuft den Schädel breit zu klopfen.“

„Oh, wie dank ich Euch, daß Ihr mir das Andenken meiner armen Mutter bewahrt habt“, rief das Kind — „wäret Ihr nicht dazu gekommen, er hätte es mir sicher weggenommen, und ich wäre dann elend mein ganzes Leben lang gewesen.“

„Der Lump, der“, brummte der Alte zwischen den Zähnen durch; „im Stande wär’ er’s gewesen. Man kann’s ihm aber an den Augen ablesen; sieht der Kerl nicht aus, als ob er mit seinem Gesicht auf einem Rohrstuhl gesessen hätte! Komm Du mir nur!“

„Aber er wird jetzt böse auf Euch sein“, sagte schüchtern Valerie.

„Bah, böse! — als ob der gut auf einen Menschen wäre, außer auf sich selber. Laß Dir das keine Sorgen machen, Kind, denn das kauf’ ich billig, wie Der auf mich zu sprechen ist. Was wir hier nicht kriegen müssen, kriegen wir doch nicht, und da kann[S. 42] er, Gott sei Dank, allein nichts d’ran thun, denn das ist Gemeindesache.“

„Aber wo wollt Ihr nur das viele Geld für mich hernehmen?“ frug jetzt das Mädchen schüchtern, „und wie soll ich’s Euch je wieder zahlen?“

„Papperlapapp, das ist meine Sorge“, lachte der Alte; „der Schulze hätt’s freilich gern gewußt, aber Dem werd’ ich’s bei Gott nicht auf die Nase binden. Wenn ich’s nur schaffe, Kind, wo’s nachher herkömmt, ist ganz gleichgültig; Du aber kriegst Deine Montirung und damit Basta!“ — und damit warf er den Buchenknüppel in die Ecke nach dem Ofen und schlenderte in seine eigene Stube hinüber.

Zwei Stunden nachher verließ er das Dorf und wanderte in der Richtung nach der Stadt zu, kam auch die Nacht nicht zurück und selbst bis zum nächsten Mittag nicht. Erst gegen Abend hörte Valerie seine heisere Stimme, wie er draußen, an dem Haus vorbei, eines seiner alten Lieder sang, und sprang in die Thür. Aber er kam nicht herein, nur triumphirend hob er einen kleinen schmuzigen Lederbeutel in die Höhe und schwenkte dabei seinen Knotenstock um den Kopf. Er hatte jedenfalls das Geld, ging auch damit stracks auf des Schulzen Wohnung zu. Dort aber blieb er nicht lange, sondern kam jetzt, in bester Laune[S. 43] von der Welt, zum Gemeindehaus zurück, wo er vor allen Dingen der „Falleri“ auftrug, einen Kessel mit Wasser auf’s Feuer zu setzen, denn sie wollten heute hoch leben. Dabei holte er eine Flasche mit Branntwein und ein Packet mit Zucker aus der Tasche, was er aber vorsichtig hinter dem Ofen versteckte und ein paar Stücken Holz davor stellte, und brachte dann sogar ein Stück Kuchen zum Vorschein, das er, wie er sagte, für die „Falleri“ eingekauft, damit sie auch einmal wieder erführe, wie Kuchen schmecke.

Der Mann war aber schon etwas angetrunken, wie er das Haus betrat, und als er den Grog erst fertig hatte, zu dem die Frauen und Valerie natürlich eingeladen wurden, verbesserte sich sein Zustand nicht. Er wurde immer lauter, fing an zu singen und fiel endlich von seinem Stuhl herunter, wo er regungslos auf der Erde liegen blieb und einschlief.

Valerie hätte ihn gern auf sein Bett geschafft, aber die beiden Frauen wollten nicht mit angreifen, weil er, wie sie meinten, zu schwer sei. Er könne überdies auch gleich da seinen Rausch ausschlafen, denn ob er auf den Steinen oder in einem Bett läge, sei ihm doch einerlei.

Das kleine Mädchen holte ihm endlich sein Kopfkissen herüber und seine wollene Decke, die sie ihm, so[S. 44] gut es eben gehen wollte, unterschob, und ihn mit dem andern Ende zudeckte. Weiter konnte sie für ihn nichts thun und mußte ihn da die Nacht verbringen lassen.

Es war ein alter, roher, widerlicher Mensch, aber der Einzige auf der weiten Gottes-Welt, der ihr, seit sie ihre liebe Mutter verloren, Gutes gethan hatte, und wie dankbar fühlte sie sich ihm dafür!

Wie der alte Bänkelsänger am nächsten Morgen aufwachte, sah er sich erst etwas erstaunt um, denn er schien nicht gleich zu wissen, wo er sich befand. Valerie stand am Herd und kochte ihre Morgensuppe. Er sah sie an und seine Decke und sein Kopfkissen, und sagte endlich:

„Falleri — hast Du mir das hierher geschleppt?“

„Ihr lagt da so schlecht und hart gestern Abend“, sagte das Kind.

Der Alte erwiderte nichts; er stand auf, raffte sein Bettzeug zusammen und wandte sich, um die Küche zu verlassen. Ehe er aber ging, sagte er, viel freundlicher als er noch je gesprochen:

„Du bist ein gutes Kind, Falleri; ich dank Dir auch vielmals“, und damit schritt er in seine Stube hinüber. —

Die Tage vor der Confirmation Valeriens gingen jetzt rasch vorüber; sie bekam auch zur rechten Zeit[S. 45] ihren Anzug, den ihr des Schulzen Frau von dem Gelde des Bänkelsängers geschafft hatte, und sie bestand ihre Prüfung gerade nicht besser, aber auch nicht schlechter als die übrigen Kinder. Sie wußte alle die aufgegebenen Sprüche auswendig und antwortete auf die an sie gerichteten Fragen in der richtigen, vorgeschriebenen Form, ohne sich — wie die meisten übrigen Kinder auch — etwas Besonderes dabei zu denken. Die schöne Lehre des Christenthums war ja in so viele unverständliche oder schwülstige Phrasen eingehüllt, daß ein klarerer Kopf dazu gehörte, als ihn ein vierzehnjähriges Kind besaß, um den edlen Kern aus der wulstigen Schale heraus zu finden. Sie gab sich dazu auch keine Mühe und war nur froh, als sie das Ganze überstanden hatte.

Daß sie dabei als Letzte der Confirmantinnen stand und, als es vorbei war, auch von Niemanden — wie doch alle die übrigen Kinder — eingeladen wurde, verstand sich von selbst und that ihr nicht besonders weh. Sie war ja die Gemeinde-Waise und daran gewöhnt, zurückgesetzt zu werden. Eines nur gab ihr einen Stich in ihr junges Herz, und auch weniger der Worte und Bedeutung als der Art wegen, mit der es zu ihr gesagt wurde. Gerade nämlich, als sie aus der Kirche trat, wo die übrigen Kinder von[S. 46] ihren auf sie stolzen Aeltern empfangen wurden, trat der Schulze auf sie zu und sagte, einen Glückwunsch weiter nicht für nöthig haltend:

„Na, Falleri, heute hast Du noch frei, morgen früh aber nimmst Du Deine Sachen und ziehst zu Baumstetter’s hinüber, die Dich vorläufig in Dienst nehmen wollen. Bist Du erst einmal ein Vierteljahr dort, dann kannst Du Deinen Miethcontract mit ihnen selber machen, denn Du wirst jetzt alt genug dazu“, und ehe die Confirmantin ihm etwas darauf erwidern konnte, drehte er sich ab, um seine eigene Tochter aufzusuchen und zu begrüßen.

Viertes Kapitel.
Im Dienst.

Am nächsten Morgen zog Valerie an, wie man es dort in der Gegend nannte, d. h. sie nahm ihr dürftiges Bündel unter den Arm und meldete sich bei ihrer neuen Dienstherrschaft.

Vorher verabschiedete sie sich von den Bewohnern des Gemeindehauses, mit denen sie so lange Leid und Armuth getheilt, und viel Freundlichkeit ließ sie da nicht zurück. Die neu hinzugekommene Frau mit den beiden Kindern, obgleich sie die Kleinen oft und oft[S. 47] gepflegt, hatte sich nie um sie bekümmert, und eigentlich nur mit ihr gesprochen, wenn sie etwas von ihr verlangte; sie reichte ihr auch jetzt nur die Hand und sagte gleichgültig „Adjes“. Die Alte aber kauerte in ihrer Ecke und schien viel mehr beleidigt als betrübt über den Abschied des jungen Mädchens, das sie halb und halb sogar der Undankbarkeit beschuldigte.

„Na ja“, knurrte sie, „jetzt hat man sich die Jahre über mit der Krabbe gequält und sie ein Bischen vorwärts gebracht, und nun sie Einem was nützen könnte und größer und stärker geworden ist, läuft sie Einem davon — aber wo findet man jetzt noch Dankbarkeit!“

„Aber Frau Kunzen“, sagte Valerie betrübt, „kann ich denn etwas dazu? ist es mein freier Wille? Der Schulze hat mich ja vermiethet, und ich darf gar nicht mehr in dem Haus bleiben — wenn ich selbst wollte.“

„So mach’, daß Du fortkommst“, brummte die alte Schullehrers-Wittwe, „wir können auch ohne Dich fertig werden.“

Das war der ganze Abschied, den sie von der Frau erhielt, für die sie Jahre lang gearbeitet hatte und ihr gefällig gewesen war, wo sie ihr etwas an den Augen absehen konnte.

Traurig schlich sich Valerie nach der Kammer des[S. 48] alten Bänkelsängers; sie fürchtete fast, daß er sie ebenfalls ohne ein freundliches Wort entlassen würde. Darin hatte sie sich aber gewaltig geirrt. Der alte Bursche war roh und wüst genug, aber doch nicht ohne Gemüth, und sonderbarer Weise hatte er einmal zu dem Kind eine besondere Vorliebe gefaßt, die vielleicht auch nur darin wurzelte, daß sie das einzige lebende Wesen war, das er protegiren konnte.

Der Alte war mit einer wunderlichen Arbeit beschäftigt. Er hatte sich ein Stück weißes Wachstuch mit aus der Stadt gebracht sowie ein paar Pinsel und ordinäre Farben, und saß jetzt vor dem aufgehangenen und in Felder abgetheilten Tuch und malte eine seiner alten Mordgeschichten aus. Die rothe Farbe spielte dabei auch eine große Rolle — die Männer trugen sämmtlich rothe Hosen und die Frauen rothe Tücher und blaue Kleider, und Blut floß schon auf der dritten Abtheilung, auf der eine ganze Familie abgeschlachtet wurde, in Strömen.

Valerie öffnete schüchtern die Thür, der alte Bänkelsänger sah sie aber kaum, als er auf die Füße sprang und, seinen Pinsel fortwerfend, ihr die Hand entgegenstreckte.

„Hallo, Falleri“, rief er dabei, „schon reisefertig! Na, Abschied brauchen wir nicht von einander zu[S. 49] nehmen, und Du gehst nicht aus der Welt — wir werden uns auch oft genug zu sehen kriegen — vielleicht öfter als Dir lieb ist.“

„Nein, Herr Brenner“, sagte das junge Mädchen leise; „Sie sind immer gut gegen mich gewesen, und ich bin gewiß nicht undankbar, wie die alte Frau Kunzen meint.“

„Der alte Drachen soll zum Teufel gehen!“ brummte Brenner. „Die hat von Undankbarkeit zu reden — daß Du ersticktest — wenn ich nur so was nicht hören müßte. Aber laß sie schwatzen — Du ziehst jetzt zu Baumstetter’s hinüber?“

„Ja, Herr Brenner.“

„Na, da brauchst Du auch nicht zu sagen: Gott straf’ mich, denn da bist Du gestraft genug.“

„Sind die Leute so bös?“

„Nein, bös nicht, Kind“, sagte der Alte, „sie könnten schlimmer sein und sollen ihre Leute nicht schlecht behandeln, aber die Alte ist so krank, daß es niemand lange bei ihr aushält. In den letzten sechs Monaten haben sie sieben verschiedene Wärterinnen gehabt — sie mochten Lohn über Lohn bieten, es half nichts. Apropos, wie viel kriegst Du denn?“

„Im ersten Vierteljahr noch nichts. Ich soll auf Probe dienen.“

[S. 50]

„Daß der Teufel den verdammten Schulzen hole!“ rief der Bänkelsänger, seine rechte Faust in die linke Hand schlagend, „umsonst sind Die nicht verschwägert zusammen, und in solch einen Hundedienst ohne Lohn schicken sie das Kind!“

„Aber kann ich’s ändern?“ sagte Valerie traurig.

„Nein, Herz“, knurrte der Alte, „wir Beide nicht, oder, Gott straf mich, ich — na ja, das Fluchen hilft auch eben nichts, und die Menschen thun deshalb doch was sie wollen. Na, geh hin; ich würde Dir, wie sie es auf dem Theater machen, meinen Segen geben, aber ich fürchte beinah’, er möchte Dir nicht besonders viel helfen. Uebrigens werd’ ich von Zeit zu Zeit einmal hinüber kommen und nachsehen und vielleicht — holt ja der Teufel auch die Alte bald, daß Du von Deiner Plackerei frei kommst.“

„Aber Herr Brenner —“

„Du hast recht, Schatz“, sagte der Alte mürrisch, „sie hat mir noch nie was zu Leide gethan — na geh, Kind — ich möchte mein “Gemälde„ noch heute fertig bringen, und da muß ich mich dazu halten, sonst werden mir die Klexe trocken“, damit schüttelte er Valerie die Hand, drehte sich um und fiel plötzlich mit so lauter Stimme in eines seiner alten Lieder ein, daß das Kind ordentlich zusammenschrak. Sie wäre auch gleich[S. 51] gegangen, aber sie mußte dem Manne doch noch etwas über ihre Schuld gegen ihn sagen, damit er nicht etwa glaube, daß sie die, mit dem Weggange aus dem Gemeindehause, ebenfalls abschütteln wolle.

„Lieber Herr Brenner“, sagte sie schüchtern — aber der Mann hörte nicht; er sang ruhig weiter.

„Lieber Herr Brenner“, wiederholte sie noch einmal und berührte seinen Arm.

„Ja Kind? — so, Du bist noch da? Willst Du was?“

„Ich wollte Ihnen nur sagen“, flüsterte Valerie schüchtern, „daß ich, wenn ich auch das erste Vierteljahr keinen Lohn bekomme, doch ganz gewiß gleich nachher jeden Pfennig sparen werde, um Ihnen —“

„Und der Mörder mit der Leiche
Auf der Schulter ward gesehn,
Wie er über eine Bleiche
That beim Mondenscheine gehn.“

sang Brenner plötzlich und mit so lauter Stimme und ließ sich nun auch in seinem schauerlichen Lied nicht wieder unterbrechen, daß Valerie jeden Versuch dazu aufgeben mußte. Er drehte sich auch gar nicht mehr nach ihr um, und das Kind schlich jetzt, mit seinem Bündelchen in der Hand, in das Dorf hinein und zu dem Bauern Baumstetter hinüber, wo sie die Frau[S. 52] desselben, da er selber auf dem Feld draußen war, gleich in Empfang nahm.

Die erste Anrede war auch keine besonders freundliche.

„Mädel, wie siehst Du aus! — geh erst einmal an die Pumpe und wasche Dich und mach’ Dir Dein Haar — und das jeden Morgen, verstehst Du? Denn so mag ich Dich nicht im Haus herumlaufen haben.“

Die Frau hatte nicht Unrecht; Valerie war in der wüsten Umgebung des Gemeindehauses wirklich verwildert, dabei wohl in die Höhe geschossen, aber entsetzlich mager geblieben, so daß die großen dunkeln Augen fast unheimlich in ihren Höhlen lagen. Aber sie kam jetzt unter bessere, weil strenge Hände, und die Frau steppte ihr selber noch an dem nämlichen Tag aus ihren alten Röcken einen zurecht, daß sie wenigstens unzerlumpt und reinlich im Haus herumgehen konnte; den alten Kittel mußte sie augenblicklich ausziehen und wegwerfen; er war nicht einmal mehr zum Flicken zu gebrauchen. Dann erst überkam sie die Pflege der alten Bäuerin und fand bald die Wahrheit alles dessen bestätigt, was ihr Brenner über die aufgebürdete Last gesagt.

Die alte Frau lag schon über Jahr und Tag in der Auflösung begriffen, sie war am ganzen Körper[S. 53] wund, und Monate lang hatte der Bader schon ihren Tod als stündlich bevorstehend verkündet — aber sie starb nicht. Der zähe Körper hielt die Seele fest, und der Aufenthalt bei der Leidenden war so unerträglich geworden, daß die eigene Tochter nur auf Minuten zu ihr ins Zimmer kam.

Diese Pflege überließ man dem kaum dem Kindesalter entwachsenen Mädchen, und nur dem Leben im Gemeindehaus vielleicht verdankte es Valerie, daß sie im Stande war, da auszuharren, und nicht körperlich zu Grunde ging.

Zwei volle Monate pflegte sie die Kranke unermüdlich. Sie kam in der ganzen Zeit fast in kein Bett, und nur, wenn sie das gebrauchte Geschirr aufwaschen mußte, an die freie Luft. Endlich erlöste der Tod der alten Frau diese und Valerie, ja das ganze Haus von der entsetzlichen Qual, und Valerie wurde ihres Dienstes quitt. Die Frau Baumstetter würde sie aber doch vielleicht im Haus behalten haben, denn sie sah, daß sie fortwährend still und willig ihre Arbeit that, und nicht eine Klage war in der ganzen Zeit über ihre Lippen gekommen — aber das verschlossene, scheue Wesen des Mädchens gefiel ihr nicht. — „Die hat’s hinter den Ohren“, pflegte sie oft zu sagen, „aber sie gibt’s nicht aus, bis einmal ihre Zeit kommt.[S. 54]“ Uebrigens hatte sie auch keine weitere Beschäftigung für sie, denn im Stall war sie ihr nicht stark und kräftig genug, und sie verabredete deshalb mit des Schulzen Frau, die gerade ein Hausmädchen brauchte, daß diese sie von da an in Dienst nehmen sollte, denn untergebracht mußte sie nun einmal werden.

Valerie erschrak, als sie hörte, daß sie in des Schulzen Dienst kommen sollte, denn erstlich war des Schulzen Frau als bös und zänkisch im ganzen Ort verschrieen, und dann fürchtete sie den Schulzen selber seit jenem Morgen mit allen Fasern ihres jungen Herzens. Aber was half es? Einen freien Willen hatte sie ja doch nicht; sie mußte hingehen, wohin man sie schickte — und sie ging.

Die Frau Baumstetter hatte ihr noch, ehe sie das Haus verließ, aus „Erkenntlichkeit“ ein paar alte Kleider geschenkt, denn Lohn bekam sie ja noch nicht — die durfte sie sich jetzt selber zurecht machen, denn mit der Nadel wußte sie ziemlich geschickt umzugehen, und die Frau des Schulzen sah darauf, daß ihre Dienstboten anständig aussahen, war sie ja doch die „erste Frau im Dorf.“ Sie sollte auch hauptsächlich für Nähereien im Haus verwandt werden, denn dadurch sparte man die überdieß theuern Näherinnen,[S. 55] die so unverschämt waren, einen ganzen Tagelohn für ihr „Flickwerk“ zu verlangen.

Valerie hatte es jetzt, was ihre Arbeit betraf, besser als im vorigen Haus, denn wenn sie auch Morgens schon um vier Uhr heraus mußte, um überall mit zu helfen und dann Abends, bei einer trüben Oellampe bis um zehn Uhr regelmäßig beim Spinnrad, oder auch manchmal sogar bei einer Näherei saß, obgleich sie die Stiche in der Dunkelheit kaum erkennen konnte, brauchte sie doch nicht mehr die Sterbende in ihrer furchtbaren Krankheit zu pflegen, und konnte wenigstens von zehn bis vier Uhr ruhig schlafen. — Aber sonst bekam sie es viel schlechter im Haus, denn wenn ihr bei Baumstetter’s kaum je ein unfreundliches Wort gesagt wurde, hörte beim Schulzen und seiner Frau das Zanken gar nicht auf, und daß sie nie eine Sylbe darauf erwiderte, wurde ihr für Störrigkeit und Verstocktheit ausgelegt. Ja, die Frau war so heftig, daß sie das arme Mädchen oft bei Seite stieß oder auch schlug, wenn sie ihr einmal im Weg stand oder etwas nicht recht anfaßte; was brauchte man auch mit der „hergelaufenen Range“ viel Umstände zu machen!

Auch unter den übrigen Knechten und Mägden hatte sie keine Freunde, denn sie lachte nie oder ging auf irgend einen der rohen Scherze ein, sondern war[S. 56] immer nur still und verschlossen bei ihrer Arbeit, sodaß man kaum eine Antwort aus ihr heraus bekommen konnte. Sonntag Nachmittags, wenn sie die Erlaubniß einmal bekam, auszugehen, wanderte sie dann allein auf den Kirchhof hinaus und besuchte das Grab ihrer Mutter, und dort konnte sie Stunden lang mit gefalteten Händen sitzen und den kleinen Hügel anschauen. — Aber sie weinte nie, und nur manchmal sang sie, mit einer glockenhellen Stimme, kleine, schwermüthige Lieder, die man aber im Dorf nicht kannte und die sie noch von ihrer Mutter gelernt haben mußte. Sobald sie aber nur merkte oder selbst Verdacht schöpfte, daß sie belauscht wurde, schwieg sie augenblicklich still.

Die einzige Freundin, die sie im Dorfe hatte, war die alte Nachbarin ihrer Mutter, die sie jedesmal, sobald sie vom Kirchhof kam, besuchte; auch beim Gemeindehaus ging sie manchmal vorüber, um ihrem alten Beschützer guten Tag zu sagen. So viel sie dieser aber auch ausfrug, wie es ihr ginge und wie sie behandelt würde, so klagte sie ihm nie ihre Noth und behauptete immer: gut. Aber der Alte wußte es besser; erstlich kann so etwas nicht geheim gehalten werden, denn ein paar Mägde, die mit der Schulzin Streit gehabt und den Hof verließen, erzählten es im Dorfe[S. 57] weiter, wie hart sie mit dem armen Kinde umgehe, und dann zeigte es auch schon ihr ganzes abgehärmtes Aussehen deutlich genug.

„Und was Du für rothe Ränder um die Augen hast, Kind“, sagte der Alte kopfschüttelnd. „Gott straf’ mich, ich glaube, die hoffärtige Hexe läßt Dich sich noch blind bei ihrer magern Oelfunzel nähen.“

„Es ist nur eine Erkältung, Herr Brenner.“

„Von — ich hätte bald was gesagt“, knurrte der Alte, „mach’ Du mir was weiß, willst Du? Herr Gott, was ich für eine Wuth auf den Lump, den Schulzen, habe! — umbringen könnt’ ich den Schuft. Weißt Du denn, daß er neulich in der Gemeinde den Vorschlag gemacht hat, mich aus dem Gemeindehause zu stoßen, weil ich immer Geld hätte und mich selbst ernähren könnte? Die andern Bauern wollten nur nicht, aber der nichtsnutzige Hallunke hätte mich mit Vergnügen auf die Straße gesetzt.“

„Er ist Ihnen nur böse wegen mir, Herr Brenner“, sagte Valerie scheu; „o, wie mir das leid thut!“

„Wegen Dir, nein wahrhaftig nicht“, beruhigte sie der Bänkelsänger, „das ist eine ganz andere alte Geschichte, und unsere Freundschaft schreibt sich aus weit früherer Zeit, aber — er kennt mich, und spricht[S. 58] nicht gern davon — was auch das Beste ist, denn solche alte Dinge aufzurühren, thut selten gut.“

Valerie ging dann nach solcher Unterredung still nach Hause. Brenner aber ließ sein Ingrimm keine Ruhe, und er verfiel auf eine andere, ihm ganz eigenthümliche Art, den Schulzen zu ärgern.

Seine Mordgeschichte hatte er nämlich fertig, und die Leinwand war auf beiden Seiten, zwei verschiedene Schreckensfälle behandelnd, angemalt. Diese spannte er kunstgerecht auf, holte sich eine lange Stange aus dem nahen Walde und stellte sich nun damit vor des Schulzen Haus auf, um sie abzusingen.

Natürlich liefen die Knechte und Mägde in allem Jubel heraus und hörten zu, und als der Schulze nach Hause kam, war kein Mensch bei der Arbeit. In allem Grimm wollte er den „Künstler“ auch fortjagen, aber dieser behauptete, er bettele nicht oder singe nicht für Geld, er treibe die Sache nur zu seinem Vergnügen, aus alter Anhänglichkeit an sein Geschäft — er müsse auch eine Beschäftigung haben, wenn er hier in dem elenden Nest nicht wahnsinnig werden solle, und das könne ihm kein Mensch verwehren.

Die übrigen Bauern, von denen natürlich auch manche den Schulzen nicht leiden mochten, gaben ihm Recht oder sahen wenigstens keinen Grund, weshalb[S. 59] man dem Manne verwehren sollte, auf der Straße zu singen oder sein Bild zu zeigen — verlangte er doch nicht einmal etwas dafür, und der Schulze mußte sich, ob er wollte oder nicht, der Majorität fügen.

So verging ein volles Jahr, und Valerie hatte jetzt zum ersten Mal, wenn auch nur geringen Lohn für ihre Arbeit bekommen. Was sie aber konnte — denn sie hielt jetzt etwas auf wenigstens reinliche und unzerrissene Kleidung — sparte sie zusammen, bis sie dem Bänkelsänger ihre Schuld abtragen konnte, und wenn es dieser auch nicht nehmen wollte, weil er behauptete, daß er es doch vertränke, ließ sie nicht nach, bis sie die Schuld von ihrem Herzen wußte.

Die Verhältnisse im Hause des Schulzen wurden aber mit jedem Tag schlimmer; der Mann war selber in Schulden gerathen und dadurch mürrisch und verdrießlich, die Frau natürlich nicht besserer Laune, und wer das Alles entgelten mußte, war Niemand Anderes als die unglückliche Waise.

Valerie zeigte aber, daß sie nicht mehr das arme unterdrückte und widerstandlos mishandelte Kind von früher sei. Eines Sonntags, als sie wieder auf den Nachmittag frei bekam, ging sie nicht auf den Kirchhof, sondern in die nächste Stadt, und suchte und fand dort einen andern Dienst bei einer Herrschaft, die[S. 60] sie jedenfalls von der Tyrannei der Schulzenfrau befreite. Diese aber war außer sich, als das junge Mädchen nach Hause kam und ihr für den ersten nächsten Monats die Stelle aufkündigte. Die „Frechheit“ und „Undankbarkeit“, wie sie es nannte, war zu bodenlos, und Valerie hatte, da sie nichts dagegen ausrichten konnte, von dem Tag an die Hölle auf Erden.

Sie ertrug Alles still — sie murrte, sie klagte nicht und nie kam eine Thräne in ihre Augen — das Kind hatte verlernt zu weinen. Nur bleicher und abgehärmter wurde sie mit jedem Tag, sodaß es selbst dem alten rauhen Brenner auffallen mußte, und dieser sich soweit vergaß, dem Schulzen in das eigene Haus zu rücken, um ihm Grobheiten zu machen. Das war freilich gefehlt. Dieser rief einfach seine Knechte und ließ ihn aus der Thür werfen, und der alte Bänkelsänger lief nach Haus und wurde vor Aerger krank.

Er legte sich wenigstens in sein Bett, ließ den Bader kommen und erklärte ihm, daß er ein Gallenfieber hätte und Medicin verlange.

Der Bader konnte allerdings nichts Derartiges an ihm entdecken, war aber doch seiner Sache nicht gewiß und gab ihm eine Medicin, die den Alten so[S. 61] krank machte, daß er behauptete, es wäre sein Letztes, und sie sollten ihm den Tischler schicken, daß der das Maß zu seinem Sarge nähme.

Zwei Tage darauf zog Valerie von dem Haus des Schulzen ab, und der letzte Abend war der schlimmste von allen, denn des Schulzen Frau behauptete, Valerie habe ihr eine silberne Schnalle gestohlen, die sie nirgends finden konnte und die das junge Mädchen absolut versteckt haben sollte. Diese leugnete allerdings, auch nur das Geringste davon zu wissen, aber das half nichts; alle ihre Sachen wurden untersucht und die Frau schlug sie so unbarmherzig, daß sie die blutigen Spuren an Gesicht und Nacken davon trug.

Das aber war zu viel für das arme Kind — nicht eine Stunde wollte sie länger in diesem Hause bleiben, und trotz des schon vorgerückten Nachmittags schnürte sie ihr kleines, auseinander gerissenes Bündel wieder zusammen und verließ, ohne Abschied von den Bewohnern zu nehmen, den Schulzenhof.

Vorher mußte sie freilich noch von der Mutter Grab und ihren Bekannten Abschied nehmen. Sie ging auch zu ihrer alten Freundin, der Nachbarin, vor und dann zu dem Bänkelsänger, der hart und fest auf seinem Bett lag; aber er hatte eine Lampe neben[S. 62] sich stehen und las in einem Buch, und als er das geronnene Blut in dem Gesicht des Mädchens bemerkte, und Valerie ihm diesmal die Ursache nicht verschweigen konnte, wollte er wie rasend in seinem Bett auffahren. Aber die alte Schulmeisters-Wittwe kam gerade herein, um ihm seine Suppe zu bringen, und wieder auf sein Kissen zurückfallend sagte er:

„Oh Du heiliges Kreuzdonnerwetter, daß ich jetzt auch gerade an allen Knochen lahm auf der Pritsche liegen muß! — Wenn ich nur einen Fuß regen könnte, Falleri, so lief ich noch heute Nacht selber in die Stadt und verklagte die Bande. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und daß sie Dir noch Schmerzensgeld für die Schläge bezahlen sollen, Falleri, darauf kannst Du Dich verlassen.“

„Lassen Sie es gut sein, Herr Brenner“, sagte das Kind, „es ist jetzt überstanden und die Leute haben ihr Schlimmstes gethan. — Ich gehe nun in die weite Welt, und Gott wird mich schützen.“

„Bah“, sagte der Alte verächtlich, „wer sich hier nicht selber schützt, kommt unter den Schlitten, soviel ist sicher. — Und Du willst jetzt fort, Falleri?“

„Ja, es wird schon spät“, nickte das junge Mädchen, „und ich weiß sonst nicht wohin, wenn mich die Leute nicht mehr aufnehmen. Leben Sie wohl, Herr[S. 63] Brenner; ich komme gewiß wieder einmal nach Osterhagen, um meine selige Mutter — und Sie zu besuchen.“

Damit reichte sie ihm die Hand und wanderte durch das Dorf wieder zurück den Weg nach der Stadt zu, in die stille Nacht hinein — aber sie kam doch zu spät. Als sie etwa um neun Uhr die ziemlich ferne Stadt erreichte und das Haus ihrer neuen Herrschaft betrat, weigerte sich diese, sie aufzunehmen, denn des Schulzen Frau hatte in derselben Viertelstunde, in der Valerie ihr Haus verlassen, einen Knecht mit einem Pferd nach der Stadt gesandt, der den Leuten erzählen mußte, weshalb sie ihr früheres Mädchen noch in dunkler Nacht „aus dem Dienst gejagt“, und sie erklärten, daß sie keine Diebin in ihrer Familie haben möchten.

Valerie erwiederte kein Wort — still und schweigend kehrte sie sich ab, ging wieder vor die Stadt, suchte sich einen Platz hinter einer Hecke, rückte sich ihr Bündel unter den Kopf, kauerte sich in der frischen Nacht so viel als möglich zusammen, und war bald auf ihrem harten Lager sanft eingeschlafen. —

Aber sie schlief nicht lange. Eine Stunde mochte etwa vergangen sein, da rasselten schwere Wagen auf der dicht vorüberführenden Chaussee vorbei, und[S. 64] erstaunt richtete sie sich auf, denn sie hörte eine Menge von Menschenstimmen. Wie sie sich aber umsah, erkannte sie auch am Himmel einen hellen Feuerschein, der etwa in der Richtung nach Osterhagen am Horizont lag. War dort Feuer ausgebrochen? Lieber Gott, die armen Menschen! aber sie konnte ihnen doch nicht helfen — sie war selber hülflos genug, und auf ihr Kopfkissen zurücksinkend, schlief sie bald wieder sanft und süß.

Fünftes Kapitel.
Feuer! Feuer!

Valerie hatte das Gemeinde-Haus etwa eine halbe Stunde verlassen, als die alte Frau Kunzen zu dem kranken Bänkelsänger hineintrat, um das Geschirr wieder abzuholen. Dieser lag auf seiner Matratze und stöhnte erbärmlich, und als ihn die Frau frug, wo’s ihm fehle, sagte er: „Ueberall, überall, Kunzen, in allen Gliedern reißt’s und zwickt’s mich, und ich bin so matt, daß ich kaum den Löffel zum Munde bringen konnte. Wenn ich nur erst einschlafe, nachher wird’s vielleicht besser — stört mich nur jetzt nicht wieder, daß ich zur Ruhe komme.“

„Nun, ich störe Euch gewiß nicht“, brummte die Alte, „ich will selber froh sein, wenn ich Frieden[S. 65] habe“, und die Thüre hinter sich zuwerfend und ohne es für nöthig zu halten, „gute Nacht“ zu sagen, verließ sie die Kammer, stellte das schmuzige Geschirr in die Küche und ging dann ohne Weiteres selbst zu Bett.

Im Dorfe lag die Nacht auf den stillen Straßen; das Wetter war noch ziemlich warm und vor einigen Thüren standen noch plaudernde Gruppen; als aber die Sichel hinter die nächsten Hügel sank, traten jene auch in die erleuchteten Stuben. Der alte taube Nachtwächter schlich nur mürrisch den Hauptweg von Osterhagen hinab, tutete und rief seine Stunde und drückte sich dann auf eine Holzbank, die unter der Linde vor dem Wirthshaus stand, um von da aus, wie er immer meinte, das Dorf im Auge zu behalten. Er hatte aber weit mehr Schlaf in den Augen als das Dorf, und wußte nicht einmal recht genau, wie lange er dort gesessen haben mochte, als ihm plötzlich eine Stimme in die Ohren schrie: „Feuer!“ daß er erschreckt von seiner Bank emporfuhr.

„Herr Jeses, wo denn?“ frug er unwillkürlich.

„Seht Ihr’s denn nicht, Ihr alte Schlafmütze!“ schrie der junge Bursche wieder, der es zuerst entdeckt und den Platz genau kannte, wo er den Nachtwächter antreffen würde; — „jetzt macht Lärm, ehe es zu spät wird“, und selber die Straße hinablaufend, stieß er[S. 66] den gellenden Schreckensruf in die stille Nacht hinein: „Feuer! Feuer!“

Da wurde es lebendig: aus allen Häusern stürzten Menschen vor — noch auf der Straße zogen sie sich mit den rasch aufgegriffenen Kleidern an, und nach der Schreckensstätte eilten sie, um den Brand womöglich noch im Entstehen zu ersticken — aber dazu war er schon zu weit vorgerückt. Es brannte in des Schulzen Scheune, das dort aufgeschichtete Stroh hatte die Gluth erfaßt, und ehe nicht Spritzen herbeikamen, war an Löschen nicht zu denken.

Die alte Dorfspritze wurde natürlich augenblicklich aus ihrem Schuppen herausgezogen und rasselte, von der Löschmannschaft gefolgt, der Brandstelle zu. Aber lieber Gott, es war seit undenklichen Zeiten kein Feuer in Osterhagen ausgebrochen, und die Bevölkerung des Orts dadurch so sicher geworden, daß sich Niemand um die Spritze und was dazu gehörte, gekümmert hatte. Jetzt fehlte es dafür an allen Ecken und Enden, und ehe sich die Bauern, die völlig den Kopf verloren, mit ihren Eimern zu einer Kette bis zum nächsten Wasser gestellt hatten, loderten die Flammen schon so hoch empor, um jedes Versuches zu spotten, von dieser Spritze bewältigt zu werden.

Und Niemand war außerdem da, der das Ganze[S. 67] geleitet hätte, denn der Schulze, als Oberhaupt, kümmerte sich gar nicht um die Löschanstalten und suchte nur von seinem Eigenthum zu retten, was zu retten war, während seine Frau, mit aufgelösten Haaren und ganz außer sich, im Haus herumstürzte und nur immer schrie:

„Das hat das nichtsnutzige Geschöpf, das hat die Falleri gethan, das hat die Falleri gethan!“ — und selbst bei der Arbeit draußen pflanzte sich der Schrei fort.

Nun waren allerdings Einige unter den Leuten, die, solange nur noch des Schulzen Haus brannte, meinten: „Ursach genug hätte sie dazu gehabt“ — wie aber die Flamme immer höher wuchs, die nächsten Häuser faßte und das ganze Dorf bedrohte, da brachen sich laute Verwünschungen über die junge Brandstifterin Bahn, und ein Glück für sie, daß man ihrer in dem Augenblick nicht an Ort und Stelle habhaft werden konnte: das vor Angst halb wahnsinnige Bauernvolk hätte sie zerrissen.

Jetzt endlich rasselte auch vom nächsten Dorf eine Hülfsspritze herbei — ein Haus hatten die Leute, weil es das Feuer am leichtesten fortpflanzen konnte, niedergerissen; der Wind erhob sich dabei etwas, und trieb die Gluth auf die erste Brandstätte zurück, und als nun auch zuletzt die Stadtspritzen mit ihrer gut[S. 68] organisirten Rettungsmannschaft auf dem Platz erschienen, gelang es, etwas nach Mitternacht, des Feuers so weit Herr zu werden, daß man wenigstens dessen weitere Verbreitung verhindern konnte.

Als der erste Feuerlärm laut wurde, war die Frau Kunze in Todesangst zu dem alten Brenner ins Zimmer gelaufen; Der aber fluchte, daß sie ihn geweckt hätte. Was könne er dabei thun? er wäre doch nicht im Stande, selbst nur aufzustehen, viel weniger an einer Spritze zu arbeiten; sie solle ihn zufrieden lassen und nur wieder kommen, wenn ihre eigene Bude anfinge zu brennen.

Als der Morgen graute, war des Schulzen Haus und Hof mit noch fünf Nachbarhäusern und sieben Scheunen eine wüste, rauchende Brandstätte, auch manches Stück Vieh dabei umgekommen, das störrisch den Stall nicht hatte verlassen wollen. Ja selbst zwei Menschen wurden vermißt, zwei junge Burschen aus dem Ort, die wahrscheinlich durch stürzendes Gebälk erschlagen worden, und deren schauerlich verbrannte Ueberreste man später unter den Trümmern fand.

Die Aufregung in Osterhagen war aber furchtbar, und kaum wußte man sich des Brandes Herr und die Gefahr beseitigt, als auch schon reitende Boten, was[S. 69] ihre Pferde laufen konnten, nach der Stadt mußten, um dort die Verhaftung der vermutheten Brandstifterin zu bewirken.

In dem von der Schulzin bezeichneten Hause fand man sie, wie nur die erste Anzeige bei der Polizei gemacht war, allerdings nicht, und die Leute dankten Gott, daß sie das Mädchen nicht bei sich aufgenommen hatten, hinter dem jetzt schon die Gensdarmerie hersuchte; aber bald darauf begegnete ihr einer der Osterhagener Burschen in der Straße, wie sie ahnungslos, daß auf sie gefahndet würde, eben nach einem neuen Dienst suchte. Ein Polizeibeamter, dem sie bezeichnet wurde, sprang hinzu und verhaftete sie, und Valerie fand sich wenige Minuten später, noch dazu von einem spottenden und lärmenden Volkshaufen begleitet, auf der Polizei, einem alten Herrn gegenüber, der ihr auf das Ernsteste zuredete, ihr Verbrechen zu gestehen, und ihre Strafe nicht noch durch hartnäckiges Leugnen zu verschärfen.

Valerie war fast sprachlos vor Schrecken, und der Untersuchungsrichter schien das für ein Zeichen ihrer Schuld zu halten. Kaum aber erfuhr sie, um was es sich hier handle, als sie, wohl mit todtesbleichen Wangen, aber doch vollkommen fester Stimme, auf das Bestimmteste bestritt, auch nur das Geringste[S. 70] von der Ursache des Brandes zu wissen. Sie habe Osterhagen gestern Abend, lange vor Ausbruch des Feuers, verlassen, und nie auch nur den Gedanken einer solchen That gehegt.

Sie sollte jetzt angeben, wo sie die Nacht zugebracht. Sie erzählte, wie sie von den Leuten, die sie in Dienst genommen, an der Thür wieder abgewiesen und dann hinaus vor die Stadt gegangen sei, um die ziemlich warme Nacht im Freien zuzubringen.

Der Untersuchungsrichter schüttelte dazu sehr bedenklich mit dem Kopf; vor der Hand ließ sich aber nichts weiter in der Sache thun. Die Angeklagte leugnete eben und mußte deshalb, bis sich weitere Beweise herausstellten, in ihre Zelle abgeführt werden.

Valerie zitterte am ganzen Körper, als sie das Schreckliche vor sich sah, was sie bis dahin nicht für möglich gehalten, daß man ihr nämlich nicht auf ihr Wort glauben und sie frei lassen, sondern in das Gefängniß führen wolle. Aber kein Wort der Bitte, was ihr doch auch nichts geholfen hätte, kam über ihre Lippen; ruhig wendete sie sich ab und folgte dem Schließer, der sie, bis die Untersuchung beendet war, in eine Zelle allein führte und die Thür dann hinter ihr verschloß und doppelt verriegelte.

Vor allen Dingen wurde jetzt an Ort und Stelle[S. 71] der Thatbestand aufgenommen, und da stellte sich denn allerdings heraus, daß das Feuer nicht gut konnte aus Fahrlässigkeit entstanden sein, sondern daß eine absichtliche Brandstiftung als alleinige Ursache angenommen werden mußte. Der Brand war nämlich nicht im Wohnhause oder der Küche, sondern in einer abgelegenen Scheune ausgekommen, die nur durch einen, an dem Tag gar nicht betretenen Holzschuppen mit dem übrigen Gehöft in Verbindung stand. Man hatte sogar, als es heller Tag wurde, noch ein Packet mit Schwefelhölzern, gar nicht weit von jener Stelle entfernt, im Gras gefunden, das der Brandstifter jedenfalls dort verloren haben mußte. Dieser Platz lag auch so abseits von dem eigentlichen Hauptweg des Dorfes, daß man recht gut und unbemerkt von irgend einer Seite dahin gelangen konnte, sodaß der Thäter kaum zu fürchten brauchte, gestört zu werden. Deshalb wurde das Feuer auch in der That nicht eher entdeckt, bis die Flamme schon das in der Scheune aufgeschichtete Stroh ergriffen hatte und hoch emporloderte; und dann fraß es so rasch und mit so wilder Gier um sich, daß an augenblickliche Hülfe nicht zu denken war.

Des Schulzen erster Verdacht — obgleich sich die Frau nicht davon abbringen ließ, daß es niemand[S. 72] Anders als ihr weggejagter Dienstbote, die Falleri, gewesen sein könne — fiel allerdings auf den alten Bänkelsänger, der Ursache genug hatte, ihn zu hassen, und dem er eine derartige Rache auch schon zutraute. Brenner aber lag, als nach ihm geschickt wurde, so von Gliederschmerzen geplagt im Bett, daß er sich nicht rühren konnte, und die Aussage der Frau Kunze, die ihm vorher seine Suppe gebracht, und ihn, gleich wie sie nur den ersten Feuerlärm gehört, geweckt hatte, bewies ein so vollständiges Alibi, um jeden Verdacht vollständig zu entkräften.

Es blieb also Niemand, der die That begangen haben konnte, als eben die Gemeinde-Waise; und einer von des Schulzen Knechten sagte jetzt sogar gegen sie aus: daß er das Mädchen, wohl anderthalb Stunden später, als sie ihr Haus verlassen habe, und schon bei vollständig angebrochener Dunkelheit noch im Dorf gesehen, aber weiter nicht auf sie geachtet habe. Sie sei nur an der andern Seite der Straße gegangen, und es ihm fast so vorgekommen, als ob sie nicht mit ihm zusammentreffen wolle. Weshalb brauchte sie das aber zu scheuen, wenn sie ein reines Gewissen hatte?

Des Schulzen Frau trat als andere Zeugin gegen sie auf, oder erbot sich wenigstens dazu, und erklärte dem herausgekommenen Polizeibeamten, daß diese[S. 73] Falleri das nichtsnutzigste, verstockteste Geschöpf sei, das sie in ihrem ganzen Leben gesehen. Wie viel Gutes hätte sie und ihr Mann der „Creatur“ gethan, und was sei ihr Dank dafür gewesen? — nie auch nur einmal ein freundlicher Blick oder ein vergnügtes Gesicht. Mürrisch und verdrossen sei sie fortwährend im Haus herumgegangen, nie wäre ein Wort aus ihr heraus zu bringen gewesen, und stundenlang habe sie vor sich hingebrütet und ihre bösen Streiche ausgeheckt. Die hätte es hinter den Ohren, das wäre die Rechte, und es sollte sie nun auch gar nicht wundern, wenn sie Stein und Bein leugnete und so unschuldig thäte wie ein neugebornes Lamm.

Der Polizeibeamte befragte jetzt auch noch die übrigen Dienstboten im Hause des Schulzen, konnte aber von diesen eben nichts besonders Gravirendes erfahren. Sie sagten allerdings Alle aus, daß die Falleri immer still und in sich gekehrt gewesen wäre, und Niemand erinnerte sich, daß sie je gelacht hätte, aber für bös hatten sie sie nie gehalten. Sie war gefällig, wo sie nur immer konnte, auch nie klatschig oder zänkisch gewesen, und eigentlich schien es den Leuten, bei etwas kälterem Blut, leid zu thun, daß sie sich, im Zorn vielleicht, der letzt erfahrenen Mishandlung wegen, so weit vergangen haben sollte.

[S. 74]

Von da ging dann der Beamte zu Baumstetter’s hinüber, wo er freilich nur das Beste über das Mädchen hörte — damals freilich war sie ja aber auch noch fast ein Kind. Nur ihr verschlossenes Benehmen rügten sie ebenso wie des Schulzen Frau.

Dann, um nichts zu versäumen, zog er auch im Gemeinde-Haus Erkundigungen ein, und die „alte Kunzen“ meinte, als sie von dem Verdacht hörte, der auf dem Mädchen lastete: „Na ja, Der habe ich es schon lange prophezeit, daß sie es noch einmal zu so was bringen würde, denn das ist ein schlechtes, undankbares Geschöpf und verdient die Brotkruste nicht, die sie kriegt.“ Etwas Bestimmtes wußte sie aber auch nicht über Valerie anzugeben.

Weit anders aber nahm der alte Bänkelsänger die Nachricht auf, daß man die „Falleri“ im Verdacht der Brandstiftung und deshalb eingefangen habe. Im ersten Moment fuhr er wie der Blitz von seinem Lager in die Höhe, fiel dann aber auch gleich wieder mit einem Schmerzensschrei auf seine Matratze zurück und stöhnte:

„Oh mein Rücken! — wenn ich mich nur regen könnte!“

„Und wißt Ihr etwas über das Mädchen anzugeben“, frug der Beamte, „das zu ihren Gunsten spräche, oder den einmal gefaßten Verdacht bestätigte?“

[S. 75]

„Ja“, sagte der Alte nach einer Weile, in der er sich erst mit augenscheinlichem Schmerz auf seinem Lager gewunden, denn jedenfalls hatte ihm die plötzliche Bewegung weh gethan, „allerdings habe ich das, Herr Polizeicommissar, und zwar weiter nichts, als daß die Falleri das bravste und beste Kind ist, was je von nichtsnutzigem, geizigem, schmierigem Volk schlecht behandelt und unter die Füße getreten wurde. Mein Geschäft war früher, Mordgeschichten abzusingen, um den Leuten für ein paar Sechser abschreckende Beispiele vor Augen zu führen, und ich habe in meiner Zeit viele schreckliche Blut- und Schauderscenen abgeleiert, aber nie im Leben — selbst nicht nach jenem Scheusal, das seine eigene Schwiegermutter umbrachte — eine Lebensbeschreibung, die so viel Jammer und Elend enthält, als die des Kindes, das Sie jetzt der Brandstiftung bezichtigen.“

„Also sie halten das Mädchen für schuldlos?“ sagte der Polizeicommissar.

Der Alte sah ihn groß an, drehte sich dann plötzlich mit vieler Leichtigkeit auf die andere Seite und erwiederte kein Wort mehr.

Der Beamte erfuhr auch allerdings nichts weiter im Dorf, als daß die Gefangene an dem Abend von ihrer bisherigen Miethsherrin, des Verdachtes eines[S. 76] allerdings unerwiesenen Diebstahls wegen, geschlagen sei, im Aerger und in der Aufregung das Haus verlassen habe und etwa noch eine Stunde später und nach angebrochener Nacht im Dorf gesehen wäre. Damit fuhr er in die Stadt zurück und beschied nur noch vorher auf morgen früh zum Zeugenverhör des Schulzen Frau und jenen Knecht, der die Angeklagte am gestrigen Abend im Dorf noch spät gesehen haben wollte.

Indessen hatte den alten Bänkelsänger im Gemeinde-Haus eine ganz eigene Unruhe erfaßt. Er warf sich fortwährend auf seinem Lager hin und her und ruhte nicht eher, bis die Frau Kunze noch einmal zum Bader hinüber ging, daß der käme und ihm etwas zum Einreiben gäbe. Er müßte gesund werden, wie er sagte, und wieder aufstehen und in die Stadt gehen, um selber zu sehen, was sie mit der Falleri anfingen, denn dem Kinde dürfe kein Unrecht geschehen, und wenn er selber darüber zu Grund gehen sollte.

Der Bader kam auch gegen Abend und brachte ihm eine Salbe mit, die er selbst erfunden haben wollte, und die außerordentlich heilkräftig sein sollte. Damit rieb er sich ein, wickelte sich in seine wollene Decke und schlief dann ein.

Die Salbe mußte aber doch nicht recht gewirkt[S. 77] haben, oder er war auch vielleicht in der Nacht ruhiger geworden, denn er verließ am nächsten Morgen sein Bett noch nicht, sondern erklärte nur, daß er sich bedeutend besser fühle und in den nächsten Tagen hoffe, aufstehen zu können.

Sechstes Kapitel.
Die Brandstifterin.

Am nächsten Morgen sollte das erste Verhör stattfinden, und der alte Untersuchungsrichter hatte, in der Ueberzeugung, daß die Verbrecherin auch heute leugnen würde, schon einen Wagen bestellt, auf dem sie — unter starker Bedeckung natürlich — an Ort und Stelle geführt werden konnte. Dort lagen auch die Leichen der bei dem Brand verunglückten Menschen, und wenn man ihr so die Folgen ihrer That vor Augen führte, hätte ein verstockteres Herz dazu gehört, als es das Kind besaß, das Vollbrachte selbst in deren Gegenwart noch abzuschwören.

Außerdem waren auf elf Uhr die Zeugen aus Osterhagen bestellt und warteten schon im Vorzimmer — der Knecht in seiner besten Jacke, des Schulzen Frau in riesiger, mit Bändern behangener und reich gestickter Mütze, den vollen Busen mit einer Unzahl[S. 78] silberner Ketten und andern Schmucksachen behangen, denn das Alles hatte sie aus dem Brande gerettet; war das doch ihre erste Sorge gewesen.

Der Untersuchungsrichter saß schon in seinem Bureau, der Protocollant mit einer Anzahl geschnittener Federn am Tisch vor einer ganzen Schicht neuer Papierbogen, unbeschriebener „Acten in Sachen der Valerie Edmund wegen Brandstiftung“. Einer der Polizeibeamten wurde jetzt beordert, die Gefangene herunter zu holen.

Der Gefängnißwärter hatte sie gestern Abend, als er ihr einen Krug mit Wasser und ein Stück Brot brachte, verlassen, wie sie mit gefalteten Händen auf ihrer Pritsche saß und still und regungslos vor sich nieder starrte — so saß sie noch, als er die Thür um elf Uhr Morgens wieder öffnete; so mußte sie die ganze Nacht gesessen haben, denn die wollene Decke, die er ihr, zusammengefaltet, auf die Matratze gelegt, war nicht von ihrer Stelle genommen und das Lager jedenfalls unberührt.

„Hallo, Mädel!“ rief der Mann erstaunt, „bist Du die ganze Nacht da so sitzen geblieben? Was? und keinen Bissen gegessen, keinen Schluck getrunken? Das thut’s nicht, Kind“, setzte er kopfschüttelnd hinzu, „dabei kommst Du von Kräften und gehst zu Grunde.[S. 79] Wenn das Verhör nun jetzt ein paar Stunden dauert, wie willst Du’s aushalten?“

„Es wird nicht so lange dauern“, sagte das junge Mädchen leise.

„Ja, wer kann’s wissen“, brummte der Alte; „aber Du sollst hinunter kommen. Die Herren sind Alle schon da — willst Du Dich nicht ein bischen zurecht machen? Du siehst ja ganz blutig im Gesicht aus.“

„Zum Verhör soll ich kommen?“ sagte Valerie und stand von ihrer Bank auf.

„Ja wohl, Kind — wasch Dir nur erst einmal das Blut von der Stirne.“

Valerie erwiderte kein Wort weiter; sie ging zu dem in der Ecke stehenden blechernen Waschkumpen und badete sich Gesicht und Hände in dem frischen Wasser, strich sich dann die Haare glatt und sagte leise:

„Lassen Sie uns gehen; je eher desto besser.“

Der Gefängnißwärter schüttelte mit dem Kopf. Er hatte in seinem langen Leben manche Erfahrung gesammelt und die Charaktere seiner zahllosen Gefangenen nicht ohne Erfolg studirt. Diese hier kam ihm aber nicht wie eine bösartige Verbrecherin vor, und trotzdem schien sie ganz in einander gebrochen und[S. 80] sah auch so merkwürdig bleich und elend aus. Aber was ging’s ihn an; er that nur seine Pflicht, und sein Schlüsselbund aufgreifend, öffnete er der Gefangenen die schmale Thür und führte sie die Treppe hinab durch den Corridor zu dem Zimmer des schon seiner harrenden Assessors.

In dem Corridor saß des Schulzen Frau in all ihrem Staat, und neben ihr stand der Knecht vom Hof, der ebenfalls mit als Zeuge einberufen war, und als Valerie an ihr vorüber ging, rief sie aus:

„Oh, das schlechte, miserabliche Ding! — sollte man es denn für möglich halten!“

„Wenn Sie das Maul nicht halten“, sagte aber der alte Gefängnißwärter, der sich nach ihr umdrehte, „so werden Sie ebenfalls eingesteckt und kommen auf Numero Sicher. Hier hat Niemand zu reden, der nicht gefragt wird“.

Die Frau schwieg verdutzt still, denn so hatte noch Niemand mit ihr, der Schulzin aus Osterhagen, gesprochen. Valerie aber hörte entweder die Worte gar nicht, oder achtete wenigstens nicht darauf. Sie schritt still an ihrer früheren Herrin, ohne auch nur den Blick vom Boden zu nehmen, vorüber und verschwand gleich darauf in der nächsten breiten Thür, die sich gleich darauf wieder hinter ihr schloß. Der Gefangenen[S. 81]wärter hatte nur hinein gerufen: „Die Edmund, Herr Assessor.“

Das regelrechte Verhör begann jetzt mit all seinen gewöhnlichen Formeln, und die erste Frage des Untersuchungsrichters lautete:

„Wie heißt Du?“

„Valerie Edmund.“

„Wie alt?“

„Bald sechzehn Jahre.“

„Wo bist Du geboren?“

„Ich weiß es nicht“, sagte leise Valerie.

„Du weißt es nicht?“

„Nein.“

„Wer waren Deine Aeltern?“

„Ich weiß es nicht“, wiederholte das Kind noch leiser als vorher, und man sah es ihr an, welchen Kampf es ihr kostete, diese Fragen ruhig zu beantworten.

„Das weißt Du auch nicht?“ wiederholte der alte Assessor erstaunt. „Hm, Kind, das ist doch wunderbar. Hast Du denn Deinen Vater und Deine Mutter nicht gekannt?“

„Meine Mutter, ja; sie starb vor langen Jahren in Osterhagen — auch meinen Vater habe ich wohl gesehen, aber ich war damals noch ein kleines Kind, und später sagte meine Mutter, daß er todt und be[S. 82]graben wäre in einem weiten fernen Land — weit von Osterhagen.“

„Und als sie starb?“

„Dann kam ich in das Gemeinde-Armenhaus im Dorf, und nachher in Dienst.“

„Und Du leugnest, etwas von der Ursache des gestrigen Brandes zu wissen?“

„Nein“, sagte das junge Mädchen, mit kaum hörbarer Stimme aber doch deutlich und bestimmt — „ich leugne es nicht mehr; ich habe es gethan!“

„Du hast es gethan, Unglückliche!“ rief der alte Assessor ordentlich erschreckt — „und was brachte Dich zu der furchtbaren That?“

„Fragen Sie mich nichts weiter“, sagte das arme Mädchen — „ich habe das Feuer angelegt, und wie ich höre, sind zwei Menschen dabei umgekommen, deshalb muß ich auch das Leben verlieren.“

„Und woher weißt Du, daß zwei Menschen dabei umgekommen sind?“

„Heute Morgen sprachen sie auf dem Gang vor meiner Kammer davon. Irgend Jemand erzählte es einem Andern, und ich hörte es — ich muß jetzt auch sterben und dann komme ich wieder zu meiner Mutter.“

„Aber weshalb hast Du es gethan? Du mußt doch eine Ursache dafür gehabt, Du mußt doch auch[S. 83] gewußt haben, welche furchtbaren Folgen es haben konnte.“

„Der alte Mann im Gemeinde-Hause, der alte Brenner“, flüsterte das Mädchen, „hat mir einmal gesagt, daß man nicht alle Fragen zu beantworten brauche, die Einem das Gericht stellt. Der weiß das, denn sie haben ihn auch schon gefangen gehabt.“

„So? Ei sieh mal an, und wer ist das?“

„Nun der alte Brenner; er zog früher mit einem Leierkasten herum — jetzt ist er alt und schwach und kann nichts mehr verdienen.“

„Und Der hat Dir solche Rathschläge gegeben!“ nickte der Assessor; „da bist Du freilich in einer guten Schule gewesen.“

Valerie schwieg.

„Und Du weigerst dich, mir zu antworten, wenn ich Dich frage, was Dich dazu gebracht hat, das Feuer anzulegen?“

„Ja.“

Der Assessor sah eine Weile still vor sich nieder, dann klingelte er, und als der Gerichtsdiener eintrat, befahl er ihm, die Gefangene wieder in ihre Zelle abzuführen.

Gerade als sie das Zimmer verlassen wollte, rief sie der Assessor noch einmal und fragte:

[S. 84]

„Woher hast Du denn die blutunterlaufenen Stellen im Gesicht? Bist Du gefallen?“

„Nein“, sagte Valerie, „die Schulzin hat mich geschlagen, weil sie behauptete, ich hätte ihr eine silberne Schnalle gestohlen.“

„Und hast Du das nicht gethan?“

„Nein“, sagte das Mädchen, drehte sich ab und schritt zur Thür hinaus.

Das Verhör mit der Schulzin und ihrem Knecht dauerte nicht lange. Die Frau brachte allerdings eine Masse von Anklagen vor, aber der Untersuchungsrichter hatte zu viel mit derartigen Leuten zu thun gehabt, um nicht das Wahre daran ziemlich richtig herauszufühlen. Die Hauptsache war ja auch erledigt; die Verbrecherin hatte ihre Schuld gestanden, und der alte Beamte glaubte, die Ursache leicht in der rauhen Behandlung der vor ihm stehenden, bösartig genug aussehenden Bauersfrau zu finden. Das Mädchen hatte in deren Haus gewiß keine guten Tage gehabt, und in der Rachsucht für erlittene Mishandlung ließ sich das Motiv der That — wenn diese darin auch keine Entschuldigung fand — wohl erklären.

Uebrigens schlug die Schulzin vergnügt in die Hände, als ihr der Criminalbeamte mittheilte, daß die Gefangene ihre Schuld eingestanden habe, und schrie:

[S. 85]

„Ich wußt’ es, ich wußt’ es — kein Mensch weiter konnte es gewesen sein wie der Balg, und wenn ich jetzt nur noch erlebe, daß sie die Brandstifterin an den Galgen hängen, denn das hat sie hundert Mal verdient!“

Die Untersuchung war aber damit nicht etwa geschlossen, denn der alte Assessor citirte nach und nach das ganze Hauspersonal der Schulzin, wie auch das von Baumstetter’s Hof vor Gericht, und deren Aussagen bestätigten allerdings seine schon früher gefaßte Vermuthung, daß die Waise nämlich kein ursprünglich böses, wenn auch sehr vernachlässigtes Kind gewesen und wohl nur durch rauhe Behandlung zu der verbrecherischen That, die nicht einmal eine vorbedachte genannt werden konnte, getrieben worden. Auch ihre Jugend kam dazu, um Milderungsgründe zur Geltung zu bringen.

In der nämlichen Zeit gab sich der Assessor die größte Mühe, um etwas Näheres über die Mutter der Gefangenen zu erfahren, aber alle darauf gewandte Mühe blieb umsonst, denn die unruhige Zeit, in welcher sie damals das Dorf aufgesucht, verwischte jede Spur. Er fuhr selbst nach Osterhagen hinüber und zog bei dem Schulzen genaue Erkundigungen ein, und hörte wohl, daß damals ein Leintuch mit dem[S. 86] Zeichen einer adelichen Herrschaft gefunden sei, wo es aber geblieben, wußte Niemand zu sagen. Es war damals mit verauctionirt worden, und auch auf die Buchstaben konnte sich Keiner mehr erinnern. Selbst der Schmuck, den Valerie noch von ihrer Mutter trug, und den er später untersuchte, gab keinen Anhaltepunkt; es war ein einfaches goldenes Kreuz mit dem Buchstaben V. darin, und der Trauring trug nur ein Datum und eine Jahreszahl.

In Osterhagen hatte es der Assessor aber auch nicht versäumt, das Gemeinde-Haus zu besuchen, wo er Brenner noch auf seinem Lager traf und sich natürlich mit ihm in ein längeres Gespräch einließ. Der alte Bursche aber, der bald genug den Polizeimann und Criminalbeamten in ihm erkannte — denn er hatte mit derlei Herren wohl mehr Erfahrung gesammelt, als er gewöhnlich gern eingestand — war anfangs ungemein scheu und zurückhaltend und beantwortete alle an ihn gerichteten Fragen außerordentlich vorsichtig. Erst als der Assessor — denn von Valerie’s Herkunft wußte er natürlich gar nichts — das Gespräch auf den Schulzen und die Behandlung der Gefangenen dort im Hause brachte, wurde er warm, und entwarf jetzt eine so düstere Schilderung von den Leuten, daß der Beamte wohl merken mußte, es lauere auch viel[S. 87] eigener Haß in dem Bericht. Brenner behauptete auch dabei mit der größten Bestimmtheit, daß die „Falleri“ unschuldig an dem Brande sei — sie wäre noch den Abend spät auf dem Gottesacker und dann bei ihm im Hause gewesen und nachher schnurstracks in die Stadt hinüber gegangen.

„Und woher wißt Ihr das, Mann?“ frug der Assessor.

„Woher ich das weiß?“ rief Brenner; „weil’s die Falleri gesagt hat, und die hat noch nie in ihrem Leben gelogen; eher bisse sie sich die Zunge ab.“

„So“, nickte der Beamte, „wenn Ihr das also selber bestätigt, so werdet Ihr auch wohl glauben müssen, daß die Edmund das Haus angezündet, denn sie hat es selber vor Gericht gestanden.“

„Den Teufel hat sie!“ schrie der alte Bänkelsänger und fuhr erschreckt in seinem Bett empor — „aber das ist nicht möglich!“

„Nicht möglich? — und weshalb nicht?“

„Hm“, knurrte der Alte, „möglich ist Alles auf der Welt, selbst, daß ich noch einmal hunderttausend Thaler in der Lotterie gewönne, aber — die Falleri hätte selber freiwillig gestanden, daß sie den Schulzenhof angezündet?“

„Das hat sie — frei und unaufgefordert im ersten[S. 88] ordentlichen Verhör; denn nur als sie zuerst eingebracht wurde, wollte sie nichts davon hören. Aber das ist die alte Geschichte, und soviel werdet Ihr auch selber wissen, daß man, wenn eben aufgegriffen, nicht gleich in’s Blinde hinein gesteht. Man muß doch erst erfahren, wie der Hase läuft.“

Der Alte warf dem Assessor einen halb pfiffigen, halb lauernden Blick zu, aber die wirkliche Sorge um das junge Mädchen verdrängte doch rasch alle anderen Gedanken.

„Es ist nicht denkbar“, sagte er dann, mehr zu sich selber als zu dem Fremden redend und immer dabei mit dem Kopf schüttelnd, „gar nicht denkbar. Ja, Ursache genug hätte sie dazu gehabt, um auch zuletzt einen Hasen auf den Mann zu treiben, Ursache die langen Jahre hindurch, die sie’s ertragen und keinen Mucks dabei gethan, — aber, — es wäre doch zu merkwürdig und — ich glaub’s nicht.“ —

„Was wäre merkwürdig?“ frug der Assessor.

„Was merkwürdig wäre?“ wiederholte der alte Bänkelsänger, „nun, daß das Kind die Courage dazu gefaßt hätte, und dann noch dazu gleich von ihrer Mutter Grab weg, an der sie mit allen Gedanken hängt. Ich glaub’s nicht, und wenn der liebe Herrgott vom Himmel herunter käme und sagt’ es.“

[S. 89]

„Aber habt Ihr denn irgend einen Verdacht auf Jemand Anderen?“

Ich?“ frug der Alte erstaunt, „auf wen soll ich Verdacht haben? Ich liege hier seit acht Tagen krumm und kann keinen Fuß vor den andern setzen, was erfahre ich von der Welt? Aber Feinde hat die Schulzin genug, und er auch — hochnäsiges Bauernvolk, die vor Uebermuth nicht wissen, was sie treiben sollen. Alle Augenblicke wechseln sie auch das Gesinde; es hält’s Niemand lange bei ihnen aus, und warum kann’s nicht Einer von denen gethan haben? Warum muß es das Kind gewesen sein?“

„Aber sie würde es doch nicht selber eingestehen, wenn es nicht wahr wäre.“

„Merkwürdig, merkwürdig!“ wiederholte der alte Bursche wieder — aber er schien müde zu werden. Ob ihm die Glieder weh thaten, oder ob er blos die Unterhaltung abbrechen wollte: aber er warf sich auf sein Kissen zurück und schloß die Augen, und da der Assessor ebenfalls kein weiteres Interesse hatte, in dem öden unbehaglichen Raum zu verweilen, stand er auf und verließ mit einem kurzen Gruß das Haus. Er wußte, daß er hier doch nichts weiter erfahren würde.

Drei Tage später war der alte Bänkelsänger wieder auf den Füßen und so weit hergestellt, daß er[S. 90] sogar den Gang in die Stadt zu Fuß antreten konnte, wenn er sich dazu auch noch eines Stockes bediente. Eigenthümlich blieb nur dabei, wie rüstig er ausschreiten konnte, wenn er sich streckenweise allein auf der Landstraße sah, und wie es ihm plötzlich wieder in den Gliedern zog, wenn ihm ein Wagen begegnete oder ihn überholte. Das hielt ihn auch sehr auf, denn er kam dann nur immer langsam von der Stelle, aber zuletzt erreichte er die Stadt doch und ließ sich dann ohne Weiteres bei dem Assessor melden, den er um eine Unterredung mit der „Falleri“ bat.

Der Assessor schien keine rechte Lust zu haben, ihm die zu gestatten, aber er war auch neugierig geworden, zu erfahren, welchen Einfluß der alte Bursche auf das Mädchen ausüben würde, und hatte ihn zugleich dabei im Verdacht, mehr von dem Brande selber zu wissen, als er für gut fand zu gestehen. Schaden konnte er überdies nicht mehr bringen; die That war von der jungen Verbrecherin ohne Zwang, ohne Zureden offen eingestanden und später wiederholt auf das Entschiedenste bestätigt worden — möglich, daß gerade durch ihn mehr Licht in die immer noch dunkle Sache kam.

Der Alte humpelte mit einem ihn begleitenden Polizeidiener die Treppe hinauf, und der Gang schien[S. 91] ihm sauer zu werden. Auf einem Absatz blieb er halten, um sich zu verschnaufen, und schmunzelte dann leise vor sich hin:

„Es sieht ordentlich natürlich aus, daß ich hier in so anständiger Begleitung abgeführt werde.“

„Ist Euch auch wohl schon manchmal passirt, wie?“ lachte der Gerichtsdiener.

„Lieber Gott“, sagte der Alte, „menschliche Schicksale wechseln; einmal sind wir oben, einmal unten. Ich war auch schon einmal unten.“

„Dachte mir’s doch“, nickte der Mann, „Ihr seht mir auch gerade danach aus.“

„Sie scheinen mir Menschenkenner“, meinte der Bänkelsänger trocken; „aber ich denke, wir können jetzt eine Station weiter fahren. Wie geht’s denn der Falleri?“

„Wem?“

„Nun der Nummer so und so; ich weiß ja noch nicht, unter welcher Firma sie hier logirt.“

„Oh, der Edmund, Nummer elf — gut geht’s ihr; es fehlt ihr nichts.“

„Freut mich zu hören“, nickte der Alte, „wäre aber das erste Mal in ihrem Leben, daß es ihr gut ginge — und ein curioser Platz dazu. Aber da sind[S. 92] wir wohl — Nummer elf. Wollen Sie mich dem Herrn Gefängnißwärter vorstellen?“

„Wird wohl nicht nöthig sein“, lachte der Mann über die Förmlichkeit des Alten; „hier, Brummer, der Mann da hat Erlaubniß, Nummer elf zu sprechen — eine Viertelstunde.“

„Brummer heißt der Herr? Merkwürdig!“ nickte Brenner; „paßt aber gar nicht. Er läßt ja gerade die Andern brummen und brummt nie mit.“

„Thut er nicht, du alter Schlaukopf?“ lächelte der Gefängnißwärter, der die Worte gehört hatte, „und brumme ich nicht etwa hier in dem verdammten Nest das ganze Jahr, Sonn- und Feiertage, während die Vögel ein- und wieder ausfliegen. Wer ist da eigentlich der Brummer, he?“

„Können Recht haben, verehrter Herr“, nickte der Alte, „habe eigentlich nie so tief darüber nachgedacht. Wenn Sie jetzt vielleicht so gefällig wären —“

„Mit Vergnügen“, nickte der Mann, „und auch wohl für längere Zeit, wenn’s sein müßte. Platz genug ist da.“

„Möchte Ihnen doch nicht gern beschwerlich fallen“, sagte der Bänkelsänger, während Herr Brummer die Riegel zurückschob und die Thür dann aufschloß.

[S. 93]

„Hier Edmunden, da kommt Besuch“, sagte er dann, ließ Brenner eintreten und verriegelte die Thür wieder hinter ihm, ohne sie jetzt aber abzuschließen.

Valerie saß auf ihrer Pritsche, ein kleines Gebetbuch in der Hand, das man ihr auf ihre Bitten gegeben hatte — es waren Witschel’s Morgen- und Abendopfer — und ihre großen dunklen Augen hafteten auf den Zeilen, als sie das erste Klirren der Riegel hörte. Sie veränderte auch ihre Stellung nicht, als sich die Thür öffnete; der Schließer kam manchmal herein, um ihr Wasser oder Brot zu bringen, aber er sprach selten oder nie mit ihr. Sie erschrak jedoch, als sie das Wort Besuch vernahm. Wer konnte sie besuchen? Trotzdem färbten sich einen Augenblick ihre Wangen, als sie den alten Brenner erkannte, und ihm die Hand entgegenstreckend, sagte sie herzlich:

„Wie mich das freut, daß Sie mich nicht ganz vergessen haben.“

„Hm“, brummte der Alte in augenscheinlicher Verlegenheit, indem er einen scheuen flüchtigen Blick in dem Gemach umherwarf — „vergessen, Falleri? Ich habe immer an Dich gedacht, Kind, Tag und Nacht, und hier — kommt’s mir auch beinahe wieder so vor, als ob wir zusammen im Gemeinde-Haus säßen; die “Stube„ hier sieht genau so aus, wie die[S. 94] leeren Wände da drüben. Aber wir dürfen die Zeit nicht mit Redensarten vergeuden, denn ich habe nur eine Viertelstunde Erlaubniß und — möchte eine Frage an Dich richten, Falleri.“

„Ja, Herr Brenner?“

„Du hast gestanden, daß Du das Feuer an jenem Abend angelegt?“

„Ja, Herr Brenner“, sagte Valerie leise.

„Aber Du hast’s nicht gethan, Mädel.“

„Doch, Herr Brenner“, lautete die bestimmte Antwort, „ich hab’s gethan und hab’s gestanden.“

„Es ist nicht wahr, Mädel“, fuhr der Alte aber jetzt mit unterdrückter Stimme fort, „Du kannst’s nicht gethan haben, denn erstens liegt es nicht in Deiner Natur und dann — bist Du’s auch nicht gewesen.“

„Doch, Herr Brenner, ich war’s“, wiederholte Valerie, jetzt wieder mit denselben bleichen Wangen wie vorher; „ich habe es gethan und werde dafür meine Strafe erhalten. Hoffentlich lassen sie mich nicht lange warten“, setzte sie noch leiser hinzu.

„Aber Du bist doch erst bei uns draußen gewesen“, fuhr der Mann fort, der jetzt Beweisgründe gegen sie zu sammeln suchte, „Du warst vorher auf dem Kirchhof bei Deiner Mutter selig.“

[S. 95]

„Ja, Herr Brenner, und nachher bin ich durch’s Dorf gegangen und habe das Feuer in die Scheune geworfen.“

„Aber zwei Stunden nachher ist’s erst ausgekommen.“

„Das ist möglich, es hat vielleicht so lange geglimmt, bis der Wind zu wehen anfing. Sie haben’s auch wohl nicht gleich gesehen.“

„Das ist gerade, um Einen verrückt zu machen“, brummte der Alte und schüttelte dabei immer, wie erstaunt, mit dem Kopf; „aber wenn’s wirklich wahr wäre“, fuhr er nach einer Weile wieder fort, „und ich glaub’s nicht und würd’ es selbst nicht glauben, wenn Dich Jemand dabei erwischt hätte — weshalb hast Du’s da den Eseln auf die Nase gebunden? Wer hätt’ es Dir je beweisen wollen?“

„Und was sollt’ ich’s leugnen?“ sagte Valerie ruhig; „den Dienst bekam ich nicht mehr, nach Osterhagen konnt’ ich nicht zurück, fremd und allein steh’ ich in der Welt und habe ich immer gestanden, ich wäre doch zuletzt zu Grunde gegangen. Da ist’s besser, ich sprach gleich die Wahrheit und leide jetzt meine Strafe.“

Der alte Bänkelsänger hatte sich neben sie auf die Pritsche gesetzt und schüttelte in einem fort mit dem Kopfe.

[S. 96]

„Ein merkwürdiges Zusammentreffen wär’s doch“, sagte er endlich, „ein heillos merkwürdiges.“

„Was, Herr Brenner?“

„Was? — hm — daß sie das Feuer nicht gleich entdeckt haben sollten, aber der Holzklotz von Nachtwächter schläft immer unter der Linde, und dahinten an die Scheune kommt auch eigentlich Niemand hin.“

„An welche Scheune.“

„Nun, hinter des Schulzen Haus, wo das Feuer auskam.“

„Ja“, nickte Valerie, deren Gedanken wo anders geweilt zu haben schienen, „ja, da kommt Niemand hin, es ist abgelegen.“

„Recht hätt’st Du gehabt, Mädel“, nickte der Alte noch einmal mit dem Kopf; „verdenken könnt’ es Dir Niemand, denn schlecht genug behandelt haben sie Dich, niederträchtig behandelt, und schlimmer als einen Hund, und der Wurm krümmt sich zuletzt, wenn er getreten wird — aber das Maul hätt’st Du halten sollen, denn wer hätt’s Dir zuletzt beweisen wollen, he? Kein Mensch. Die Gerichtsbeamten thun allerdings immer schrecklich klug, gerade so, als ob sie Alles schon wüßten und nur aus lauter Plaisir noch weiter frügen, und dabei muß man sie lassen, nachher fahren sie selber den Karren in den Dreck, denn sie[S. 97] wissen gar nichts. Läßt man sich aber verblüffen dann haben sie Einen, wo sie ihn hin haben wollen, und man sitzt fest.“

„Ich habe Alles freiwillig gestanden, Herr Brenner.“

„Desto dümmer“, nickte der alte Mann, „denn dazu war gar keine Veranlassung; aber“, setzte er leise hinzu, „es läßt sich vielleicht noch gut machen. Wenn Du in’s nächste Verhör kommst, Falleri — und am besten läßt Du Dich gleich morgen früh beim Assessor melden — so sagst Du ihm nur, die ganze Geschichte sei nicht wahr.“

„Was ich schon gestanden habe?“

„Versteht sich, das macht nichts, das geschieht oft genug und gilt. Sag’ ihm nur, Du hättest den ersten Tag eine solche Heidenangst, so einen Respect vor dem Gericht und den Eisengittern gehabt, daß Du selber nicht mehr wüßtest, was Du Alles geschwatzt; Du sei’st es aber gar nicht gewesen und wärest keine Brandstifterin.“

„Und da sollten sie mir glauben?“ frug Valerie kopfschüttelnd.

„Ob sie Dir’s glauben oder nicht, bleibt sich ganz gleich“, sagte der Alte, „aber in’s Protokoll müssen sie’s schreiben, und dann kommt’s oben auf’s andere[S. 98] Gericht und stößt die ganze Geschichte um, was Du früher gesagt hast. Willst Du’s thun, Falleri?“

„Nein, Herr Brenner“, sagte das junge Mädchen ruhig, „was ich gesagt habe, hab’ ich gesagt; es ist geschehen und aufgeschrieben, und Gott wird weiter helfen.“

„Wenn ich nur so was nicht hören müßte“, brummte der Alte ärgerlich. „Wer sich selber hilft, dem hilft Gott, muß es heißen; selber mit anfassen muß man und nachher — geht’s auch nicht immer, aber man versucht’s doch wenigstens. Versprich mir’s, Falleri; ich hätte sonst keine Ruhe und — machte am Ende noch einen dummen Streich.“

Das junge Mädchen schüttelte ernst mit dem Kopfe, aber es blieb ihr keine Zeit zu einer weiteren Erwiederung, denn der Riegel wurde in diesem Augenblick wieder zurückgeschoben, der Gefängnißwärter sah herein und sagte:

„Nun, alter Schwede, Deine Zeit ist um; mach’ Dich auf die Socken.“

Der Bänkelsänger warf einen unschlüssigen Blick auf Valerie, aber er wußte recht gut, daß gegen den Befehl keine Einrede half; der Mann that nur seine Pflicht, und wich auch von der nicht ab — außer, er hätte vielleicht die Mittel besessen, ihn zu veranlassen,[S. 99] seine Uhr um zehn Minuten zurück zu stellen. Brenner befand sich aber gerade nicht bei Kasse, und deshalb seinen alten Hut aufgreifend, sagte er trocken:

„Was sein muß, muß sein, aber Falleri, überleg’ Dir die Sache und thu’s mir zu Liebe.“

„Wer war’s denn, der bei dem Brand verunglückt ist?“ frug Valerie, während sie ihm die Hand zum Abschied reichte.

„Oh, weiter Niemand,“ sagte Brenner, obgleich ihm die Frage nicht angenehm zu sein schien, „als der Hans von Baumstetter’s und der Peter von des Schulzen Hof.“

„Die beiden Einzigen, die manchmal freundlich mit mir waren,“ nickte das junge Mädchen; „arme Menschen!“

„Wer kann’s ändern,“ rief der Alte, „heute mir, morgen Dir; es hat so sein sollen, und Du brauchst Dir deshalb keine Gewissensbisse zu machen.“

„Na wird’s bald?“ rief Brummer, in der Thür stehend; „glaubt Ihr, daß ich weiter nichts zu thun habe, als auf Euch zu passen?“

„Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Brummer,“ lachte Brenner, „wenn Sie auf mich passen müßten, hätten Sie gerade genug zu thun. Aber leb wohl, Falleri — vergiß nicht, was ich Dir — erzählt habe[S. 100] — Du verstehst mich — wenn ich die Erlaubniß kriege, komme ich noch einmal her zu Dir,“ und ihr kräftig die Hand schüttelnd, verließ er die Zelle wieder und humpelte die Treppe hinunter, an den verschiedenen Schildwachen vorüber, aus dem Haus.

Siebentes Kapitel.
Auf dem Kirchhofe.

Indessen schleppte sich, nach dem gewöhnlichen Geschäftsgang, die Untersuchung noch einige Monate hin, und das Urtheil gegen die junge Verbrecherin lautete endlich, unter Annahme mildernder Umstände, auf zehn Jahre Zuchthaus und weitere zwei Jahre polizeiliche Aufsicht.

Das Urtheil wurde bald in der Nachbarschaft bekannt, und die Leute schienen es meistentheils zu billigen. Nur des Schulzen Frau in Osterhagen war wüthend darüber und erklärte: es sei keine Gerechtigkeit mehr im Lande, wenn eine solche Verbrecherin, die zwei Todtschläge begangen, mit ein Paar Jahren Zuchthausstrafe abkäme; die müßte doch wenigstens gehangen werden. Das Gericht zog aber des Schulzen Frau zu Osterhagen nicht zu Rath, und da die Verurtheilte gegen die über sie verhängte Strafe nicht[S. 101] appellirte, wurde sie einige Tage später in die dafür bestimmte Anstalt abgeführt und auch weiter nicht mehr von der Sache gesprochen.

Dem alten Brenner schien das Resultat freilich nicht recht, und er ging von der Zeit an noch viel mürrischer im Dorf umher als vorher. Auch daß der Schulze seinen Hof noch viel schöner aufbaute als früher, ärgerte ihn, und es zuckte ihm stets in Fingern und Armen, wenn er der hochnasigen Schulzin begegnete, die ihn noch dazu nicht einmal eines Blicks würdigte. Aber was half ihm sein Ingrimm? Er mußte ihn eben hinunterschlucken, und durfte sich noch nicht einmal etwas merken lassen.

Die „Falleri“ war verschollen und im Zuchthaus begraben.

So mochten fast zwei Jahre vergangen sein, als eines Tages eine stattliche Equipage in Osterhagen vor dem Wirthshaus hielt und ein junger Offizier aus dem Wagen sprang. Er hielt sich aber gar nicht im Wirthshaus auf, sondern befahl seinem Kutscher, nur auszuspannen, erkundigte sich dann bei einem der Knechte, in welcher Richtung etwa der Kirchhof liege, und schritt dann, ohne weitere Erkundigungen einzuziehen, der bezeichneten Gegend zu.

Allerdings interessirte sich die Dorfjugend außer[S. 102]ordentlich für ihn, und eine Anzahl der Jungen folgte dem schmucken Husaren auch in achtvoller Entfernung bis zur Kirchhofsthür, da er aber dort gar kein Ende machte und immer nur hin und her wanderte, bekamen sie es zuletzt auch satt. Es war überhaupt Mittagszeit geworden, und sie mußten nach Hause. Sie bekamen den fremden Husaren auch schon wieder zu sehen, wenn er zu seinem Wagen zurückkehrte.

Der kam aber lange nicht; wohl zwei volle Stunden stieg er zwischen den arg verwilderten Gräbern herum, und es war augenscheinlich, daß er irgend ein bestimmtes Grab suchte, aber nicht finden konnte. Endlich gab er es auf und wandte sich dem nächsten Hause zu, um dort jedenfalls Erkundigungen einzuziehen.

Das war das Gemeinde-Haus, und Brenner saß gerade unter einem vor drei Jahren dort selber angepflanzten Hollunderbusch vor der Thür und rauchte aus einem entsetzlich schmutzigen und abgegriffenen Maserkopf seinen „Knaster“. Er sah auch den Offizier auf sich zukommen und wunderte sich, was den in aller Welt hierhergeführt haben könne, rührte sich aber nicht von seiner Stelle und qualmte nur in Gedanken stärker als vorher.

[S. 103]

Der junge Mann kam heran, und als er den Bänkelsänger erblickte, redete er ihn an:

„Sagen Sie einmal, lieber Freund, sind Sie hier im Ort seit längerer Zeit bekannt?“

„Sollte denken,“ nickte der Alte, „ich bin hier geboren und jetzt schon eine hübsche Reihe von Jahren in dem Palast da einquartiert.“

„Wohnt der Todtengräber weit von hier?“ frug der Soldat hierauf.

„Weit? Lieber Gott, weit ist hier eigentlich gar nichts,“ lachte Brenner, „denn wenn Sie weit gehen, kommen Sie aus Sicht vom Dorf. Gleich dort neben der Kirche, wo Sie den stumpfen Thurm sehen — er ist auch zugleich Küster, Nachtwächter und Büttel. Aber was wollen Sie von ihm?“

„Es ist mir ein Grab bezeichnet worden,“ erwiderte der junge Offizier, „das ich gern auffinden möchte, aber ich habe mir vergebene Mühe gemacht, danach zu suchen. Wie alt ist Ihr Todtengräber?“

„Oh, nicht alt, noch ein junger Bursche von einigen dreißig Jahren,“ sagte Brenner, „auch erst seit ein paar Jahren hier im Dienste, und sein erstes Geschäft war, den alten einzuscharren.“

„Dann wird er mir auch keine Auskunft geben[S. 104] können,“ seufzte der Offizier, „denn das Grab, das ich suche, muß schon weit über vierzig Jahre gegraben sein.“

„Das ist freilich lange her — und welche Inschrift trägt es? Wenn Sie nur den Namen wissen, finden wir es doch vielleicht noch nach dem Kirchenbuch.“

„Es trägt gar keinen Namen,“ lautete die Antwort, „und das einzige Erkennungszeichen, das mir angegeben wurde, sollte sein, daß zu Häupten desselben ein kleiner spitzer Stein stände, mit einem bestimmten Zeichen eingemeißelt.“

„Hm,“ nickte der Alte, „da brauchen Sie am Ende den Todtengräber und das Kirchenbuch nicht, denn einen solchen Stein weiß ich und hab’ mich schon manchmal gewundert, wer den wohl zum Leichenstein gesetzt haben könnte.“

„Und wo steht der?“ rief der Fremde rasch; „ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mich begleiten wollten.“

„Ja, wenn Sie nicht zu rasch laufen,“ sagte Brenner, sich mühsam von seinem Sitz erhebend, „so humple ich mit Ihnen hinüber, aber schnell geht’s freilich nicht mehr. Die Knochen werden alt.“

„Ich habe reichlich Zeit; wir können so langsam gehen, wie Sie wollen.“

[S. 105]

„Na, denn man zu,“ nickte Brenner, „weit haben wir ja überdies nicht, denn wir sind hier im Gemeinde-Haus hübsch bequem neben dem Kirchhof einquartiert, damit wir später nicht zu viel Fuhrlohn kosten.“

„Dies ist das Gemeinde-Armenhaus?“

„Ja, und hier sehen Sie einen seiner glücklichen Bewohner.“

„Sie haben auch früher gedient?“

„Sollte denken,“ nickte der Alte, während er neben dem Offizier herhinkte, „auch anno 13 und 15 mitgemacht — aber jetzt geht’s zu Ende. Na Du lieber Gott, ich darf mich nicht beklagen; ich habe schon manchen Jüngeren hier vorbeifahren sehen, und bin doch noch immer die ganze Zeit über Wasser geblieben. Lange wird’s freilich nicht mehr dauern, daß ich da drüben mein Quartier beziehe.“

Die Beiden schritten von da an schweigend und Jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt die kurze Strecke hinüber, die sie noch vom Kirchhof trennte, und als sie diesen jetzt erreichten, sah sich Brenner erst eine Weile um, als ob er selber nicht mehr ganz sicher sei, wo er das bezeichnete Grab suchen solle, und stieg dann vorsichtig und mit augenscheinlicher Beschwerde über die Gräber weg, quer durch den Gottesacker hin, bis fast zur anderen Ecke.

[S. 106]

Dort war lange Niemand mehr beerdigt worden, und der Platz lag arg verwildert und von hohem Gras und Buschwerk überwachsen; es wurde auch selbst dem alten Manne schwer, sich hier zu orientiren, und er bedurfte einiger Zeit, bis er nur genau die Gegend angeben konnte. Dann aber unterstützte ihn der junge Fremde in seinem Suchen, und den Säbel aus der Scheide ziehend, schob er damit das lange Gras zurück, bis plötzlich der alte Bänkelsänger rief:

„Halt! da ist er — Sie stehen gerade davor. Wie das Unkraut hier in den letzten Jahren aufgeschossen ist! Früher führte ein ordentlicher Weg zu der Stelle.“

„Welcher Platz?“ fragte der junge Offizier, sich vergebens nach dem bezeichneten Stein umsehend.

„Da, dicht vor Ihnen, Sie treten ja fast auf den Stein.“

„Der? Ja mein Gott, den hätte ich im Leben nicht allein gefunden, denn ich hatte ihn mir nach der Beschreibung viel größer gedacht. Aber ist das auch der rechte?“

„Einen anderen spitzen Stein giebt’s auf dem ganzen Kirchhofe nicht mehr,“ erwiderte Brenner; „nicht einmal viel viereckige, denn die Bauern setzen immer[S. 107] nur ein hölzernes Kreuz mit einem Regendach darauf, daß der liebe Gott die Inschrift von oben gar nicht lesen kann.“

„Das muß wirklich der Stein sein,“ rief aber auch jetzt der junge Fremde, der indessen mit dem Säbel das darüber gewachsene Moos abgekratzt hatte, so daß er die eingegrabenen Zeichen erkennen konnte. „Er soll früher zu einer Sonnenuhr gedient haben, und wurde nur damals, nach der Schlacht, als man den Erschossenen hier eingegraben, als vorläufiges Zeichen auf das Grab gesetzt. Die Familie zog aber fort aus Deutschland, und ich habe erst jetzt den Auftrag bekommen, das Grab aufzusuchen und später die Ueberreste des Verstorbenen in unsere Familiengruft zu schaffen.“

„Hm, so?“ sagte der Alte nachdenkend, „und leben noch Anverwandte von dem Todten in dieser Gegend?“

„Nein, außer unserer Familie keine mehr; sie zogen damals weit weg, und wir haben nie wieder von ihnen gehört. — Weshalb?“

„Oh, ich meinte nur,“ nickte Brenner; „aber eine arme Frau, die jedoch einmal weit bessere Tage gesehen haben mußte, und jetzt dort drüben in der Ecke[S. 108] begraben liegt, hat, als sie noch lebte, oft Stunden lang bei diesem nämlichen Stein gesessen.“

„Eine Frau?“

„Ja, die mit zwei Kindern hierher zog, einem Knaben und einem Mädchen — der Knabe starb bald und die Frau nachher auch.“

„Und wie hieß sie?“

„Sie nannte sich hier die Edmunden.“

„Der Name ist mir völlig fremd. Seit wann ist sie todt?“

„Oh, schon eine Reihe von Jahren; wir können nachher einmal an ihrem Grab vorbeigehen.“

„Und die besuchte dieses Grab?“

„Es war ihr einziger Spaziergang viele Jahre lang.“

„Das ist sonderbar; vielleicht eine alte Dienerin des Hauses.“

„Na, so alt war sie gerade noch nicht, aber so was muß es jedenfalls gewesen sein, denn sie starb in großer Armuth, und das Mädchen kam nachher in’s Gemeinde-Haus.“

„Und steht ihr voller Name auf dem Grab?“

„Sicher; sie hat ein Kreuz bekommen so gut wie die Anderen. Was sie hinterließ, reichte gerade aus, um das zu bezahlen.“

[S. 109]

„Es war jedenfalls eine der Dienerinnen, die mit seltener Treue an ihrer alten Herrschaft hing. Bitte, zeigt mir einmal das Grab, Freund, damit ich mir den Namen aufschreibe. Ich habe jetzt hier gefunden, was ich suchte, und werde nach einiger Zeit zurückkehren, um meinen Auftrag auszuführen. Kann man jetzt den Schulzen wohl im Ort treffen?“

„Wenn er gerade zu sprechen ist,“ meinte Brenner, „aber in letzter Zeit scheint er selten nüchtern zu werden; er säuft.“

„Das ist ja ein hübsches Orts-Oberhaupt,“ lachte der Offizier.

„Das weiß Gott,“ nickte Brenner, „und mir gefällt er ebenfalls, — aber das hier ist das Grab, schon ein bischen eingesunken und verwachsen, aber lieber Himmel, wer sieht hier danach!“

Der Fremde mußte wieder seine Waffe zu Hülfe nehmen, um ein wahres Strauchwerk von aufgeschossenen Brennesseln zu entfernen, damit er nur den Namen lesen konnte. Aber es stand auch weiter nichts darauf, als: „Valerie Edmund, gestorben den .... .... 185.“ und als Nachsatz: „Sie ruhe in Gott.“

Der junge Offizier schüttelte mit dem Kopf; der Name war ihm fremd, und da nicht einmal ein Ge[S. 110]burtsjahr oder ein Ort der Abstammung angegeben war, konnte er ihm auch weiter nichts helfen. Er schob die schon herausgeholte Brieftafel in die Tasche zurück und fragte:

„Leben denn noch Verwandte der Frau hier?“

„Nein,“ erwiderte Brenner, mit dem Kopf schüttelnd, denn die Frage war ihm unangenehm, „nicht hier; die Tochter ist — fortgezogen.“

„Dann helfen mir auch meine Nachforschungen nichts — also herzlichen Dank, lieber Freund, für die gegebene Auskunft; Sie wissen nicht, welchen großen Dienst Sie mir damit geleistet haben. Diese Kleinigkeit bitte ich Sie auch, für Ihre Mühe von mir anzunehmen. Wenn ich in einiger Zeit hierher zurückkehre, hoffe ich Sie wiederzusehen.“

Damit drückte er dem darüber auf’s äußerste Erstaunten zwei harte Thaler in die Hand und schritt dann rasch dem Dorf wieder zu, um dort den Schulzen aufzusuchen. Aber Brenner hatte Recht gehabt; den Schulzen fand er wohl, aber in einem vollkommen unzurechnungsfähigen Zustand. Er taumelte, mit den Knechten, der eigenen Frau und selbst dem Kettenhund zankend, auf dem Hof herum und schwatzte lauter Unsinn, so daß ihn der Fremde mußte stehen lassen und weggehen. Allerdings wollte die Schulzin[S. 111] gerne aus ihm herausbekommen, was ihn hergeführt; er hielt es aber nicht für der Mühe werth, ihr das weitläufig auseinander zu setzen, sondern ließ sie, von der wüsten Wirthschaft angeekelt, stehen und verließ, kaum eine Viertelstunde später, wieder mit seinem Wagen das Dorf.

Achtes Kapitel.
Das Bekenntniß.

Wieder mochten vier Monate nach den im letzten Kapitel beschriebenen Vorgängen verflossen sein, und wenn die Welt auch indessen ihren ruhigen ungestörten Gang fortzurollen schien, so hatte sich doch in Osterhagen Manches in der Zeit verändert, namentlich in des Schulzen Haus.

Der Schulze selber war nämlich plötzlich gestorben — man sagte, an einem Herzschlag vom vielen Trinken, mit dem er die Zerrüttung seiner Vermögensverhältnisse betäuben wollte. Auch Anderes erzählte man sich im Dorfe; der Großknecht sollte es schon in letzter Zeit mit der Frau gehalten haben, und ein paar gute Freundinnen schüttelten immer sehr bedenklich mit dem Kopf, wenn die Rede auf den schnellen Tod des Mannes kam, und meinten auch wohl,[S. 112] man würde schon noch was erleben, und zwar die Heirath des früheren Knechtes mit der Wittwe — aber der Knecht war eines Morgens spurlos verschwunden und kam nicht wieder, und die Frau wüthete so im Haus herum, daß es kein Mensch bei ihr aushalten konnte und neue Mägde keine Woche in der Wirthschaft bleiben wollten.

Wer sich nun wohl am meisten über den Verfall des ihm verhaßten Hauses gefreut haben würde, wäre der alte Bänkelsänger gewesen; aber mit dem ging es ebenfalls auf die Neige. Seine Gliederschmerzen hatte er allerdings seit jener Zeit nicht wieder bekommen, aber dafür peinigte ihn ein anderes Leiden, das einen viel ernsteren Charakter zu haben schien und ihn jetzt unbarmherzig an sein Lager fesselte. Was es war, konnte der Bader allerdings nicht herausbekommen, aber Brenner behauptete, er sei ein Esel und wisse nicht einmal den Unterschied zwischen Leibschneiden und Wassersucht; er solle ihn nur ruhig sterben lassen, wenn seine Zeit gekommen wäre, weiter verlange er nichts. Verschriebene Blutegel und Schröpfköpfe wies er auch mit Entrüstung von sich und schwur, er bräche dem Bader den Hals, wenn er ihm mit einem seiner Blutmittel zu nahe käme.

Uebrigens hatte ihn sein früherer guter Humor[S. 113] ganz verlassen; dumpf vor sich hinbrütend lag er Tage lang auf seinem Bette, und es war sogar einmal, wo von der Kunzen der Name der „Falleri“ erwähnt worden, geschehen, daß er nach dem Geistlichen verlangte, weil er ihm etwas mitzutheilen hätte. Als dieser aber kam, mußte er seinen Entschluß geändert haben, denn er that, als ob er schliefe, und es war nichts aus ihm heraus zu bekommen.

Am andern Morgen war er noch unruhiger geworden. „Wenn ich die Falleri nur noch einmal sprechen könnte“, sagte er in einem fort, „nur noch einmal eine Viertelstunde, und der Herr Assessor würde es erlauben — aber es geht nicht mehr, es geht nicht. Ich fühl’s, die alten Knochen wollen keinen Dienst mehr thun, und nicht einmal eins von meinen Liedern fällt mir mehr bei. Blos das eine — das eine, und das bring’ ich nimmer aus dem Sinn.“

Er klagte über heftige Schmerzen im Magen und genoß auch nur sehr wenig, schien aber von einer merkwürdigen Unruhe geplagt zu sein, und machte oft den freilich immer vergeblichen Versuch, aufzustehen — er brachte es nicht fertig.

In dieser Zeit kehrte der junge Offizier zurück, aber diesmal nicht allein, sondern in Begleitung einer älteren, sehr vornehm aussehenden Dame, die er Tante[S. 114] nannte. Beide zogen aber bei Niemandem Erkundigungen ein, sondern, wie nur der junge Mann die ältere Dame aus dem Wagen gehoben hatte, befahl er dem Kutscher, auszuspannen, reichte ihr dann seinen Arm und führte sie durch das Dorf direct dem Kirchhof zu.

Dort blieben sie eine ziemliche Weile. Eine Partie Dorfjungen war ihnen nachgelaufen, um sich die bunte Uniform des Husaren in der Nähe zu besehen, getraute sich aber nicht auf den Kirchhof selber, sondern blieb draußen an dem hölzernen Gitter stehen. Dort sahen sie, wie die Beiden zuerst nach der rechten Seite des Kirchhofs zwischen die alten Gräber gingen und die Dame mitten in das Gras und Unkraut hineinkniete. Dann stand sie wieder auf, und sie stiegen nach der anderen Seite hinüber, wo sie erst eine kleine Weile umhersuchten, und dann neben einem Grab eine ganze Zeit lang verweilten. Jetzt schritten sie wieder dem Eingang zu, und die Jugend lief, was sie laufen konnte, in das Dorf zurück, damit sie der Offizier nicht an der Kirchhofsthür erwischte.

Die beiden Fremden folgten ihnen aber nicht dorthin, sondern bogen gleich vor dem Kirchhof nach dem Gemeinde-Hause zu ab, das aber der Offizier allein betrat und nach dem alten Manne frug, der ihn da[S. 115]mals auf den Kirchhof geführt. Die Dame verfolgte indessen langsam und allein den Weg in’s Dorf.

Die alte Frau Kunze, die aber auch, seit wir sie zum letzten Mal gesehen, ordentlich eingeschrumpft und vertrocknet schien, stand gerade in der Thür, als der Fremde das Haus betrat.

„Ja du lieber Gott“, sagte sie, auf seine Frage nach dem alten Mann, „da ist er, soviel steht fest, und fort kann er nicht mehr, aber schlecht ist’s ihm auch — hundeschlecht, und reden thut er auch nicht mehr, schon die letzten zwei Tage. Er kann’s nicht mehr lange machen, und es wird wohl bald wieder eine Stube hier im Quartier frei werden.“

„Und kann ich ihn sehen?“

„Ja, warum nicht, aber es ist nicht mehr viel an ihm zu sehen; ein Häufchen Unglück, weiter nichts; wenn Sie herein kommen wollen, ich will’s ihm sagen, daß Jemand da ist, der ihn sprechen möchte?“

Brenner war nicht so eigen; er fühlte sich allerdings entsetzlich elend, aber er nahm trotzdem Besuche an, unterbrach es doch die furchtbare Monotonie seines Lebens und brachte ihn vielleicht für kurze Zeit auf andere Gedanken.

Der junge Offizier betrat übrigens kaum das Gemach, als er auch rasch den sehr verschlimmerten Zu[S. 116]stand des Alten in seinen eingefallenen Wangen und hohlen Augen erkannte.

„Lieber Freund“, sagte er theilnehmend, „es thut mir wahrhaft leid, Sie so krank und matt zu finden, und ich will Sie nicht lange stören. Aber ich weiß auch Niemand weiter hier im Ort, um eine bestimmte Auskunft zu erlangen, und um die wollte ich Sie bitten.“

„Des Grabes wegen?“ sagte der Alte.

„Nein, der Tochter jener Frau wegen, die von hier fortgezogen sein soll“, lautete die Antwort. „Können Sie mir ihren genauen Namen und jetzigen Wohnort angeben?“

„Und weshalb?“ frug Brenner scheu und zurückhaltend.

„Es ist eine weitläufige Geschichte“, fuhr der Offizier fort, „die Sie wohl ermüden würde anzuhören; aber so viel kann ich Sie versichern, daß es dem jungen Mädchen keinenfalls zum Schaden gereichen soll; ja es ist möglich, daß wir durch sie auf die Spur eines lange verlorenen Theils unserer Familie kommen.“

„Durch die Falleri?“

Wie heißt sie?“

[S. 117]

„Wie ihre Mutter — Valerie, aber hier im Haus und im Dorf nannten sie sie nur die Falleri.“

„Und wo hält sie sich jetzt auf? — wie geht es ihr?“

Der Alte war todtenbleich geworden, seine Lippen zitterten, seine ganze Gestalt bebte, und er fiel auf sein Kissen zurück, wo er mehrere Minuten regungslos liegen blieb. Der junge Mann hatte ihn indeß besorgt betrachtet, wenn er sich auch die Aufregung des Kranken, bei der einfachen Frage, nicht erklären konnte. Dessen sonst so kräftige Natur siegte aber bald wieder, über die augenblickliche Schwäche des Körpers wenigstens; und sich mühsam aufrichtend sah er den jungen Fremden zuerst wie erstaunt an, als ob er sich nicht gleich besinnen könne, was ihn hierher geführt; doch kehrte die Erinnerung bald zurück und mit ihr das Gefühl seiner Schwäche, seines Leidens.

„Es geht mit mir zu Ende“, sagte er leise, „ich merk’ es wohl, es kann nicht mehr lange dauern, und vielleicht ist’s gut, daß Sie hierher gekommen sind. Ich habe den Geistlichen schon einmal rufen lassen, aber — ich mag die Pfaffen nicht leiden; sie stecken voller Redensarten und Sprüche und beweisen Einem aus der Bibel, daß schwarz roth und roth gelb ist.“

„Aber Sie haben wahrscheinlich meine Frage nicht[S. 118] verstanden“, unterbrach ihn der Offizier, der natürlich glauben mußte, das Gefühl seiner Krankheit habe ihn alles Andere vergessen lassen; „ich wollte gern wissen, wo jenes junge Mädchen —“

„Ich weiß, was Sie fragen wollen“, winkte ihm der Alte mit der Hand, „und Sie sollen Antwort haben. Sie sitzt im Zuchthaus.“

„Im Zuchthaus?“ rief der Fremde, erschreckt von dem Kasten emporspringend, auf dem er neben dem Bett des Kranken gesessen — „was um Gottes willen ist da vorgefallen?“

„Bleiben Sie auf Ihrem Platz“, winkte der alte Mann; „ich kann nicht laut reden — Sie sollen Alles erfahren — ich muß Jemanden haben, dem ich es erzählen, dem ich mein Herz ausschütten kann, ehe ich sterbe, und ich glaube, es — ist die höchste Zeit dazu.“

„Aber was, um Gottes willen, hat die Unglückliche verbrochen?“ rief der junge Offizier.

„Hören Sie zu — Sie erfahren Alles zusammen“, sagte der Alte, „vielleicht — läßt sich auch noch Alles wieder gut machen — Vieles wenigstens, denn Alles doch nicht mehr. — Also um mit dem Kind, der Falleri, zu beginnen: ihre Mutter, die eigentlich nicht recht hierher paßte und jedenfalls einmal früher vornehm und reich gewesen sein mußte, aber herunter gekommen[S. 119] und wahrscheinlich zu stolz war, das die vornehme Sippe merken zu lassen, zog hier ins Dorf und lebte von ihrer Hände Arbeit. Weshalb sie so oft auf den Kirchhof ging und das Grab mit dem spitzen Stein besuchte, weiß ich nicht; sie hat’s Niemandem erzählt, auch nichts über sich und ihre frühere Zeit. Da starb ihr Knabe, und von der Stunde an war sie ebenfalls reif. Sie starb und hinterließ nichts als ein paar Sachen, die verkauft werden mußten, um die Begräbnißkosten zu decken — ein Leinentuch war darunter mit ein paar Buchstaben und einer Krone darüber.“

„Was für Buchstaben?“ rief der junge Mann rasch.

„Wer hat sich darum gekümmert“, seufzte der Alte — „ich dächte, ich hätte einmal gehört, es wäre ein F. dabei gewesen, aber ich weiß es nicht mehr. Das einzige Erinnerungszeichen an die Zeit trägt die Falleri noch um den Hals — ein Kreuzchen und den Trauring ihrer Mutter selig.“

„Ist das gewiß?“

„Wenn sie ihn ihr nicht im Zuchthaus weggenommen haben“, nickte Brenner — „aber lassen Sie mich reden, oder ich komme nicht zu Ende. Die Falleri kam ins Gemeinde-Armenhaus. Armes Kind! Sie[S. 120] war hier wie verrathen und verkauft, und hat eine böse Zeit mit durchgemacht — aber nachher wurd’s noch schlimmer. Wie sie confirmirt worden, mußte sie natürlich in Dienst, und wie sie erst zu der Schulzin kam, hatte sie die Hölle auf Erden —“

„Armes, armes Kind!“

„Ja wohl, armes Kind! Ich mochte sie leiden und half ihr einmal aus der Verlegenheit, als sie ihr den Schmuck wegnehmen wollten, um ihr eine lappige Fahne zur Firmelung zu kaufen — und wie dankbar war sie mir dafür!“

Er schwieg eine Weile still, um wieder Athem zu schöpfen, denn das Reden griff ihn an, und fuhr endlich, leiser als vorher, fort:

„Ich hab’ auch ein Hundeleben geführt, so lange ich denken kann — ich weiß gar nicht, wie einem Menschen zu Muthe ist, den Jemand lieb hat, und herumgestoßen und getreten haben sie mich aus einer Ecke in die andere, bis ich endlich das wurde, was ich auch geblieben bin bis zur heutigen Stunde — ein Lump. Das Kind machte zuerst einen anderen Menschen aus mir, denn es hatte mich lieb, und von da an war’s, wenn ich sie nur mit Augen sah, als ob es immer und ewig dunkel um mich her gewesen wäre, und nun auf einmal hell würde. — Und weshalb war sie dankbar[S. 121] gegen mich? Lieber Gott, was hatte ich denn gethan? — weiter nichts als ein paar geräucherte Schinken gestohlen und von dem Ertrag ihren Confirmationsrock bezahlt! — Von da an wachte ich über sie, und das Herz drehte mir’s im Leib herum, wenn ich sah, wie sie behandelt wurde, wie sie von Tag zu Tag mehr abmagerte und elender und jammervoller aussah, und ich ihr doch nicht helfen konnte. Da kam das Aergste. Die Falleri hielt’s selber nicht mehr aus, wenn auch sonst kein Mucks, keine Klage über ihre Lippen kam. Sie lachte nie, wie andere Kinder, aber sie weinte auch nie, und was sie trug, trug sie still mit sich herum. Sie kündigte den Dienst beim Schulzen, und ich war schon lange mit mir einig, wie ich alles Das, was sie dort ausgestanden, wett machen wollte. Ich legte mich ins Bett und that, als ob ich sterbenskrank wäre, und wollte so etwa eine Woche liegen bleiben. Da kam eines Abends die Falleri herüber, um Abschied zu nehmen, das Gesicht zerschlagen, das arme schwache Kind mißhandelt und als Diebin aus dem Haus gejagt. So wanderte sie allein in die Nacht hinaus in die Stadt, um einen neuen Dienst zu suchen, und nun kocht’s auch bei mir über. Wie ich Alles im Bett wußte — denn der Nachtwächter schlief regelmäßig, bei schönem Wetter, unter der Linde — kroch ich leise[S. 122] aus meinem Fenster, ein paar Päckchen Schwefelhölzer hatte ich mir schon verschafft, schlich durch’s Dorf, machte dem Schulzen hinten in seiner Scheune ein hübsches Feuer an, und war richtig wieder in meinem Bett, ehe sie die Flamme spürten und Lärm machen konnten. Natürlich konnte kein Mensch glauben, ich wär’s gewesen, denn ich war ja nicht einmal im Stande aufzustehen, viel weniger ins Dorf zu laufen.“

„Und da fiel der Verdacht auf die Unglückliche“, rief der Offizier erschreckt.

„Hören Sie weiter“, sagte der Mann. „Des Schulzen Hof brannte nieder und noch ein paar andere Buden — wenn der Teufel erst einmal die Hand im Spiele hat, läßt er sich auch sein Vergnügen nicht so bald wieder stören. Wer war’s gewesen? Ich lachte schon ins Fäustchen. Da plötzlich brachten sie mir die Nachricht, sie hätten die Falleri, als des Brandes verdächtig, aufgegriffen. — Bah, dacht’ ich, die müssen sie auch wieder loslassen, denn beweisen konnten sie ihr nichts — wie ich aber nach einiger Zeit höre, sie hätt’s eingestanden, da litt’s mich nicht länger im Bett. — Ich wurde wieder gesund und machte mich hinüber, um selber mit ihr zu sprechen, denn meinetwegen sollte die Falleri wahrhaftig nicht ins Zuchthaus. Aber was war’s? Sie blieb dabei, sie hätt’s[S. 123] gethan. Wie sie von hier fort wäre, hätt’ sie das Feuer angelegt, und wolle nun ihre Strafe leiden. Was sollt’ ich jetzt thun? — Möglich war’s — gereizt hatten sie das arme Ding genug, um ein ganzes Dorf nieder zu brennen, und wenn ich es ihr auch bis dahin nicht zugetraut, sie konnt’s gethan und fast an derselben Stelle Feuer angelegt haben wie ich selber, hatt’ ich mich doch auch nicht dort aufgehalten, und war wie ein Donnerwetter wieder in meinen Bau gerutscht. Was sollt’ ich jetzt thun? Ich rieth ihr, die Aussage zu widerrufen, aber sie wollt’s nicht — sollt’ ich mich jetzt auch angeben, was hätt’s ihr genutzt? — dann hätten sie uns nur Beide zusammen eingespunnt. Ein merkwürdiges Zusammentreffen war’s, aber doch immer möglich, und da ich ihr nicht helfen konnte, ließ ich die Sache eben gehen.“

„Und nun?“

„Damals war ich noch gesund“, fuhr der Alte fort, „und dachte auch, die Falleri hätt’s eigentlich im Zuchthaus noch besser als draußen, wo sie von aller Welt herumgestoßen und mißhandelt wurde. Jetzt aber, wo’s zu Ende geht, und ich die elende Zeit hatte, zu grübeln und immer nur zu grübeln, da sind mir andere Gedanken gekommen. Die Falleri hat’s nicht gethan — sie kann’s nicht gethan haben, und wegen[S. 124] meiner sitzt sie jetzt hinter den eisernen Gittern und spinnt Wolle.“

„Und wenn sie es nun doch mit gewesen wäre?“

„Nein, — es ist nicht möglich, sag’ ich“, rief der Alte, „gleich auf frischer That ja, aber nicht mehr, wo sie erst bei ihrer Mutter selig auf dem Kirchhof gewesen — und dann hätten zwei Stunden darüber vergehen müssen, ehe es angebrannt wäre, und das thut’s nicht draußen in der Luft — entweder es geht an oder aus. Sie kann’s versucht haben, aber ihres ist nicht angegangen, und der Brandstifter liegt hier und härmt sich die Seele aus dem Leibe. — So — jetzt ist’s heraus — jetzt machen Sie, daß Sie in die Stadt zum Assessor Buntenfeld kommen — Dem erzählen Sie die Geschichte — Der bringt’s wieder in Ordnung, damit ich ruhig sterben kann. Wenn sie mich dann auch noch vorher ins Zuchthaus transportiren, was thut’s — dort hab’ ich jedenfalls bessere Pflege als hier in dem öden Nest, und jetzt ist mir auch das Herz wieder leicht, da ich’s ausschütten konnte, was mir darauf gelegen die langen Jahre.“

„Und habt Ihr einen Arzt hier?“

„Ja — einen, wovor Einen Gott bewahren soll — einen Blutegel, der Alles mit Schröpfköpfen und Aderlassen curirt, und wenn sich Einer über Hals[S. 125]schmerzen beklagt, zieht er ihm einen Zahn aus und sagt: das hilft.“

„Und seid Ihr bereit, das, was Ihr mir gesagt, in Gegenwart des Assessors zu wiederholen?“ frug der junge Mann, von seinem Sitz aufspringend. Der Alte zögerte einen Augenblick mit der Antwort; endlich aber sagte er:

„Wenn’s die Falleri frei macht, und wenn’s sein muß — ja in Gottes Namen — den Hals können sie mir nicht abschneiden, und ich muß mit der Geschichte ins Reine kommen; die andern will ich schon selber vor’m lieben Gott verantworten, denn ich bin eigentlich nie ein böser Mensch gewesen, wenn sie mich auch manchmal gern dazu gemacht hätten.“

Der Soldat hatte schon lange seine Mütze aufgegriffen, aber sich noch einmal in dem wirklich trostlos öden Gemach umschauend, sagte er:

„Wie ich sehe, fehlt es Euch hier an jeder Bequemlichkeit — es ist möglich, daß Ihr uns einen großen Dienst geleistet habt; daß wir dadurch auf die Spur einer bis dahin verloren Geglaubten kommen, und ich — möchte nicht, daß es Euch bis dahin an etwas fehle. Ich werde mit dem Assessor heraus kommen, aber auch einen ordentlichen Arzt bringen, und hier — ist indes[S. 126]sen Geld, damit Ihr Euch anschaffen könnt, was ihr gerade nothwendig braucht.“

„Du lieber Gott“, sagte Brenner ordentlich erschreckt, als ihm der Fremde zwei Goldstücke auf das Bett warf — „das ist zu viel, das — das kann ich gar nicht mehr durchbringen.“ — Ehe er ihm aber nur ordentlich danken konnte, war der junge Mann schon zum Zimmer hinaus und auf seinem Weg zum Gasthof, wo er die indessen langsam vorangegangene alte Dame noch einholte und mit ihr im eifrigen Gespräch auf- und abschritt, bis der Kutscher wieder eingespannt hatte, und jetzt im scharfen Trab der Stadt zufuhr.

Neuntes Kapitel.
Der Besuch im Zuchthaus.

Der junge Offizier schien auch wirklich nicht viel Zeit versäumt zu haben, denn noch am nämlichen Abend, lange vor Dunkelwerden, rasselte eine Extrapost durch Osterhagen durch, hielt sich aber gar nicht am Gasthof auf, obgleich der Postillon einen sehnsüchtigen Blick hinüber warf, sondern passirte im scharfen Trabe das Dorf und hielt erst vor dem Gemeinde-Armenhaus, sehr zum Erstaunen der Dorfbewohner und Insassen des Hauses selber — nur nicht des alten[S. 127] Brenner, der recht gut wußte, was das zu bedeuten habe.

In dem Fond des Wagens saß der Medizinalrath aus der Stadt mit dem alten Assessor Buntenfeld, auf dem Rücksitz ein junger Beamter mit einem Stoß Papier und seinem Schreibzeug in der Tasche, und der Offizier.

Wie der Wagen hielt, wollte die alte Frau Kunze die Honneurs machen, wurde aber gleich bei Seite geschoben und beordert, die Herren nicht zu stören, die sich dann auch ohne Weiteres in das Zimmer des Kranken begaben.

Der Arzt, der ihn vor allen Dingen untersuchte, schüttelte allerdings mit dem Kopf und meinte: der Kranke sei falsch behandelt worden, denn Schröpfköpfe würden ihm allerdings wenig helfen, da er an einem schon sehr vorgeschrittenen Magenkrebs leide. Brenner aber lachte bitter vor sich hin und sagte:

„Falsch bin ich nicht behandelt worden, Herr Doctor, mein ganzes Leben lang, aber schlecht; das war der Fehler — Den Taschenkrebs habe ich schon von Jugend auf gehabt, und daß sich der endlich in den Magen gefressen hat, ist eben kein großes Wunder — das Quartier stand gewöhnlich leer. Aber desto besser, wenn’s zu Ende geht, so hört die Schinderei doch ein[S. 128]mal auf, denn ich hab’s gerade lange genug ertragen.“

„Und Ihr habt mir etwas mitzutheilen, Brenner?“ frug der Assessor, der die Zeit nicht gern versäumen wollte. „Können wir damit beginnen?“

„Setzen Sie sich dahin, Herr Assessor“, sagte der Alte; „einen Tisch haben wir hier freilich nicht — in der Küche steht nur einer, doch den bringen wir nicht durch die Thür — der Herr Aktuar muß auf den Knien schreiben — ich werde auch nicht weitläufig sein, denn was mein früheres Leben betrifft, so geht das Niemanden mehr etwas an.“

„Und Ihr wollt die Wahrheit sprechen?“

„Mir ist jetzt nicht mehr wie Lügen zu Muthe, Herr Assessor — setzen Sie sich nur, Sie sollen die ganze Geschichte hören, und der Herr Doctor mag als Zeuge dabei bleiben, damit Sie’s genau wissen und die arme Falleri wieder frei kommt.“

Der Actuar hatte sich bald einen Platz zum Schreiben hergerichtet, und das eigentliche Verhör begann jetzt. Der Assessor brauchte aber kaum eine Frage zu thun, denn der Alte, der schon genau zu wissen schien, welche Punkte er hervorheben mußte, hielt sich nur eine Weile bei der Art und Weise auf, wie das Kind hier in Osterhagen behandelt sei — gewissermaßen um[S. 129] sich selber zu rechtfertigen, daß er es eine Zeit lang für möglich gehalten, sie könne es gethan haben, und ging dann auf die Umstände jenes Abends über, die er mit klaren einfachen Worten schilderte und nur zum Schluß hervorhob, daß, wenn die Falleri wirklich dieselbe Absicht gehabt habe — was er aber vor Gott nicht glaube — so könne ihr Feuer gar nicht angegangen, sondern müsse wieder verlöscht sein. Er aber sei seiner Sache gewiß — er wäre nicht eher fortgegangen, bis er im Stroh die helle Flamme gesehen habe, und die hätte denn auch nicht lange auf sich warten lassen, weiter zu fressen, denn er sei kaum wieder in sein Fenster geklettert und habe sich aufs Bett geworfen, als der Lärm schon losgegangen wäre.

Der alte Assessor sprach wenig hinein — unterwegs schon hatte ihm der Fremde die Vermuthungen mitgetheilt, die er über die früheren Schicksale von Valerie’s Mutter und deren Abstammung hege, und die erst zur Gewißheit werden konnten, wenn man das unglückliche, junge Mädchen selber sprach und den Schmuck sehen konnte, den sie noch von ihrer Mutter bewahrte. Noch hatte man allerdings keine Gewißheit, wenn auch starke Gründe zu der Vermuthung, denn Valerie war allerdings der Name der Verschollenen gewesen, und Edmund der Vorname ihres Gat[S. 130]ten; der aber dort unter dem spitzen Stein begraben lag, wäre der Vater der Verstorbenen gewesen, an dessen Grabe diese so oft gesessen.

Der Kranke hatte durch die lange Erzählung aber seine Kräfte vollständig erschöpft, und der Arzt rieth ihm jetzt Ruhe an, versprach ihm auch, da der Fremde für alle Kosten einstand, sowie sie nach der Stadt zurückgekehrt wären, die nöthigen Arzneien und Stärkungen wie auch eine zuverlässige Person heraus zu senden, die ihn pflegen solle. Transportirt konnte er natürlich in dem Zustand nicht werden, und man mußte abwarten, wie sich die Krankheit entwickelte.

In Osterhagen steckten die Leute allerdings die Köpfe zusammen, was da vorgefallen sein könne, und weshalb eine Extrapost vor dem Gemeinde-Armenhause und nicht vor der Thür des neuen Schulzen oder wenigstens vor dem „Gasthof“ gehalten habe. Die Frau Kunzen wurde auch von verschiedenen Nachbarinnen auf das Schärfste inquirirt, wußte aber leider gar nichts anzugeben, als daß die fremden Herren bei dem Brenner drin gewesen und lange mit ihm gesprochen hätten. Allerdings gestand sie den Versuch ein, „etwas Bestimmteres“ zu erhorchen; so oft sie aber der Thüre nur nahe kam, öffnete der Offi[S. 131]zier dieselbe und sah heraus, und sie mußte dann jedesmal wieder in die Küche fahren.

Uebrigens wurde die Aufmerksamkeit der Bewohner von Osterhagen an dem Tage sehr getheilt, denn noch spät gegen Abend traf ein anderer Fremder ein, der von der Frau des verstorbenen Schulzen eine ziemlich bedeutende Summe forderte und fällige Wechsel dafür in Händen hielt. Natürlich hatte sie nicht bezahlen können und der Fremde dann erklärt, daß er sie verklagen und das Gut verkaufen lassen würde. Wie ein Lauffeuer ging auch das Gerücht durch das Dorf: „der Schulzenhof,“ wie das Gut immer noch hieß, „käme unter den Hammer“ — aber bedauert wurde die Frau deshalb von Niemand. Sie hatte sich zu wenig Freunde dafür gemacht.

Indessen bereitete sich aber in der Stadt eine andere Scene vor, denn vor Aufregung zitternd, hatte die alte Dame, die in Begleitung des Offiziers den Kirchhof zu Osterhagen besucht, die Rückkehr der kleinen Expedition erwartet. Für diesen Abend war freilich nichts weiter zu thun, denn wenn auch das Zuchthaus selber unmittelbar an der Stadt lag, war der Tag doch schon zu weit vorgerückt, um heute noch Schritte zu einer weiteren Untersuchung thun zu können. Der nächste Morgen mußte abgewartet[S. 132] werden; dann aber versprach auch der alte Assessor, der jetzt selber anfing sich für die Sache zu interessiren, mit ihr hinauf zu fahren und die Erledigung der Angelegenheit so viel als irgend möglich zu beeilen — es verstand sich von selbst, daß sie dann noch immer langsam genug vorwärts ging.

Vor allen Dingen war es dort nöthig, als sie etwa um zehn Uhr das unheimliche Gebäude erreichten, das goldene Kreuz und den Ring zu sehen, den die Gefangene trug, oder wenigstens getragen hatte, denn des Assessors Vermuthung bestätigte sich: er war ihr, als sie eingekleidet wurde, abgenommen worden.

Hier aber ward die Vermuthung zur Gewißheit. Ein ganz ähnliches Kreuz trug die Dame selber an ihrem Hals, denn für drei Geschwister waren damals solche Kreuze angefertigt worden, und zwar eines mit dem Buchstaben V., eines mit M. und eines mit L. Die verlorene oder spurlos verschwundene Schwester hieß Valerie, und der Trauring trug außerdem das Datum und die Jahreszahl ihrer Verheirathung mit dem Gatten.

„Und was hat die Gefangene gesagt, als ihr die beiden Dinge abgenommen wurden?“ frug der alte Assessor, den diese Sache besonders zu interessiren schien.

„Lieber Gott, was wollte sie machen,“ erwiderte[S. 133] achselzuckend der Schließer, der die Gegenstände gerade vom Herrn Director heruntergeholt hatte, „widersetzen durfte sie sich doch nicht, und anfangs war es freilich, als ob sie sie nicht hergeben wollte; aber auf einmal stand sie ganz still, nahm das schwarze Band ab, das ihr um den Hals hing, küßte das Kreuzchen und den Ring, und legte beides dann, ohne ein Wort weiter zu sagen, oder eine Thräne darum zu vergießen, auf den Tisch. — Derlei Leute machen sich aus so was nicht viel.“

„Und wie hat sich die Gefangene bis jetzt betragen?“

„Gegen ihr Betragen läßt sich nichts einwenden,“ meinte der Mann, „sie ist die Beste von Allen, und die Stillste und Fleißigste — der Herr Director sind auch sehr mit ihr zufrieden.“

Der „Herr Director“ kam jetzt selber und schien es nicht besonders gerne zu sehen, daß man eine von „seinen“ Gefangenen sprechen wolle, konnte es aber auch nicht gut einem Criminalbeamten, der noch dazu im speciellen Auftrag der obersten Justizbehörde in —* kam, abschlagen, und gab den Befehl, die Gefangene von ihrer Arbeit abzurufen und hierher zu bringen.

In dem kleinen Empfangszimmer, das aber ebenfalls mit starken, eisernen Stäben versehen war, saß die alte Dame, neben ihr und sie unterstützend stand[S. 134] der Offizier, und vor ihnen, um die ganze Verhandlung zu leiten, der alte Assessor.

Als das junge Mädchen das Zimmer betrat, blieb sie, wahrscheinlich einen weiteren Befehl erwartend, mit niedergeschlagenen Augen an der Thür stehen. Sie sah nicht allein bleich aus, sondern hatte besonders jene ungesunde, fahle Gesichtsfarbe, die, von der dumpfen Kerkerluft herrührend, den Gefangenen eigen ist.

Der Director hatte sein Buch neben sich liegen, in dem er den Namen nachsah, den die Gefangene früher geführt hatte.

„Edmunden,“ sagte er, „komm näher; hier ist ein Herr, der ein paar Fragen an Dich richten will.“

Das Mädchen gehorchte dem Befehl, ohne aber noch aufzusehen; fast wie mechanisch bewegte sie sich einige Schritte vor und blieb dann wieder stehen, um das Weitere zu erwarten.

„Kennst Du mich noch, Valerie?“ sagte da der alte Assessor freundlich.

Das junge Mädchen, das den Beamten jedenfalls an der Stimme erkannt haben mußte, denn sie hob den Blick nicht, sagte leise:

„Ja.“

„Ich habe Dir einen Auftrag auszurichten,“ fuhr[S. 135] der Assessor fort, „einen Gruß von einem alten Bekannten, vom alten Brenner aus dem Gemeinde-Armenhaus zu Osterhagen.“

Eine leichte Röthe zuckte über Valerie’s Gesicht, das aber weiter keine Bewegung verrieth; auch diese etwas dunklere Färbung verschwand bald wieder und sie erwiderte nur leise:

„Ich danke Ihnen vielmals.“

„Hm,“ meinte der Assessor, der erwartet haben mochte, daß sie ihn nach dem Alten weiter fragen würde; „Du scheinst Dich für Osterhagen nicht mehr besonders zu interessiren. Der Alte ist aber recht krank — er liegt am Sterben und hat mich neulich rufen lassen und mir etwas vertraut.“

Die Gefangene hörte jedenfalls die Worte, schien aber nicht den geringsten Antheil daran zu nehmen. Sie nickte nur schweigend mit dem Kopf und erwartete, was ihr weiter gesagt werden würde. Was lag auch daran, wenn ein Mensch krank wurde und starb — Der hatte es überstanden und wurde in die stille Erde gelegt. Wie oft hatte sie sich selber schon danach gesehnt! Der Assessor kam aber dadurch, während die alte Dame das junge Mädchen mit steigender Spannung betrachtete, etwas außer Fassung und mußte wieder ganz von vorn anfangen.

[S. 136]

„Ja, mein Kind, dem alten Brenner geht’s recht schlecht,“ sagte er, „und, wie er glaubt, auch wohl mit ihm zu Ende. Da hat er denn vor seinem Tode noch ein Bekenntniß abgelegt, das Dich auch mit betrifft und nahe angeht.“

„Mich?“ sagte Valerie und hob zum ersten Mal das große, schwarze Auge empor. Als aber ihr Blick zugleich dabei auf die Dame fiel, senkte sie ihn wieder zu Boden, und glühende Röthe flog für einen Moment über ihre Züge. War es doch das erste Mal wieder seit ihrer Verhaftung, daß sie sich in Gegenwart einer Frau befand, die sie an das Bild ihrer eigenen Mutter aus früherer Zeit erinnerte. Warum führte man sie nur hierher? weshalb ließ man sie nicht in ihrer Zelle? Sie vergaß ganz, daß der Assessor zu ihr gesprochen und ihr gesagt hatte, der alte Brenner habe ein Geständniß gemacht, welches auch sie angehe und betreffe. Der Assessor aber, der wohl merkte, wie theilnahmlos die Gefangene seinen Bericht anhöre, fuhr fort:

„Er hat nämlich gestanden, daß nicht Du, sondern er das Feuer in Osterhagen angelegt habe, und ich frage Dich jetzt, weshalb Du Dich damals als Thäterin eines Verbrechens angeklagt, das Du gar nicht begangen zu haben scheinst?“

[S. 137]

„Der alte Brenner?“ frug aber plötzlich Valerie, und in dem Moment war jedes andere Bild aus ihrem Herzen verschwunden, und nur die Erinnerung an jenen Abend tauchte hell und klar darin auf. — „Der alte Brenner hat den Schulzenhof angezündet? Der war ja krank und lag in seinem Bett.“

„Krank gestellt hat er sich, ja, aber er war vollkommen gesund und munter, und weil die Leute nicht wußten, daß er sich regen könnte, fiel auch kein Verdacht auf ihn. Man glaubte auch deshalb damals, daß Du die That begangen hättest, weil Du von des Schulzen Frau so schlecht behandelt worden.“

Der Assessor schwieg, weil er meinte, daß die Gefangene jetzt etwas darauf erwidern würde; aber er hatte sich abermals geirrt. Valerie entgegnete keine Silbe und nahm auch die Augen nicht mehr vom Boden empor.

„Beantworte mir die Frage, Kind,“ sagte da der Assessor endlich; „wie kommst Du dazu, daß Du Dich damals zu der That bekanntest? Ist es denn nicht besser, frei zu sein, als in einer solchen Anstalt eingesperrt zu bleiben?“

„Ich hab’ es gethan,“ flüsterte da Valerie leise — „lassen Sie mich wieder fort zu meiner Arbeit — der alte Brenner war es nicht.“

[S. 138]

„Valerie!“ rief da plötzlich die Dame, die sich nicht mehr halten konnte, indem sie ihre Arme ausbreitete, auf das erschreckt zu ihr emporschauende Mädchen zuflog und sie mit wilder Heftigkeit umschlang — „unglückliches Kind meiner verlorenen, armen Schwester — o, sprich die Wahrheit — sprich die Wahrheit — hast Du es gethan?“

Valerie duldete schweigend die Umarmung; sie war womöglich noch bleicher geworden als vorher, und stand wie in einem halben Traum. Seit ihrer Mutter Tode, die langen langen Jahre hindurch, hatte sie Niemand an das Herz gedrückt und geküßt — Niemand sie liebend umfangen — wachte sie denn oder träumte sie — die fremde Frau hatte gesagt: Kind meiner verlorenen Schwester! War denn das — —?

Leise wand sie sich aus ihrem Arme, drückte sie langsam von sich, und sie mit den großen, dunklen Augen anschauend, flüsterte sie:

„Sind Sie denn — sind Sie denn die Schwester — meiner Mutter?“

„Ja, Valerie — ich bin es,“ rief die Fremde — „ich bin Marie, Deiner seligen Mutter Schwester, Deine Tante. Oh sprich zu mir, Kind — denke, daß mich die Angst um Dich verzehrt — bist Du es gewesen?“

Valerie hatte, während die Frau sprach, die Augen[S. 139] von ihr gewendet und lauschte dabei wie auf ein fernes Geräusch. Ihr Antlitz verrieth dabei keine Bewegung als das des Staunens, der Ueberraschung. Da plötzlich, als jene schwieg, rief sie, alles Andere um sich her vergessend, aus:

„Das waren die nämlichen Laute, das war die Stimme meiner Mutter — oh meine Mutter!“ und mit wilder Heftigkeit zu den Füßen ihrer Tante niederfallend, umschlang sie deren Knie, und Thränen — lindernde Thränen zum ersten Mal wieder seit langen, trostlosen Jahren entstürzten ihren Augen.

„Meine Valerie! Mein Kind,“ rief die Fremde bewegt, indem sie sich zu ihr niederbog. „Und so muß ich Dich wieder finden — oh sage mir nur, ob Du das Schreckliche gethan.“

„Nein, nein, nein, nein!“ schluchzte aber das Kind, noch immer ihr Antlitz in ihrem Kleid bergend; „nie, nie habe ich ein Unrecht gethan — es war die erste Lüge, die über meine Lippen kam — aber wo wollte ich hin? — Alles stieß mich fort von sich — Niemand, Niemand auf der weiten Erde hatte mich lieb, und ich — wollte sterben.“

„Oh, Gott sei ewig Lob und Dank!“ rief da unter Freudenthränen die fremde Dame, und neben Valerie zu Boden kniend, umschlang sie das zitternde Mädchen[S. 140] mit ihren Armen und küßte wieder und wieder ihr Haupt. Der alte Assessor aber nahm, ganz in Gedanken, eine Priese nach der anderen, und der Director sagte:

„Hm, das ist ja eine ganz wunderbare, höchst merkwürdige Geschichte und bedarf doch wohl noch einiger Aufklärung.“ Assessor Buntenfeld aber ging auf ihn zu, nahm ihn unter dem Arm und führte ihn ans Fenster, wo er lange und angelegentlich mit ihm sprach, so daß der alte Herr fortwährend vor Verwunderung dazu mit dem Kopf schüttelte. Eigentlich hatte der Assessor aber nur den Beiden Zeit geben wollen, sich wieder zu sammeln, und als er sich auf’s Neue nach ihnen umdrehte, saß die alte Dame auf dem Stuhl, den ihr der Neffe hingerückt, und hielt die neben ihr knieende Valerie fest und innig an sich gepreßt.

Der alte Assessor war übrigens ein praktischer Mann und wußte außerdem, daß Gefühlsäußerungen nirgends mehr am unrechten Platze sein konnten als in diesen Räumen. Es mußte etwas geschehen, denn eine Wiedererkennungsscene und einfache Betheuerung der Unschuld einer schon Verurtheilten konnte diese nicht so ohne Weiteres befreien.

Außerdem hatte die Scene jetzt auch lange genug gedauert, und der Director, ein reiner Formenmensch, wäre ihm am Ende ungeduldig geworden. Er rückte[S. 141] sich deshalb einen Stuhl zum Tisch, nahm von dem dort liegenden Papier und forderte dann Valerie auf, ihm jetzt mit klaren Worten die Erlebnisse jenes Abends zu schildern und dabei auf das Bestimmteste auszusprechen, ob sie sich noch jetzt des früher eingestandenen Verbrechens für schuldig bekenne, oder, wenn nicht, weshalb sie früher eine falsche Aussage gemacht. Er litt auch nicht, daß Valeriens Tante ein Wort hineinsprach — er wollte nichts als die einfache Erzählung der Verurtheilten, und die gab ihm auch Valerie mit so schlichten, einfachen Worten, aber so herzerschütternd zugleich in der schmucklosen Schilderung ihr früheren Lebens, ihres trostlosen Verlassenseins, aus welchem sie nur durch den Tod befreit zu werden hoffte, daß die Dame vor Schluchzen kaum dem Gang derselben folgen konnte, und selbst der Assessor wieder ein paar Mal nach der Dose greifen mußte.

Vor der Hand ließ sich nun allerdings weiter nichts in der Sache thun, denn der Director konnte natürlich keinen der Sträflinge, was auch immer seine eigene Ueberzeugung gewesen wäre, entlassen — aber sie war trotzdem in guten Händen, denn der alte Assessor versprach ihnen schon am nächsten Morgen alle nöthigen Papiere, und wenn er die ganze Nacht arbeiten sollte, mit denen sie dann in der Residenz die[S. 142] Freilassung der jedenfalls schuldlos gefangen Gehaltenen erwirken konnten.

Der Director war allerdings für seine Person noch nicht ganz überzeugt, und er meinte gegen den Assessor, es seien ihm in seiner Praxis schon ganz wunderbare Dinge vorgekommen, die er selber nicht glauben würde, wenn er sie nicht selber erlebt hätte. Aber der Justizminister oder das Ober-Appellationsgericht möchte entscheiden, und er wolle bis dahin dem jungen Mädchen ein besonderes Zimmer und bessere Kost geben, als die übrigen Gefangenen bekämen. Auch sollte sie die Zeit über von der Arbeit frei bleiben. Einen weiteren Verkehr mit ihren Verwandten, bis er genaue Instructionen habe, weigerte er sich aber zu gestatten. Das erlaubte ihm sein Dienst und seine Pflicht nicht, und nur die erst erwähnte Vergünstigung glaubte er, unter den bestehenden Verhältnissen verantworten zu können.

Dabei mußte es natürlich vor der Hand bleiben, und wie schwer sich auch die Fremde jetzt gerade von dem kaum wiedergefundenen Kinde trennte, so geschah es doch in der frohen Hoffnung, die Unglückliche bald, recht bald wieder dem Leben, der Freiheit zurückgegeben zu sehen. Immerhin vergingen indeß noch volle drei Wochen, bis alle nöthigen Wege eingeschla[S. 143]gen, alle nöthigen Formen beobachtet waren. Aber die Aussagen des alten, bis dahin gestorbenen Bänkelsängers waren zu klar gewesen, der Assessor versäumte außerdem nichts, die bedauernswerthen Schicksale des armen Mädchens hervor zu heben, und nach Ablauf der Zeit hielt ein geschlossener Wagen vor der Anstalt und rollte bald darauf, ein paar glückliche Herzen bergend, der Residenz wieder zu.

Zehntes Kapitel.
Schluß.

Fünf Jahre waren verflossen, als eine offene, sehr elegante Reisekalesche eines Tages wieder langsam durch Osterhagen fuhr. Wie damals, saß auch ein Husarenoffizier und eine Dame im Fond des Wagens, aber die Dame sah jung und blühend aus, und auf dem Rücksitz befand sich noch ein junges kräftiges Bauermädchen, mit einem prächtigen kleinen Burschen von etwa anderthalb Jahren auf dem Schooß.

Der Wagen fuhr aber nicht nach dem Kirchhof, der keine lieben Todten mehr barg, denn schon im vorigen Jahr waren unter Oberaufsicht des alten Assessors Buntenfeld drei Särge von dort ausgehoben, in dazu hergeschaffte bleierne Uebersärge gelegt, diese[S. 144] dann verlöthet und fortgefahren worden. Die Kalesche rollte nur geraden Weges zu dem Gemeinde-Armenhaus hinaus und hielt dort.

Eine in zerrissene Lumpen gekleidete Frau, mit verwilderten Haaren, das Gesicht aber aufgedunsen und roth, als ob die widerliche Gestalt dem Trunk ergeben wäre, saß davor und starrte die fremden Besucher mit ihren gläsernen Augen an.

Die junge Dame schrak zurück und schauderte zusammen.

„Um Gott, Edmund“, flüsterte sie dem Gatten zu, „das ist des Schulzen Frau — oh wie entsetzlich sie aussieht!“

„Das also ist die Dame“, nickte der Offizier; „die scheint denn allerdings schon auf Erden die Strafe für Alles erhalten zu haben, was sie an Dir, Du armes Herz, verübt: aber mit dieser Person wollen wir uns nicht aufhalten. Wie hieß die Frau, nach der Du fragen wolltest.“

„Kunze“, flüsterte seine Begleiterin.

„Lebt hier im Hause noch eine alte Frau Kunze?“ wandte sich jetzt der Fremde an die auf der Schwelle kauernde Gestalt.

„Hier im Haus?“ knurrte diese, mit einem tückischen Blick nach dem Frager — „hier im Haus lebt[S. 145] Niemand als ich — Alles ist todt, Alles begraben aus dem öden Nest, und wenn Sie mich besuchen wollen, so müssen Sie Nachmittags zum Kaffee kommen.“

„Aber die Frau mit den beiden Kindern“, rief Valerie erschreckt, „die kann doch nicht gestorben sein.“

„Nein“, lachte die Alte — „die ist blos verrückt geworden, und die Kinder sind in die Ziehe gegeben.“

„Großer allmächtiger Gott!“

„Ja, was hat der liebe Gott damit zu thun,“ höhnte die Halbtrunkene. „Wer hier im Hause wohnt, muß verrückt werden, und ich werde mich auch nächstens anmelden — reif bin ich schon.“

„Und wer hat die Kinder aufgenommen?“

„Wer? — nun die alte Deckern war albern genug dazu. Die quält sich jetzt mit den Bälgern herum, und hat selber kaum das liebe Brod.“

„Oh, laß uns hinfahren, Edmund“, bat die junge Frau — „nur fort von hier, denn mir schnürt es bei dem Anblick die Seele zu.“

„Gern, mein Herz, aber weißt Du, wo jene Frau wohnt?“

„Gleich dort hinüber — sie war die nächste Nachbarin meiner armen Mutter und immer lieb und freundlich gegen mich.“

„Was war sie?“ schrie die Frau an der Thür, bei[S. 146] den Worten aufmerksam werdend — „die Nachbarin Deiner Mutter — wie ist mir denn? — das Gesicht! Jesus, die Falleri!“

„Fort — fort!“ drängte die junge Frau, und der Postillon berührte die Pferde mit der Peitsche, daß sie rasch anzogen und der Wagen die Straßen hinabrollte. Hinter ihnen her aber fluchte die Halbtrunkene, raufte sich die Haare und warf sich dann in Wuth und Haß und Ingrimm auf den Boden nieder.

Der Postillon sah sich manchmal um, die Richtung angegeben zu bekommen, die er zu nehmen hatte, aber der Weg war nicht zu fehlen; er führte um das Dorf herum, der Stelle zu, wo zwei kleine Häuser nahe beisammen lagen.

Die alte Nachbarin wohnte aber nicht mehr in ihrem früheren, jetzt baufälligen Quartier, sondern war zur Miethe in die nämliche Wohnung gezogen, die früher Valeriens Mutter inne gehabt. Wie staunte freilich die arme, alte Frau, als die elegant gekleidete, jugendfrische Dame aus dem Wagen stieg, auf die in der Thür Stehende zuging, ihr weinend um den Hals fiel und sie küßte.

„Die Falleri!“ rief sie da plötzlich aus und schlug die Hände zusammen, „oh Du grundgütiger Gott, die Falleri! — und wie hübsch und groß Du geworden[S. 147] bist, Kind! — ach, wenn Dich Deine Mutter selig jetzt so sehen könnte, die würde eine Freude haben — und hat so so wenig auf der Welt gehabt!“ Die großen hellen Thränen liefen dabei der Frau über das gute alte Gesicht.

Auch Valerie weinte, als sie das Haus betrat und jetzt die Stätte sah, auf der sie mit ihrer guten Mutter so trübe — und doch auch wieder so frohe Tage verlebt. Dort hat ihr Stuhl — dort das Bett gestanden, in dem sie gestorben, und ihr armes Kind allein gelassen in der Welt — aber der Schmerz hatte das Bittere verloren, denn er löste sich ja in Thränen auf, und bald konnte sie wieder lächeln, als sie, ihren Knaben auf dem Arm, mit ihm durch die alten lieben Räume schritt.

Es sah hier freilich noch so ärmlich aus als früher, wenn auch lebendiger, denn die beiden Waisenzwillinge, die sie oft selber hatte pflegen helfen, sprangen munter hinter ihr drein, und jubelten über die Kleinigkeiten, die sie ihnen mitgebracht.

Aber Valerie hatte auch gelernt, wie weh Armuth thut, und wollte wenigstens in etwas an der alten Frau, die immer gut mit ihr und ihrer Mutter gewesen, den Dank abtragen, den sie ihrem neuen Leben schuldete. Die Frau bekam allerdings von der Ge[S. 148]meinde die nothwendigsten Auslagen für die ihrer Pflege übergebenen Kinder, die man jetzt nicht im Gemeindehaus lassen konnte, bezahlt, aber sie war selber zu arm, um Weiteres für sie zu thun, und Valerie versprach deshalb, für sie zu sorgen. Auch das Häuschen sollte der alten Nachbarin eigenthümlich gehören, und Assessor Buntenfeld, den sie nicht vergessen, bekam noch an dem nämlichen Tage Auftrag, es für sie anzukaufen.

Blitzesschnell hatte sich indeß im Dorf das Gerücht verbreitet, die Falleri, die Gemeinde-Waise, sei wieder zurückgekommen und eine vornehme Dame geworden. Daß sie unschuldig eingesperrt gewesen und der alte Brenner eigentlich das Feuer angelegt, wußte man schon lange. Aber es getraute sich Niemand hinaus zu ihr, denn Niemand im ganzen Dorfe wußte sich von Schuld rein, das arme hülflose Wesen damals nicht mit unterdrückt — nicht mit verachtet zu haben. Ja, als der Wagen endlich wieder durch das Dorf fuhr, und vor dem Hause des Schulzen hielt, in dessen Hände Valeriens Gatte jetzt eine Summe Geld legen wollte, die das vergüten solle, was das Dorf damals an Auslage für die Waise gehabt, weigerte sich der neue Schulze auf das Bestimmteste, das Geld zu nehmen — er sagte, er könne es vor seinem Gewissen[S. 149] nicht verantworten. Auch aus den benachbarten Häusern kam kein Mensch heraus, und nur scheu hinter den Fenstern lugten sie vor, um die „Falleri“ noch einmal in ihrem Staat zu sehen.

Erst als der Offizier das Geld als Geschenk für das Armenhaus deponirte, durfte und konnte es der Schulze nicht zurückweisen. Er lud auch jetzt die beiden Gatten ein, doch auszusteigen und in seinem Hause einen Imbiß einzunehmen, aber Valerie fühlte sich von dem scheuen, schuldbewußten Benehmen der Dorfbewohner so beengt, daß es sie drängte, wieder hinaus ins Freie — fort von den nur zu gut gekannten Häusern zu kommen.

Die Pferde zogen an; der leichte Wagen rollte durch das Dorf, und nur noch wie ein Schleier lag die Erinnerung an Osterhagen auf der Seele der schwer geprüften jungen Frau.

[S. 150]

Der Fuchsbau.

Verzierung

Erstes Kapitel.
Die Forstei im Spessart.

Oben im Spessart, an der nördlichen Abdachung desselben und ziemlich versteckt in einem wilden hochstämmigen Nadelholzwalde, lag eine alte Forstei, deren Insasse, der alte Förster Buschmann, schon lange um einen Gehülfen petitionirt hatte, weil ihm die Wilddieberei zu arg wurde und er’s in dem weiten und wilden Revier nicht mehr allein „ermachen“ konnte.

Ja petitioniren — das sollte Alles „kein Geld kosten“, wie er meinte, und dabei wurde das Gesindel immer dreister und stahl zuletzt an Wild mehr weg, als es gekostet haben würde, zwei Gehülfen anzustellen. Es kam und kam eben keiner, bis er zuletzt wild wurde und das Gesetz in seine eigene Hand nahm.

Alle Schliche und Wege kannte er, aus dem über Nacht draußen im Holz liegen machte er sich auch nichts, und Streusucher fanden bald nacheinander zwei[S. 151] übelberüchtigte junge Bursche aus dem nächsten Dorf erschossen auf einem der Waldpfade liegen und trugen sie zu Thal.

Jetzt kamen freilich die Gerichte auf die Beine; eine Untersuchung jagte die andere, und Buschmann wurde alle Augenblicke vorgefordert, um Auskunft über die Erschossenen zu geben — aber was wußte er davon? Er stak allein da auf seiner Forstei im Walde, überall konnte er natürlich nicht sein, und wenn sich das Wilderergesindel unter einander selber todtschoß — ei, dann wohl bekomm’s: er hatte nichts dagegen. Wissen thue er übrigens nichts von der ganzen Geschichte, und da er vergebens und immer wieder vergebens Hülfe von der oberen Forstverwaltung erbeten, aber nie auch nur einmal eine Antwort erhalten habe, so müssen sie es sich eben jetzt gefallen lassen, wenn es Mord und Todtschlag auf dem Revier gäbe.

Das half. Schon in nächster Woche wurde nicht allein ein aus drei Schützen bestehender Forstschutz in das Revier gelegt, sondern eines Sonnabend Abends traf auch ein junger kräftiger Forstgehülfe auf der Forstei ein, gab sein Einführungsschreiben ab und wurde von dem alten Förster auf das Herzlichste empfangen.

Bis jetzt hatte Buschmann mit seiner „Alten“, da[S. 152] ihre Ehe kinderlos geblieben, hier allein die langen Jahre gewirthschaftet. Nur eine alte Magd war noch im Hause, die die Küche und ein paar Kühe besorgte, und zwei Kreiser oder Forstläufer schliefen ebenfalls dort oben, wenn sie ihre Pflicht nicht zwang, auf irgend einem andern Punkt des Reviers zu übernachten. Daß das ein einsames Leben im Walde gewesen, läßt sich denken, besonders wenn draußen der Schnee seine weiße Decke über das Land breitete. Die beiden alten Leute hatten dann mit der Magd im Zimmer gesessen, der Förster seinen kurzen Pfeifenstummel im Mund, die Frauen am Spinnrocken, während oft stundenlang kein Laut, als das Schnurren der Räder, die Stille unterbrach.

Jetzt kam junges Leben dahinein, und der neue Forstgehülfe Bernhard Raischbach, der schon in Aschaffenburg, Würzburg und selbst in München gewesen, ja gar in den Alpen seine Lehrzeit bestanden, und sonst auch ein manierlicher Bursche und guter Leute Kind war, konnte von allem Möglichen erzählen und erzählte auch, und die alten Leute trugen ihn dafür auf Händen. Was ihm die alte Frau an den Augen absehen konnte, that sie ihm, und besserer Kaffee war noch nicht in der Forstei gebraut, so lange sie stand, als seit der junge Raischbach dort eingezogen. Ja sogar ein Fäß[S. 153]chen Bier wurde angeschrotet — und zwar Lagerbier, kein einfaches — damit er nicht versucht werden sollte, Abends in das allerdings immer noch gut anderthalb Stunden entfernte Wirthshaus hinabzusteigen — was er freilich auch nur sehr selten that. Der Hinweg ging noch — aber der Rückweg durch den stockdunklen Wald und über die rauhen Wege war nichts weniger als angenehm.

Auch draußen im Wald erwies sich der junge Forstgehülfe bald außerordentlich brauchbar und kannte seine Pflicht so genau, daß der alte Förster eigentlich nichts zu thun hatte, als ihm nur die verschiedenen Schläge und Pflanzorte, wie auch besonders die Grenzen zu zeigen, damit er nicht einmal aus Versehen in das Hessische hinübergeriethe. Allerdings war Förster Buschmann, wie er seinem Gehülfen sagte, mit dem nächsten hessischen Förster befreundet, aber sie kamen doch nur sehr selten zusammen, und besser ist immer besser.

Erzählen that übrigens der Alte ungemein gern, und an Stoff dazu fehlte es wahrlich nicht, denn es gibt wohl kein ergiebigeres Sagengebiet — den Rhein vielleicht ausgenommen — in ganz Deutschland als eben den Spessartwald mit seinen dunklen, nadelholzbewachsenen Höhen. Wenn er ihm dann die verschie[S. 154]denen Namen der Plätze, die theils auf eine solche Sage, theils auf früher hier heimische wilde Thiere Bezug hatten, angab, wußte er ihm dabei allerlei wunderliche Dinge zu berichten, was noch dadurch viel geheimnißvoller klang, daß er es nur immer mit leiser flüsternder Stimme that. Nicht um die Welt hätte er im Wald laut gesprochen, war er doch von Jugend auf daran gewöhnt, sich immer so zu benehmen, als ob er auf der Pirsche sei.

Gelegenheit zu solchen Geschichten fand er also genug, denn der Wald wimmelte von derartigen Plätzen. Da gab es einen Teufelsfelsen und einen Eckardtsstein; da lief der Elfenbach durch’s grüne Moos; Luchssteig, Wolfsschlucht, Bäreneck und Auerhorn hießen einzelne vorragende Plätze im Wald, und die Phantasie des Alten bevölkerte sie nicht allein mit dem wilden Jäger und dem bösen Feind, mit Alraunen und überirdischen Geschöpfen, sondern er berief sich dabei auch noch auf das Zeugniß seines jetzt leider verstorbenen Vaters, der in stürmischen Nächten den wilden Jäger selber oft und oft gehört haben sollte, wie er, besonders im Frühjahr und Herbst, mit Hussah! und Halloh! über den Forst gebraust.

Solche Gespräche spannen sich übrigens auch noch, wenn sie Abends nach Hause kamen, aus, denn von der[S. 155]artigen Erzählungen wußte die Frau Försterin fast noch mehr als ihr Mann, ja selbst die Lisei, wie die alte Magd hieß, nickte nur immer bestätigend mit dem Kopfe, wenn sie auch selber entsetzlich schwer zum Reden zu bringen war, denn sie stieß ein wenig mit der Zunge an und war von anderen jungen Leuten, denen sie früher manchmal derlei erzählt, wohl nur ausgelacht und verspottet worden.

Der junge Raischbach lachte sie aber nicht aus. Selber etwas romantischer Natur, wenn auch nichts weniger als was man abergläubisch nennt, wirkte die ganze Umgebung doch nach und nach auf ihn ein, und er fing an, sich nirgends wohler zu fühlen als Abends, nach einem tüchtigen Rundmarsch in der stillen, schweigenden Waldung, in seiner Ecke neben seinem Krug Bier und mit der kurzen Jagdpfeife im Munde.

Er wußte selber auch Manches zu erzählen: von dem Bergstutzel in den Alpen, von der Gemsmaid, von den weißen Fräulein und dann aus anderen Forsten von einer Freikugel, die ein Jäger gehabt, mit der er nachher, wider Willen, seinen eigenen Vater erschossen; von einem andern Frevler, der sein Feuerrohr auf einen gekreuzigten Jesus abgebrannt hätte und von Stund an blind geworden wäre, und manche andere[S. 156] Dinge, wie sie sich die Jäger wohl an langen Winterabenden erzählen.

Deßhalb scheute er sich aber doch nicht, bei Nacht und Nebel draußen im Wald herumzusteigen, und wenn er einmal irgendwo in einer Richtung einen Schuß gehört, von dem man sich keine Rechenschaft geben konnte, so ruhte und rastete er auch nicht, bis er die richtige Fährte ausspürte, und wenn er drei Nächte hinter einander hätte draußen lagern sollen.

Daß so ein flinker kräftiger Bursche — und außerdem noch ein vortrefflicher rascher Schütze, wie er sich bald erwies — dem Wilderergesindel unbequem werden mußte, läßt sich denken. In ganz kurzer Zeit hatte er auch drei von der Gesellschaft auf frischer That ertappt und sie nach und nach ganz allein eingebracht, und die Wilddiebe mußten anfangen, sich nach einem andern Revier umzusehen, denn auf dem Buschmann’schen schien’s für sie nicht mehr geheuer.

Eines Tages — es war im August — hatte der Förster einen Feisthirsch zum Abschuß bekommen, der noch an dem nämlichen Abend eingeliefert werden sollte, und Bernhard wie der Alte waren mit Tagesgrauen hinausgegangen, um ihr Glück auf der Pirsche zu versuchen. Nach vorher genommener Verabredung sollte aber Keiner mehr schießen, wenn er vom Andern[S. 157] einen Schuß fallen höre, damit sie nicht etwa bei dem heißen Wetter zwei Stück statt eines auf die Decke brächten, und sie nahmen nun, Einer den linken, der Andere den rechten Flügel, um an einer bezeichneten Stelle wieder zusammen zu treffen. Hatte dann Keiner von ihnen Etwas geschossen, so waren die Kreiser und der Forstschutz schon auf einen gewissen Punkt im Wald bestellt, um nachher ein paar Dickungen durchzutreiben, wobei sie gewiß ihr Ziel erreichten, denn Hirsche gab es damals noch genug in jenen Forsten.

Das Letzte schien aber nicht nöthig zu werden, denn schon um neun Uhr Morgens hörte Förster Buschmann den scharfen Krach einer Büchse, und als er nun, die eigene Waffe über die Schulter gehangen, direkt der Richtung zuhielt, traf er auch bald darauf mit seinem Forstgehülfen zusammen, der einen kapitalen Achter auf der Decke hatte.

Bernhard schwenkte ihm auch lustig seinen mit dem „Bruch“ schon besteckten Hut entgegen, und der Alte nickte vergnügt vor sich hin, als er den braven Hirsch, mit dem Eichenzweig im Geäß und die Kugel wie abgezirkelt mitten auf dem Blatt, verendet im Schatten eines alten Eichenbaums, nahe einer zu Thal rieselnden Quelle liegen sah.

„Bravo, mein Junge!“ rief er aus, „das war[S. 158] gerade das rechte Stück und ein tüchtiger Schuß, mit dem wir Ehre einlegen können; er spart uns auch eine Masse Schererei, und wenn die Kreiser jetzt kommen, können sie ihn gleich auf ihren Wagen packen und fortschaffen. — Der scheint auch nicht mehr weit gegangen. Kam er flüchtig?“

„Gleich dort am Rand von den Felsen äste er sich,“ erzählte der junge Forstmann, „und ich war mit gutem Wind und Deckung bis auf fast achtzig Schritte angepirscht, denn ich konnte nur manchmal die Stangen zu sehen bekommen, wenn er den Kopf hob, um zu sichern. Weiß aber der liebe Gott, was ihn verscheucht haben mag, denn meinen Schritt auf dem weichen Moos konnte er wahrlich nicht hören, äugte auch nicht einmal der Richtung zu, wo ich mich befand. Wie ich aber daneben hinter den Büschen vorkrieche, höre ich, daß er flüchtig wird, und jetzt war ich mit einem Satz auch draußen im Freien. Rechts ab konnte er nicht, der Kluft wegen, so mußte er hier über die Lichtung, und wie er die Kugel kriegte, machte er einen Satz so hoch.“

„Das ist ein famoses Zeichen“, schmunzelte der Alte.

„Er ging auch nicht mehr weit. Dort drüben, bei der jungen Weißtanne, ist der Anschuß und hier[S. 159] unter der Eiche hielt er plötzlich, that sich nieder und verendete auch gleich darauf, da ich versteckt blieb und ihn nicht weiter störte.“

Der alte Förster nickte leise und zustimmend mit dem Kopf, und trat indessen, während sein junger Gehülfe den kurzen Bericht abstattete, an den Rand der hier ziemlich steil abfallenden Felsen, um das da unten ausgebreitete Terrain zu überblicken.

Es war ein wilder eigenthümlicher Platz hier mitten in den Bergen, und Bernhard selber auf all’ seinen Streifzügen noch nie in die Nähe desselben gekommen.

Gerade zu ihren Füßen fielen die Sandsteinfelsen wohl achtzig oder neunzig Fuß steil ab, und nach rechts und links, wohin er sah, schien eine ganz ähnliche Mauer eine unten liegende flache und moorige Ebene, auf der auch wenig mehr als Haidekraut und kleines niederes Gestrüpp wuchs, einzuschließen. Der ganze innere Raum mochte übrigens ein paar Morgen umschließen, und sah genau so aus, als ob er in früheren Jahrhunderten — oder vielleicht Jahrtausenden — die ganze offene Stelle ausgefüllt hätte und nur einmal, bei einer inneren Erderschütterung vielleicht, weggesunken wäre.

„Sind Sie schon an dem Platz hier gewesen,[S. 160] Raischbach?“ sagte der Alte nach einer längeren Pause, in der er schweigend über die wüste Stelle hinausgeschaut.

„Nein, Herr Förster,“ sagte der junge Mann; „das ist ein wildes wunderliches Terrain; bin aber noch nie hierher gekommen — heute zum ersten Mal. Es kann hier gar nicht so weit von der Grenze sein.“

„Ist es auch nicht,“ nickte der Förster; „die Schlucht, die von dort herüberkommt, wo Sie neulich die wilde Katze geschossen haben, bildet die Grenze, und die Stelle hier heißt ‚der Fuchsbau‘ — gibt auch schmählich viel Füchse hier, denn da drinnen sind sie ungestört, und man darf nicht einmal einen Hund hineinlassen, weil die Wand voller Risse und Spalten steckt, die oft Gott weiß wie tief hinuntergehen. Gleich im ersten Jahr, als ich herkam, habe ich dort drüben in dem einen Loch meinen besten Dachshund verloren, und mich nachher wohl gehütet, wieder einen in die Nähe zu bringen.“

„Sonderbar,“ sagte Raischbach, „ob der Platz nicht wie eingesunken aussieht —“

„Hm,“ brummte der Alte und sah sich vorsichtig dabei um — „wir wollen hinüber nach dem Rendezvous gehen, wohin wir die Kreiser bestellt haben — ’s ist[S. 161] gar nicht so weit von hier, und wenn wir der Schneuße folgen, kommen wir ganz in die Nähe.“

Damit rückte er sich seine Büchse wieder auf die Schulter und schritt langsam voran, Bernhard folgte ihm, und Beide gingen auch die ganze Strecke lang schweigend neben einander hin; nur unterwegs brach sich der Förster ebenfalls einen Bruch ab und steckte ihn sich, alter Sitte folgend, auf den Hut — war doch ein jagdbarer Hirsch erlegt, und dabei durfte keine althergebrachte Form versäumt werden.

So erreichten sie nach einer Weile das bestimmte Rendezvous, eine kleine offene Waldblöße, an deren Rand ein Pirschhaus gebaut war, um den Kreisern, wenn sie hier in der Nähe Dienst hatten, ein Obdach zu bieten. Der Förster trug allerdings den Schlüssel dazu in der Tasche, aber bei dem prachtvollen Wetter dachten die beiden Jäger nicht daran, sich in das dumpfige Haus zu setzen, und Buschmann, mit seinem Hirschfänger, einen Zweig von einem dort stehenden breitästigen Weißdorn schlagend, hing seine Büchse an den Zacken und warf sich dann auf das Moos im Schatten des Baumes nieder, welchem Beispiel sein junger Forstgehülfe folgte.

„Wenn wir jetzt eine Flasche Bier hätten,“ sagte dieser, indem er sich, in Ermangelung eines andern[S. 162] Labsals, wenigstens seine kurze Pfeife stopfte und in Brand setzte — „das müßte jetzt schmecken.“

„Die Kreiser bringen ein paar Flaschen mit,“ nickte der Förster, „denn ich wußte ja nicht, was wir noch für Arbeit mit dem Hirsch bekamen.“

„Das ist gescheidt — und die müssen bald kommen.“

„Etwa in einer halben Stunde spätestens,“ sagte der Förster und qualmte stärker — „aber — was ich gleich sagen wollte, Raischbach — Sie — Sie meinten vorher da drüben am Bau — am Fuchsbau meine ich — an der wunderlichen Stelle, die rings von steilen Sandsteinfelsen wie eingedämmt ist, daß sie fast so aussähe, als ob der Platz eingesunken wäre.“

„Ja wohl, Herr Förster, es hat merkwürdige Aehnlichkeit, und drin im Tyrol wüßt’ ich genau so eine Stelle, wo sich auch die Leute erzählen, daß dort vor uralten Zeiten eine Alm gestanden hätte — und jetzt ist’s ein See, kein Mensch weiß wie tief.“

„Es kommt Alles vor in der Welt, Raischbach,“ nickte der Alte still vor sich hin — „Alles — wir sehen’s nur manchmal nicht, oder wollen’s eben nicht sehen.“

„Und hat der Platz irgend eine Bedeutung?“

„Dort an Ort und Stelle,“ sagte der alte Mann, „mochte ich Ihnen nicht gern Red’ und Antwort stehen;[S. 163] man spricht nicht gern davon, wo die Worte bis hinunter in den Grund schallen können, und wenn Sie die Kreiser frügen, würde Ihnen wohl Keiner Auskunft geben; aber das ist Thorheit, denn einem frommen Christen kann der Spuk nichts anhaben.“

„Aber welcher Spuk, Herr Förster?“

„Der im Bau drunten.“

„Im Fuchsbau? also ist es wirklich ein eingesunkener Platz?“

„Das sieht ein Kind ein,“ nickte der alte Forstmann, der hier wieder vollständig auf seinem Steckenpferd saß. „Da hat vor alten Zeiten eine große und reiche Stadt gestanden, mit einem Kirchthurm, dessen Kuppel sie so dick vergoldet hatten, daß man Abends bei Sonnenuntergang das Blitzen bis drüben in die fernen Berge sehen konnte. — Aber auf einmal war’s aus — was sie getrieben, der Herr nur weiß es, aber übermüthig sind die Leute jedenfalls geworden, und eines Tages, als Jemand vom nächsten Dorf hinein zur Ortsbehörde wollte, trifft er an der Stelle, wo sonst die stolze Stadt gelegen, einen See mitten im Walde an. Erst glaubte er auch, er hätte den Weg verfehlt, und versucht’s dann mit einem andern, aber es war dasselbe. Alle die breiten Fahrwege, die sonst hinein in den Ort führten, liefen jetzt bis an den Rand[S. 164] der blanken Steinwand und grad in’s Wasser hinein, und der See muß lange an der Stelle gestanden haben, denn mein Großvater wollte sich noch erinnern, ihn gesehen zu haben. Seichter war er aber mit den Jahren geworden, zuletzt sickerte er ganz weg, und heutzutage ist nur noch der moorige Grund geblieben, den aber kein Mensch, nicht einmal ein Stück Wild betritt. — Nur die Füchse hausen da drin und finden da allerdings gar vortrefflichen Schutz.“

„Aber haben Sie mir nicht selber gesagt, Sie hätten schon einen Hund da drin verloren?“

„Allerdings — aber der Hund ist allein hineingelaufen, ich war selber nie drin und hab’ auch nie nachgeschaut, wo er geblieben sein kann. Jedenfalls ist er in eine der Spalten gestürzt. Was hat der Jäger auch dort unten zu suchen? Wild steht dort nicht — und sei’s nur aus dem Grunde, daß sie nirgends wieder auskönnen, wenn ihnen der einzige hineinführende Wechsel verstellt wird. Das ganze Terrain ist wie eine große Art Falle, und vor solchen Plätzen scheuen sie sich; außerdem mag aber auch die Aesung auf dem feuchten Boden sauer schmecken, denn von oben hinab sieht man eigentlich nichts als Haidekraut und eine Art schilfiges Gras und Schachtelhalm.“

[S. 165]

„Aber was für ein Spuk war der, Förster, von dem Sie sprachen?“ sagte der junge Mann, durch das Alles neugierig gemacht — „der Spuk, der einem frommen Christen nichts anhaben könne?“

„Hm,“ brummte der Alte, doch nicht ganz sicher, wie seine Erzählung aufgenommen werden könne. „In neuerer Zeit hat man lange nichts mehr davon gehört —“

„Aber in früheren Jahren?“

„Da soll das alte Nest da drin ein Hauptplatz für Derlei gewesen sein,“ nickte der Alte, „man darf freilich nicht Alles glauben, was die Leute erzählen,“ setzte er gewissermaßen entschuldigend hinzu, „aber wenn nur die Hälfte von dem wahr wäre, reichte es aus. Daß der wilde Jäger hier im Spessart seinen Hauptsitz hatte, ist allbekannt. Von hier ging er aus — hierher kam er zurück, wenn er vor der Morgendämmerung seine tolle Meute wieder eintrieb, und die Kreiser, bei denen sich die Erzählung von Vater auf Sohn vererbt hat, viele Geschlechter durch, behaupten, daß er dort in dem versunkenen Bau eingefahren sei wie ein Fuchs, und es nachher noch stundenlang da drinnen getobt und gelärmt habe, als ob ein unterirdischer Donner durch den Wald führe. Irrwische sind da drunten genug gesehen worden, und[S. 166] nirgends hat’s mehr Erd- und Waldweible gegeben, als in der Gegend. Manchem Förster — vor meiner Zeit, denn ich müßte lügen, wenn ich was Derartiges behaupten wollte — sind auch Bewohner des weggesunkenen Ortes erschienen — einmal einem Jäger — einem fürstlichen Herrn — ein bildhübsches Mädchen in fremdartiger Tracht, die aber kein Wort gesprochen, sondern nur gewinkt hat, bis er ihr gefolgt ist. Der ist er nachgestiegen in den Kessel hinein — der Jägerbursche, den er bei sich gehabt und der ihm nicht folgen durfte, hat’s erzählt, und am Abend haben sie ihn da drin gefunden, todtenbleich — und er war tiefsinnig geworden und hat nie im Leben wieder gelacht oder auch nur verkündet, was er dort unten gesehen. Er durft’s wohl nicht.“

„Hm, das sind ja wunderbare Geschichten von dem alten Bau,“ sagte der junge Forstgehülfe kopfschüttelnd, „und ist nur merkwürdig, daß ich noch kein Wort davon gehört.“

„Bei uns wär’ wohl schon oft davon gesprochen,“ sagte der Alte, „aber wir thun’s nicht gern, wenn die alte Lisei dabei ist.“

„Die Lisei?“ sagte Raischbach erstaunt.

„Ahem,“ nickte der Förster. „Wenn sie den Ort nur nennen hört, steht sie jedesmal auf, geht hinaus[S. 167] und setzt sich in eine dunkle Ecke und weint. Es muß ihr da in ihrer Jugend was Liebes abhanden gekommen sein. Die Leute versichern wenigstens, ihr Schatz habe sich in ein Erdweible von da drunten her, das es ihm angethan, verguckt und Niemand wieder etwas von ihm gehört.“

„Aber kann der nicht auf andere Art verunglückt sein?“

„Möglich; doch wahrhaftig, da kommen die Kreiser — das ist gescheidt, mir ist die Zunge schon ordentlich am Gaumen angetrocknet, und ein Schluck Bier wird uns jetzt nicht schlecht munden. Also erst frühstücken und dann mit unserem Hirsch zu Thal, daß er zur rechten Zeit an Ort und Stelle eintrifft.“

Die Kreiser hatten ihre Zeit richtig eingehalten, ja waren eher noch eine Viertelstunde früher angekommen und sahen auch gleich an den grünen Brüchen auf den Hüten der beiden Forstleute, daß die Pirsche keine vergebene gewesen. Vor allen Dingen lagerten sich aber die Leute, denen sich auch die drei Mann Forstschutz beigesellten, im Schatten, um sich von ihrem mühseligen Marsch auszuruhen und einen Bissen zu essen. Dabei mußte Raischbach erzählen, wo er den Hirsch gefunden und wie er an ihn angekommen sei, was sie natürlich außerordentlich interessirte.

[S. 168]

Nach beendetem Frühstück brachen dann Alle der Stelle zu auf, wo der verendete Hirsch lag, der dort aufgeladen und dem Ort seiner Bestimmung zugeschafft wurde. Die beiden Forstleute schlenderten aber auf einem näheren Weg, von einem der Kreiser begleitet, der ihr „Jägerrecht“[A] in einem Sack auf der Schulter mittrug, langsam nach der Forstei zurück.

[A] Jägerrecht, einzelne bestimmte Theile eines erlegten Stückes Hoch- oder Rehwild.

Zweites Kapitel.
Die fremde Maid.

Auf dem Heimweg an dem Nachmittag fuhr den beiden Forstleuten ein merkwürdig starker Rehbock über den Weg, aber so rasch und plötzlich, daß Keiner von Beiden im Stande war, auch nur die Büchse von der Schulter zu reißen. Wie ein Schatten sprang er über die schmale Schneuße und war auch im nächsten Moment schon in der dichten Tannendickung — einer jungen, aber schon ziemlich hohen und fast undurchdringlichen Anpflanzung — verschwunden.

„Alle Wetter!“ rief der Forstgehülfe ordentlich erschreckt aus; „hatte der aber auf. Das Gehörn allein wäre ja ein paar Karolin werth gewesen.“

[S. 169]

„Ja,“ nickte der Alte, „es giebt hier oben ein paar Staatsböcke, ist ihnen aber verwünscht schwer beizukommen, denn so ein alter Racker ist schlau wie ein Fuchs und auf’s Blatt kommt er gar nicht oder doch so scheu und vorsichtig, daß man ihn nie ordentlich zum Schuß kriegt. — Und den besonders, der uns da über die Schneuße setzte, den kenne ich ganz genau und bin ihm schon manchen schönen Morgen zu Gefallen gegangen. Freilich immer umsonst. Sie haben hier in den Dickungen drin zu gute Aesung, und treten selten bei Tageslicht auf offene Schläge hinaus.“

Dem jungen Forstgehülfen ging aber der Bock den ganzen Abend im Kopfe herum, er konnte das Gehörn nicht vergessen, denn solche Stangen hatte er an einem Rehbock noch gar nicht gesehen oder nur für möglich gehalten. Er beschloß auch deßhalb, gleich am nächsten Tag einen Versuch zu machen, ob er den alten Burschen nicht vielleicht überlisten könne. Der war jedenfalls ein paar Gänge werth und er durfte sich keine Mühe verdrießen lassen.

Es war nicht so spät im Jahr, daß die Böcke nicht noch auf’s Blatt[B] gekommen wären, und gerade dort, wo er ihn gestern gesehen, begann er seinen Versuch,[S. 170] denn solche alte Böcke halten gewöhnlich ihr Revier und gehen selten weit von da fort, wo sie einmal ihren Aesungsplatz genommen. Aber er blattete vergeblich vier-, fünfmal an den verschiedensten Stellen. Der alte Bursche war entweder nicht in Hörweite, oder auch zu gescheidt und ließ sich nicht überlisten. Um aber nichts zu versäumen, blieb er nach jedesmaligem Blatten wohl noch eine Viertelstunde regungslos liegen und horchte, denn manchmal kommen sie angeschlichen wie ein Fuchs, und wenn der Jäger dann, in der irrigen Meinung, daß die Jagd vorbei sei, aufsteht und Geräusch macht, so hört er plötzlich das so heiß ersehnte Wild schrecken und in voller Flucht in das Dickicht hineinsetzen, wonach er sich dann die Jagd auf lange Zeit verdorben hat.

Mit dem Blatten war’s nichts, das sah er endlich ein; der alte Bursche ließ sich nicht irre führen, und er versuchte es jetzt mit der Pirsche, wozu sich der Tag ganz besonders gut eignete. Es hatte die Nacht gewittert, und das Laub und Moos war noch feucht, so daß man den schleichenden Schritt des Jägers, wenn dieser nur vermied, auf trockenes Reisig zu treten, gar nicht hören konnte. — Aber es blieb Alles vergebens — zwei geringe Böcke hätte er allerdings schießen können, wollte sich indeß die Jagd auf seinen[S. 171] Bock nicht durch einen Schuß verderben und ließ sie laufen, was sie auch redlich thaten.

So war er allmälig und ohne daß er es selbst recht wußte wieder ganz in die Nähe der Stelle gekommen, wo er gestern den Hirsch geschossen hatte, und plötzlich stand er an der Steinwand des „Fuchsbaues“ und sah sich auf’s Neue dem geheimnißvollen Platz gegenüber, von dem ihm der alte Förster gestern so viel erzählt.

Eigentlich war’s ihm recht — nach dem langen Pirschgang that ihm ein wenig Ruhe wohl, und der Platz lag hier so kühl, heimlich und versteckt, daß er da recht gut eine halbe Stunde rasten konnte. Er warf sich auch, die Büchse neben sich, auf das schwellende Moos nieder, nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche, zündete sich dann die kurze Pfeife an und schaute, in dem behaglichen Gefühl ungestörten Alleinseins, in die wunderliche Schlucht vor sich hinab, die sich zu seinen Füßen ausdehnte.

Also dort hatte einmal ein volkreicher Ort gestanden, der mit Mann und Maus, und ohne eine Spur zu hinterlassen, in die Tiefe gesunken sein sollte, und wie tief eigentlich, daß nicht einmal die vergoldete Kuppel des Kirchthurms mehr aus dem Moor hervorragte. — Und wenn man dort nun einmal nach[S. 172]grübe nach der alten Herrlichkeit, was für wunderbare Alterthümer müßten da zum Vorschein kommen, und lohnen würd’ es gewiß. Aber wer sollte graben? — das wäre jedenfalls eine Heidenarbeit gewesen, und stand dann nicht das Wasser an der selbst oben nassen Stelle? man würde nur gewiß einen neuen See gebildet haben und hätte schon ein Dampfpumpwerk anlegen müssen, um nur des nassen Elementes Herr zu werden, und was kostete das?

Und dort drunten sollte der wilde Jäger seinen Herd gehabt und Nachts seine Schaaren gesammelt haben und ausgefahren sein mit Hallo und Hussa und Rüdengebell! — Wer das einmal, so aus einem stillen Versteck, hätte mitansehen können!

„Hol’s der Henker!“ brummte Raischbach vor sich hin, indem er sich mit seinem rechten Ellbogen etwas tiefer in das Moos hineinbohrte, um bequemer zu liegen, „daß das nur Alles lauter Sagen sind und bloß die Großväter und Urgroßväter etwas Derartiges mit erlebt haben! Wenn das doch Unsereinem auch einmal begegnen könnte, daß man später im Stande wäre, seinen Kindern etwas davon zu erzählen. — Ja, seinen Kindern,“ setzte er in den Bart brummend hinzu — „damit hat’s auch noch Zeit — ein Forstgehülfe und heirathen. Ja, wenn einmal so ein hüb[S. 173]sches Erdweible käm’, wie vor alten Zeiten manchmal — und Einem eine Schürze voll goldener Tannenzapfen brächte!“

Unwillkürlich griff seine Hand, ohne daß er mit dem Körper auch nur die geringste Bewegung gemacht hätte, nach der neben ihm liegenden Büchse, denn nicht weit von ihm knackte ein dürrer Zweig, als ob irgend ein schwerer Körper darauf getreten hätte. Herr Gott, wenn das „sein“ Bock gewesen wäre, der hier oben am Rand der Schlucht vielleicht spazieren ging und ihm derart von selber in’s Rohr lief. Der wäre jetzt recht gewesen, und im Nu hatte er alle anderen Gedanken vom wilden Jäger und Erdweible total vergessen und dachte nur an seine Jagd.

Jetzt knackte es wieder — das konnte ein Stück Wild, aber auch recht gut der Bock sein, und leise und vorsichtig drehte er den Kopf zur Seite, um nur erst einmal einen Schimmer von dem Nahenden zu bekommen.

„Alle Wetter!“ brummte er aber im nächsten Augenblick, als er etwas Buntes durch die Zweige schillern sah und jetzt enttäuscht erkannte, daß das auf keinen Fall sein Bock sein konnte, denn der trug kein buntfarbiges Tuch um sein Gehörn, — ob Einem[S. 174] die verwünschten Beerensucher und Holzleser nicht jeden Pirschgang verderben!

Unwillig richtete er sich in die Höhe, um die Nahenden mit einem Wetter anzufahren, was sie hier zu suchen hätten, brachte aber keinen Laut über die Lippen, als plötzlich ein reizendes Mädchen von kaum siebenzehn Jahren aus dem Gebüsch trat und bei seinem Anblick halb erschreckt halten blieb.

Merkwürdig! sie war in eine ganz fremdartige Tracht gekleidet, wie er ihr wenigstens hier in den Bergen noch nie begegnet, und sah dabei so blaß und wachsähnlich aus. Aber was für wundervolle Augen sie hatte, und wie groß und erstaunt sie ihn dabei ansah. Fürchtete sie sich vor ihm?

„Grüß Gott, Mädel!“ sagte der junge Forstmann, halb verdutzt ordentlich von der lieblichen Erscheinung, und sein Blick flog über sie hin — aber das war keine Beerensucherin oder Reisigsammlerin; sie trug keinen Korb, weder am Arm noch auf dem Rücken, sondern ging sogar, mitten in der Woche, in ihren Sonntagsstaat gekleidet.

„Grüß Gott!“ sagte die Jungfrau leise, und ihr Blick flog dabei nach dem Grund hinab, als ob sie sich einen Weg zur Flucht suche — „wo — wo kommt Ihr da auf einmal her?“

[S. 175]

„Ja, das möcht’ ich Dich fragen, Kind!“ erwiederte der Jäger; „ich gehöre hierher — aber fürcht’ Dich nicht, ich thu’ Dir nichts.“

„Ich fürcht’ mich auch nicht,“ sagte die Maid, aber mit einem ganz eigenen, fremdartigen Dialekt; „ich steh’ überall in Gottes Hand; aber ich hatte den Weg im Wald verloren, und jetzt weiß ich erst wieder, wo ich daheim bin.“

„Wo Du daheim bist?“ rief Bernhard — „aber wo bist Du daheim, Schatz, darf ich’s nicht wissen?“

„Und warum nicht! — im Bau bin ich daheim.“

„Im Bau?“ rief der junge Forstgehülfe erschreckt aus, indem er einen scheuen Blick nach dem Grund hinunter warf, „aus dem Bau kommst Du, Mädel, und dort ist Deine Heimat?“

„Ei gewiß,“ nickte die Maid, „und wer seid Ihr?“

„Der Forstgehülfe Raischbach vom Revier — aber es ist ja doch nicht möglich, daß Du im Bau wohnst — und wohin willst Du jetzt?“

„Wieder heim, da hinab — jetzt ist’s nimmer weit,“ sagte sie und deutete mit der Hand den schmalen Pfad hinab, der in den Grund hinunter führte.

„Du hast mich nur zum Besten, Mädel!“ rief Raischbach, der gar nicht wußte, was er von dem Allen denken sollte — „unten im Bau —“

[S. 176]

Er schrak zusammen, denn kaum hundert Schritt von dort, im Dickicht drin, fiel ein Schuß — war das ein Wilderer?

„Grüß Gott — ich muß heim!“ rief das Mädchen und schlüpfte wie ein Reh am Abgrund hin.

„Bleib’, Kind, nur einen Augenblick!“ bat der junge Mann und drehte unwillkürlich den Kopf nach der Richtung zu, in der er den verdächtigen Schuß gehört; als er ihn aber wieder wandte, war die Maid verschwunden, und wie er ein paar Schritte den Pfad hinab ihr nachsprang, konnte er ihr buntes Tuch nirgends mehr in den Büschen erkennen. — Wie in den Boden hinein war sie weg.

Ein paar Sekunden stand der junge Mann unschlüssig auf der Stelle. Sollte er ihr nach? — ihr folgen? — Aber der Schuß — seine Pflicht rief ihn dorthin, den Moment durfte er nicht versäumen, und seine Büchse aufgreifend sprang er so leise, aber auch so rasch als möglich einen schmalen Wildpfad entlang, der ihn in das Dickicht brachte. Dort dauerte es auch nicht lange, daß er das Aufstoßen eines Ladestocks hörte, und durch das Gebüsch schlüpfend, fand er sich im nächsten Augenblick — einem ihrer Kreiser gegenüber.

„Hallo, Metzler, und nach was habt Ihr hier[S. 177] geschossen?“ sagte er enttäuscht, indem er sich aufrichtete und auf ihn zutrat.

„Hallo, Herr Raischbach, wo kommen Sie denn auf einmal her? — kriegt ich doch jetzt einen ordentlichen Schreck. — Den Habicht da hab’ ich geschossen, der einen Hasen gekrallt hatte und scharf dabei war, ihn anzuschneiden. Wie er mich merkte, brauchte er eine ganze Weile, um loszukommen, und ich behielt reichlich Zeit, ihm eins auf den Pelz zu brennen. Waren Sie auf der Pirsche?“

Gerade wo er stand lag in der That der eben geschossene Raubvogel und gar nicht weit davon entfernt der arme Hase, auf den er, wahrscheinlich von einem Zweig herab, niedergestoßen war, als ihn der Kreiser bei seiner Mahlzeit überraschte.

„Hm,“ sagte Raischbach, „ich bin dem starken Bock zu Gefallen gegangen, den wir gestern gesehen haben.“

„Ja,“ lachte der Kreiser, „da können Sie noch manchmal früh aufstehen, ehe Sie den kriegen — der ist schlau.“

„Ich habe da drüben eine Fährte gefunden und wollte eben nachgehen, als ich den Schuß hörte — ich wußte nicht, wer geschossen haben konnte.“

„Wenn’s ein Wilderer gewesen wäre,“ lachte der[S. 178] Mann, „hätten Sie ihn verdammt rasch beim Kragen gehabt. Sie sind auf dem Zeug, das muß wahr sein; ich habe Sie gar nicht kommen hören.“

„Ich geh’ jetzt wieder zurück, Metzler,“ sagte der Forstgehülfe; „nehmt den Hasen mit nach Haus und sagt dem Förster, wenn ich etwa nicht zur rechten Zeit zum Nachtessen daheim sein sollte, möchten sie nicht auf mich warten. — Ich will noch gern auf dem Anstand bleiben.“

„Na, Waidmann’s Heil, Herr Forstgehülfe!“ nickte der Kreiser, während Raischbach schon wieder in das Dickicht eintauchte und jetzt, so rasch er konnte, zu der Stelle zurücksprang, wo er das fremde Mädchen zuletzt gesehen — aber er fand sie nicht wieder. Er stieg den Pfad hinab, und als er weiter unten an eine sandige Stelle kam, suchte er genau nach, ob er keine Fußspur entdecken könne, denn oben in dem moosigen Weg ließ sich nichts unterscheiden; aber es blieb vergebens. Bis zu dem Eingang in den Grund kletterte er, in den nur ein kaum zehn Schritte breiter Paß hineinführte; dort aber lag gerade viel felsiges Gestein und eine Fährte hätte sich schwer nachweisen lassen.

Wie heimlich das da drin in dem düstern Grund aussah, und wie sonderbar kahl und phantastisch die hohen Sandsteinwände auf allen Seiten starr und[S. 179] mächtig emporragten — und wie dunkel der Boden war, obgleich oben auf dem Walde noch das volle Sonnenlicht lag! Sollte es denn möglich sein, daß hier drinnen wirklich ein so geisterhaftes Wesen hause, wie ihm der alte Förster erzählte, daß die Bewohner der Tiefe — daß jenes wunderbar schöne Mädchen, das so fremd und doch so lieb aussah... — „Bah, Unsinn!“ brummte er vor sich hin in den Bart — „der Alte steckt voll von Aberglauben und seine Frau und die alte Lisei noch mehr; kein Wunder wär’s, wenn man zuletzt selber anfinge, solche Geschichten wirklich zu glauben, wenn man sie alle Abend in der halbdunkeln Stube und halb dabei im Schlaf erzählen hört. — Nachher weiß man am Ende kaum mehr, was man noch gehört oder selber geträumt hat. — Jetzt bin ich aber doch einmal hier unten,“ setzte er leise hinzu, „und kann mir den Platz gleich ordentlich ansehen; komme doch vielleicht so bald nicht wieder hierher und muß die Gelegenheit benützen.“

Damit stieg er über die Zacken hinweg und drängte sich durch das Erlengestrüpp, das hier lustig emporwucherte. — Er erschrak aber fast, als plötzlich dicht vor ihm eine Schnepfe herausstrich. Unwillkürlich fuhr er freilich mit der Pirschbüchse in die Höhe, setzte aber eben so rasch wieder ab, denn jetzt war erstens[S. 180] keine Jagdzeit für Schnepfen, die hier jedenfalls brüteten — und dann hatte er ja auch bloß eine Kugel und groben Schrot geladen. Die Schnepfe stieß aber in den Wald hinein, und Raischbach, ihr nachsehend, murmelte leise: „Na, hier kann das vertrackte Mädel doch auch nicht gut herum sein, denn sonst hätte sie die Schnepfe ebensogut aufgestört wie ich — und was hätte sie auch hier drin zu suchen,“ setzte er halb lachend hinzu — „ich glaube bei Gott, ich fange ebenso an zu träumen, wie unser alter Buschmann. — Aber hat sie mir nicht selber gesagt, daß sie hier unten ‚im Bau‘ wohne?“ frug er sich plötzlich und blieb, seine Büchse auf den Boden stützend, stehen; „bah, das kecke, bildhübsche Ding hat mir nur ihren eigentlichen Wohnort nicht nennen wollen und mich zum Besten gehabt. Die mag schön bei sich gelacht haben, als ich so ein verdutztes Gesicht machte. — Wenn ich ihr nur noch einmal wieder begegnete oder wüßte, wo ich sie suchen könnte — Blitzmädel das.“

Und wieder nahm er seine Waffe auf und arbeitete sich jetzt nach der rechten Wand hinüber, um den ganzen Platz einmal zu umgehen und das noch unbekannte Terrain genau zu erforschen.

Aber, alle Wetter, der Förster hatte allerdings recht gehabt: hier gab’s Füchse genug — überall fand[S. 181] er die Losung, und zahlreiche Spalten in der Wand waren augenscheinlich so begangen, daß wirkliche kleine Pfade hineinführten. Der Platz hier konnte ihnen freilich auch passen, denn abgelegen schien er genug, und Schlupfwinkel für die schlauen Bestien gab’s wie Sand am Meer. Das Gestein sah genau so aus, als ob es mit Gewalt von einander gerissen und überall geborsten wäre. Da konnten sie einfahren, wo sie eben Lust hatten, und wenn man sich auch oben ansetzen wollte, um ihnen aufzupassen, blieb es immer von dort herunter ein weiter und ungewisser Schuß — und hier drin selber? — Ei, wenn die Füchse ihren Winterbalg anhatten und die Pelze was galten, mußte er doch einmal den Versuch machen, das gab vielleicht eine ganz vortreffliche Jagd und einen guten Spaß, ihnen so unerwartet eins auf die Jacke zu brennen. Macht doch die Erlegung eines Fuchses oder überhaupt jedes Raubthieres dem Jäger mehr Freude, als ob er sonst Gott weiß was erlegt, denn es gilt dabei einen schlauen und gewandten Räuber zu überlisten.

Der junge Forstgehülfe beging langsam pirschend das ganze innere Terrain, fand aber die Aussage des Försters bestätigt, und nicht eine einzige Fährte von Roth- oder Rehwild in dem ganzen Grund, dafür jedoch eine Masse niedergebrochenes und vertrocknetes[S. 182] Reisig — ein Beweis, daß selbst die Holzsucher, die doch sonst gewiß nicht eigen sind, den öden Platz mieden. Von einem hindurchführenden Pfad war ebensowenig eine Spur zu erkennen und das Brombeergesträuch an manchen Stellen so dicht, daß er sich kaum hindurch arbeiten konnte. Es war auch spät geworden, als er den hinausführenden Paß wieder erreichte, und hier unten dämmerte es schon, während die Wipfel der Bäume oben am Felsenrand noch im Licht der untergehenden Sonne glühten.

Jetzt war übrigens noch gute Zeit für einen Pirschgang heimwärts — vielleicht begegnete er dem Bock doch noch unterwegs, und nachdem er sich vorher überzeugt hatte, daß kein begangener Weg von unten ab weiter zu Thal führte, stieg er wieder von außen an dem Steindamm hinauf und trat den Heimweg an.

Den Bock traf er allerdings nicht, und es war recht spät geworden, als er die Forstei endlich wieder erreichte. Daheim erzählte er aber auch nichts von dem fremden Mädchen, das er heute am Fuchsbau getroffen. Wer wußte denn, was sie sich nachher wieder für Geschichten daraus zusammengebaut hätten, von Erdweible oder Moorjungfern oder sonstigem Spuk. Vielleicht traf er sie einmal wieder in der nächsten Zeit, und dann sollte sie ihm nicht so leicht entschlüpfen[S. 183] wie dießmal, wo ihn der alberne Kreiser mit seinem Schuß so zur unrechten Stunde gestört und abgelenkt hatte. War ihm doch nicht einmal Zeit geblieben, sie nur zu fragen, wie sie hieß.

Und würde sie ihm das gesagt haben, wo sie ihm, auf seine Frage nach ihrer Heimat, die schnippische Antwort gab „im Bau“? Sonderbar — er brachte das Mädel nicht aus dem Kopf und war den ganzen Abend still und einsylbig. Der alte Förster aber lachte, denn er glaubte, der verfehlte Bock ärgerte ihn, meinte auch, da würde er sich noch manchen Abend Gedanken drüber machen können, denn das sei ein alter schlauer Patron und nicht sogleich auf den ersten Pirschgang abzufassen. Sie wollten sich in vier Wochen einmal wieder sprechen, ob er ihn vielleicht bis dahin erlauert hätte — er glaube es aber nicht.

[B] Das Blatt, der nachgeahmte Lockruf des Rehs.

Drittes Kapitel.
Der Fuchs.

Der Forstgehülfe Raischbach bekam übrigens in den nächsten Tagen keine Zeit, viel an den Bock oder selbst an die fremde Maid zu denken, denn noch in der nämlichen Nacht hatte der Kreiser Metzler, der in einer der im Wald zerstreut gebauten Pirschhütten geschla[S. 184]fen, einen Schuß gehört und am nächsten Morgen erst, obgleich er, wie er sagte, augenblicklich der Richtung zugeeilt sei und Alles abgesucht habe, den Aufbruch und Kopf eines Altthiers gefunden, das ein paar Wilderer dort in der Nacht erlegt und dann fortgeschleppt haben mußten. Im Anfang hätte er auch noch eine Strecke auf dem Schweiß (Blut) nachgehen können, dann aber waren die Wilddiebe an die große Straße gekommen, die durch den Wald lief, und keine Spur weiter von ihnen zu finden. Ein paar frische Wagengleise führten allerdings vorbei, eines aber nach Norden, eines nach Süden, und welches von diesen sie wahrscheinlich benützt hatten, um ihre Beute in Sicherheit zu bringen, wer konnte es sagen?

Nachforschungen wurden allerdings gehalten, aber ohne Erfolg. Die Bursche mußten gute Helfershelfer haben, denn das Stück Wild blieb verschwunden, und wenn man auch ein paar Leute aus dem nächsten Dorf in starkem Verdacht hatte und bei ihnen sogar Haussuchung hielt, fand sich doch nichts Verdächtiges gegen sie vor. Die Beamten und Forstleute mußten, noch dazu von dem spöttischen Lächeln der Bauern begleitet, unverrichteter Sache wieder abziehen.

Förster Buschmann war außer sich. Jetzt hatte er nun den erbetenen Forstschutz erhalten und auch einen[S. 185] jungen Forstgehülfen, und trotzdem holten sie ihm das Wild fast unter der Nase weg. Und was würde die oberste Forstbehörde, an die er doch jedenfalls Bericht erstatten mußte, dazu sagen — natürlich bekam er eine furchtbare Nase.

Auch dem Forstgehülfen war das gar nicht recht, denn allem Anschein nach hatten sie es hier nicht mit einem einzelnen Wilderer, sondern mit einer ganzen Bande derselben zu thun, die einander in die Hände arbeitete, und wo er schon geglaubt, daß sie ihnen das Handwerk gründlich gelegt, trieben sie es ärger als je zuvor und trotzten der ganzen Försterei.

Von da ab war er fast keine Nacht mehr zu Hause, ja selbst der alte Förster ließ sich nicht mehr halten und begleitete ihn manchmal, oder nahm auch zu Zeiten einen Strich allein und dann nur einen Kreiser oder einen Forstschutz mit sich, denn es war eben nicht gerathen, sich unter solchen Umständen ganz allein in den Wald zu wagen, wo man nicht wissen konnte, was passirte.

Die nächsten Tage blieb übrigens Alles ruhig, denn die Wilderer konnten sich wohl denken, daß die Forstleute jetzt wachsam sein würden. Nach vier oder fünf Tagen aber, wo sie glauben mochten, daß sie in ihrem Aufpassen etwas nachgelassen hätten, und gerade[S. 186] bei recht hellem Mondschein knallte es wieder, und dießmal hatten sie sich einen unglücklichen Fleck dazu ausersehen. Raischbach nämlich befand sich selber mit einem der Kreiser ganz in der Nähe und ertappte sie auf frischer That.

Allerdings gaben sie sich nicht gutwillig, und der eine Bursche feuerte und traf den Forstgehülfen mit der Kugel in den Oberschenkel; der aber schoß ihn, wie er noch die Büchse am Backen hatte, in seinen Fährten nieder und jagte auch noch einem der Anderen, mit dem zweiten Lauf seiner Büchsflinte, eine Ladung Schrot nach, die ihn in die Beine traf. Hinter dem Dritten feuerte der Kreiser her, auch mit Schrot. Der entkam aber, für den Augenblick wenigstens. Der Eine dagegen war, als sie zu ihm traten, todt, und der Andere hatte sich nur noch eine Strecke in den Busch hineingeschleppt, wo er lag und nicht weiter konnte.

Der Kreiser, da Raischbach mit seinem Bein nicht recht vorwärts konnte, mußte jetzt nach dem Forsthaus zurück und Hülfe holen. Dicht daneben war eine Anzahl Holzhauer beschäftigt, die Nachts in der einen Scheuer schliefen, und diese eilten jetzt herbei, um die Verwundeten und den Todten zum Haus zu schaffen. Ein Bote mußte augenblicklich zur nächsten Stadt,[S. 187] und schon am Nachmittag waren die Gerichte da, um den Thatbestand zu untersuchen.

Förster Buschmann hatte indessen in der Nähe des gestrigen Kampfes ein angeschossenes Stück Wild gefunden, das nicht weit von der Stelle verendet lag, und es dauerte auch nicht lange, so spürten die Gendarmen den dritten Wilderer heraus, der, die Haut voller Schrote, im Dorf krank lag und sich erst gar nicht wollte untersuchen lassen.

Jetzt begann ein langes Verhör, aber die beiden ertappten Wilderer fanden bald, daß ihnen Leugnen nichts mehr half, ja der Eine von ihnen gab sogar seine übrigen Helfershelfer an, wonach sich dann herausstellte, daß die ganze Bande aus sieben Mann bestanden hatte, die den Wilddiebstahl, von den großen Dickungen begünstigt, schon lange geschäftsmäßig betrieben haben mußten. Sie wurden Alle zu ziemlich schwerer Strafe verurtheilt und der Wald bekam jetzt Ruhe. Wenn auch vielleicht noch manch’ Einer in der Nachbarschaft lebte, der seiner Zeit ebenfalls kein Kostverächter gewesen, so schien ihm doch die Sache, im Verhältniß zu dem Nutzen, den sie brachte, ein wenig zu gefährlich geworden zu sein, um gleich Hals und Kragen daran zu setzen, und sie ließen’s lieber bis auf ruhigere Zeiten.

[S. 188]

Raischbach hatte übrigens in der Nacht einen tüchtigen Denkzettel bekommen, der ihn für ein paar Wochen an sein Lager fesselte; denn wenn die Kugel auch glücklicher Weise keinen Knochen getroffen, war es doch ein häßlicher Fleischriß, der seine Zeit zum Heilen verlangte.

Indessen pflegte ihn die Frau Försterin und die alte Lisei nach besten Kräften, und die Letztere besonders wachte in der ersten Zeit, wo er ein tüchtiges Wundfieber bekam, ganze Nächte bei ihm. Seine kräftige Natur erholte sich aber doch bald wieder und es heilte rasch; nur schonen mußte er das Bein noch und durfte nicht hinaus in den Wald, bis die Wunde vollständig verharrscht war, und das kümmerte ihn dabei am Meisten.

Ein Jäger im Bett — es gibt nichts Trostloseres — und das noch dazu in der besten Jagdzeit; aber es half nichts, er mußte aushalten, und die Frau Försterin litt schon selber gar nicht, daß er sich vor der Zeit wieder anstrengte.

Und was für Muße hatte er jetzt wieder, über alte Geschichten nachzugrübeln — er wollte zuletzt gar nichts mehr denken, und wenn dann die alte Lisei kam, forderte er sie auf, ihm Etwas zu erzählen — und selten umsonst. Die Alte hatte schon lange den Mann lieb[S. 189] gewonnen, weil er ganz anders war als das übrige junge Volk, und nie über ihre Erzählungen lachte oder gar darüber spottete. Sie erfüllte deßhalb auch gern seinen Wunsch; aber das Einzige, über was sie sprechen konnte, war eben das, was sie nicht begriff — das Uebernatürliche, Uebersinnliche, und darin besaß sie entweder eine reiche Phantasie oder ein vortreffliches Gedächtniß, denn sie konnte ihm stundenlang von all’ dem Geisterhaften berichten, was den Wald belebte, und Bernhard lag dann mit halbgeschlossenen Augen auf seinem Bett, hörte ihr zu und dachte an seine fremde Maid, die er selber da draußen getroffen.

Endlich war die Wunde geheilt, und der Dorfchirurg, der ihn manchmal besuchte, gestattete ihm, daß er wieder hinaus dürfe, wenn er sich auch noch tüchtig schonen müsse. Vor allen Dingen verbot er ihm anstrengende Touren und gestattete nur einen ruhigen Pirschgang vielleicht, bei dem er sich manchmal eine Stunde ansetzen oder rasten konnte.

Das war dem jungen Jäger gerade recht — weiter verlangte er nichts, und schon der nächste Morgen sah ihn wieder mit seiner Büchse im Wald; denn jetzt hatte er die beste Zeit, um sich auf den alten Bock anzusetzen und ihm seinen Wechsel abzulauschen — aber[S. 190] es war nichts und der Bursche viel zu schlau für ihn, um ihm irgendwo in den Weg zu laufen.

So wurde es Herbst, und Raischbach hatte sich einen ganz vorzüglichen Dachshund von einem benachbarten Förster gekauft, den er, wie sich bald auswies, auch vortrefflich als Schweißhund benützen konnte. Der Hund war jedenfalls ausgezeichnet und von da an des jungen Forstgehülfen steter Begleiter; ja selbst auf den Anstand konnte er ihn mitnehmen, denn „Dachs“, wie er ihn genannt, rührte sich nicht und lag stundenlang, ohne auch nur den Kopf zu heben, an seiner Seite.

Der junge Forstgehülfe war aber so oft dem Bock jetzt zu Gefallen gegangen und immer vergeblich, daß er es zuletzt satt bekam. Förster Buschmann hatte ganz recht, wenn er behauptete, es sei ihm eben nicht beizukommen und er müsse seine Zeit abwarten — vielleicht glücke es doch einmal. Mit desto größerem Eifer legte er sich aber dafür auf die Fuchsjagd, und wie der erste Schnee fiel und die Bälge brauchbar wurden, leistete er darin Außerordentliches. Bis Mitte Dezember hatte er allein schon sieben geschossen, und Förster Buschmann, dem die Bälge als Jagdrecht gehörten, hätte sich allerdings keinen besseren Forstgehülfen wünschen können.

[S. 191]

Es war Mitte Dezember und wieder in der Nacht ein Neues[C] gefallen, als Raischbach auch schon, noch Morgens vor Tag, seinen Dachs fütterte, selber seinen Kaffee trank, ein Stück Brod und einen Schnaps in seine Jagdtasche schob und hinausging, um abzuspüren.

Oft und oft war er im Spätsommer und Herbst den alten Weg gegangen, und wie hatte er sich dann bald die Augen aus dem Kopfe geschaut, um das bunte Tuch wieder durch die Büsche scheinen zu sehen und dem lieben Mädchen noch einmal zu begegnen. Sie kam nicht — es blieb immer vergebens, und wenn er auch jetzt im Schnee nicht daran denken durfte, sie draußen im Wald zu treffen, flogen doch trotzdem die Gedanken, als er sich wieder dem Fuchsbau näherte, zu ihr zurück, und leise vor sich hin mit dem Kopf schüttelnd, sagte er halblaut:

„Es bleibt doch eigentlich merkwürdig, daß ich das Blitzmädel nie wieder treffen konnte, und daß sie gerade damals hier am Bau wie in den Boden hinein verschwand. Wenn sie nur wenigstens den kleinen Pfad gehalten hätte, so mußte ich sie drunten noch einmal sehen, und was hat sie in der Tannendickung zu[S. 192] suchen, denn die Felsenwand kann sie ja doch nicht hinunter sein.“

Noch während er sprach, hatte er die nämliche Stelle erreicht, wo er sie damals getroffen, und schritt fast unwillkürlich an dem hier etwas offenen Holzrand hin, dem das Mädchen damals, die ersten Schritte wenigstens, gefolgt. Wie er aber zu dem Punkt kam, wo er sie aus den Augen verloren, blieb er überrascht stehen, denn da lief eine frische Fuchsspur, wie eben erst eingedrückt, quer über den Pfad und gerade nach der Wand zu, an der sie damals verschwand. Also gab es hier wirklich einen möglichen Pfad dort hinab — denn wo ein Fuchs fortkommt, weßhalb soll da nicht auch ein Mensch gehen können?

Der Forstgehülfe schritt vorsichtig und geräuschlos, und mit dem Fuß vorher sorgfältig sondirend, damit ihm der Schnee nicht darunter wegrutschte und er vielleicht die Klippe hinabstürzte, bis zum äußersten Rand und bog sich dort über, brauchte auch nicht lange, um die da hinabführenden Fährten zu erkennen. Meister Reinecke war wirklich ganz behaglich hinabgestiegen, und zwar an einer Stelle, die er selber bis dahin für ungangbar gehalten. — Und wo stak er jetzt? Der Forstgehülfe stand mit gespanntem Gewehr oben auf dem Rand des Felsens und bog sich so weit als mög[S. 193]lich vor, und hinter ihm schnüffelte sein Dachs die frische Spur. Da plötzlich sah er dort unten, etwa in der Mitte der Wand, sich etwas Dunkles regen — das waren die spitzen Lauscher eines Fuchses. Unwillkürlich hob er das Gewehr an den Backen — wenn er nur noch ein klein wenig vorkam, daß er wenigstens den vollen Kopf erkennen konnte. Jetzt war er wieder verschwunden, oder wenigstens durch vorhängendes, mit Schnee bedecktes Gesträuch verdeckt — Raischbach blieb aber, ohne sich zu regen, in seiner Stellung, und es dauerte auch in der That keine halbe Minute, bis der Fuchs plötzlich wieder, etwas weiter unten zwar, aber nun vollständig zum Vorschein kam. In dem Moment krachte auch der Schuß, und Reinecke, seinen Halt verlierend, stürzte, entweder todt oder doch schwer angeschossen, den letzten Absatz hinunter in die Büsche hinein. Von da oben aus war allerdings Nichts mehr zu machen, denn in dem schlüpfrigen Schnee durfte er nicht wagen an dem steilen Hang hinab zu klettern. Er besann sich aber auch keinen Moment — den Fuchs mußte er haben, und seine Büchsflinte erst wieder frisch ladend, eilte er dann, so rasch ihn seine Füße trugen, den Pfad hinab und in den eigentlichen „Grund“ selber hinein.

Jetzt galt es, die Stelle wieder zu finden, auf der[S. 194] sein Fuchs liegen mußte. Diese war auch nicht gut zu fehlen, denn wie er nur in die Nähe kam, erkannte er schon an einzelnen an der Wand haftenden Schneeklumpen den rothen Schweiß, den der angeschossene Fuchs beim Abstürzen dort hinterlassen, und erreichte gleich darauf den Platz, wo er zu Boden geschlagen war — eine förmliche Schweißlache zeichnete den Ort an — aber der Fuchs lag nicht dabei. Freilich hatte er nicht fortgekonnt, ohne in dem Schnee eine vollkommen deutliche Spur zu hinterlassen — auch nicht mehr springen konnte er — nur durch den Schnee sich fortschleifend zog sich die rothe Spur gegen die Wand hin, und dort stand Raischbach gleich darauf vor einer Felsspalte so hoch, daß ein Mann hätte gebückt hineinkriechen können — und dort drinnen stak er jetzt.

„Ist der sappermentische Bursche doch noch zu Bau gekrochen!“ murmelte der junge Forstgehülfe vor sich hin; „na, Dachs, dann wirst Du jetzt Deine Schuldigkeit thun müssen und ihn herausholen. Weit kann er nicht mehr hinein sein, und vielleicht liegt er gleich verendet vorn dran.“

Damit löste er, ohne an die Warnung des Försters zu denken, den Hund von der Leine, der sich vor Ungeduld kaum lassen konnte. In dem Moment aber, wo er sich frei fühlte, sprang er schon winselnd auf[S. 195] der breiten Schweißspur fort und war im nächsten Augenblick in der Felsspalte verschwunden. Dort aber gab er augenblicklich Laut, der Fuchs mußte wirklich unmittelbar am Eingang gesessen haben und mit dem kleinen muthigen Hund sogleich handgemein geworden sein. Der Kampf zog sich aber etwas weiter in die Höhle, indeß nicht so weit, daß nicht Raischbach, der vergnügt lauschend davor stand, jeden Ton, jedes Knurren hätte hören können. — Jetzt plötzlich war Alles ruhig. Der junge Forstmann horchte — nichts regte sich mehr. Der Dachshund mußte den Fuchs todt gebissen haben und dann zerzauste er ihn erst eine Weile.

„Dachs!“ rief Raischbach hinein, „komm’ heraus, mein Hund — hier, Dachs! so schön, mein Hündchen!“

Er horchte wieder, und es war ihm fast, als ob er ein leises Winseln höre. Er pfiff jetzt, aber keine Antwort — er pfiff stärker — Alles vergebens, weder von Fuchs noch Hund mehr ein Laut, und der Jäger stand kopfschüttelnd vor dem Bau und wußte nicht, was er daraus machen sollte. In solchen Fällen dauert es aber manchmal eine lange Weile, bis der Hund wieder zum Vorschein kommt, und Raischbach wartete deßhalb auch wohl eine volle Stunde geduldig, aber immer umsonst, und das wurde ihm zuletzt langweilig.

„Ei zum Wetter,“ brummte er endlich zwischen[S. 196] den Zähnen durch, „ich kann doch hier wahrhaftig nicht den ganzen Tag im Schnee hocken bleiben, und der Hund kommt nicht — wenn ich nun selber einmal dort hinein krieche? breit und hoch genug ist die Spalte, aber auch stockdunkel drin. Wart, da draußen, gar nicht weit, stehen ein paar Klafter Kiefern, Scheit und Stöcke, an denen ist eine Masse Kien, wie ich neulich gesehen habe, und da wollen wir bald eine Fackel zurecht machen. Es geht Alles in der Welt, wenn man es nur gescheidt anfaßt — vielleicht kommt auch bis dahin der Dachs von selber heraus und bringt den Fuchs mit; denn drin läßt er ihn nicht, wenn er todt ist, das weiß ich gewiß.“

Mit dem Entschluß drehte er sich auch schon um und schritt in seinen Fährten zurück wieder dem Eingang zu, ging von dort querüber der Stelle zu, wo er das geschlagene Holz wußte, und hatte auch bald gefunden, was er suchte. Einige der Scheiter, von denen er natürlich erst den Schnee abschütteln mußte, waren außerordentlich fett und kienhaltig, und mit seinem Hirschfänger hieb er sich rasch und leicht eine ganze Partie Spähne herunter, mit denen er eine vortreffliche Fackel herstellen konnte. Damit eilte er denn, so rasch er konnte, wieder zu dem Bau zurück, legte draußen Gewehr und Jagdtasche ab, was er beides da drinnen nicht gut[S. 197] brauchen konnte, nahm erst noch einen tüchtigen Schluck Branntwein aus der Flasche, entzündete dann seine rasch zusammengebundene Fackel, während er ein paar andere starke Spähne noch in der linken Hand hielt, und kroch dann, als er erst laut, aber wieder vergebens, seinem Hund gepfiffen, ohne Zögern in den Bau hinein.

Zuerst überkam ihn in dem dunklen Loch, in dem die Fackel ihr rothes Licht verbreitete, ein merkwürdiges Gefühl, und lachend dachte er bei sich: „Wenn jetzt mein alter Förster und besonders die Lisei wüßte, daß ich in dem Fuchsbau umherkröche, um dem wilden Jäger und den Erdweiblen einen Besuch abzustatten, wie die die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würden! — Erdweible, hem: na hier wohnt das hübsche Mädchen wahrhaftig nicht, das ich damals da oben getroffen — wo nur der verdammte Dachs steckt!“

Wieder pfiff er leise, um eine Antwort von seinem Hund zu hören, und hob die Fackel so hoch das gehen wollte empor, damit sie den düsteren Raum etwas besser beleuchtete — aber nichts war zu hören noch zu sehen, und kopfschüttelnd kroch er weiter in die Nacht hinein.

Die Felsspalte lief hier schräg in die Wand, als[S. 198] er aber auf den Boden leuchtete, erkannte er deutlich die Schweißspur des angeschossenen Fuchses. In der richtigen Bahn war er jedenfalls; hier erweiterte sich auch die Höhle etwas, und er hob wieder seine Kienfackel in die Höhe und that noch einen Schritt vor. Da rutschte plötzlich der Boden unter seinen Füßen weg, er griff schnell mit beiden Händen aus, konnte sich aber an der schlüpfrigen Wand nicht halten und stürzte im nächsten Momente schon in eine, wie er glaubte, bodenlose Tiefe hinab.

[C] Ein „Neues“, ein frischer Schnee in der Jagdsprache.

Viertes Kapitel.
Im Fuchsbau.

Das war ein Sturz! Dem jungen Forstmann knackten alle Knochen, als er unten ankam, und im ersten Moment schien es ihm, als ob das ganze Gewölbe von Myriaden Sternen und Leuchtkugeln brillant erhellt wäre. Dann schwanden ihm die Sinne und er wußte gar nicht, wie lange er mochte so gelegen haben, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter fühlte und eine leise freundliche Stimme hörte, die sagte: „Schau’, schau’, das ist wahrlich der junge Jäger aus dem Wald da droben. Aber wie kommt der hier herunter zu uns, und wie bleich er aussieht und wie blutend — armer[S. 199] Mensch“ — und Raischbach war es, als ob sich eine leichte weiche Hand auf seine Stirne gelegt hätte. Ueberrascht schlug er auch jetzt die Augen auf und schaute verwundert um sich her, denn er befand sich in einer hohen, geräumigen, aber auch hell erleuchteten Halle, aus deren Felsspalten zahllose kleine Flammen in regelmäßigen Zwischenräumen hervorbrachen. Ueber ihn gebeugt aber, das liebe, herzige Gesicht von Mitleiden erfüllt, erkannte er die fremde Maid im Walde — genau so wie er sie damals im Sonnenlicht gesehen, nur daß sie ihm jetzt noch tausendmal lieber und schöner vorkam, und sich auch nicht im Mindesten vor ihm zu fürchten schien.

„Ja aber wie ist mir denn?“ rief er und richtete sich erstaunt auf seinem Ellbogen empor — „wo bin ich denn hingerathen und wer bist denn Du, Du liebes Kind, mit Deinen großen guten Augen, das ich die langen Monate da oben immer und immer umsonst gesucht habe und nirgends finden konnte?“

„Schau’ wie Du lügst!“ lachte das junge Wesen schelmisch — „mich hättest Du gesucht? so? aber ich weiß es besser, dem alten starken Bock bist Du zu Gefallen gegangen, dem mit dem starken Gehörn auf, aber nicht mir. Gelt ich hab’ recht? — Den aber[S. 200] erwischst Du schon nicht — wär’ auch schad drum, denn er ist der schönste im ganzen Gebirg.“

„Und wohnst Du denn hier unten im Berg?“ frug der junge Mann, der sich noch immer nicht von seinem Erstaunen erholen konnte.

„Nun?“ meinte das Mädchen, „hab’ ich’s Dir denn nicht damals gesagt, daß ich im Bau wohne? Du hast’s wohl nicht geglaubt. Aber willst Du da auf der feuchten Erde liegen bleiben? Warum stehst Du denn nicht auf und kommst mit?“

„Mit? wohin?“

„Nun, in unsere Stadt — wie Du sonderbar fragst. Du glaubst wohl, wir hausen hier unten in Höhlen und Erdlöchern wie die Füchse?“

„Sonderbar,“ murmelte Raischbach vor sich hin, indem er aber doch ihrer Aufforderung Folge leistete und sich emporrichtete. Es ging auch; Anfangs war’s ihm gewesen, als ob er bei dem Sturz Arm und Bein gebrochen haben müsse, jetzt aber fühlte er nicht den geringsten Schmerz, ja sich im Gegentheil so leicht und frisch, als ob seine Füße kaum den Boden berührten.

„So,“ sagte das Mädchen, als sie sah, daß er wieder aufrecht stand, „nun wasch’ Dir erst einmal an der Quelle da das Blut ein wenig aus dem Gesicht, denn sie brauchen drüben gar nicht zu wissen, daß Du[S. 201] Hals über Kopf zu uns herunter gepoltert bist, und dann wollen wir gehen.“

Der junge Forstgehülfe kam sich noch immer wie in einem Traum vor, aber er folgte doch dem Rath, und sich jetzt plötzlich wieder zu seiner Führerin wendend, frug er sie: „Aber wie heißt Du selber? Du hast mir ja Deinen Namen noch gar nicht genannt.“

„Ich hab’ gar keinen Namen,“ lachte aber die Kleine schelmisch mit einem halben Knix, „ich bin ja ein Waldweible, und die laufen immer nur so herum.“

„Ach geh’,“ sagte Bernhard, „Du wirst doch einen Namen haben; wie soll man Dich denn rufen?“

„Du brauchst mich gar nicht zu rufen!“ lachte das Mädel, „ich bin immer da und werde Dich jetzt getreulich geleiten.“

„Aber ich muß Dich doch nennen können!“

„Ich weiß ja auch nicht einmal, wie Du heißt.“

„Hab’ ich Dir meinen Namen nicht damals genannt?“ sagte der junge Forstmann — „Bernhard Raischbach heiß’ ich und bin Forstgehülfe oben im Spessart.“

„Ja, wer kann alle Namen behalten!“ lachte die Maid. „Also muß ich Dich wohl ‚Herr Forstgehülfe‘ nennen, wie es die alte Lisei thut?“

„Kennst Du denn die auch?“ rief der Jäger erstaunt.

[S. 202]

„Weßhalb soll ich die Lisei nicht kennen, wohnt sie doch lang genug da drüben in der Forstei und ist gar ein frommes, gutes Geschöpf, die immer gleich ein Kreuz schlägt, wenn sie was Unrechtes wittert. Die hat eine Nase! Aber jetzt komm’. Blitz noch einmal, bist Du langweilig und ja gar nicht von der Stelle zu bringen! Droben im Walde warst Du doch flink genug auf den Füßen, und ich mußte damals geschwind machen, daß ich Dir die Wand hinunter aus den Augen kam.“

„Und den steilen Pfad bist Du wirklich hinabgesprungen?“

„Bah, was ist denn das weiter?“ lachte das Mädchen; „jeder Fuchs geht ja da aus und ein.“

Dabei hatte sie ihn an der Hand genommen und führte ihn jetzt die Höhle entlang deren Ende zu, wo sie in einen langen schmalen Gang auszumünden schien. Der Gang aber führte immer mehr bergab, und als Bernhard den Blick zurückwarf, kam es ihm vor, als ob er sich etwas drehe.

„Aber wo geht denn das hin?“ frug er.

„Wirst’s gleich sehen,“ lautete die Antwort — „Du weißt ja doch, daß jene alte Stadt, von der Dir der Förster erzählt, gerade an der Stelle gestanden hat, wo jetzt der tiefe Grund liegt, und da müssen wir hinunter; aber ’s ist nicht weit mehr,“ tröstete sie ihn[S. 203] „siehst Du, da unten kannst Du schon den hellen Schein erkennen.“

„Wo kommen nur all’ die Flammen her, die ihr hier brennt?“

„Die Flammen?“ sagte das Mädchen — „ei, das ist Erdöl, das aus den verschiedenen Ritzen und Spalten herausschwitzt und bloß angezündet zu werden braucht, wenn man es unten hell zu haben wünscht. Erdöl giebt’s genug und überall; das brennt ewig.“

Raischbach wußte gar nicht, wie ihm eigentlich geschah; immer aber mußte er wieder seine Begleiterin ansehen, und er konnte sich gar nicht denken, daß es etwas Lieberes auf der Welt geben möge, als ihr freundliches Gesicht. So weiß und zart sah ihre Haut aus, so leicht von Roth waren ihre Wangen angehaucht, und was für wundervolles, dunkel kastanienbraunes Haar sie hatte — und was für Augen — ihr Feuer brannte ihm tief in’s Herz hinein, und wie er den Druck ihrer Hand fühlte, als sie ihn den steilen, schlüpfrigen Hang hinableitete, war es ordentlich, als ob es ihm die Nerven bis in die Fußzehen und Fingerspitzen hinein erzittern machte. Sie selber aber schien von dem Eindruck, den sie auf den jungen Forstmann ausübte, nicht die geringste Ahnung zu haben, sondern schritt so unbefangen und ruhig neben ihm[S. 204] her, als ob er eben nichts wie ihr täglicher Begleiter wäre.

Da öffnete sich plötzlich vor ihnen der bis jetzt schmale Gang zu einer weiten Ebene, die aber von einem blendend hellen Lichtkörper erleuchtet wurde, während hoch darüber dunkle und undurchdringliche Nacht zu liegen schien, und in der Ebene sah der Forstgehülfe eine weite, alterthümliche Stadt, mit einer breiten, aber niederen Kirche und einem Kirchthurm, dessen fast moscheenartig gerundete Kuppel wie von lauterem Golde blitzte und strahlte. Als er aber genauer hinsah, bemerkte er, daß gerade diese Kuppel der Körper sei, von dem aus das Licht über die ganze Gegend floß, so daß sie wie eine strahlende Sonne über den Häusern lag.

Seine Aufmerksamkeit wurde indessen bald einem Haufen riesengroßer, doch furchtbar magerer Rüden zugelenkt, die mit schrecklichem Geheul und Gebell auf sie einfuhren und nicht übel Lust zu haben schienen, über sie herzufallen. Bernhard griff auch schon nach seinem Hirschfänger, um sich und seine Begleiterin zu vertheidigen. Diese aber lachte und rief: „Lass’ nur den Hirschfänger stecken, Freund, die thun uns nichts, das sind die Hunde des Grafen Hackelnberg Und bloß darauf abgerichtet, rechten Lärm zu machen.“

[S. 205]

„Dem Grafen Hackelnberg gehören die?“ rief der Forstgehülfe, „dem wilden Jäger?“

„Ja, gewiß,“ sagte das Mädchen, „der hat sich hier schon lange bei uns eingenistet, reitet aber nur selten noch aus, denn er leidet so furchtbar an der Gicht.“

„Der wilde Jäger?“ rief Raischbach erstaunt aus, während die Hunde wieder von ihnen abließen — „aber ich dachte immer, der Graf Hans von Hackelnberg hause im Harzgebirge?“

„Da war er auch früher,“ nickte das Mädchen, „aber es muß ihm wohl dorten langweilig gewesen sein, und weil er hier bessere Gesellschaft gefunden hat, ist er hierher gezogen. O, es wohnen eine Menge vornehmer Leut’ hier,“ fuhr die Maid bedeutsam mit dem Kopf nickend fort — „Du wirst Dich wundern, wenn Du sie einmal alle beisammen siehst, denn so ein lauschiges Plätzchen giebt’s gar nimmer mehr an irgend einer Stelle in der ganzen Welt, wie bei uns im Grund.“

Während sie noch so plauderte, waren sie auf den offenen Raum hinausgetreten, und der junge Forstgehülfe sah hier allerdings eine vollständig neue Welt, die sich ihm, je weiter er hineindrang, mehr und mehr erschloß.

[S. 206]

Das mußte eine uralte Stadt sein, die hier unten im Grunde lag, denn die Häuser sahen alle grau und verwittert genug aus, und auf den Dächern und Mauern wuchs Hauslauch in ganzen Büscheln, während von manchen Dachrinnen das Moos in langen grünen Quasten bis fast zur Erde niederhing. Aber die Fenster sahen trotzdem spiegelblank aus, und jedes Haus hatte seinen kleinen freundlichen Garten, in welchem, trotzdem daß oben auf der Erde jetzt Schnee lag und tiefer Winter war, die schönsten Blumen wuchsen und reife Stachelbeeren, Kirschen und Pflaumen hingen.

Links am Eingang lag ein reizendes kleines Landhaus mit einem schmalen, aber langen Teich, der es halb umschloß und auf dem die wundervollsten Wasserlilien wuchsen.

„Da wohnt die Frau Holle,“ sagte die Maid, „wenn sie manchmal zu uns auf Besuch kommt.“

„Die Frau Holle? — ist es denn möglich? Und da drüben wohnt wohl der Förster? Zu dem könnten wir vielleicht einmal hineingehen und ihm guten Tag sagen.“

„Ja nicht!“ warnte aber das Mädchen; „wir wüßten nicht, wie wir empfangen würden und ob er gerad’ bei guter Laune wäre. Das ist auch nicht das[S. 207] Forsthaus, sondern da haust der Graf Hackelnberg, und manchmal ist er gut und freundlich mit den Leuten, manchmal aber, wenn er seinen bösen Tag hat, hetzt er die Hunde auf sie und treibt allerlei Unfug. Das ist und bleibt ein wilder Gesell.“

Raischbach war stehen geblieben und besah sich das Haus — es war ein graues, aus Stein aufgeführtes Gebäude, fast wie eine Forstei, nur hinten mit einem kleinen Wartthurm, über der Thür aber ein mächtiges Hirschgeweih von einem Zweiunddreißig-Ender befestigt, wie sie jetzt gar nicht mehr im Walde vorkommen, und auch unter dem Giebel mit einer Menge von Jagdtrophäen geschmückt.

Das Mädchen zog ihn aber weiter, denn es kamen eine Menge Leute die Straße herunter. Sie sahen auch den jungen Fremden wohl verwundert an, grüßten doch aber Alle freundlich und ließen ihn ungehindert ziehen — nur ein anderes junges Mädchen griff seine Begleiterin am Arm, zog sie ein wenig bei Seite und flüsterte ihr, aber laut genug, daß es Raischbach hören konnte, zu: „Wen hast Du denn da aufgegabelt und wo kommt der her?“

„’s ist bloß ein Besuch,“ sagte aber die Maid, „ein braver junger Mensch, der sich einmal bei uns umsehen will.“

[S. 208]

„Aber darf er denn das?“

„Und warum nicht? — wer kann’s ihm wehren? er nimmt ja nichts mit fort.“

Das andere Mädchen schüttelte mit dem Kopf, als ob ihr die Sache nicht recht wäre, oder doch sonderbar vorkäme, sagte aber nichts weiter, sondern nickte nur „grüß Gott“ und folgte den Anderen.

Den Weg herunter und ihr folgend kam jetzt eine alte Frau an einem Krückstock, die aber, als sie den Fremden sah, mitten in der Straße stehen blieb und ihn groß betrachtete.

„Grüß die!“ flüsterte da die Maid dem jungen Jäger wie ängstlich zu — „sei fein höflich, sonst wird sie bös.“

Raischbach folgte ihrem Rath, die Alte hatte in der That ein bitterböses Gesicht; als er aber sehr höflich seinen Hut zog, heiterte es sich etwas auf. Sie murmelte nur ein paar unverständliche Worte aus ihrem zahnlosen Mund und humpelte dann vorüber.

„Wer war denn das?“ sagte der junge Forstgehülfe, als sie sich außer Hörweite von ihr befanden.

„Kennst Du die nicht einmal?“ lachte das Mädchen — „die alte Urschel vom Urschelberg[S. 209] drüben, die manchmal hier bei uns zuspricht; da kommen auch ihre drei Nachtfräulein; die sind aber gut und brav.“

Drei bildschöne, weißgekleidete Jungfrauen schritten mit niedergeschlagenen Augen an ihnen vorüber; ehe sie aber Bernhard ordentlich betrachten konnte, hörte er donnernde Hufschläge dicht hinter sich auf der Straße und hatte wirklich kaum Zeit, bei Seite zu springen, als auch schon ein milchweißes Roß mit einer in grünen Sammet gekleideten Reiterin an ihm vorüberflog. Von ihrem Haupt wehten lange, rabenschwarze Locken aus, von ihrem Barett schwankten lange, prachtvolle Reiherfedern, und auf der linken Faust hielt sie eine mächtige Eule, die sich fortwährend gegen den Wind duckte und die Flügel halb ausbreitete, als ob sie eben abstreichen wolle.

Der junge Forstgehülfe wollte sich eben wieder erstaunt zu seiner Führerin wenden, als die wilde Reiterin ihren Zelter plötzlich auf den Hinterbeinen herumwarf, daß die Eule bei der unerwarteten Bewegung kaum ihren Stand bewahren konnte. So zügelte sie ihr Thier vor dem Jäger ein, dessen Beruf sie wohl rasch an der Kleidung erkannt hatte, und rief: „Hallo, wen haben wir da? Waidmanns Heil, mein Bursch’; woher des Weges?“

[S. 210]

„Von droben, Fräulein Berchta,“ sagte da seine junge Begleiterin; „aus dem Spessart herunter; er ist nur zum Besuch gekommen.“

„Hat er Dich besucht, Schatz?“ lachte die junge Dame, „und kann er nicht selber Red’ und Antwort stehen?“

„Doch, Fräulein,“ sagte der Forstmann, der sich rasch gesammelt hatte und jetzt schon anfing, gar nichts Außerordentliches mehr in all’ dem Wunderbaren zu finden, das ihn hier umgab; „ich kann wohl selber reden, hoffe aber, daß ich hier unten Niemanden zur Last falle, sonst gehe ich eben wieder meiner Wege.“

„Ei, ein Waidmann ist überall willkommen,“ lachte die junge Dame; „wenn Ihr da oben auch jetzt Eure Jägerei treibt, daß es eine Sünd’ und Schande ist — ich weiß wohl,“ winkte sie mit der rechten Hand — „ihr Forstleute könnt nichts dafür, und seid eigentlich jetzt mehr Schreiber als Jäger da oben im schönen Wald. Beim Himmel! was das da für ein ewiges Geklopfe und Gehacke ist, und ein Baum nach dem andern wird umgehauen und aus dem herrlichsten Wald elendes Rübenfeld gemacht. Aber ich will mich nicht ärgern, denn wenn ich nur dran denke, läuft mir schon die Galle über,“ brach sie kurz ab. „Kommt nachher einmal in die Wolfs[S. 211]schlucht — heut Nachmittag sind wir da Alle zusammen, daß wir ein vernünftiges Wort mitsammen reden können — jetzt hab’ ich keine Zeit,“ und ihren Schimmel wieder herumwerfend, flog sie, wie sie gekommen, die Straße hinab.

„War denn das die Fräulein Berchta, die mit dem wilden Jäger sonst geritten ist?“ frug Bernhard erstaunt seine Begleiterin.

„Gelt, das ist ein stolzes Weibsen!“ nickte diese, „aber gewiß war sie’s, mit der Tut-Osel auf der Faust, wie sie immer ausreitet, oder den großen häßlichen Vogel auch manchmal hinter sich herfliegen läßt. Wild ist sie aber noch immer und kann das alte Leben wohl am Schwersten von Allen vergessen.“

„Aber wo ist hier die Wolfsschlucht — oben kenne ich eine, doch hier unten —“

„Da drüben steht sie!“ lachte die Maid, auf ein breites, sehr wohnliches Haus deutend — „das ist der Gasthof im Ort, den der alte Eckardt hier unten hält.“

„Der getreue Eckardt?“

„Ja gewiß.“

„Und der ist Wirth geworden?“

„Und warum sollte er nicht? Der alte Wirth war reich und bequem geworden und hatte das Ge[S. 212]schäft aufgegeben; es wollt’ auch eigentlich Keiner mehr zu ihm, denn er betrog die Leut’ zu sehr. Da hat’s der alte gute Eckardt übernommen, denn ein Wirthshaus mußten wir doch haben, und zu dem geht jetzt Alles — unten hinein das Volk und oben im ersten Stock hat er auch ein Kasino angelegt für die Vornehmen.“

„’s ist rein zum Verrücktwerden!“ murmelte Raischbach vor sich hin, als das Mädel da so ruhig von lauter Persönlichkeiten plauderte, die er sich bis dahin nur als wilden Spuk gedacht, „und man möchte wahrhaftig glauben, man träumte die ganze Geschichte nur, wenn sie nicht so leibhaftig um Einen herstünde. Ich mag mich aber zwicken, wie ich will, ich wach’ doch, und das Alles muß ja wohl so sein, wie es eben ist.“

„Thut Dir noch was weh von dem Fall?“ frug das Mädchen, als sie sah, daß er sich bald am rechten, bald am linken Arm anfaßte und auch nach dem Kopf hinaufgriff.

„Das nicht grad’,“ meinte er etwas verlegen, denn er mochte ihr doch nicht sagen, was ihm eben durch den Sinn gefahren — „nur im Kopf brummt und summt mir’s so.“

„Das ist das ewige Brausen und Kochen tief in der Erde Grund,“ sagte die Maid, „was wir hier[S. 213] deutlicher hören, als ihr da oben; daran wirst Du Dich bald gewöhnen, wenn Du erst einmal eine Weile bei uns bist.“

„Hussa! hussa! hallo!“ tönte plötzlich ein wilder Jagdruf durch die Luft, und ein paar scheue Menschengestalten, denen der Kopf in Feuer zu stehen schien, so lichterloh brannten ihnen die Haare, fuhren wie Kaninchen über den Weg. Hinter ihnen her aber, ihre Rüden hetzend, und die Eule jetzt in freier Flucht nach den Gehetzten immer mit den Flügeln schlagend, setzte die wilde Reiterin auf ihrem Schimmel quer über die Gartenzäune und Sträucher weg, und kläffende Rüden heulten an ihrer Seite.

„Um Gottes willen!“ rief Raischbach erschreckt aus, „was haben die armen Menschen denn gethan?“

„Ah,“ sagte die Maid verächtlich, „das sind ‚Schretteln‘; denen geschieht’s schon recht, und das Bischen Bewegung kann ihnen nichts schaden.“

„Schretteln?“

„Ja, schlechtes Volk, was seiner Zeit Grenz- und Marksteine versetzt und die Nachbarn um ihren Grund und Boden betrogen hat. Die werden gejagt, wo sie sich blicken lassen, haben hier unten auch gar nichts zu thun und sollen nur machen, daß sie wieder in ihre[S. 214] Sümpfe kommen. Wir brauchen derlei Gelichter nicht.“

„Und wohin gehen wir jetzt?“

„Wart’ hier einen Augenblick, ich bin gleich wieder da,“ sagte das Mädchen — „muß nur erst einmal nach Haus laufen und Dich melden, damit mein Vater weiß, wir kriegen Besuch für die Nacht. Nachher führ’ ich Dich in die Wolfsschlucht, und dann gehen wir zusammen heim.“

„Wenn Du nur einen Namen hättest, daß man Dich nennen könnte,“ sagte Bernhard traurig. „Ich weiß ja nicht einmal, wie ich später an Dich denken soll.“

„Und brauchst Du dazu einen Namen?“ lachte seine Begleiterin. „Warum giebst Du mir denn nicht selber einen? mir ist’s recht.“

„Darf ich?“

„Warum nicht — wem schadet’s was?“

„Aber wie soll ich Dich nennen?“

„Wie Du eben willst — weißt Du keinen hübschen Namen?“

„O gewiß, viele — mein Lieblingsname ist Margarethe.“

„Der klingt auch ganz hübsch.“

„Oder Marie.“

[S. 215]

„Wie Du willst — Marie ist noch kürzer — nenne mich Marie.“

„Ich wollte, Du hießest Margarethe.“

„Bist Du ein komischer Mensch — aber warte nur hier — ich bin gleich wieder da. Leg’ Dich derweil dort unter die Linde und ruh’ ein wenig aus. Du mußt ja auch müde vom vielen Herumlaufen geworden sein.“

Das Mädchen hatte recht; war es die dicke, schwere Luft, die ihm hier unten so das Gehirn zusammendrückte; waren es die vielen fremdartigen Bilder, die ganze unheimliche Umgebung. Er warf sich unter den Baum, und eine Zeitlang kam es ihm vor, als ob Alles in einem wirren Kreislauf vor seinem inneren Blick vorüberflöge. Es wurde auch vollständig dunkel um ihn her, und dann war es ihm wieder, als ob ihn der Kreiser Metzler bei Namen riefe und er antworten wolle und nicht könne.

Fünftes Kapitel.
Beim wilden Jäger.

Er mußte jedenfalls eingeschlafen sein, denn plötzlich fühlte er wieder des Mädchens weiche Hand auf seiner Schulter, und diese rief: „Ei, das lass[S. 216]’ ich gelten; am hellen Tage schläfst Du wie ein Dachs. Ich machte mir schon Vorwürfe, daß ich Dich so lang allein gelassen, aber ich hätte wohl noch länger wegbleiben dürfen.“

„Ach, Marie!“ rief Raischbach, ordentlich erschreckt emporfahrend, „ich glaube wirklich, daß ich eingeschlafen bin.“

„Ja, ich glaub’s auch!“ lachte diese. „Du hast geschnarcht wie ein Dachs — aber jetzt komm’, es ist spät geworden; denn wenn wir noch erst in die Wolfsschlucht wollen, kommen wir nachher gar so lang nicht heim.“

„Aber was sollen wir in der Wolfsschlucht? Ich bleib’ viel lieber bei Dir.“

„Wirklich? Doch das geht nicht an. Das Fräulein hat Dich eingeladen, und die würde schön bös auf mich werden, wenn ich Dich nicht dahin brächte. Da findest Du auch die ganze vornehme Welt von da unten, und der alte gute Eckardt freut sich gewiß, Dich kennen zu lernen. Er hat alle Menschen lieb und ihnen noch nie einen Schabernak oder gar ein Leides gethan.“

„Also ein ordentliches Kasino haben sie dort?“

„Ei, Du wirst staunen, wenn Du’s siehst — aber ich geh’ nicht mit hinauf,“ setzte sie hinzu, „denn[S. 217] Unsereins gehört nicht zwischen die vornehmen Herrschaften, und die Frau Holle würde mich schön über die Achsel ansehen.“

„Ja, kommt denn die auch dahin?“

„Na gewiß — da ist alle Abend große Gesellschaft, und wenn sie einmal recht lustig sind, dann kommen sie auch wohl hierher unter die große Linde und tanzen im Freien; aber das geschieht gar selten, denn die Mannsleute spielen lieber Karten und trinken Wein, und die Frauensleute sitzen beim Kaffee und schwatzen mit einander.“

„Das ist ja aber gerade wie bei uns, Marie.“

„Und warum soll’s nicht wie bei Euch sein?“ sagte das Mädchen ruhig — „waren es doch auch Alles früher einmal Menschen und haben deßhalb ihre alten Gewohnheiten beibehalten; so was ändert sich nicht, und wenn man so alt würde wie die Welt.“

„Und sind wir hier am Haus?“

„Das ist die Wolfsschlucht! siehst Du das Schild nicht am Haus und den großen Wolfskopf drüber in Stein gehauen? Und da kommt auch schon der alte Eckardt. Mit dem lass’ ich Dich allein, er kennt Dich schon; brauchst ihm gar nichts weiter zu sagen, denn der weiß Alles, was droben und drunten geschieht!“

[S. 218]

„Und wann seh’ ich Dich wieder, Marie?“

„Ich pass’ schon auf, wenn Du wieder herunter kommst, und nehme Dich dann nachher mit,“ und ihm freundlich zunickend glitt sie an dem alten Eckardt vorüber, der aber gar nicht den Kopf nach ihr wandte, in das Haus. Vor sich aber bemerkte Raischbach jetzt einen ehrwürdig aussehenden Greis mit weißem Haar und Bart, der einen eigenthümlich alten Rock und kurze Hosen und Schuhe und Strümpfe trug. Aber er sah freundlich und treuherzig aus, und dem jungen Forstmann die Hand entgegenstreckend, rief er: „Gott zum Gruß, Landsmann! Freut mich, daß Ihr auch einmal hier herunter zu uns kommt. Fällt selten hier vor, daß wir Einen von Euch zu sehen kriegen, denn was uns hieher geschickt wird, ist meistens Gesindel, das oben nicht gut thut und daher auf gute Besserung herunter muß.“

„Und kennt Ihr mich denn, Meister Eckardt?“ sagte Raischbach verwundert.

„Weßhalb soll ich Euch nicht kennen?“ lachte der alte Mann. „Hab’ Euch oft zugesehen, wenn Ihr da oben halbe Tage lang auf den alten Bock gepaßt und geblattet habt, während der, kaum zweihundert Schritt von Euch entfernt, ruhig in der Dickung spazieren ging, und nur manchmal seinen Platz wechselte,[S. 219] um wieder Wind von Euch zu bekommen und genau zu wissen, wo Ihr gerade stäket.“

„Ja, der alte Bock,“ sagte Bernhard, „hat mir schon viel Mühe gemacht.“

„Und wird Euch noch mehr machen,“ lachte der Alte, „es ist eben alle Tage Jagd-, aber nicht alle Tage Fangtag, und der Jäger muß Geduld haben, sonst bringt er’s zu nichts. Mit dem Hetzen, wie sie’s zu meiner Zeit getrieben, ist oben nichts mehr auszurichten, denn man kommt nicht mehr durch. Damals ja, da war lauter Hochwald, und man konnte sein Pferd laufen lassen; jetzt aber, wo sie lauter junges Holz anpflanzen, das Dickungen bildet, wo kaum ein Fuchs durchschlüpft, da sollen sie’s wohl bleiben lassen, und die lustige Jagd hat aufgehört.“

„Aber Fräulein Berchta scheint’s doch noch zu treiben,“ sagte Bernhard.

„Das ist ein tolles Mädel,“ meinte der Alte kopfschüttelnd, „und die läßt’s nicht bis in alle Ewigkeit. Aber geht nur hinauf, sie hat schon nach Euch gefragt, und der Hackelnberg ist auch oben und der Ebersberger; die ganze tolle Jagd hat sich versammelt, und Ihr kommt gerade recht.“

„Und darf ich da eintreten?“

[S. 220]

„Geht nur gerade zu und sagt ruhig Euer Waidmannsheil. Derartige Leute sind immer willkommen, wenn ich’s auch gerade keinem Anderen rathen wollte, so ohne Weiteres zu ihnen herein zu brechen.“

Oben an der Treppe war eine breite Flügelthür. Das ganze Haus sah überhaupt vornehm aus und hätte mit seiner innern Einrichtung eben so gut in einer großen Residenz liegen können — und als der alte Eckardt die Thüre öffnete, fand sich Raischbach, fast verlegen, einer ziemlich großen Gesellschaft von Herren und Damen gegenüber, die theils um die Tische zerstreut saßen, theils im Zimmer auf- und abgingen.

Gerade an der Thür vorüber schritt ein stattlicher hoher Mann in einem Jagdwamms mit hohen ledernen Kollerstiefeln, einen Hirschfänger an der Seite, während auf einem der kleinen Tische rechts ein breitkrämpiger grauer Hut mit Birkhahnfedern darauf, ein paar große Stulpenhandschuhe und ein Hüfthorn lagen. Er drehte sich rasch um, als die Thür aufging, als ob er Jemanden erwarte, und Raischbach sah in ein bleiches, aber edles Gesicht, mit langem schwarzem Schnurr- und Knebelbart und dunklen blitzenden Augen — das mußte der Hackelnberg sein, und mit[S. 221] lauter unerschrockener Stimme sagte er sein „Waidmanns Heil! Ihr Herren und Damen!“

„Hallo!“ rief der wilde Jäger, auf dem Absatz herumfahrend — „wen haben wir da? Waidmanns Heil, Gesell! Wo kommst Du her?“

„Von droben, mit Verlaub,“ erwiederte Raischbach, „und wollte mich auch der Gesellschaft nicht aufdrängen, aber die freundliche Einladung der Dame da drüben —“

„Nur keine lange Entschuldigung!“ lachte Fräulein Berchta, die am Fenster saß und an einem großen Jagdnetz zu flechten schien, indem sie ihre Arbeit bei Seite warf und auf ihn zutrat — „seid willkommen, Ihr findet hier lauter gute Freunde.“

„Spielst Du L’Hombre?“ frug der Hackelnberg.

„Das thut mir leid, nein,“ sagte Bernhard; „weiter nichts als deutsch Solo —“

„Das soll der Teufel holen!“ brummte der wilde Jäger ärgerlich, „und der verdammte Hans Jagenteufel verpaßt heute seine Partie. Ich möchte meinen Hals verwetten, der alberne Narr kann wieder einmal seinen Kopf nicht finden.“

„Seinen Kopf?“ sagte Raischbach verwundert.

„Na natürlich, weil er die dumme Gewohnheit[S. 222] hat, ihn unter dem Arm zu tragen. Wenn er ihn dann einmal ablegt, vergißt er immer, wo?“

„Das ist recht gut,“ sagte eine alte würdige Frau, die jetzt auch auf Raischbach zukam und ihm freundlich zunickte, „daß Ihr einmal um Euer häßliches Spiel kommt und Euch der Gesellschaft widmen könnt; es giebt so nur immer Zank und Streit dabei.“

„Bah, Gesellschaft widmen!“ knurrte ein anderer baumlanger Gesell, auch in Jägertracht, aber mit wirrem Haar und Bart und tückisch blitzenden Augen; „das ewige Schwatzen und Klatschen bekommt man auch am Ende satt — Eckardt, schafft wenigstens Wein her, daß wir die Gurgeln nässen können.“

„Aber vorher muß ich unserem jungen Gast doch wenigstens die Gesellschaft vorstellen,“ sagte Fräulein Berchta, „damit er weiß, bei wem er sich befindet.“

„Wir wissen ja selber noch nicht einmal, wie er heißt,“ knurrte der Alte wieder.

„Bernhard Raischbach, Forstgehülfe aus dem Spessart,“ sagte der junge Jäger, sich selbst vorstellend.

„Allen Respekt,“ lachte der wilde Jäger — „nun denn, ich bin Graf Hackelnberg, um mich gleich zu beseitigen, das da Fräulein Berchta, Frau Holle hier[S. 223] — das hier der wilde Ebersberger, ein getreuer Jagdgenosse.“

„O, werdet nicht langweilig, oder ich geh’ meiner Wege,“ knurrte dieser. „He, da kommt Wein! Eingeschenkt, Eckardt! So recht — hier, Herr Forstgehülfe, nehmt einmal den Humpen da und thut Bescheid. Könnt Ihr trinken?“

„Sollt’ es denken,“ lächelte dieser, den riesigen Römer in die Hand nehmend. „Also Ihr Wohl, meine Damen und Herren!“ und da ihm die Zunge ordentlich am Gaumen klebte, leerte er das ganze Gefäß auf einen tüchtigen Zug.

Der Graf Hackelnberg hatte ihn scharf im Auge behalten, aber sein Gesicht heiterte sich sichtlich auf, als er den Zug sah, und wie der junge Forstmann das Glas umdrehte, zum Zeichen, daß er dem Trunk Ehre angethan, schrie er mit lauter donnernder Stimme: „Bravo, mein Junge, das hätte der Ebersberger nicht besser machen können, und der hat ebenfalls eine famose Saugkraft. Hier ein Wohl auf das edle Waidwerk und daß die Aasjäger der Teufel hole!“ und damit stürzte er seinen Humpen ebenfalls hinab.

Der alte Eckardt hatte jetzt kaum Hände genug, um nach allen Seiten einzuschenken, und auch das Ge[S. 224]spräch wurde allgemein. Eben war auch die alte Urschel mit ihren jungen Damen eingetreten, ohne freilich selber Theil daran zu nehmen, denn sie schien nicht geselliger Natur, sondern setzte sich still und mürrisch in eine Ecke und holte sich ein großes Spinnrad vor, während eines der jungen Mädchen ihr eine große Tasse mit Kaffee brachte. Die drei jungen Nachtfräulein aber, — denn seine Begleiterin Marie hatte ihm ja gesagt, daß es solche wären, — schienen ihr scheues verschlossenes Wesen ganz abgelegt zu haben, und plauderten jetzt so auf Raischbach ein und wollten wissen, wie es „da oben“ aussähe und was die Menschen dort trieben, daß er ihnen kaum alle Fragen beantworten konnte. Und wie hübsch — wie wunderhübsch sie waren und was für tiefblaue, treue Augen sie hatten — aber so hübsch wie seine Marie schienen sie doch nicht, wenn sie auch viel edler und vornehmer auftraten und weiße, außerordentlich feine Gewänder trugen.

Auch Fräulein Berchta plauderte viel mit ihm und frug ihn besonders nach dem jetzigen Wildstand da oben, nach den Hirschen und was sie „auf“ hätten, nach den Bären, Luchsen und Wölfen, und wollte es gar nicht glauben, als er ihr sagte, daß von den letztern Raubthieren gar nichts mehr droben im Wald zu[S. 225] finden wäre und sich nur dann und wann einmal ein einzelner Wolf in ihr Revier verlöre.

Aber die drei jungen Nachtfräulein kamen immer wieder auf die Moden an der Oberwelt zurück, und der junge Forstgehülfe, der sich darin vollkommen außer seinem Fahrwasser befand, sollte ihnen bald über Das, bald über Jenes Auskunft geben, wovon er nicht das Geringste wußte.

Da kam ihm der Hackelnberger zu Hülfe, der auch indessen die Geduld verloren hatte, weil sich der Hans Jagenteufel noch immer nicht zu seiner L’hombrepartie einstellte, und mit der Faust auf den Tisch schlagend rief er aus:

„Nun hört, zum Donnerwetter, einmal mit eurem Geklatsch auf; was weiß denn der Jägersmann von euren Falbeln und Stößen und Krinolinen und wie der Unsinn alle heißt. Komm’, mein Herr Forstgehülfe, ich will Dir einmal meine Kneipe zeigen, da wirst Du Dich besser amüsiren — ich habe eine famose Sammlung drüben und ein paar Rehbocksgehörne dabei, gegen die der alte Bock da oben wie ein Spießer aussieht.“

„Wirklich?“ rief Raischbach, während Fräulein Berchta höhnisch lachte; aber der Ebersberger rief:

„Das ist recht, da geh’ ich auch mit — ich habe[S. 226] neulich mit dem Hans Jagenteufel gewettet, daß der eine Sechsundzwanzig-Ender mit der Schaufel auf der linken Stange ein Ungerader wäre, und kann mich da gleich selber überzeugen.“

„Die hast Du verloren,“ lachte der Hackelnberger, indem er sein Hüfthorn umwarf, seinen Hut aufsetzte und seine Handschuhe anzog. „Das ist ein voller, sogar noch mit einem Auswuchs an der rechten Stange, den man recht gut hätte einfeilen und einen ungeraden Achtundzwanziger daraus machen können.“

Raischbach hatte auch seinen Hut aufgegriffen; denn daß ihn der wilde Jäger einlud, mit in sein Haus hinüber zu kommen, war ihm ganz recht. Wie er ihm aber eben folgen wollte, sah er, daß der alte Eckardt an der Thür stand und ihm heimlich zuwinkte, nicht mitzugehen. Erstaunt blickte er ihn an, der Hackelnberg aber, der die Bewegung ebenfalls bemerkt haben mußte, warf ihm einen zornigen Blick zu und rief: „Na, jetzt lass’ die albernen alten Geschichten; ich werd’ ihn nicht beißen, und wenn er Furcht hat, kann er ja ruhig da bleiben.“

„Furcht?“ lachte Raischbach, „wovor soll ich Furcht haben? Ich will Niemanden hier schädigen und hoffe ebenso freundlich behandelt zu werden.“

„Es ist eine alte Angewohnheit von ihm,“ lachte[S. 227] der Hackelnberg, „daß er immer mit dem Kopf schüttelt und ein bedenkliches Gesicht schneidet. Kommt, es wird sonst zu spät — und wenn der Hans Jagenteufel noch eintreffen sollte, so laßt mich’s wissen, Eckardt.“

„Ach, heute giebt’s doch keine Partie mehr,“ brummte der Ebersberger, — „ich gehe auch mit! Vorwärts marsch!“

Der Hackelnberg, von dem Ebersberger dicht gefolgt, verließ das Zimmer und Raischbach schloß sich ihnen an. Unten im Vorsaal aber, ehe sie die Thür verließen, sah er Marie stehen, die ihm verstohlen, aber ängstlich mit der Hand winkte, nicht zu gehen. Raischbach zögerte jetzt wirklich unschlüssig einen Moment, aber der wilde Jäger mußte das auch bemerkt haben, denn rasch und zornig wandte er sich gegen das junge Mädchen, das sich scheu vor den funkelnden Augen des Wilden in eine Kammer zurückzog und nicht wieder zum Vorschein kam.

Im nächsten Moment befanden sie sich draußen auf der Straße und sahen sich auch schon dem mit Geweihen und Jagdschmuck gezierten Hause Hackelnberg’s gegenüber.

Raischbach blickte allerdings erstaunt umher, denn vorher war es ihm so vorgekommen, als ob das Haus[S. 228] viel weiter abseits gelegen habe, aber lange Zeit zum Ueberlegen blieb ihm doch nicht. Graf Hackelnberg schritt rasch über die Straße hinüber und stieß einen kleinen Gartenzaun auf, der von kläffenden, heulenden Rüden wimmelte. Das war auch ein Springen und Bellen und Winseln, als sie ihren Herrn kommen sahen, und nur gegen den Fremden wollten sie anknurren und ihn nicht vorüberlassen; aber ein Pfiff des wilden Jägers trieb sie alle scheu zurück, und jetzt öffnete sich ihnen die niedere Thür des kleinen Gebäudes und der junge Forstgehülfe betrat hier eine vollkommen neue Welt.

Schon der Hausflur zeigte die Jägerwohnung. Da hingen Seite an Seite die riesigsten herrlichsten Geweihe von Hirschen, wie sie Raischbach bis jetzt kaum für möglich gehalten hatte, dann ausgestopfte Eber- und Bärenköpfe, und die ganze in den oberen Stock hinaufführende Treppe war mit Wolfs- und Luchspelzen statt Teppichen dicht belegt. Und jetzt erst oben die abnormen Geweihe und Gehörne, eine Sammlung, von denen jedes einzelne Stück an der Oberwelt mit Gold aufgewogen worden wäre.

„He, Raischbach!“ lachte da der Hackelnberg, indem er sich nach seinem Begleiter umwandte und auf die eine Wand deutete, an der nur Rehbocksgehörne[S. 229] hingen, „das sind andere Kerle gewesen, als euer Bock oben im Wald, wie? — Seht Euch einmal die Drei da an.“

„Aber das sind doch keine Rehbocksgehörne!“ rief der Jäger fast erschreckt aus, als er die riesigen Stangen sah.

„Waren es nicht?“ lachte Hackelnberg — „ich habe sie aber alle zu meiner Zeit selber geschossen. Nehmt Euch eins zum Andenken mit.“

„Von den Gehörnen?“

„Gewiß; da könnt Ihr Staat mit machen, und ein besseres hat Niemand bei Euch da droben; kommt auch nicht mehr vor. Da drinnen hängen noch die Armbrüste, die wir damals geführt, denn da waren noch nicht die Knallgewehre erfunden, mit denen man jetzt einen Lärm im Walde macht, daß man es meilenweit hören kann. Nehmt Euch nur das Gehörn, wenn’s Euch Spaß macht, zum Andenken an den Hackelnberg.“

„Tausend Dank denn!“ rief Raischbach erfreut, und es wurde ihm die Wahl zwischen den drei prachtvollen Geweihen schwer. Aber er zögerte doch nicht lange, nahm das ihm nächste von der Wand und folgte dem Grafen dann in das Nachbarzimmer, in seine „Gewehrkammer“, wie er es nannte, wo male[S. 230]risch geordnet Unmassen von Armbrüsten, Saufedern, Hirschfängern, Bärenspießen und allen möglichen anderen alten Waffen an den Wänden geordnet waren.

Da plötzlich schlug eine Glocke an — zwölf dumpfe, schauerliche Schläge, und der Ebersberger griff seinen Hut auf und stürmte die Treppe hinunter.

„Hallo!“ rief der Hackelnberg, „ist’s schon Zeit? also bis nachher, Raischbach — aber kommt lieber mit, daß Euch die Hunde kein Leides thun, denn wenn ich nicht bei ihnen bin, sind die Bestien rein des Teufels. — Macht schnell, wir haben keinen Augenblick mehr zu verlieren, und nehmt das Gehörn in Acht.“

Mit langen Sätzen flog er die Treppe hinab und aus dem Haus, und Raischbach ließ sich die Warnung nicht umsonst gesagt sein, sondern blieb ihm dicht auf den Hacken.

Unten umtobten die Hunde aber schon ein paar gesattelte Pferde, auf die sich der Hackelnberg und der Ebersberger warfen. Fräulein Berchta kam ebenfalls in voller Carrière die Straße herunter, und fort ging die Hetze, daß die Funken aus den Steinen herausschlugen.

Raischbach sah ihnen noch verwundert nach, als[S. 231] plötzlich Jemand seine Hand ergriff und unverhofft wieder Marie neben ihm stand und ängstlich rief: „Fort! fort! es ist die höchste Zeit — komm’ mit mir — o ich bat Dich doch, nicht mit dem wilden Jäger zu gehen.“

„Aber, Schatz!“ sagte Raischbach — „er hat mir ja nichts zu Leide gethan.“

„Komm’ nur mit!“ bat die Maid; „mir darfst Du folgen, ich meine es gut mit Dir.“

„Und wohin?“

„Wieder hinaus zu den Deinen — wenn sie zurückkehren, bist Du verloren.“

„Aber er war so freundlich und hat mir auch —“

„Du kennst sie nicht,“ drängte aber das Mädchen, indem sie ihn die Straße entlang zog, daß er ihr kaum folgen konnte — „wenn sie dazu aufgelegt sind, ist ihnen Alles Wild, was vorkommt. Aber ich denke, wir erreichen die Grotte noch, ehe sie zurückkehren können.“

„Wo will der hin?“ fragte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine wilde Gestalt, auch in altem Jagdkostüm, aber einen Bärenspieß in der Hand und zu Fuß stand vor ihnen, und zwar gerade an der Stelle, wo der Weg wieder in den schmalen Gang hinein führte.

[S. 232]

„Nun wieder nach Haus, Kamerad!“ erwiederte dießmal Raischbach selber, während Marie ihn ängstlich am Rock zupfte — „ich war zum Besuch hier unten.“

„So, mein Bursche!“ sagte der wilde Gesell, indem er sich seinen etwas schief sitzenden Kopf wieder zurecht rückte, „und darfst Du denn das?“

„Ja, Herr von Jagenteufel!“ erwiederte da Marie — „er darf; er nimmt ja nichts mit fort.“

„Wirklich?“ rief der fremde Jäger, „und wo hat er das Rehbocksgehörne her? Hol’ mich der Teufel, das ist ja aus der Sammlung des Hackelnbergers!“

„Und von dem habe ich es auch geschenkt bekommen,“ sagte Raischbach trotzig.

„O, wirf es fort, wirf es fort!“ flüsterte ihm das Mädchen bittend zu — „Du darfst nichts mitnehmen.“

„Das wollen wir doch bald erfahren, ob er es Dir wirklich geschenkt hat, mein Bursche!“ lachte da der Fremde, indem er ein kleines Horn an die Lippen setzte und einen schrillen Ton darauf blies.

„Fort! fort!“ rief aber das Mädchen, indem sie Bernhard am Arm faßte und mit sich in den Gang hineinriß. „Das ist das Signal für die wilde Jagd — wenn sie uns einholen, sind wir Beide verloren!“

[S. 233]

Im nächsten Moment flohen sie durch den jetzt vollkommen dunklen Gang, und Raischbach schien es, als ob er gar kein Ende nehmen wollte. Da hörte er plötzlich ein fernes, wunderliches Geräusch.

„Horch!“ rief das junge Mädchen in Todesangst „sie kommen! — o, kannst Du denn nicht schneller laufen?“

„Ich weiß nicht!“ erwiederte der junge Forstgehülfe, „sonst bin ich flüchtig wie ein Reh, aber jetzt ist es mir, als ob ich die Füße gar nicht vom Boden bringen könnte — sie sind mir so schwer wie Blei.“

„O wirf das Gehörn fort! Du darfst nichts mitnehmen.“

„Bah, der Hackelnberg hat mir’s geschenkt — haben wir denn noch weit?“

„Da kommen sie! Da kommen sie!“ rief das Mädchen, und plötzlich erschallte das Gewölbe von einem grausigen, furchtbaren Lärm — Hörnerschall, Peitschenknall, Rüdengebell und Geheul, das Hussah der Jäger, und nun flog ein rother, glühender Feuerschein durch die Dunkelheit.

„Das ist die Tut-Osel!“ schrie Marie, und Bernhard sah, wie die Eule mit feuersprühenden Schwingen sie eingeholt hatte und mit den Flügeln nach ihnen schlug. Jetzt donnerte das Gestampf der Hufen heran[S. 234] — jetzt hörten sie das Geklatsch und Geheul der Meute dicht hinter sich, um sich her. „Hussah!“ hörte er Fräulein Berchta’s Stimme — „Hussah! faßt den Burschen da vorn! reißt ihn nieder — er trägt Beute hinweg! Hussah — hussah!“

Raischbach wandte sich und riß den Hirschfänger aus der Scheide, um sich gegen die Wüthenden zu vertheidigen — umsonst — wie Glas knickte er beim ersten geführten Schlag dicht am Hefte ab, und über ihn hin in wilder, stürmender Flucht ging die Jagd.

Sechstes Kapitel.
Der Verunglückte.

In der nämlichen Zeit, in welcher der Forstgehülfe Raischbach mit den Kienspähnen in den Grund zurückgekehrt war, um seinen Hund zu suchen, kam der Kreiser Metzler von der andern Seite des „Fuchsbaues“ — wo er das Revier abgekreist hatte — heran und wollte den nächsten Weg nach der Forstei einschlagen, denn er hatte eine Menge Füchse gespürt, und wenn sie ein paar Kleppertreiben machten, konnten sie vielleicht vier oder fünf davon schießen. Da kreuzte er auf einmal Raischbach’s Fährte im Schnee und blieb erstaunt stehen, um sie näher zu betrachten.

[S. 235]

„Alle Wetter!“ brummte er vor sich hin, „zweimal hinein, und einmal heraus, da muß er doch noch drin stecken — und dem Schuhwerk nach ist das unser Forstgehülfe; was hat der aber hier im Grund zu suchen?“

Langsam und unwillkürlich ging er eine kurze Strecke der Fährte nach, als er etwas dicht daneben auf dem Schnee liegen sah, und sich danach bückend einen kleinen Kienspahn aufhob.

„Na nu?“ sagte der Kreiser kopfschüttelnd, „er wird sich doch da drin kein Feuer anmachen wollen. Was kann der nur vorhaben?“

Er blieb einen Augenblick stehen und horchte, es wurde aber nichts laut, als er plötzlich einen Pfiff zu hören glaubte, der aber ganz dumpf und weitab klang. Antworten mochte er nicht gleich, weil er fürchtete, dem Jäger da drin vielleicht die Jagd zu verderben; aber was hatte er nur? etwa seinen Hund in einen Bau gelassen? Na ja, da kam er schön an, denn der Platz war dafür berüchtigt; wer einen guten Dachshund hatte, führte ihn dort gewiß nicht hinein, und das wußte der Forstgehülfe ja auch gut genug. Er blieb eine ganze Weile im Schnee stehen, aber es ließ sich nichts weiter vernehmen, und er beschloß endlich, lieber[S. 236] einmal langsam und vorsichtig auf der Spur nachzugehen.

Das that er, und bald entging dem geübten Auge des Waldläufers auch die Stelle nicht, wo der angeschossene Fuchs abgestürzt war — den Schuß hatte er überdieß gehört, wenn er auch nicht genau gewußt, von welcher Seite der Schall kam. Im Schnee klingt aber ein Schuß überhaupt dumpf, und dadurch, daß Raischbach in den Grund hineingefeuert hatte, mochte sich der Schall wohl noch mehr gebrochen haben.

„Alle Teufel!“ rief er aber plötzlich, als er zu der Felsspalte kam und dort wohl Raischbach’s Gewehr lehnen und den Jagdranzen liegen sah, sonst aber keine Spur von dem Forstgehülfen entdecken konnte.

Wohin er sich gewandt, zeigte allerdings deutlich genug der Schnee: in die Wand hinein — und dazu etwa der Kien? Wahrhaftig, da lag ein abgebrannter kleiner Spahn und etwas Asche. Der Mann schüttelte den Kopf, denn er kannte die bösen Spalten und Klüfte in der Wand hier schon seit langen, langen Jahren. — Aber wenn er da drinnen stak, mußte er wenigstens Antwort geben, und dort konnte er auch durch ein Bischen Lärm nichts verderben. Er stellte also seine alte Flinte ebenfalls draußen ab, drängte sich ein Stück in die Spalte hinein und rief den Forstgehülfen[S. 237] bei Namen — keine Antwort folgte; er pfiff auf dem Finger — mit dem nämlichen Erfolg. Er wartete eine Weile und rief nochmals — immer dasselbe. Da drinnen herrschte Todtenstille, und kein Laut ließ sich hören, kein Hundewinseln oder Bellen, wenn der Dachs vielleicht noch hinter seiner Beute hergewesen wäre.

„Herr Raischbach!“ schrie der Kreiser noch einmal, denn diese Stille wurde ihm unheimlich. Sollte dem jungen Mann ein Unglück zugestoßen sein? „Herr Raischbach!“ er schrie so laut er konnte; er hätte ihn da drin hören müssen, denn der Schall der Stimme donnerte an den Wänden hin. — Keine Antwort erfolgte, und dem Mann wurde es jetzt selber unbehaglich in dem dunkeln Loch. Allein konnte er auch gar nichts ausrichten, denn passirte ihm ebenfalls etwas, so waren sie Beide verloren, und Niemand hätte gewußt, besonders wenn der Schnee wieder wegging, wo sie geblieben wären.

Vorsichtig glitt er zurück, nahm draußen seine Flinte wieder, ließ aber natürlich die des Forstgehülfen stehen, und eilte jetzt, so rasch er konnte, in den Wald hinauf und der Forstei zu. Unterwegs traf er ein paar Holzmacher, die er augenblicklich mitnahm, denn er wußte nicht, wie man sie gebrauchen konnte, und[S. 238] war nur froh, daß er den ebenfalls gerade von einer Pirsche zurückgekehrten Förster zu Hause fand.

Der alte Buschmann erschrak, als ihm Metzler Bericht abstattete, und lief, ohne ein Wort zu sprechen, eine ganze Weile im Zimmer auf und ab und kratzte sich das weiße Haar. Er war aber kein Mann, der sich lange mit Ueberlegen abgegeben hätte, denn er wußte recht gut, wie er hier zu handeln hatte.

„Metzler,“ sagte er plötzlich vor diesem stehen bleibend, „Euch hat der liebe Gott vielleicht zur rechten Zeit an den verdammten Platz geführt. Wie viel Holzhauer habt Ihr bei Euch?“

„Zwei, Herr Förster.“

„Gut; zwei andere arbeiten gleich drüben am schwarzen Bach. Die Lisei soll augenblicklich hinlaufen und sie abrufen. Den Müller habe ich zu der neuen Pirschhütte geschickt, den finden wir unterwegs, und von den Forstschutzleuten liegen zwei, die gerade die Nacht draußen waren, oben und schlafen. Die müssen auch mit, dann sind wir Leute genug.“

„Und brauchen wir sonst was, Herr Förster?“

„Gewiß — meine Frau soll Euch gleich einmal die Laterne mit ein paar Lichtern geben — oben auf dem Boden habe ich auch noch zwei Pechfackeln, die holt ebenfalls. Dann nehmt das starke neue Heuseil[S. 239] mit — und eine Schaufel und Spitzhack ebenfalls, der liebe Gott weiß, was wir brauchen. Die Holzmacher sollen auch ihre Aexte nicht vergessen und noch ein paar kurze Seile — weiter wird wohl nichts nöthig sein. — Und meine Frau soll mir die Schnapsflasche füllen. — Es war reiner Wahnsinn von dem Menschen, dort hinein zu kriechen.“

„Schön, Herr Förster.“

„Vergeßt mir nur nichts, Metzler — zwei Lichter wollen wir mitnehmen und Feuerzeug — na, das nehme ich selber, und ein Bischen rasch, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Der alte Mann befand sich in großer Aufregung, dachte aber dabei an Alles, und kaum eine halbe Stunde später war die kleine Kolonne vollständig gerüstet auf ihrem Weg nach dem Fuchsbau, um den, wie man allen Grund zu vermuthen hatte, Verunglückten aufzusuchen und zu retten. In kaum einer Stunde hatten sie auch den Platz erreicht, stiegen an den Felsen hinab und sahen hier augenblicklich, daß Raischbach den Grund noch nicht verlassen haben konnte — die Fährten waren noch, wie sie Metzler gelassen, und als sie dorthin einbogen, lehnte auch noch das Gewehr draußen an der Felsspalte.

Der Förster selber schrie jetzt ein paar Male in[S. 240] den Bau hinein, erhielt aber eben so wenig Antwort, wie vorher sein Kreiser, und sie verloren nun auch nicht viel Zeit, um ihr Rettungswerk vorzubereiten.

Vor allen Dingen wurde eine der Pechfackeln angezündet und der Kreiser Müller, den sie abgerufen hatten, ein junger, gewandter Bursche, damit voran hineingeschickt, um zuerst einmal das Terrain genau zu rekognosziren. Buschmann warnte ihn aber, auch nur einen voreiligen Schritt zu thun, und rieth ihm an, Zoll für Zoll weiter zu rücken und mit der Fackel immer vor sich auf den Boden zu leuchten, damit er das Uebel nicht noch schlimmer mache und ebenfalls zu Schaden käme.

Müller war auch der richtige Mann dazu und kroch unerschrocken in die Spalte hinein, während seine Begleiter indessen in ziemlicher Ungeduld seine Rückkehr erwarteten. Er blieb aber nicht lange; bald sahen sie den Schein der Fackel wieder; aber sein Bericht lautete nichts weniger als tröstlich.

Kaum zwanzig Schritt drin, wo die Höhle indessen so geräumig sein sollte, daß vier Mann, und vielleicht noch mehr, bequem neben einander stehen konnten, machte sie eine kleine Biegung, und dort ging eine tiefe Spalte hinab. Da hinein war auch der Forstgehülfe gefallen, denn er hatte seine Fährten in dem[S. 241] weichen Boden gesehen und auch einen angebrannten Kienspahn am Rand gefunden.

„Und war nichts von ihm zu sehen gewesen?“

Zu weit hatte er sich, wie er sagte, nicht hineingetraut, um nicht ebenfalls auszurutschen. Dort hinab schien es aber tief und dabei stockdunkel — es ließ sich nicht das Mindeste erkennen.

Und was konnte man jetzt thun?

Müller machte einen Vorschlag. Ihre Aexte hatten sie mit; wenn sie ein paar starke Stangen abhieben und quer über die Spalte legten, so war es vielleicht möglich, sich hinauszuwagen, um nur erst einmal zu erfahren, wie tief es wäre. Nachher könne man sich auch vielleicht an einem Seil hinablassen.

Der alte Förster schüttelte mit dem Kopf; es war ihm nicht recht, daß seine Kreiser über eine Sache eine Disposition treffen sollten, wo er daneben stand und gar nichts davon wußte.

„Ich will Euch was sagen, Müller,“ meinte er, „ich werde erst selber einmal hineingucken, um zu sehen wie der Hase läuft.“

„Aber, Herr Förster!“ rief Metzler erschreckt, „ich bitte Sie um Gottes willen — wenn Ihnen dann auch —“

„Seid kein Esel, Metzler,“ sagte der Förster, „ich[S. 242] werde mich schon in Acht nehmen, habt keine Sorge.“ Und damit warf der alte Mann richtig seine Sachen ab, zog sogar seinen Rock aus, nahm die Pechfackel und trat getrost seine Wanderung an. Er wußte ja auch jetzt, wo die Gefahr eigentlich begann, und es dauerte gar nicht lange, so hatte er den Platz erreicht und übersah jetzt leicht, was hier zu thun sei, um dem jedenfalls Verunglückten Hülfe zu bringen. Müller hatte ganz recht, ein paar Stangen konnten leicht quer übergelegt werden, denn die Spalte mochte kaum vier Fuß breit sein; aber es mußten dann auch Querhölzer daran geschnürt werden, damit man einen festen Halt darauf bekam. Das war also vor allen Dingen fertig zu machen, alles Weitere mußte verschoben werden, bis man von dort aus rekognosziren konnte.

Der alte Mann versäumte auch keine Zeit. Mit fast Jugendfrische kroch er zurück und eilte dann selbst mit den Holzmachern in den Wald hinaus, um die nöthigen Hölzer in der gehörigen Länge abzuschneiden. Zusammengebunden mußten sie freilich erst in der Höhle selber werden, da man sie sonst nicht hineingebracht hätte; aber das ging ja auch leicht an, da der Raum da drinnen gar nicht so beschränkt war, so daß man sich ziemlich frei bewegen konnte.

Der Förster hatte allerdings, schon wie er das[S. 243] erste Mal in der Höhle war, wieder und wieder hinabgerufen, um zu hören, ob der Forstgehülfe noch am Leben sei; aber er horchte vergebens. Ein paar Mal war es ihm, als ob er da unten ein dumpfes Brausen höre, und einmal hätte er darauf schwören mögen, daß er Hundegebell vernommen. Jagte der Dachs noch? — aber dann klang es auch wieder wie das ferne Heulen des Windes, und zuletzt summte es ihm vor den Ohren, daß er gar nicht mehr im Stande war, etwas Bestimmtes zu unterscheiden.

Müller und Metzler mußten jetzt mit in die Spalte kriechen, und während ihnen der Förster mit der Fackel leuchtete, schnürten sie unter seiner Leitung eine Art Gestell zusammen, das fest genug war, drei Mann mit Leichtigkeit zu tragen, und jetzt erst begann die nähere Untersuchung der Felsspalte, in welche der unvorsichtige Forstgehülfe jedenfalls hinabgestürzt sein mußte.

Zu diesem Zweck mußte die Laterne herbeigeschafft werden, die Buschmann an ein Seil band und dann selber vorsichtig über den hier ziemlich schlüpfrigen Boden hinaus auf das Gestell rutschte, um von dort aus die Laterne hinabzulassen.

Die Spalte war aber tiefer als er selber geglaubt — es ging ein ganz verwünschtes Stück hinunter, und das trüb brennende Talglicht verbreitete dort unten[S. 244] lange nicht genug Helle, um irgend etwas deutlich zu unterscheiden.

„Es kann nichts helfen, Müller,“ sagte da der Förster, „Ihr seid von uns der Leichteste und müßt einmal hinunter — bindet Euch das Seil um den Leib und laßt dann die Anderen draußen mit hereinkommen und anfassen, dann rutscht in Gottes Namen. Hier an der einen Seite scheint auch feuchter Lehmboden zu sein, und Ihr findet vielleicht unterwegs einen Fußhalt.“

Es wurde weiter kein Wort gesprochen. Metzler, ein durchaus praktischer Kopf, hatte das rasch geordnet; die Holzmacher und Forstschutzleute wurden nacheinander durch die Felsspalte postirt, so daß Jeder einen festen Halt an dem Seil bekam. Müller knotete sich dasselbe dann fest unter den Schultern durch, und sich auf den Boden setzend gab er Befehl, langsam nach und nach ihn hinunter zu lassen. Der Förster saß dabei noch immer auf dem Gestell und ließ jetzt die Laterne langsam mit dem Niedergleitenden sinken, so daß dieser doch immer etwas Licht um sich hatte und sehen konnte, wo er sich befand.

Es war ein Augenblick peinlicher Erwartung, als der junge Kreiser endlich Boden unter sich fühlte und „Halt!“ rief, damit die Leute oben nicht zu viel Seil[S. 245] nachließen und er dann vielleicht noch tiefer abrutschte. Der Förster hielt ihm dabei die Laterne so, daß er sie mit der Hand erreichen konnte, und der Mann nahm sie, um umher zu leuchten. Es dauerte aber nur wenige Sekunden, als er schon ausrief: „Hier liegt er.“

„Du großer Gott!“ stöhnte der alte Förster; „ist er todt?“

„Ja, ich weiß nicht,“ sagte der Mann, und seine Stimme klang von unten herauf dumpf und hohl — „er fühlt sich aber noch warm an — und da liegt auch der Dachshund und der Fuchs — er ist mit dem Kopf gerad auf seinen Dachs gestürzt. Das sieht gut hier unten aus.“

„Und wie kriegen wir ihn herauf, Müller?“

„Ja, ich weiß nicht — das wird ein bös Stück Arbeit werden.“

„Könnt Ihr nicht Stufen in die Lehmwand hauen?“

„Das ginge vielleicht,“ sagte der Mann nach einer Weile. „Jedenfalls muß aber von oben nachgeholfen werden, und dazu ist am Ende das Gestell nicht stark genug.“

„Wir legen noch ein paar stärkere Stangen hinüber. Wollt Ihr die Spitzhacke haben?“

„Ja — aber Sie müssen sie langsam herunter[S. 246]lassen, sonst fällt sie Einem von uns auf den Kopf. Das Seil können Sie locker lassen — es geht hier nicht weiter ab — nur in den Berg hinein zieht sich noch eine Spalte.“

Die nöthigen Vorkehrungen nahmen jetzt wieder eine gute Weile in Anspruch — es mußten noch ein paar starke Stangen draußen abgehauen und herbeigeschafft werden, was immer eine längere Zeit dauerte. Müller hatte sich indessen bemüht, den Forstgehülfen zum Bewußtsein zu bringen, aber vergebens. Der Förster ließ ihm seine Flasche Branntwein hinab, daß er ihm damit die Schläfe waschen sollte, aber es half nichts — er blieb still und regungslos liegen und schien nicht zu fühlen, was um ihm her vorging.

Müller bekam auch jetzt die Spitzhacke hinab, aber das Einhauen ging nicht so leicht, als er gedacht, da er nicht ordentlich ausholen konnte. Trotzdem aber hackte er doch in etwa vier Fuß vom Boden der Höhle einen Platz ein, wo ein Mann fest stehen konnte, und bis dahin Stufen hinauf, und wie er das erst fertig hatte, gelang es ihm auch weiter oben noch einen Stand zu Wege zu bringen, von dem aus er wenigstens nachhelfen konnte.

Jetzt begann das Aufwinden des Verunglückten. Müller hatte ihm so vorsichtig als irgend möglich sein[S. 247] Seil unter den Armen durchgezogen, stützte ihm dann den Kopf und gab das Zeichen zum Anziehen. Es war allerdings ein schwer Stück Arbeit, aber dadurch, daß Müller unten einen festen Halt bekommen hatte und höher steigen und nachhelfen konnte, ging es doch, wenn auch freilich nur sehr langsam. Die Höhe oder vielmehr Tiefe der ganzen Spalte mochte etwa zwanzig Fuß betragen, und nur dadurch, daß der Förster oben einen starken Pflock in den Boden hatte einschlagen lassen, um den sie das Seil manchmal schlagen und dann rasten konnten, gelang es in verhältnißmäßig kurzer Zeit, den schweren Körper des bewußtlosen Mannes nach und nach so weit in die Höhe zu bekommen, daß sie ihn endlich oben an den Kleidern fassen und auf den Rand der Spalte bringen konnten. An’s Freie schafften sie ihn dann schnell. Wo es ging, wurde er dann getragen, wo es zu eng wurde, gezogen, und draußen rieben sie ihm Stirn und Schläfe mit Schnee, und suchten ihn durch alle erdenklichen Mittel wieder zum Leben zurückzubringen. Aber es blieb Alles vergeblich und ihnen zuletzt nichts weiter übrig, als eine Tragbahre herzustellen und ihn damit zur Forstei zu schaffen. Von dort sollte dann augenblicklich ein Bote in den nächsten Ort gesandt werden, um einen Wundarzt herbeizuholen.

[S. 248]

Der Förster wollte übrigens auch den so theuer erkauften Fuchs mitnehmen, den Müller unten mit dem todten Dachshund und der Spitzhacke zusammenbinden mußte, und erst als sie das Alles oben hatten, ließ sich der junge Kreiser das Seil wieder herunter geben, schnürte sich selber daran fest, kletterte dann, so weit er eingehauen hatte, nach und wurde die letzte Strecke in die Höhe gewunden. Das Gestell blieb noch vor der Hand in der Höhle, da man keinen Augenblick Zeit versäumen wollte, um den Bewußtlosen fortzuschaffen und ihm ärztliche Hülfe zu bringen. Er kam auch nicht auf dem Weg zu sich; Leben war noch in ihm und eigentliche böse Verletzungen ließen sich nirgends an ihm entdecken. Möglich, daß auch der Sturz auf seinen Hund, der freilich dem armen Dachs das Rückgrat knickte, seinen Fall in etwas gebrochen hatte, denn wie Müller aussagte, lagen dort unten eine Menge scharfer Steine. Das Alles aber mußte der Arzt entscheiden, wenn er kam, und bis dahin konnten sie nichts für den Armen thun, als ihn eben so sorgsam als möglich nach Haus und auf sein Bett schaffen, wo er ja jede nöthige Pflege hatte.

[S. 249]

Siebentes Kapitel.
Die Einladung.

Der Tag war damit vollständig auf die Neige gegangen und es wurde sehr spät, ehe der nächstwohnende Chirurg herbeigeholt werden konnte. Raischbach gab auch jetzt noch kein Lebenszeichen von sich, und nach geraumer Untersuchung zeigte sich denn, daß allerdings kein Knochenbruch vorhanden sei — wenigstens keiner, der sich jetzt erkennen ließ, jedenfalls aber eine Gehirnerschütterung stattgefunden habe, deren Erfolg und Entwickelung man eben abwarten müsse, denn es ließ sich darin nichts weiter thun.

Am Kopf zeigten sich allerdings einige leichte Schrammen, auch die rechte Hand war etwas verletzt, aber das Alles heilte bald wieder, sowie nur das Hauptübel gehoben worden. Für jetzt verordnete der Arzt deßhalb nur Ruhe und Schneeumschläge um den Kopf, um das Wundfieber so viel als möglich fern zu halten.

Bernhard Raischbach lag so zwei volle Tage und Nächte ohne Besinnung, und die alte Lisei wich indessen nicht von seinem Lager und pflegte ihn mit wirklich rührender Aufopferung. Sie hatte aber den jungen Mann, der immer so freundlich gegen sie war und sie nie über einer Erzählung auslachte, lieb gewonnen[S. 250] und nur sehr selten ließ sie sich von der Frau Försterin oder einem der Kreiser ablösen, um selber einmal ein paar Stunden zu schlafen. Sie behauptete immer, sie wäre gar nicht müde.

Am dritten Tag endlich, nachdem der Chirurg zweimal wieder da gewesen war und immer bedenklicher mit dem Kopf geschüttelt hatte, schlug der Kranke die Augen auf und schien seine Umgebung zu kennen.

„Ja, Lisei,“ sagte er erstaunt, „wie kommst Du denn hierher?“

„Ich, Herr Forstgehülfe?“ rief die alte Person; „aber dem Himmel sei Dank, daß Sie nur wieder reden können. Nun wird ja auch Alles bald gut sein. Wir haben recht Angst um Sie gehabt.“

„Um mich, Lisei?“ lächelte Raischbach und schüttelte mit dem Kopf. „Ja, wenn die Marie nicht gewesen wäre, die Anderen waren freilich verrätherisches Volk, der Hackelnberg und der Hans Jagenteufel — hol’ sie der Böse — und die Berchta hatte vor Allem den Teufel im Leib. Herr Gott, ist das ein wildes Frauenzimmer!“

Die alte Lisei schlug vor Entsetzen die Hände zusammen; Bernhard aber hatte die Augen schon wieder geschlossen und lag still und ruhig, als der Förster auf[S. 251] den Zehen eintrat und flüsterte: „Holla, Lisei — hat denn der Raischbach nicht eben gesprochen?“

„Ach ja wohl, Herr Förster!“ stöhnte die Alte; „aber, Jesus Maria und Joseph, lauter tolles Zeug! Er ist hier nicht richtig“ — und sie deutete sich mit einer äußerst bestürzten Miene auf den Kopf.

„Phantasirt er?“ frug der Forstmann, indem er leise näher kam.

„Er pappelt irre!“ sagte die Alte — „immer vom wilden Jäger und solchen Geschichten und dann auch wieder von der Jungfrau Maria dazwischen.“

Der alte Förster winkte ihr nur beruhigend mit der Hand und wollte eben das Zimmer wieder verlassen, als Raischbach zum zweiten Mal die Augen aufschlug, sich jetzt aber gar nicht nach den in der Stube Befindlichen umsah, sondern nur im Bett herumfühlte, als ob er etwas suche.

„Heda, Raischbach!“ rief da Buschmann freundlich, indem er zu seinem Bette trat und seine Hand faßte; „das ist recht, daß Sie die Geschichte abgeschüttelt haben; nun halten Sie sich nur noch ein oder zwei Tage ruhig, und es wird Alles wieder gut sein.“

„Guten Tag, lieber Herr Förster,“ sagte der Kranke mit allerdings etwas matter Stimme, fühlte[S. 252] aber immer noch mit der andern Hand neben sich herum.

„Suchen Sie etwas?“ frug ihn Buschmann.

„Ja,“ sagte Raischbach leise — „ich — ich hatte da drunten ein Gehörn gefunden — ein prachtvolles Rehbocksgehörn.“

„Unten im Fuchsbau?“

Der Forstgehülfe nickte — „ach, Lisei, habt Ihr es weggethan?“

„Ich habe nichts gesehen, Herr Raischbach,“ sagte die Alte kopfschüttelnd; „aber beruhigen Sie sich jetzt nur — wenn es da war, wird es sich auch schon wieder finden, der Doktor hat aber gesagt, daß Sie sich nicht so viel bewegen dürfen. Hübsch still müssen Sie liegen.“

Der Kranke fühlte in der That, wie ihn die Bewegung schmerzte, und sank auf sein Kissen zurück, lag auch wieder eine lange Zeit still und regungslos und schaute nur wie träumend an die Decke, that aber keine Frage und verlangte nichts. So verging der ganze Tag, und die Nacht schlief er fest und ruhig, fühlte sich auch am nächsten Morgen bedeutend besser und bat jetzt selber die Lisei, daß sie den Förster heraufrufen möge, um von diesem alles Nähere über seinen Zustand zu erfahren. Dieser zögerte auch nicht, da[S. 253] er den Kranken völlig ruhig und seiner selbst bewußt fand, ihm Alles zu erzählen, wie es sich an jenem Tag begeben: wie Metzler seine Spur im Schnee gefunden und sie zur Hülfe herbeigerufen habe, und was sie für eine nichtswürdige Arbeit gehabt hätten, ihn aus der engen Spalte wieder herauf an’s Tageslicht zu bekommen.

Raischbach hörte, ohne ein Wort hineinzureden, Alles ruhig an, bis er erfuhr, daß der Kreiser Müller unten bei ihm gewesen wäre und also den Platz genau gesehen habe. Er bat jetzt den Förster, ihm den nachher einmal heraufzuschicken, damit er ihn über Manches fragen könne. Müller war freilich jetzt draußen im Wald, als er aber zurückkehrte, wurde er augenblicklich zu dem Kranken beordert, der schon in seinem Bett saß und nur noch den Kopf in die Hand stützte. Es summte und hämmerte ihm doch noch ein wenig von dem Sturz im Hirn.

Der junge Bursche mußte dem Kranken jetzt eine genaue Beschreibung des Platzes selber geben, und Raischbach horchte besonders hoch auf, als er ihm erzählte, daß von da unten aus noch eine Seitenspalte in den Berg hineinführe.

„Ob er dort drinnen gewesen?“

„Nein, wahrhaftig nicht; sie hatten gerade genug[S. 254] mit ihm selber zu thun gehabt, um in den dunklen Ritzen und Höhlen herum zu kriechen. Keinesfalls ging die auch weit hinein, und das Gestein war da wohl nur auseinander gerissen.“

„Und ein Rehbocksgehörn hatte er dort unten nicht gesehen, ein starkes Gehörn?“ frug Raischbach.

„Da unten? nein!“ sagte der Kreiser erstaunt. „Wie sollte das auch dahin kommen? Haben Sie etwa den Abwurf[D] von dem alten Bock gefunden? — Aber das ist ja nicht möglich, es liegt ja Schnee.“

Der Forstgehülfe schüttelte mit dem Kopf, und der Kreiser mußte jetzt erzählen, wie er gelegen hatte. „Armer Dachs!“ sagte er dabei, als er hörte, daß er mit dem Kopf gerade auf seinen eigenen Hund gestürzt sein mußte, was freilich den Fall gebrochen hatte.

„Und das Gestell, das sie gebaut, war noch in der Höhle?“

„Gewiß — was lag an den paar Stangen Holz, und es arbeitete sich verwünscht schlecht in dem engen Loch.“

Der Kranke legte sich auf sein Kissen zurück, und[S. 255] da Müller glaubte, daß er vielleicht schlafen wolle, verließ er leise das Zimmer.

Von dem Tag an erholte sich Raischbach außerordentlich rasch. Schon am nächsten Morgen konnte er aufstehen und im Zimmer herumgehen, und wenn ihn auch die Glieder noch schmerzten, denn er sah am ganzen Körper braun und blau aus, war er doch im Stande, sich frei zu bewegen, und hatte die gewisse Ueberzeugung, daß er keine böse Verletzung, besonders keinen Knochenbruch, davon getragen. — Acht Tage später war er wieder im Wald, und langsam, mit der Büchse unter dem Arm, schlug er unwillkürlich die Richtung nach der Stelle ein, an welcher er damals verunglückt. Aber er durfte jetzt noch nicht wagen die eigentliche Höhle selber zu betreten, dazu waren ihm die Glieder noch nicht wieder gelenk genug — nur den Platz wollte er sehen und — wieder einmal in der Nähe sein, und als er sich dort umgeschaut, kehrte er nach Haus zurück. Wie er aber den Hang hinaufstieg, was ihm noch immer ein wenig schwer wurde, so daß er sich oft hinsetzen und ausruhen mußte, raschelte plötzlich etwas im Laub, und als er unwillkürlich seine Büchse in die Höhe nahm, stand der alte Bock, dem er so oft nachgegangen, auf kaum dreißig Schritt ruhig und breit vor ihm und sicherte nach einer[S. 256] ganz andern Richtung hinüber; er hatte ihn gar nicht bemerkt.

Raischbach lachte still vor sich hin; wie manchen Pirschgang hatte er dem Bock zu Liebe gemacht, und wie genau kannte er ihn an dem breiten Kopf und kurzen Hals — und immer und immer vergebens; und jetzt, da er ihn nicht brauchen konnte, denn er hatte ja in dieser Zeit sein prachtvolles Gehörn abgeworfen und ging kahl umher, stellte er sich breit vor ihn hin und schien so vertraut, wie nur möglich. — In dieser Jahreszeit war nichts mit ihm anzufangen, und der Forstgehülfe hob die Hand und winkte ihn ab. — Im Nu bemerkte auch der Bock die Bewegung, warf scheu den Kopf herum, sah den gefürchteten Feind dicht vor sich, schreckte mit lauter tiefer Stimme und war dann mit einem Satz im Dickicht verschwunden, wo ihn der Forstgehülfe noch konnte weitab durch die Büsche brechen hören.

So mochten vierzehn Tage vergangen sein — es war bitterkalt geworden, lag aber nur wenig Schnee — als Raischbach den Kreiser Müller eines Morgens bat, ihn zu begleiten und — das Seil mitzunehmen, dem Förster aber nichts davon zu sagen. Er wolle sich, wie er meinte, nur einmal den Platz selber ansehen, in den er damals hinabgestürzt. Müller machte[S. 257] allerdings Einwendungen, da er ihn aber versicherte, daß gerade die Holzmacher da unten arbeiteten und sie jede Vorsicht gebrauchen würden, um ein Unglück zu vermeiden, ließ er sich endlich überreden, und die Beiden traten ihren Marsch an.

An Ort und Stelle angekommen, wurde in der That jede nur mögliche Vorsicht gebraucht, und Raischbach ließ sich nun selber, mit einer wieder hergestellten Kienfackel, in den Spalt hinunter. Der Platz lag aber öde und kahl. Nur die alten Blutspuren fand er noch vor, wo der Fuchs gelegen, und vergebens leuchtete er nach etwas Anderem darin umher. Aber er begnügte sich damit noch nicht, sondern wollte auch in die in den Berg führende Felsspalte eindringen, mußte das aber bald wieder aufgeben, denn kaum zwei Schritt darinnen wurde dieselbe so eng, daß er sich gar nicht mehr hindurchpressen konnte — dort ging auch wieder eine tiefe Kluft hinunter und er mußte zuletzt den Versuch aufgeben. Ein Mensch konnte dort nicht einpassiren.

*

So verging der Winter; der Schnee schmolz, das Frühjahr brach mit seinen tausend Knospen aus — der Auerhahn balzte, die Schnepfe strich, die Rehböcke hatten wieder frisch aufgesetzt und die Zeit rückte[S. 258] heran, wo schon ein Grashirsch geschossen werden konnte. Es war Juni geworden und im Walde klang und jubelte es von der munteren Vogelwelt.

Raischbach sah das Alles an sich vorübergehen, ohne Theil daran zu nehmen. Er war seit jenem Sturz nicht mehr der lustige, fröhliche Waidmann wie vordem, sondern still und einsilbig geworden und schien es am Liebsten zu haben, wenn man ihn ruhig in irgend einer Ecke sitzen und seinen Gedanken nachhängen ließ. Anfangs glaubte der alte Förster auch, es sei das noch alles eine Folge des Sturzes, der ihm doch vielleicht das Gehirn mehr, als man früher geglaubt, erschüttert haben mochte. Dies schien aber nicht der Fall; er klagte auch nie über Kopfschmerzen oder Schwindel und befand sich körperlich vollständig wohl. Was ihm aber auf dem Herzen lag, darüber sprach er mit Niemanden, ging jedoch dabei seiner Pflicht auf das Eifrigste nach und versäumte oder vergaß nie etwas.

Sein liebster Pirschgang, wenn es ihm nur immer seine Beschäftigung erlaubte, blieb aber nach jenem Revier, in welchem der Fuchsbau lag, und der Förster neckte ihn oft darüber, daß er den alten Bock noch nicht vergessen könne — aber Raischbach dachte an Anderes als den Bock — er wollte dem Mädchen[S. 259] wieder begegnen, das er damals an jener Stelle getroffen, und mußte — immer und immer wieder in seiner Hoffnung getäuscht — den Heimweg antreten.

Hatte er denn jenes Begegnen auch nur geträumt? Es wurde ihm manchmal ganz wirr im Kopfe und er saß dann oft stundenlang still und regungslos im Wald, stützte die heiße Stirn mit beiden Händen und sann und sann.

So war er auch eines Tages wieder draußen gewesen — gerade an einem solchen Tag wie damals, als er das wunderliebliche Mädchen im Wald getroffen, und hatte stundenlang oben am Rand des Grundes gesessen und hinabgesehen, als ob er sie gerade dort an der unheimlichen Stelle erwarte. Umsonst, kein lebendes Wesen regte sich, einen Geier ausgenommen, der über ihm in der Luft kreiste und dann und wann seinen scharfen Schrei ausstieß. Er bekam es endlich satt — der Mond war auch schon lange aufgegangen, und er mußte an den Heimweg denken.

Es war völlig Nacht, ehe er das Forsthaus erreichte, und er wunderte sich, die untere Stube so hell erleuchtet zu sehen, denn sonst brannte Abends immer nur die ziemlich trübe Lampe, bei der die Frau Försterin und die alte Lisei spannen und der Förster noch seine Dampfwolken dazwischen blies.

[S. 260]

„Merkwürdig,“ dachte er bei sich, „was die nur heute da drinnen haben — ob Besuch angekommen ist? Aber woher — wer soll uns hier im Wald besuchen? Wenn ich’s nur wüßte, so machte ich gleich, daß ich oben in meine Kammer käme und ließe mich vor keinem Menschen mehr heut Abend sehen. Hunger hab’ ich doch nicht, und meine Suppe kann mir die alte Lisei auch später heraufbringen.“

Er glitt vorsichtig dem Hause zu, aber der alte Schweißhund, der im Sommer vor der Thür lag, hatte ihn schon gewittert und schlug an, und gleich darauf öffnete sich eines der unteren Fenster und des Försters Stimme rief heraus; „Raischbach, sind Sie das?“

„Ja, Herr Förster,“ erwiederte der junge Mann.

„Aber Donnerwetter! wo haben Sie heute so lange gesteckt? Wir glaubten schon, daß Ihnen wieder ein Unglück zugestoßen wäre — na, machen Sie nur, daß Sie hereinkommen.“

„Aber ich werde mich erst umziehen müssen, Herr Förster! ist denn Besuch da?“

„Besuch? — wo soll denn der herkommen?“ rief Buschmann. „Keine Seele ist da, als meine Alte und ich und die Lisei.“

„Weil es so hell im Zimmer war.“

[S. 261]

„Ach so — na, kommen Sie nur; die Frau hat gerade heißen Kaffee, und der wird Ihnen gut thun.“

Raischbach schüttelte mit dem Kopf; der alte Förster kam ihm so ausgelassen lustig vor; hatte er vielleicht einen Schluck über den Durst gethan? Aber das geschah doch eigentlich nie, und heute, mitten in der Woche, wäre er gewiß nicht draußen gewesen. Aber er trat in’s Haus, hing dort sein Gewehr an einen der dafür bestimmten eisernen Haken und ging dann wie gewöhnlich in’s untere Zimmer.

Dort sah es aber in der That festlich aus, und wenn auch kein Besuch da war, schien es doch, als ob welcher erwartet würde — was aber, zu so später Stunde und hier oben im Wald, unmöglich gewesen wäre. Förster Buschmann trug seine Sonntagsjoppe mit den neuen großen Hirschhornknöpfen, und die Frau Försterin die große Haube mit den beiden langen weißen Zipfeln, von denen der Alte früher behauptet, sie sehe damit aus, als ob sie sich „verlappt“ hätte. Selbst die alte Lisei hatte eine reine weiße Schürze vorgebunden und ihren „Geh zur Kirche Rock“ angezogen, und auf den Tisch war ein weißes Tuch gedeckt und die Kaffeekanne dampfte dort, während neben ihr ein frischgebackener und dicht mit Zucker[S. 262] überstreuter Kuchen zwischen ein paar großen Blumenbouquets stand.

War denn dem „Alten“ sein Geburtstag? Gott bewahre, der fiel ja in den Februar und der der Frau Försterin war im März, und wann die alte Lisei geboren sei, wußte Niemand, da sie den Tag vergessen hatte, und er selber war in der Neujahrsnacht zur Welt gekommen.

Und wie förmlich sich die Frau Försterin vor ihm verneigte, als er in’s Zimmer trat; es wurde ihm ordentlich unheimlich zu Muthe. Irgend etwas mußte vorgefallen sein, aber er fühlte sich gerade nicht in der Stimmung, einen „festlichen Abend“ zu verleben, und wollte sich eben still in seine Ecke hinter dem Ofen drücken, als ihm Buschmann den Weg vertrat, seine Hand ergriff und mit feierlicher Stimme sagte: „Herr Förster Raischbach, es freut mich unmenschlich, daß Sie überhaupt heute Abend noch nach Hause gekommen sind.“

„Guten Abend, Herr Förster!“ sagte jetzt auch die alte Frau mit tausend freundlichen Runzeln über ihr gutes Gesicht und reichte ihm die Hand, und „guten Abend, Herr Förster!“ wiederholte die alte Lisei und machte einen tiefen, ehrfurchtsvollen Knix.

Raischbach sah sie Alle der Reihe nach erstaunt[S. 263] an und würde es nicht um eine Idee wunderbarer gefunden haben, wenn in dem Moment die Thür aufgegangen und Graf Hackelnberg, der wilde Jäger, ebenfalls hereingetreten wäre und gesagt hätte: „Guten Abend, Herr Förster, wie befinden Sie sich?“ Ueberhaupt waren ihm in der letzten Zeit so wirre und wilde Bilder durch den Sinn gegangen, daß er Traum und Wachen kaum von einander unterscheiden konnte, und er mochte auch wohl bei der Anrede ein ganz verzweifelt verdutztes Gesicht gemacht haben, denn der alte Förster lachte laut auf und rief: „Nun, mein lieber Herr Förster, Sie sehen ja gerade so verdutzt aus wie ein Hirsch, der gegen das Zeug anrennt und nicht daraus klug werden kann, was ihm da auf einmal im Weg steht. Sie glauben’s am Ende gar nicht?“

„Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch glauben soll,“ sagte Raischbach endlich, — „aber warum nennen Sie mich denn alle ‚Herr Förster‘, als ob ich im Wald draußen umgewechselt wäre?“

„Sind Sie auch,“ lachte der Alte, „sind Sie auch, mein lieber Herr Förster — rein umgewechselt oder aus der Puppe gekrochen, denn aus dem Forstgehülfen ist plötzlich, mit Hülfe dieses kleinen Stückes Papier, ein stattlicher Förster ausgekrochen, den ich von jetzt an ‚Herr Kollege‘ nennen kann.“ Und damit hielt[S. 264] der alte Jäger Raischbach einen großgesiegelten Brief vor, auf dem mit klaren deutlichen Worten stand:

Sr. Wohlgeboren
dem Herrn Förster Bernhard Raischbach.

Jetzt ließ sich aber die Frau Försterin nicht mehr länger halten, sondern gratulirte mit herzlichen Worten dem jungen Manne zu seiner so wohlverdienten Beförderung. Auch Buschmann selber holte ein erhaltenes Schreiben vor — denn der Brief an den neuen Förster war in dieses eingeschlossen gewesen — und las ihm daraus eine Stelle des Oberforstamts vor, in welchem sich die Herren sehr günstig über die von Raischbach bewiesene Thätigkeit und dessen persönlichen Muth den Wilderern gegenüber aussprachen und ihm deßhalb, in Anerkennung seiner Verdienste, die Beförderung zusandten.

Aber die alte Lisei mahnte, daß der Kaffee ganz kalt würde, wenn sich die „Leutchen“ nun nicht bald zu Tisch setzten, und die Frau Försterin fuhr auch gleich geschäftig in der Stube herum, rückte die Stühle zurecht, klirrte mit den Tassen und schenkte ein, so daß an ein längeres Zögern nicht zu denken war.

Allerdings that es den alten Leuten wohl leid, daß sie den jungen wackern Mann jetzt bald verlieren sollten, denn mit dem neuen Rang verstand es sich auch[S. 265] von selbst, daß er eine eigene Forstei bekam, aber das war ja doch nicht zu ändern, und seinem Glück mochten sie nicht einmal mit einem Wunsche im Wege stehen.

Wohin er nun versetzt werden würde, wußten sie freilich nicht; im Brief stand, daß er darüber in den nächsten Tagen eine Anordnung bekommen sollte, aber weit weg war’s gewiß, denn so nahe lagen die Forsteien nicht neben einander in dem wilden Waldland. Daran ließ sich auch nichts ändern, und das mußte eben abgewartet werden — besuchen konnte man sich ja doch wohl dann und wann einmal, und Raischbach versprach schon heilig, daß er herüber kommen wolle, und wenn sie ihn an’s andere Ende des Staates brächten — den Spessart vergäße er im ganzen Leben nicht.

„Apropos, Raischbach,“ sagte der Förster Buschmann — „beinah hätt’ ich’s vergessen. Kennen Sie denn den Oberförster Böckler im Hessischen drüben? Das hab’ ich ja gar nicht gewußt.“

„Ich? — nein!“ sagte Raischbach kopfschüttelnd — „seit ich hierher versetzt wurde, bin ich erst ein einziges Mal über die Grenze gekommen, und das war damals, wie wir Nachts den angeschossenen und drüben verendeten Hirsch herüberholten — hab’ mich[S. 266] aber dabei wohl gehütet, den Oberförster aufzusuchen.“

„Ja, ich weiß wohl,“ lachte der Alte. „Die Geschichte hätte Ihnen auch bös bekommen können — na, es ist gut abgelaufen und vorbei — aber der Oberförster — ein alter Freund von mir, wenn wir uns auch über Jahr und Tag nicht gesehen haben, kennt Sie doch.“

„Mich?“ sagte Raischbach mit dem Kopf schüttelnd; „das ist wohl kaum möglich — woher sollte er mich kennen?“

„Ja, das weiß ich auch nicht,“ meinte Buschmann, während er den Kuchenteller zurückschob und die Pfeife wieder vorholte — „aber morgen hält seine einzige Tochter Marie Hochzeit, und da hat er heute einen expressen Boten herübergeschickt, um mich und meine Alte und den ‚Forstgehülfen Raischbach‘ dazu einzuladen — da liegt der Brief, die Braut muß ihn selber geschrieben haben, denn Böckler hat seinen Kindern eine gute Erziehung gegeben, und die Buchstaben sehen ordentlich wie gedrechselt aus.“

Dabei reichte er dem jungen Mann den Brief, den jedenfalls eine Frauenhand geschrieben, und dieser las in der That zu seinem Erstaunen den eigenen Namen, wie es schien, absichtlich mit großer Deutlich[S. 267]keit ausgeführt und noch außerdem besonders — wenn auch nur ganz fein — unterstrichen.

„Das ist ja doch merkwürdig!“ sagte er; „und wo wohnen denn die Leute? — weit von hier?“

„Gar nicht so weit,“ sagte Buschmann, „vielleicht eine halbe Stunde Wegs über der Grenze drüben bei Hettenbach im sogenannten Bau.“

„Im Bau?“ rief Raischbach, erschreckt emporfahrend.

„Das Thal heißt so,“ nickte der Alte, „wo die Forstei liegt, weil es von beiden Seiten eng eingeschlossen ist und das Haus selber, besonders wenn man in die Nähe kommt, so aussieht, als ob es in einem grünen Gewölbe stäke. Es ist wirklich ein reizender Platz und schon der Mühe werth, daß man ihn einmal besucht.“

„Im Bau!“ wiederholte Raischbach noch einmal, aber mehr zu sich selber als dem Alten redend: „das ist doch sonderbar — und seine Tochter heißt Marie und macht morgen Hochzeit?“

„Da steht ja die ganze Geschichte im Brief. Sie heirathet aber aus dem Wald hinaus, einen Doktor, und mir wär’ das nicht recht, wenn ich Töchter hätte. Mich wundert’s, daß es der alte Böckler gelitten hat.“

„Er wird’s nicht haben hindern können, Vater,[S. 268]“ nickte freundlich die alte Frau. „Wenn sich ein paar junge Leute erst einmal lieb und ihr Brod haben, wer kann sie da auseinander halten? — Aber nicht noch eine Tasse, Herr Förster? — Sie haben ja beinah gar nichts getrunken.“

„Ich danke wirklich, Frau Försterin!“

„Oder wenigstens noch ein Stückchen Kuchen.“

Der junge Mann hatte sein Aeußerstes an Essen und Trinken gethan — es war auch spät geworden, und nachdem er seine Pfeife ebenfalls in Brand gebracht, zog er sich bald darauf, unter dem Vorgeben, heute Abend besonders müde zu sein, auf sein Zimmer zurück. Die Frau Försterin rief ihm aber noch nach, sich morgen früh ja um zehn Uhr etwa bereit zu halten, daß sie dann zusammen nach Böckler’s hinübergingen, weil er allein gar nicht den Weg gefunden hätte. Länger durften sie auf keinen Fall warten, sonst kamen sie zu spät, denn um zwölf Uhr sollte die Trauung sein und anderthalb gute Stunden hatten sie zu gehen.

[D] Abwurf ist das Geweih, was Hirsch oder Rehbock im Winter verliert, um im Frühjahr wieder neue Stangen anzusetzen.

Achtes Kapitel.
Der Bock.

Raischbach konnte an dem Abend fast gar nicht einschlafen, so gingen ihm die heute gehörten Neuig[S. 269]keiten im Kopf herum. Daß er selber Förster und dadurch selbstständig geworden, beschäftigte ihn aber wunderbarer Weise am Wenigsten; mehr als Alles dagegen, daß es ganz in der Nähe einen Ort gäbe, der „im Bau“ heiße. — Und hatte ihm jenes fremde, wunderliebe Mädchen, das er damals im Wald getroffen, nicht gesagt, daß sie „im Bau“ wohne, und er darunter thörichter Weise nur den einen derartigen Platz verstanden, den er kannte? Und sie hieß also wirklich Marie, wie er sie damals in seinem Traum oder Wachen — er wußte es selber nicht — genannt, und morgen um zwölf Uhr feierte sie ihre Hochzeit und hatte ihn selber dazu eingeladen, damit er Zeuge der Trauung sein solle.

Er fiel endlich in einen unruhigen Schlaf, aber der Traum spielte fort. Wieder traf er die Jungfrau, die jetzt mit dem Grafen von Hackelnberg Arm in Arm spazieren ging, und hinterher hinkte die alte Urschel und schüttelte immer mit dem Kopf, und die schöne Berchta sauste auf ihrem milchweißen Renner daher. Jetzt hatte sie ihn erblickt, und mit einem Hussah und Halloh hetzte sie ihre mageren Rüden auf ihn, die mit Gebell und Geheul heranstürmten. Jetzt waren sie dicht an ihn heran; da riß sich Marie von des wilden Jägers Arm los und wollte sich ihnen entgegen[S. 270]werfen. Umsonst! was vermochte ihre schwache Kraft gegen die teuflischen Bestien; sie wurde zu Boden gerissen, und wie er selber in wilder Wuth nach seinem Hirschfänger griff, um sie zu retten, brachte er ihn nicht aus der Scheide. Wie festgeleimt stak er darin, und heran brachen die Hunde mit offenen, gifthauchenden Rachen — die Tut-Osel flog herbei mit ihren glühenden Augen und breiten Schwingen — schon fühlte er das scharfe Gebiß der Rüden an seiner Kehle, als er mit einem Schrei in seinem Bett emporfuhr und wild verstört umherblickte.

Das Fenster hatte er am Abend vorher und in der warmen Nacht offen gelassen und er hörte draußen im Busch den Ruf der Nachtschwalbe — das erste Zeichen des anbrechenden Tages. Es war noch sehr früh, aber er fühlte sich auch so aufgeregt, daß er doch nicht mehr schlafen konnte oder wollte. Er stand auf, wusch sich und zog sich an und schlich sich dann, um Niemanden im Haus zu stören, die Treppe hinunter, nahm seine Büchse vom Nagel und wanderte in den Wald hinaus.

Es war ein ganz wundervoller Morgen, und noch prangten die Sterne in voller Pracht am Himmel, aber schon zeigte sich im Osten der erste lichte Streif und hie und da begannen einzelne kleine Vögel ihr[S. 271] leises Zwitschern und Zirpen, fast wie selber noch im Traum und aufgeblustert auf ihren Zweigen.

Es mußte die Nacht ein wenig geregnet haben, denn der Boden war feucht — man hörte keinen Schritt, und still und sinnend wanderte der junge Forstmann durch den schweigenden, wundervollen Wald in die jetzt mehr und mehr erwachende Natur hinein.

Da sang ein Finke schon sein munteres Lied hell und klar der erwarteten Sonne entgegen — da drüben am Bergeshang schrie der Kukuk seinen monotonen Ruf. — Ueber den Pfad hinüber glitt ein Fuchs, der wohl nach seinem Bau zurückkehrte, aber so rasch und einer Erscheinung gleich, daß Raischbach nicht einmal die Büchse an den Backen heben, viel weniger zielen konnte. Es lag ihm auch nicht viel daran, die stille, fast heilige Ruhe des Waldes jetzt durch einen Schuß auf einen in dieser Jahreszeit doch werthlosen Fuchs zu stören, und langsam schritt er weiter. Aber das Begegnen des schlauen Hühnerdiebes hatte ihn doch ein wenig aus seiner Träumerei aufgerüttelt und aufmerksamer gemacht. Er behielt die Büchse, die er bis dahin auf der Schulter getragen, unter dem Arm und fing jetzt an, da es auch hell genug geworden war, zu pirschen.

[S. 272]

Eine Weile ging das auch. Er paßte nach allen Seiten auf, und wenn er einen Bergkamm oder eine Erhöhung erreichte, blieb er eine Zeitlang ruhig halten, um erst zu beobachten, ob er nichts Lebendiges erkennen könne. Aber der Wald schien heute — die lustigen Sänger in den Zweigen abgerechnet — wie ausgestorben, und nach und nach gewannen die Gedanken in ihm wieder die Oberhand. Fast unwillkürlich, ohne sich dessen wenigstens klar bewußt zu sein, hatte er dabei die Richtung nach dem „Fuchsbau“ genommen und wie oft — wie unzählige Male war er schon den Weg gegangen, daß er fast jeden Baum und Strauch dahin kannte. Was er da immer und immer wieder wollte, mochte er sich freilich nicht einmal selber eingestehen — aber es war kein Feisthirsch und kein Rehbock, und dort angekommen suchte sein umherschweifender Blick — es ließ sich nicht gut ableugnen — immer nur ein buntes Tuch zwischen den grünen Büschen.

Und „im Bau“ hatte sie gesagt, daß sie wohne, und heute sollte ihre Hochzeit sein — war er da nicht thöricht, gerade an dem heutigen Tag den Fuchsbau abzusuchen? — an ihrem Ehrentag fand er sie dort doch sicher nicht.

Mißmuthig warf er sich am Fuß einer hochstäm[S. 273]migen Tanne nieder, legte die Büchse neben sich und stützte den vom Denken und Grübeln fast schmerzenden Kopf in die Hand.

Er mochte eine halbe Stunde so gelegen haben, und all’ die alten, oft mit Gewalt verdrängten Bilder jener Stunden, die er damals nach seinem Sturz im Fuchsbau zugebracht, zogen mit ihren gaukelnden Gestalten an seiner inneren Seele vorüber, als er plötzlich dicht hinter sich Schritte zu hören glaubte. Er fuhr allerdings nicht rasch empor, um zu sehen, was sich in seiner Nähe rege, denn das thut schon aus alter Gewohnheit kein Jäger, aber fast unwillkürlich glitt seine rechte Hand nach dem Schloß der Büchsflinte und suchte den Bügel, während er langsam und vorsichtig, ohne seine Stellung auch nur im Geringsten zu verändern, den Kopf der Richtung zudrehte, in der er das Geräusch vernommen. Aber einen ordentlichen Stich gab es ihm durch’s Herz, als er dort plötzlich auf kaum dreißig Schritt Entfernung den Bock — seinen Bock erkannte, der, mit dem riesigen Gehörn auf, ganz ruhig und vertraut aus einer Fichtendickung herausgetreten war und sich dort sorglos zu äsen anfing.

Allerdings lag er selber durch den Stamm und die Wurzel der Weißtanne großentheils verdeckt, aber[S. 274] die geringste Bewegung mußte auch den Blick des scheuen Wildes dahin lenken, und gut genug wußte er, daß der Bock dann auch wieder — lange vorher, ehe er schußfertig werden konnte, mit zwei Sprüngen im Dickicht und vollständig in Sicherheit war. Langsam ließ er sich deßhalb zurückgleiten, bis er lang ausgestreckt am Boden lag; dann erst versuchte er sich umzudrehen und auf das Gesicht zu kommen — auf dem noch feuchten Moos und den dürren Nadeln konnte er das auch ohne Geräusch bewerkstelligen, und jetzt erst zeigte sich eine andere Schwierigkeit, daß er die Büchse nämlich an der linken Seite liegen hatte.

Vorsichtig hob er wieder den Kopf — der Bock hatte sich von ihm abgedreht; er konnte keine Ahnung von seiner Nähe haben, und nun erst wagte er es, seine Waffe herumzubringen. Wie ihm aber das Herz dabei pochte — er konnte es ordentlich hören, und wenn er jetzt schoß, fehlte er ihn heilig — erst mußte er ruhig werden, und mit geöffnetem Mund, dicht hinter den Stamm gepreßt, die Büchse aber schußfertig in der Hand, kniete er auf seinem Stand und athmete ein paar Mal hoch auf.

Und der Bock äste sich weiter; er konnte ihn in dieser Stellung nicht sehen, aber hörte deutlich, wie er das dort in der Dickung üppig wachsende Gras[S. 275] abriß — jetzt durfte er nicht länger säumen. Er hob sich leise empor, bis er aufrecht stand, trat einen Schritt zurück, hob die Büchse an den Backen und bog sich nach rechts über. Die Bewegung war ohne Geräusch geschehen, aber das Auge des Bocks mußte gerade die Tanne gestreift haben, an der es rasch die fremdartigen Umrisse erkannte. Dort stand er, breit, den schönen Kopf mit dem kräftigen Gehörn erhoben, aber schon mißtrauisch und zur Flucht bereit, herübersichernd — noch ein Moment — aber der Lauf der Büchse hatte sein Ziel gesucht und gefunden, der Finger des Jägers berührte den Stecher, und mit dem Knall des Rohres zugleich sprang das zum Tod getroffene Thier mit allen vier Läufen zumal vom Boden empor, fuhr herum und war im nächsten Augenblick in der Dickung verschwunden.

Raischbach aber, während ein triumphirendes Lächeln über seine Züge flog, rührte sich nicht von der Stelle. Er hatte den Sprung des Bocks gesehen und wußte, daß er ihn nicht gefehlt haben konnte — alles Uebrige durfte jetzt ruhig abgemacht werden. Vor allen Dingen lud er auch deßhalb den abgeschossenen Kugellauf frisch auf den Brand, setzte ein Zündhütchen auf und den Hahn in Ruh, und schritt dann langsam auf den Anschuß.

[S. 276]

Er brauchte nicht weit zu gehen, schon von weitem erkannte er an den reichlich mit rothem Schweiß bespritzten Büschen die Stelle, wo der Bock in das Dickicht gebrochen — er lag auch schon, kaum zwanzig Schritt von da entfernt, verendet, und Raischbach hätte laut aufjubeln mögen, als er das prachtvolle Gehörn, dem er so lange schon vergebens nachgestrebt, als sein Eigenthum in Händen hielt. Aber viel Zeit durfte er auch nicht versäumen; es war schon spät geworden, und wenn er noch zur rechten Stunde in der Forstei sein wollte, um sich umzukleiden, mußte er rasch an’s Werk gehen. Und wie gern that er das — in wenigen Minuten war der stattliche Bock aufgebrochen und allerdings eine Last, um ihn auf den Schultern nach Haus zu tragen, denn er wog sicher seine fünfundvierzig Pfund; aber mit dem Gefühl seines Triumphes spürte er ihn kaum und schritt rüstig vorwärts.

„Alle Wetter!“ rief aber der alte Förster aus, als er den jungen Mann mit dem Staatsbock ankommen sah; „heute sollten Sie in die Lotterie setzen, Raischbach, denn daß Sie dem Bock begegnet sind, zeigt, daß Ihr Glückstag ist. Das Gehörn wäre unter Brüdern seine sechs Louisd’or werth.“

Aber es blieb keine Zeit zu weiteren Betrachtungen,[S. 277] es war in der That spät geworden, und da sich Raischbach auch noch vollständig umkleiden mußte, durfte er keinen Augenblick mehr verlieren. Er brauchte indes nicht lange zu seiner Toilette, und kaum eine halbe Stunde später schritten die beiden Forstleute mit der Frau Försterin, den Nachtrab bildend, die Büchsen heute zu Hause gelassen und nur den Stock in der Hand, den moosigen Waldpfad entlang, der, nördlich auslaufend, hinüber in das hessische Revier führte.

Raischbach war es dabei ganz wunderlich zu Muthe — einmal mußte er an den Prachtbock denken, den er heute Morgen erlegt hatte — und ihr Pfad führte sie ziemlich dicht an der nämlichen Stelle vorbei — dann aber wieder fiel ihm auch jenes wunderliebliche Mädchen ein, die ihm gesagt, daß sie „im Bau“ wohne und zu deren Hochzeit er heute eingeladen worden. Eigentlich wäre er am Liebsten gar nicht hingegangen, denn was Anderes sollte er dort thun, als sie noch einmal sehen, um sie auf immer zu verlieren. — Aber war sie’s denn auch wirklich? — Blieb er zurück, so würde er die quälenden Zweifel sein ganzes Leben lang nicht los geworden sein, und schon um sich Gewißheit zu verschaffen, mußte er der fatalen Wirklichkeit die Stirn bieten.

[S. 278]

Neuntes Kapitel.
Schluß.

Der alte Förster plauderte dabei den ganzen Weg, aber Raischbach hörte kaum, was er sagte, denn immer und immer wieder flogen seine Gedanken hinüber zu der Maid. — — Daß er auch nie früher von dem Ort gehört hatte — wie bald wäre er einmal hinübergegangen, um sich dort umzusehen und die Nachbarschaft zu begrüßen — und wenn sie es wirklich war, wie gut hatte sie seinen Namen behalten — und wie hübsch sie ihn geschrieben. Wenn sie ihn aber nicht vergessen hätte, weßhalb hielt sie sich da so lange verborgen, bis sie des Priesters Wort auf ewig von ihm trennte? War sie mit ihrem jetzigen Bräutigam vielleicht schon damals verlobt gewesen? — oder sollte es gar eine Strafe für ihn sein, daß er selber sie nicht früher aufgesucht? Welch’ ein Thor er auch gewesen, das blühende Geschöpf nur eine Sekunde lang für ein gespenstiges Wesen zu halten und der Stelle, die sie ihm genannt, nicht anders nachzuforschen, als in dem wilden und wüsten Grund!

Der alte Förster hatte ihn um etwas gefragt, mußte es aber dreimal wiederholen, ehe Raischbach nur hörte, daß er mit ihm sprach, und Buschmann[S. 279] schüttelte erstaunt mit dem Kopf; denn so zerstreut war der junge Mann noch nie gewesen — aber gewiß dachte er nur an den glücklichen Schuß von heute Morgen; ja, ja, der alte Bock ging ihm durch den Sinn, und verdenken konnt’ er’s ihm gerade nicht, denn solch’ ein Gehörn gab es nicht wieder, weit und breit.

So stiegen sie zuletzt, Jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, den Hang hinab und zu dem Grenzbach nieder, der die beiden Reviere und Staaten von einander trennte, und von da ab mußte Förster Buschmann die Leitung übernehmen, denn Raischbach hatte diese Gegend ja noch nie betreten.

„Eigentlich,“ meinte er, als sie die Grenze überschritten, „wären wir hier schon ziemlich nahe bei dem Forsthaus, denn der Fußsteig da führt gerad’ drauf zu, und es kann über den Berg von hier ab kaum eine Viertelstunde sein. Dort oben hat’s aber einen häßlichen Platz über Geröll und Klippgestein und meine Alte möchte da nicht so gut fortkommen — der Weg hier dagegen ist breit und bequem und nur vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten weiter, wozu wir noch übrig Zeit haben — es ist gerade ein Viertel nach Elf, und in einem halben Stündchen sind wir in aller Bequemlichkeit drüben.“

[S. 280]

Raischbach hatte den Blick zu dem bezeichneten, ziemlich steil auflaufenden Fußsteig hinaufgeworfen, als er plötzlich Buschmann’s Arm ergriff und dort hinandeutend rief: „Förster, sehen Sie dort oben nicht ein buntes Tuch schimmern?“

Der alte Mann sah hinauf und sagte dann lachend: „Ja, warum soll denn da kein buntes Tuch zu sehen sein — gleich rechts von der Höhe liegt ein Dorf, und Mädels mit bunten Tüchern wird’s wohl genug da drinnen geben.“

„Aber dort steht Jemand — Wollen wir denn nicht lieber den Fußsteig gehen — vielleicht ist er bequemer gemacht, denn Frauen begehen ihn doch jedenfalls.“

„Ja,“ nickte Buschmann, „solches junges Wetterzeug, aber meine Alte brächten wir da nicht fort und hielten uns jedenfalls länger dabei auf, als wir hier herum brauchen. — Kommen Sie nur den geraden Weg mit, mein junger Herr Förster, und brechen Sie mir nicht gleich seitwärts in die Büsche, wenn Sie dort irgendwo ein buntes Tuch schimmern und leuchten sehen!“ und damit schritt er rüstig und lachend den Weg voran.

Raischbach warf noch einen sehnsüchtigen Blick nach rechts hinauf, aber es ließ sich jetzt nichts mehr erkennen, und bald tauchten sie auch wieder so voll[S. 281]ständig in den Wald ein, daß sie von Büschen und hochstämmigen Eichen rings umgeben waren. Da öffnete sich plötzlich, gerade nach einer scharfen Biegung des Weges, der sich nach rechts ab um den Fuß des Hügels schlängelte, das Thal, und Raischbach blieb erstaunt stehen, als er die freundliche Scenerie gewahrte, die sich ihnen bot.

Sie standen am Rand des Waldes, der sich vor ihnen zu einem nicht gerade breiten, aber mit freundlichen Wiesen und Feldern bedeckten Thal öffnete, während rechts hinein eine nicht sehr hohe, aber dicht und vollbelaubte Doppelreihe von Linden in eine ziemlich enge Schlucht einführte. Raum zu einem breiten Weg war auch hier nicht gewesen, und nur mit Vorsicht hätten sich zwei Wagen darin ausweichen können. Dadurch waren aber die sich begegnenden Wipfel der Bäume so ineinander gewachsen, daß sie ein festes Gewölbe bildeten, unter dem man nur, so hoch die kurzen kräftigen Stämme reichten, durchsehen konnte. In der Allee selber war es auch dadurch fast vollkommen dunkel, aber hinten, wo sie auslief, stand, vom hellen Sonnenlicht übergossen, ein freundliches Schweizerhaus: „die Forstei im Bau“, und bot, von hier aus gesehen, einen ganz reizenden, überraschenden Anblick.

[S. 282]

Dieser röhrenartigen Allee verdankte die Forstei ihren Namen „im Bau“, und Raischbach besonders erfaßte ein ganz wunderbares eigenthümliches Gefühl, als er jetzt darin hinschritt und sich fast wieder dabei in seinen Traum zurückversetzt fühlte. War er nicht auch damals mit seiner holden Führerin durch jenen langen, von flimmernden Lichtern erhellten Gang geschritten und hatte in der Ferne die geheimnißvolle Stadt herausleuchten gesehen, gerade so fast, wie jetzt da die Forstei vor ihnen lag? — aber die Führerin eben fehlte heute, die ihn sonst geleitet, und die alte Frau Försterin konnte sie ihm, trotz ihres gutmüthigen Gesichts, doch nicht ersetzen.

Und sollte er sie dort in dem kleinen Forsthaus finden? — finden als Braut? — als das Weib eines andern Mannes? Es wurde ihm recht weh, recht bitter weh zu Sinn, als er vorwärts schritt, und er hatte schon lange die freundliche Gegenwart um sich her im Brüten über das Vergangene, Erlebte — Erträumte nur vielleicht — vergessen, als er sich plötzlich den Laubgang öffnen sah und den eigentlichen Forsthof mit seinem reizenden rosengefüllten Garten und dem im tyroler Styl erbauten Jägerhaus betrat, und nun allerdings keine Zeit zu weiterem Grübeln und Denken behielt.

[S. 283]

„Halloh! die Spessartleute!“ schrie ihnen eine tiefe Baßstimme jubelnd entgegen — „das ist gescheidt und gerade noch zur rechten Zeit. Hurrah! wie geht’s, alter Buschläufer — was treibt Ihr da drüben in Eurem Waldwinkel?“ — Und ein großer stattlicher Mann mit einem sonngebräunten Gesicht, aber dem freundlichsten Lächeln in den guten Zügen, kam ihnen entgegen und streckte beide Hände nach den alten Leuten aus.

Es war der Oberförster Böckler selber, der seine nur etwas entfernten Nachbarn auf das Herzlichste begrüßte und mit Handschütteln fast gar nicht wieder aufhören wollte, bis sein Blick auf den etwas hinter ihnen stehenden Raischbach fiel und er sich rasch an diesen wandte.

„Alle Wetter!“ rief er, „da ist ja auch unser Wilddiebsschütze, unser Forstgehülfe von drüben — Herr Raischbach oder wie er heißt. Herzlich willkommen, junger Freund, freut mich aufrichtig, Ihnen einmal die Hand zu schütteln, denn Sie haben sich nicht allein das Diebsgesindel selber vom Leib gehalten, sondern uns auch hier unten Luft damit gemacht.“

„Bitte um Verzeihung, Herr Oberförster!“ fiel aber hier die alte Dame ein. „Nichts mehr mit Forstgehülfe, wenn’s gefällig ist. Habe die Ehre, Ihnen[S. 284] den seit gestern wohlehrbaren Herrn Förster Raischbach vorzustellen!“

„Förster geworden, hah? na das ist recht!“ rief Böckler vergnügt; „da gratulir’ ich von Herzen, und das hat er sich auch wahrhaftig ehrlich und sauer genug verdient. Aber jetzt dürfen wir uns hier nicht länger mit Redensarten aufhalten, denn die jungen Leute da drin werden mir sonst ungeduldig und meine Alte zappelt sich schon seit einer Stunde ab, um fertig zu werden und zum Aufbruch zu blasen. Erst trinken wir aber noch ein Glas Wein und dann kann die Geschichte meinetwegen losgehen.“

Er führte auch seine Gäste jetzt ohne Weiteres ins Haus, und Raischbach schlug das Herz wie ein Hammer in der Brust, als er die Schwelle überschritt, auf welcher er sein Traumbild jetzt mehr zu finden fürchtete als hoffte. Zuerst mußten sie aber noch die Begrüßung der Frau Oberförsterin mit durchmachen, die, während ihr Mann in seine gewöhnliche Sonntagsjoppe gekleidet ging, den höchstmöglichen Staat angelegt hatte und mit Bändern und Schleifen fast bedeckt schien — war es doch auch der Ehrentag ihres einzigen Kindes.

Und jetzt betrat das Brautpaar das Zimmer, und der Alte stellte sie mit launiger Förmlichkeit vor. —

[S. 285]

„Herr Doktor Westphal aus Kassel als Bräutigam und Fräulein Marie Böckler aus dem Bau als Braut — und hier Herr Förster Buschmann, direkt aus dem Urwald, mit Gemahlin, eben so wie der neue Herr Förster Raischbach von ebendaselbst.“

Die Braut war ein liebes holdes Kind von kaum achtzehn Jahren, eigentlich fast zu zart für eine Försterstochter, aber mit treuen lichtblauen Augen und blonden Haaren, auf denen jetzt der Myrtenkranz ruhte, während ein schneeweißes, duftiges Kleid ihre schlanke Gestalt umschloß — aber Raischbach sah ein vollkommen fremdes Gesicht vor sich. Dem Mädchen war er nie im Wald begegnet — das war nicht „seine Maid aus dem Bau“, und so verlegen stand er ihr in dieser plötzlichen Enttäuschung gegenüber, daß er kaum im Stande war, die freundlich nach ihm ausgestreckte kleine Hand zu nehmen, um die Begrüßung zu erwiedern.

Also doch nur ein Traum das Ganze — und jene Begegnung im Wald? — damals konnte er ja doch nicht geträumt haben, wo er, Morgens auf dem Pirschgang, bei vollkommen kaltem Blut, das junge fremde Mädchen draußen angetroffen.

„Aber wo steckt denn nur eigentlich die Margareth?“ sagte da die Frau Oberförsterin fast ärgerlich — „schon[S. 286] seit einer vollen Stunde habe ich sie mit keinem Auge gesehen.“

„Die wird sich in ihren Staat werfen,“ lachte der Oberförster. „Hast Du doch selber heute Morgen drei volle Stunden zu dem Deinigen gebraucht, Alte.“

„Fehlgeschossen, Herr Onkel!“ rief da plötzlich eine lachende Mädchenstimme, und als sich Raischbach blitzschnell darnach umdrehte, hätte er laut aufjubeln mögen vor Lust und Seligkeit, denn vor ihm, das Gesicht aber jetzt wie mit Purpur übergossen, stand sein „Waldweible“, die er monatelang vergebens gesucht, mit einem frischen Waldblumenkranz im Haar, und sah in ihrer halben Verlegenheit so frisch, so lieblich aus, daß er hätte auf sie zuspringen und sie vor allen Leuten an’s Herz drücken mögen — ein ganz natürliches Gefühl übrigens, das andere Menschen wohl ebenfalls dann und wann überkommt, wenn sie einem so lieben Mädchengesicht begegnen — selbst wenn sie noch nicht so viel und oft davon geträumt haben wie der junge Forstmann.

„Hoho!“ rief da der alte Oberförster, „unsere wilde Hummel, die, wie mir scheint, den ganzen Wald geplündert hat, um sich einen Kranz daraus zu flechten.“

„Ja, und Bergnelken auch,“ sagte die Frau Oberförsterin, „und da bist Du wieder an dem steilen Hang[S. 287] hinaufgeklettert, was Dir der Onkel schon so oft verboten hat, denn das ist der einzige Platz, an dem sie hier in der Nähe wachsen.“

„Aber heute, an Mariens Ehrentag, durften sie doch nicht fehlen!“ lächelte das junge Mädchen.

„Ist das eine Nichte von Dir, Böckler?“ frug ihn Buschmann.

„Fräulein Margareth Böckler, meines Bruders, des Försters Böckler in Schmalkalden, ehrsame, aber etwas sehr wilde Tochter,“ stellte sie der Alte vor, „die uns schon einmal vor etwa einem Jahr besucht hat und jetzt zur Trauung meiner Marie wieder herübergekommen ist. — Hier, Grethel, Herr Förster Buschmann mit Frau, und den neugebackenen Förster Raischbach kennst Du ja wohl schon, denn Du wußtest wenigstens seinen Namen.“

War das junge Mädchen schon vorher etwas verlegen gewesen, so goß sich ihr jetzt plötzlich tiefe Röthe über Wangen und Nacken, aber trotzdem lächelte sie und sagte schelmisch: „Der Herr Förster hat sich mir einmal selber im Walde vorgestellt, als ich mich verirrt hatte und nicht mehr wußte, wohin ich mich wenden sollte.“

„Da bist Du an den Rechten gekommen,“ lachte der Oberförster, „der spürt alles Fremde auf, was in[S. 288] sein Revier kommt, und daß er Dich damals nicht gepfändet hat, ist ein reines Wunder.“

Raischbach konnte kein Wort erwiedern, es war, als ob ihm Jemand die Kehle zuschnüre; aber die alte Dame kam ihm zu Hülfe, denn die Gäste konnten unmöglich den wohl viertelstündigen Weg in die Dorfkirche antreten, ohne vorher, nach ihrem langen Marsch, einen Imbiß genommen zu haben. Stand doch auch Alles schon seit frühem Morgen dazu bereit, und dem Nöthigen zum Essen und Trinken mußte jetzt jede andere Unterhaltung weichen.

Dann ordnete sich der Zug zur Kirche, nach altem Gebrauch. Voran der Bräutigam mit der Braut. Hinter diesen der Oberförster und Margareth als Brautführer, dann die Uebrigen, wie sie sich eben zusammenfanden, mit jungen Mädchen aus dem Dorf, die herübergekommen waren, um Marie abzuholen. Die Trauung selber dauerte allerdings etwas lang, da es der Dorfgeistliche für seine Pflicht hielt, ehe er zu der wirklichen feierlichen Handlung überging, den beiden Brautleuten einen kurzen Ueberblick von der Erschaffung der Welt und der ganzen biblischen Geschichte zu geben; aber sie nahm doch auch ein Ende, und nun begann der fröhliche Heimzug und das Hochzeitsmahl im Försterhause, bei dem der große eichene Tisch[S. 289] unter der Last der aufgetragenen Speisen ordentlich ächzte.

Also deßhalb hatte Raischbach das Mädchen in der ganzen Zeit nicht gesehen — nur zum Besuch war sie damals da gewesen, und jetzt erst in den „Bau“ zurückgekehrt? Und wie freundlich sie gegen ihn war — aber auch wie scheu, denn sie wich ihm aus, wo sie immer konnte, und doch gestand sie ihm noch an demselben Nachmittag, daß sie am Morgen auf dem Fußpfad oben am Hügel gewesen wäre und gesehen hätte, wie sie „von drüben herüber“ kamen. — Hatte sie ihn wirklich erwartet? — o, wie glücklich wäre er gewesen, wenn er das hätte glauben dürfen.

Das Mittagessen war vorüber, und Abends wurde natürlich ein kleiner Ball arrangirt, wenn man auch nur einen Geiger und einen Flötenbläser zum Musikkorps hatte. Raischbach tanzte fast nur mit Margarethen — wie lieb er schon den Namen hatte — und als sie den Heimweg endlich antraten, da Buschmann nicht bewogen werden konnte, im „Bau“ über Nacht zu bleiben, gingen ihm so viele Dinge im Kopf herum, daß er fast wie ein Trunkener durch den Wald schwankte und von seinem alten Förster weidlich ausgelacht wurde, da er, statt den Pfad zu der Forstei[S. 290] einzuschlagen, in den schmalen Weg bog, der nach dem Fuchsbau hinüberführte.

Innerhalb drei Tagen, so lautete das Schreiben, das ihm seine Beförderung angekündigt hatte, sollte er sich bei dem Oberforstamt melden, um dort seine definitive Anstellung als Förster entgegen zu nehmen — wie kurz war die Zeit, die er da auf seine eigenen Angelegenheiten verwenden konnte, denn fast zu der nämlichen Frist mußte Margareth, wie sie ihm an dem Abend gesagt, nach Hause zurückkehren. Aber Raischbach war nicht der Mann, der sich eine einmal aufgespürte Beute so leicht hätte entgehen lassen.

Schon am nächsten Tag, da ihn sein Dienst jetzt nicht mehr an die Forstei band, wanderte er wieder nach dem „Bau“ hinüber, und es war erst spät Abends, als er von dort zurückkehrte — so spät, daß er Buschmann nicht einmal mehr sprechen konnte.

Am nächsten Tag mußte Margareth heimwärts reisen und Raischbach ebenfalls seinen Marsch antreten, um zur rechten Zeit beim Oberforstamt einzutreffen. Hier wurde er sehr freundlich begrüßt, und da erst vor kurzer Zeit eine recht gute Forstei erledigt worden, rückte er mit einem Gehalt, der seine kühnsten Hoffnungen noch überstieg, in dieselbe ein.

Buschmann’s hörten von da ab, da sein neuer[S. 291] Wohnplatz sehr entfernt von ihnen lag, lange nichts mehr von ihm, und nicht einmal geschrieben hatte er, obgleich er ihnen das fest versprochen; aber du lieber Gott, Buschmann war ihm deßhalb nicht böse, denn er wußte gut genug aus eigener Erfahrung, wie ungern Jäger — wenn nicht dazu gezwungen — eine Feder in die Hand nehmen und einen Brief fertig bringen. Es ist etwas Unnatürliches und wird eben so lang als irgend möglich hinausgeschoben.

So war fast ein volles Jahr vergangen, als eines Tages, es war ein Sonntag, und der alte Förster deßhalb sicher zu Hause, ein kleiner, leichter Einspänner, dessen Kutscher ganz entsetzlich mit der Peitsche knallte, den Waldweg herauffuhr.

Wenn es nun etwas in der Welt gab, was Förster Buschmann nicht leiden konnte, so war es Peitschenknallen oder überhaupt irgend ein Lärm im Wald, der, wie er manchmal äußerte, sein feierliches Schweigen bewahren müsse, oder es sei eben kein Wald mehr, sondern nur ein Bauernholz. Seinen Holzfuhrleuten war es deßhalb auch auf das Strengste verboten, und er litt es überhaupt von keinem durchziehenden Kärrner, ohne wenigstens entsetzlich grob zu werden und ihnen auch gar nicht selten zu drohen, daß er ihnen „die Peitsche aus der Hand schießen würde“. — Das[S. 292] half gewöhnlich, denn da die Leute nicht glaubten, daß er den dünnen Peitschenstiel treffen würde, so war es nachher vollkommen unsicher, wohin die Kugel schlagen könne, und sie unterließen es wenigstens in seiner Nähe.

Buschmann saß gerade vor dem Haus unter der alten Linde und trank mit seiner Frau Kaffee, denn der neue Forstgehülfe, den er hatte und den das Leben auf der einsamen Forstei langweilte, war in den nächsten Ort zu Bier gegangen. Da hörte er das ganz unsinnige Peitschenknallen des Einspänners, der sich jedenfalls nur hierher verfahren hatte und nun den lästerlichen Skandal machte, um Jemanden herbeizurufen und auf den rechten Weg gebracht zu werden. Der kam dem Alten aber gerade recht, denn er war just nicht in besonderer Laune und hatte sich schon irgend etwas gewünscht, an dem er seinen Grimm auslassen konnte. Zuerst fuhr er empor und horchte; wie er sich aber über den Laut nicht mehr täuschen konnte und der Einspänner auch bald darauf in Sicht kam, sprang er auf, rannte ihm entgegen und überschüttete nun den Kutscher mit einer solchen Fluth von Verwünschungen und Flüchen, daß das Pferd fast scheu wurde und der arme Teufel bestürzt auf seinem schmalen Bock saß. Es sah auch in der That so aus,[S. 293] als ob der alte Mann jeden Augenblick über ihn herfallen werde, und kräftig genug schien er, um das ganze Gefährt in den Busch zu werfen.

„Hurrah!“ jubelte da plötzlich in den Ingrimm hinein eine laute lachende Stimme, „hab’ ich’s mir doch gedacht, daß er beim Peitschenknallen wie der Bock auf’s Blatt anläuft — Hurrah, Vater Buschmann, kennen Sie mich nicht mehr?“

Und heraus aus dem Wagen sprang Raischbach und schüttelte dem erstaunten alten Mann herzlich die Hand. Dieser aber, so sehr er sich freute, seinen alten Forstgehülfen wieder begrüßen zu können, sagte ihm kaum ein Wort, denn er bemerkte jetzt erst, daß er nicht allein in dem Einspänner gesessen habe. Eine jugendliche schlanke Frauengestalt sprang hinter ihm her aus dem kleinen Wagen und mit einem Freudenruf auf ihn ein: „Herr Förster Buschmann!“

„Soll mich der Teufel holen, die Margareth!“ rief der Alte ganz verdutzt aus.

„Frau Försterin Raischbach,“ stellte sie aber der junge Mann jetzt förmlich vor, als nun auch die Frau Försterin und die alte Lisei, die eben das Kaffeezeug abräumen wollte, herankamen um zu sehen, was es da gäbe. Gehörte doch ein Fremder auf der Forstei ohnedies zu den größten Seltenheiten, und die Frauen be[S. 294]kamen jetzt die schönste Gelegenheit, um die Hände über dem Kopf zusammen zu schlagen. — Aber das war nun auch ein Gratuliren und Wünschen und Küssen und Drücken und Erzählen, und die Lisei stürzte vor allen Dingen in die Küche, um wieder einen frischen Topf mit Kaffee anzusetzen.

Raischbach mußte indeß erzählen, wie es so rasch mit seiner Heirath gekommen sei, und da erfuhren sie denn, daß er, als er sich von Margareth wieder getrennt sah, kurzen Prozeß gemacht habe und selber nach Schmalkalden hinübergefahren sei, um bei ihrem Vater um ihre Hand anzuhalten. Vor vierzehn Tagen sei nun Trauung gewesen und sie selber noch auf der Hochzeitsreise, und jetzt wollten sie, ehe sie nach Hause zurückkehrten, erst ihre Freunde im Spessart und — den alten Platz besuchen, wo sie sich zum ersten Mal gesehen.

„Und was für ein hübsches Frauchen haben Sie sich ausgesucht, Herr Förster,“ sagte die alte Lisei, die mit gefalteten Händen vor dem jungen Paar stand und es mit ordentlich mütterlicher Liebe betrachtete.

„Ja, Lisei,“ lachte Raischbach, „das ist aber auch kein gewöhnliches Menschenkind, sondern ein echtes Waldweible, das ich mir aus dem Fuchsbau geholt und zu meiner Frau gewonnen habe, und die kennt den[S. 295] wilden Jäger, den Grafen Hackelnberg, den Hans Jagenteufel, die schöne Berchta und die alte Urschel ganz genau, von Jugend auf.“

„Gott sei uns gnädig!“ sagte die alte Frau erschreckt, denn sie hielt etwas Derartiges gar nicht etwa für unmöglich. Margareth aber ging zu ihr, reichte ihr lächelnd die kleine Hand und sagte herzlich: „Glauben Sie dem wilden Menschen kein Wort. Fühl’ ich mich an wie eines von den Gespenstern, die er in seinem Fiebertraum gesehen? Aber am Fuchsbau, wie der Platz ja wohl heißt, hat er mich allerdings im Wald gefunden, und eines Försters Kind und Frau bin ich auch, also ein Waldweible, wenn wir’s so nennen wollen.“

„Und erinnern Sie sich noch, Herr Förster,“ rief da Raischbach, „was Sie mir an dem Morgen, wo ich den Prachtbock geschossen hatte, sagten? — ich habe die Worte bis auf den heutigen Tag nicht vergessen: ‚Heute sollten Sie in die Lotterie setzen, Raischbach,‘ meinten Sie, ‚denn daß Sie dem Bock begegnet sind, zeigt, daß Ihr Glückstag ist.‘ — Nun, das hab’ ich an dem nämlichen Tag gethan, und wie Sie sehen, hier das große Loos gewonnen.“

Es bleibt kaum noch etwas zu erzählen. Daß Raischbach und seine junge Frau „im Bau“, wohin er[S. 296] mit ihr am nächsten Morgen zu Fuß hinüberging und ihr dabei auch unterwegs die Stelle zeigte, wo er damals in den Fels gekrochen — mit Jubel empfangen wurde, versteht sich von selbst. Drei volle Tage blieb er auch dort und bei Buschmann’s, und erst als sein Urlaub abgelaufen war, fuhr das junge Paar durch den schönen rauschenden Wald, und jetzt nur Glück und Liebe im Herzen, der Heimath — dem „eigenen Herd“ entgegen.

[S. 297]

Der ältliche Herr.
Eine Badeskizze.

Verzierung

In Bad Ems stand die Saison in voller Blüthe und der Platz war seit langer Zeit nicht so besucht gewesen, wie in diesem Jahre. Dazu begünstigte das außerordentlich freundliche Wetter nicht allein die Kur, sondern verstattete auch den Patienten, oder besser gesagt Badegästen, die weitesten Ausflüge in die Nachbarschaft, in der sich reizende Partieen nach allen Seiten machen ließen.

Früh Morgens wogte dann auch — während die nassauische Militairmusik unermüdlich, von ihrem Dirigenten selbst componirte Potpourris spielte — die Schaar der Lustwandelnden auf der Promenade auf und ab, während Mittags und Nachmittags — bis das Abendconcert wieder begann, der Hauptplatz wie ausgestorben schien.

Das war dann die Zeit, wo die geputzten Menschen — auf Eseln oder zu Fuß — in die schattigen Berge hinaufkletterten, um auf den Höhen zu lagern[S. 298] und von dort den sonnigen Badeplatz aus der Vogelperspective zu betrachten.

Nur im Spielsaale wurde es nicht leer. Die Gier nach dem dort roulirenden Gold regte die Leidenschaften auf, und was das heilkräftige Wasser am Morgen genützt, zerstörte Mittags wieder der grüne Tisch. — Was kam auch eigentlich darauf an, ob die Kranken das Bad geheilt verließen — die Actien der Spielbank stiegen von Jahr zu Jahr, und daß Schweiß und Blut an dem Gelde klebte, machte dem französischen Gesindel und seinen vornehmen Beschützern wenig Sorgen.

Wol muß einmal die Zeit kommen, wo dieser Fluch unserer Civilisation ausgerottet und jene Bande von Croupiers aus dem Lande und über ihre Grenze gejagt wird, und dann werden wir nicht begreifen können, wie es möglich war, sie so lange zu dulden. Jetzt aber grünt und blüht sie noch in unseren reichsten Gauen, und wenn sie im Herbste ihre geldgefüllten Koffer nach Frankreich hineinschleppt, lacht sie der Thoren, die sie auf der Leimruthe gefangen und gerupft.

Gott bessere es!

In Ems, wie im ganzen nassauischen Lande blühte ihr Geschäft aber noch flott, und während draußen[S. 299] der helle Sonnenschein auf den Bergen lag, und die Vögel zwitscherten und sangen und der blaue Himmel sich über die Erde spannte, drängte sich ein dichter Schwarm von Spielern um den grünen Tisch im reich geschmückten Saale, um mit lautlosem, peinlichem Schweigen den Urtheilssprüchen zu lauschen, die ihnen Glück oder Unglück kündeten.

Aus dem Saale trat ein junger Mann — er sah bleich und erregt aus und der stiere Blick flog unstät über den freien Raum. Grade in der Thüre begegnete er einer Gruppe von Herren und Damen, die eben die Spielhölle betreten wollten. Er sah sie aber gar nicht und drängte sich, die glanzlosen Augen am Leeren haftend, zwischen ihnen durch auf die Promenade.

Die Gesellschaft blieb stehen und sah ihm nach.

„Der hat verloren,“ lächelte ein Elegant mit einem spitzen Schnurr- und Knebelbarte — „aber er scheint noch ein Neuling zu sein, denn einem alten Spieler würde man es nicht ansehen dürfen.“

„Armer junger Mensch,“ flüsterte die eine Dame mitleidsvoll.

„Bah — weshalb spielt er,“ sagte der Erste wieder; „aber lassen Sie uns eintreten, meine Damen, wir bekommen sonst keinen Platz am Tische.“

[S. 300]

Die Gesellschaft verschwand im Saale und der junge Spieler — so wenig seiner selbst bewußt, daß er nicht einmal den Hut draußen aufsetzte, sondern ihn noch immer in der Hand behielt, schnitt quer durch die Stühle und Tische am Promenadenplatze hin, rechts an den Kurgebäuden vorüber, der kleinen eisernen Brücke zu, die über die Lahn nach dem anderen Ufer hinüberführte.

Dicht vor der Brücke überholte er einen ältlichen Herrn mit zwei Damen, aber er sah oder beachtete sie gar nicht. Mit raschen Schritten eilte er über die Brücke, bis er etwa die Mitte derselben erreicht harte, warf dort zuerst einen Blick über das Geländer in die Fluth hinab, dann sah er sich wie scheu um, ließ plötzlich seinen Hut fallen, ergriff das Geländer mit beiden Händen, schwang sich hinauf und verschwand im nächsten Augenblicke in der über ihm zusammenschlagenden Fluth.

Die beiden Damen, welche indessen mit ihrem Begleiter ebenfalls die Brücke betreten hatten und unmittelbare Zeugen des Ganzen gewesen waren, stießen einen lauten Schrei aus, und sahen nur noch, wie vom anderen Ende der Brücke ein junger Mann, der den Vorgang ebenfalls bemerkt haben mußte, im flüchtigen Laufe herbeiflog, an der Stelle angelangt[S. 301] ohne Weiteres seinen Strohhut zu Boden warf, seinen Rock abstreifte, und sich dann, ohne auch nur einen Moment zu zögern, ebenfalls von der Brücke hinab in die Lahn warf.

Die beiden jungen Damen eilten jetzt der Stelle zu, um zu sehen, ob das Rettungswerk des wackeren Helfers gelingen würde; der ältere Herr dagegen, der die Sache viel kaltblütiger zu nehmen schien, folgte ihnen weit langsamer und blieb endlich am unteren Geländer stehen, um den Verfolg des kleinen Abenteuers von dort, wo er sich gerade befand, zu beobachten.

Uebrigens schien die verzweifelte That des Unglücklichen von beiden Ufern des kleinen Stromes aus gleichzeitig bemerkt zu sein, denn von beiden Seiten eilten Leute herbei und aus dem dicht am Ufer stehenden Polizeigebäude sprangen ein Paar Polizeidiener hinab und in ein dort befestigtes Boot, um wo möglich den Selbstmord zu vereiteln. Sie wären aber doch vielleicht zu spät gekommen, hätte der junge Fremde, der ein rüstiger Schwimmer schien, nicht den Unglücklichen schon gefaßt und, trotz seines Sträubens, über Wasser gehalten. Vergebens aber suchte er mit ihm das dort außerdem hoch ummauerte Ufer zu erreichen, und dabei kam ihm denn endlich das Boot zu Hülfe.[S. 302] Rasch erfaßte er dessen Rand und hielt jetzt den Unglücklichen so lange, bis ihn die beiden Diener der öffentlichen Sicherheit ebenfalls ergreifen und in das Boot ziehen konnten. Der Fremde folgte dann nach, und etwas weiter unterhalb landeten sie, um jetzt den jungen verzweifelten Menschen, der aber nicht den geringsten Widerstand mehr leistete, auf die Polizei abzuführen, damit er sich dort verantworte.

Wenn ihm die Sicherheitsbehörde auch das volle Recht eingeräumt oder doch wenigstens in der Spielhölle die Gelegenheit geboten hatte, über sein eigenes oder anvertrautes Geld zu verfügen, so schien sie ihn vollständig mit der Gewalt über sein eigenes Leben beschränken zu wollen. Er hatte zu einem Selbstmorde in Nassau keine polizeiliche Erlaubniß.

Indessen breitete sich die Nachricht über das beabsichtigte Vergehen blitzschnell in der Nachbarschaft aus. In einem Badeorte hat, die Kellner und Köche ausgenommen, Alles Zeit, und selbst das unbedeutendste Außergewöhnliche ist willkommen, um für einen Moment die Monotonie des Badelebens zu unterbrechen.

An beiden Ufern sammelten sich die Neugierigen, und als der wieder auf’s Trockene gebrachte arme Teufel abgeführt wurde, drängten die auf der anderen Seite Befindlichen rasch über die Brücke, um den[S. 303] interessant gewordenen jungen Mann auch einmal in der Nähe zu betrachten und nachher genau erzählen zu können, wie er ausgesehen habe.

Die beiden jungen Damen hatten indessen neben dem abgeworfenen Rocke und Hute des Fremden gestanden, was Beides noch auf dem Boden lag. Die Jüngste von ihnen bemerkte aber in der aufgekehrten Brusttasche des Rocks eine grünsaffiane Brieftasche, und als die vielen Leute vorüber eilten und Einige sogar auf den Rock traten, bückte sie sich unwillkürlich und hob ihn und den Hut auf. Der edle junge Mann, der so rücksichtslos sein Eigenthum von sich geworfen hatte, nur um einem anderen, jedenfalls fremden Menschen zu helfen und ihn zu retten, durfte doch nicht auch noch, als Dank für seine wackere Gesinnung, zu Schaden kommen. Es war das Wenigste, was sie für ihn thun konnten, daß sie Acht auf das Verlassene hatten.

Ihr älterer Begleiter kam jetzt ebenfalls heran und lächelte spöttisch, als er die junge Dame mit dem Rock und Hut des Fremden auf der Brücke stehen sah.

„Du siehst wirklich gut aus, Elise,“ sagte er, „und trägst Deine Last mit Würde.“

„Ich konnte doch die Sachen nicht auf der Brücke[S. 304] liegen lassen,“ erwiderte die junge Dame erröthend — „es liefen so viele Menschen vorüber und erst neulich las ich in einer Zeitung, daß ein junger Mann, der in einem ähnlichen Falle in Berlin einen Anderen aus dem Flusse gezogen, bei seiner Rückkehr keines der abgeworfenen Kleidungsstücke wiedergefunden habe.“

„Dagegen wolltest Du diesen jungen Herrn also sicher stellen?“ nickte ihr Begleiter, wo möglich noch spöttischer als vorher — „dann amüsire Dich gut, mein Kind — ich werde mit Bertha indessen voran in’s Hôtel gehen, denn Du darfst doch keinenfalls den Platz verlassen, bis Dein Schützling zurückgekehrt ist.“

„Da kommt er schon,“ rief Bertha, die andere junge Dame, „lieber Gott, wie naß er aussieht!“

„Wie eine gebadete Maus,“ lachte der ältere Herr — „ich würde Dir aber rathen, mein Kind, die Sachen wenigstens niederzulegen, Du kannst ja daneben stehen bleiben — oder willst Du sie ihm feierlich als ‚weiß gekleidete Jungfrau‘ überliefern?“

„Du bist unausstehlich heute,“ sagte das junge Wesen, indem sie tief erröthete, in aller Verlegenheit aber die Sachen doch neben sich auf den Boden legte. Das geschah aber zu spät, als daß es der jetzt auf[S. 305] die Brücke tretende Fremde nicht noch hätte bemerken müssen. Er wußte deshalb, wer sich seiner Sachen angenommen, und als er näher kam, sagte er — in seiner nassen Toilette doch auch ein wenig befangen:

„Nehmen Sie den innigsten Dank, mein gnädiges Fräulein, für Ihre unendliche Liebenswürdigkeit.“

„Bitte, mein Herr — es war“ — stammelte die junge Dame — nicht dem Fremden, sondern ihrem älteren Begleiter verlegen gegenüber, denn sie sah, daß sich dieser die größte Mühe gab, sein Lachen zu verbeißen. Er befreite sie aber auch ohne Weiteres aus dieser Lage, indem er ihr seinen Arm reichte und sie, mit einer leisen Neigung des Kopfes gegen den Fremden, über die Brücke hinüberführte.

Dieser blieb indessen, ganz in das Anschauen der holden jungen Dame versunken, mitten auf der Brücke stehen, und sah ihnen nach, soweit er ihnen mit den Augen folgen konnte. Endlich fing es ihn aber doch an in den nassen Kleidern zu frösteln; die Zähne schlugen ihm zusammen, und da sich auch weiter Niemand um ihn bekümmerte — war doch der Gerettete eine viel interessantere Persönlichkeit, als sein Retter — so setzte er seinen Hut auf, nahm den Rock in die Hand und schritt, so rasch er konnte, am Kurhause[S. 306] vorbei und seiner eigenen Wohnung zu, die Straße hinab.

Ein so wohlthuendes Gefühl es ihm aber auch hätte dabei sein müssen, ein Menschenleben gerettet zu haben, so überließ er sich sonderbarer Weise doch weit weniger diesem angenehmen Gedanken, sondern beschäftigte sich entschieden nur mit seinem augenblicklichen Zustand.

„Den Teufel auch,“ brummte er leise vor sich hin, „da muß mich der Böse plagen, daß ich gerade über die Brücke komme, wie der Holzkopf in’s Wasser springt — und ich hinterher. Wer von uns Beiden war nun der Dümmste? — Jedenfalls ich, denn er mußte einen Grund dafür haben und mich ging die ganze Geschichte eigentlich gar Nichts an. Und was habe ich jetzt davon? — Mein einziges gutes Paar Hosen auf unbestimmte Zeit gründlich ruinirt, und meine Stiefeln — na ja — ob ich es mir nicht gedacht habe: da klafft das ganze Oberleder weit auf und jetzt kann ich mich nur zwei Tage in’s Bett legen, bis mich Schuster und Schneider erst wieder restaurirt haben — und nachher die Rechnung in dem theueren Neste. Das geschieht Dir aber Recht, Florian — ganz Recht geschieht Dir’s, denn Du mußt Deine Nase in Allem haben, und wenn sie Dir nun indessen[S. 307] Deine Brieftasche mit Deinen letzten zehn Thalern gestohlen hätten, heh? — was dann? hättest Du Dich bei irgend Jemandem beklagen dürfen? Aber jener schützende Engel! — beim Himmel, wie aus Rosenduft und Lilienthau gewoben — noch ein Ideal! Heiland der Welt, wie viel Ideale habe ich eigentlich schon, und immer wieder taucht ein neues auf, und eins schöner und holdseliger als das andere. — Aber was nützt mir’s,“ setzte er nach einer kurzen Pause niedergeschlagen hinzu — „mir hilft’s doch Nichts, denn das ist jedenfalls irgend eine junge Comtesse oder Prinzessin, wie sie hier zu Dutzenden incognito herumlaufen, die mir aus reiner Gutmüthigkeit meinen Rock aufgehoben. — Jetzt geht sie denn in aller Gemüthlichkeit zu ihrem Diner, und denkt gar nicht mehr an den armen Teufel, und ich — madennaß wie ich bin, darf mich nicht einmal vor Jemandem sehen lassen. Das einzige Gute ist, daß mir heute Niemand gesegnete Mahlzeit zu wünschen braucht.“

Es wurde in der That nöthig, daß sich der junge Mann von der Straße entfernte, denn sein wunderlicher Aufzug theils, theils sein halblaut geführtes Selbstgespräch hatte schon eine Anzahl von jugendlichen Gestalten herbeigelockt, die anfingen, sich über ihn zu amüsiren. Seine Vorahnung schien sich auch[S. 308] zu bestätigen. Nur spärlich mit Garderobe ausgerüstet, mußte er in der That zwei volle Tage, wenn auch nicht gerade das Bett, doch sein Zimmer hüten, um seine Beinkleider und Stiefeln erst wieder in Stand zu bekommen, und erst am dritten Morgen durfte er wagen, sich auf’s Neue auf der Promenade sehen zu lassen.

Florian Heldenstern war übrigens nicht nach Ems gekommen, um eine Kur zu gebrauchen, ebensowenig, um sich zu amüsiren, denn — seine Mittel erlaubten ihm das nicht. Florian Heldenstern hatte aber trotzdem einen Zweck, und zwar einen literarischen, denn seinem Stande nach gehörte er zu den „Rittern vom Geiste“. Er war mit einem Worte Dichter, und machte hier — im Auftrag eines größeren Blattes, um Correspondenzen zu schreiben und vielleicht auch Stoff zu kleineren Erzählungen zu sammeln — Studien in der Badewelt, die ihm den Hintergrund zu seinen Novellen liefern sollten.

Einen eigentlichen Stoff hatte er freilich noch nicht; es fehlte ihm zu spannenden Novellen weiter Nichts, als piquante Persönlichkeiten und Verwickelungen; aber er hoffte das Alles hier zu finden und quartierte sich zu dem Zwecke in einem der billigsten Gasthöfe des etwas kostspieligen Ortes, im Hôtel[S. 309] Wolf, ein. Vergebens aber durchstreifte er die ersten acht Tage den Spielsaal, wie die benachbarte Umgebung, drängte sich in Picknicks und geschlossene Gesellschaften, erkletterte steile Bergrücken und langweilte sich halbe Nächte lang in den Concerten des Kursaals. Er konnte nichts Außergewöhnliches finden, denn Alles ging sein gewohntes alltägliches Geleis, was nicht regelmäßiger in irgend einer kleinen deutschen Provinzialstadt betreten werden konnte.

Morgens war Musik und die Kurgäste gingen dabei spazieren und tranken schlechtschmeckendes Wasser mit oder ohne Eselsmilch. Dann zog sich Alles in seine Apartements zurück oder machte Partieen. Ueber Mittag schien der Platz wie ausgestorben, und erst Abends bewegte sich die schöne Welt in exquisirter Toilette vor dem Kurhause auf und ab und füllte die Promenaden und Spielsäle, ohne irgend welche Leidenschaft zu zeigen.

Selbst am grünen Tische hatte er vergebens auf der Lauer gelegen, um irgend etwas Außergewöhnliches zu entdecken. Bei völliger Todtenstille wurde gesetzt und abgezogen und Gewinnst eingestrichen oder Verlust ignorirt. Keiner verzog eine Miene, und daß sich französische freche Loretten dazwischen drängten und für ihr oder anderer Leute Geld pointirten, be[S. 310]merkte er wohl, konnte es aber nicht benutzen, da es schon zu oft beschrieben worden.

Da kam ihm, wie ein Gott gesandt, der versuchte Selbstmord des unglücklichen Spielers, dessen eigentliche Pointe aber seine eigene Gutmüthigkeit vollständig ruinirte. Er vergaß in dem Moment nicht allein sein eigenes Interesse, sondern sogar sich selbst, sprang über die Brücke, brachte den Ertrinkenden, über dessen Leiche er die interessantesten, bogenlangen Betrachtungen hätte anstellen können, lebendig ans Ufer zurück und besaß jetzt nicht einmal ein Paar Hosen und Stiefeln, um auf frischer That Nachforschungen über das Schicksal des Unglücklichen anzustellen und aus dessen eigenem Munde seine Lebensgeschichte zu erfahren.

Sein erster Ausweg, wie er sich wieder restaurirt sah, galt allerdings dem Zwecke, und er ging damit augenblicklich an die rechte Quelle: auf die Polizei. Aber er erfuhr dort nur, daß er zu spät kam. Der junge Mann war ein „Knopfreisender“ gewesen, der für die Firma So und So in Quedlinburg Geld eincassirt und dasselbe hier in Ems verspielt hatte. Da man ihm übrigens zutraute, seinen Selbstmordversuch zu wiederholen, was die „Bank“ gerade nicht gern sah, so hatte ihm diese 20 fl. Reisegeld gegeben. Dadurch[S. 311] kam er fort und konnte denn, wenn er es später für gut fand, seinem Leben im Rhein oder irgend einem anderen deutschen Strom ein Ende machen; Ems war jedenfalls von ihm befreit.


Florian Heldenstern verließ das Polizeiamt in einer wahrhaft verzweifelten Stimmung, denn wenigstens drei oder vier höchst interessante Kapitel waren ihm durch das Verschwinden dieses Individuums in’s Wasser gefallen. — Aber jenes schöne Mädchen, das er am Tage seines Abenteuers zum ersten und letzten Male gesehen — wenn er sie wenigstens wiederfand, so hätte das vielleicht einen Anknüpfungspunkt für weitere spannende Situationen gegeben. Wie hieß sie aber und wo wohnte sie? — Er wußte Beides nicht und es blieb ihm jetzt nichts Anderes übrig, als die Schwärme von Lustwandelnden genau zu mustern, um zwischen diesen seine verlorene Schöne wieder anzutreffen.

Das allerdings schien, gerade in Ems, nicht so schwer, da sich das Terrain für die Spaziergänger oder „Wasserläufer“, wie man sie besser nennen könnte, nur auf einen sehr kleinen Raum erstreckte. Nichts desto weniger suchte er mehre Tage lang Alles vergeblich ab, durchwanderte die Trinkhallen und den[S. 312] Platz vor dem Kurhause, trotzte selbst den endlosen Potpourris der Musik und stieg sogar zu den verschiedenen Ausgucks auf alle benachbarten Berge hinauf, von denen man eben so verschiedene Ansichten der kleinen Badestadt bekommt. Er begegnete dabei allerdings unzähligen und auch oft sehr hübschen Mädchen, theils in Begleitung eines Esels, theils im Sattel; er sah ländliche Familiengruppen und Berliner Picknicks, überraschte einzelne Paare beim Heidelbeersuchen und englische Gruppen, die sich einander todtschwiegen — aber die Gesuchte war nirgends unter ihnen und er glaubte schon — ja, mußte so glauben, daß sie Ems wieder verlassen hätte, um vielleicht eine Nachkur irgendwo am Rhein zu gebrauchen.

Er hatte es in der That auch vollständig aufgegeben, die „Verlorene“ wiederzufinden und fing schon an, in gereimten und ungereimten Versen für sie zu schwärmen. In der Erinnerung, während ihr Bild noch klar und deutlich vor seiner Seele stand, wurde ihm dieses letzte Ideal auch immer ideeller, immer märchen- und traumhafter. Auf der Brücke war sie ihm erschienen — sie mußte aus der Fluth zu ihm emporgestiegen sein und er begann ein größeres Idyll unter dem Titel „Die Nixe der Lahn“, wobei er sich[S. 313] schon überdachte, welchen Verleger er damit unglücklich machen wolle.

Einmal aber in dieses Geleis geistigen Schaffens hineingerathen, wurde er für seine wenigen Bekannten in Ems unausstehlich, denn er bemühte sich fortwährend, in Gedanken unmögliche Reime auf Nixe, Nymphe, Göttin und andere schwerfällige Worte zu finden und gab ausschließlich verkehrte Antworten auf an ihn gerichtete Fragen. Dabei saß er halbe Tage lang an dem Ufer der etwas unappetitlichen Lahn, schwärmte in der wahnsinnigen Hoffnung, daß die Geliebte mit halbem Leibe aus der Fluth emportauchen und mit einem goldenen Kamme ihr langes Haar kämmen solle, und ärgerte sich über prosaisches Volk, das ihn störte, und Brod in’s Wasser warf, um die Weißfische damit zu füttern.

Nach einer solchen Unterbrechung flüchtete er denn gewöhnlich in die Berge hinauf, um seiner Muse freien Raum zu gestatten, und war auch heute dahin auf dem Wege. Vorher nur kehrte er einmal im Schweizerhause ein, um sich durch eine Tasse dünnen Kaffee vielleicht auf seine Wassergöttin vorzubereiten; er ließ sich auch eben an einem der leer stehenden Tische nieder, als er blitzesschnell wieder emporfuhr, denn dicht neben ihm, gleich am nächsten Tische —[S. 314] es war keine Täuschung, denn er hätte sie unter Tausenden herauserkannt — saß seine „Nixe“ und trank ebenfalls Kaffee und neben ihr die andere, vielleicht um sechs bis acht Jahre ältere, aber auch noch sehr liebenswürdige Dame mit dem ältlichen Herrn.

Seine Schöne mußte ihn aber ebenfalls wieder erkannt haben, denn sie erröthete bis unter die Haarwurzeln hinauf und den schneeweißen Nacken hinab, und flüsterte auch gleich darauf ihrem Nachbar, dem ältlichen Herrn, etwas zu, worauf dieser sich langsam nach dem fremden jungen Manne umsah.

Florian Heldenstern fühlte sich jetzt seiner Sache gewiß, und in der unbestimmten Angst, das holde Wesen diesmal wieder so rasch zu verlieren, als das erste Mal, wenn er nicht im Stande war, seine bodenlose Blödigkeit zu bezwingen, faßte er sich ein Herz, ging auf die kleine Gruppe zu und sagte, freilich noch immer mit etwas befangener Stimme:

„Wenn ich nicht irre, meine Gnädigste, so habe ich in diesem Augenblicke das Vergnügen, jene — jene — jene holde Dame wieder vor mir zu sehen, der ich, bei dem neulichen kleinen Zufall, zu so vielem Danke verpflichtet bin, ohne bis jetzt im Stande gewesen zu sein, demselben die passenden Worte zu geben.“

[S. 315]

Florian Heldenstern war „lyrischer Dichter“ und dadurch berechtigt, die unsagbarsten Gefühle auf seine eigene Art und Weise auszudrücken. Die junge Dame aber erröthete noch weit mehr, und nur der ältliche Herr schien seine volle Fassung zu bewahren, denn er sagte mit seiner vollen wohlklingenden Stimme und nur etwas fremdartigem deutschen Dialekt:

„Ah, mein Herr, Sie sind ja wohl der neuliche Lebensretter jenes verzweifelten Spielers. Nicht wahr, Sie sprangen neulich in die Lahn und gaben sich die sehr verlorene Mühe, jenen Selbstmörder dem Leben zu erhalten?“

„Mein Herr,“ sagte Florian sehr achtungsvoll, aber doch mit dem Gefühle gekränkter Menschenwürde — „verlorene Mühe? — Der Mann ist gerettet worden.“

„Allerdings,“ lächelte der Fremde — „aber bitte, wollen Sie nicht bei uns Platz nehmen, denn die beiden Damen haben schon lange gewünscht, Ihre nähere Bekanntschaft zu machen.“

„Ich wäre zu glücklich, wenn —“ stammelte Florian und sah sich dabei vergebens nach einem Stuhl um, den ihm aber ein aufmerksamer Kellner brachte.

„Sie wissen,“ fuhr aber der ältliche Herr fort, „Damen interessiren sich gewöhnlich für alles Außer[S. 316]gewöhnliche — besonders in einem so langweiligen Nest wie dieses Ems ist, und Sie haben sich da jedenfalls ein Verdienst erworben.“

„Es war nur Menschenpflicht,“ sagte Florian bescheiden.

„Nein, ich meine nicht um den leichtfertigen Patron, der sein Leben so billig losschlug, weil er wohl am besten den Werth desselben kannte, sondern um die Badegesellschaft, der Sie damit auf wenigstens zwei Tage so sehr nöthigen Stoff zur Unterhaltung gaben.“

„Aber, mein sehr werther Herr,“ sagte Florian bestürzt, „Sie werden doch nicht die Unterhaltung einer Badegesellschaft höher anschlagen, als ein Menschenleben?“

„Menschenleben,“ sagte der ältliche Herr, aber mit einem spöttischen, fast verächtlichen Ausdruck. „Ich würde nie einen Selbstmörder an seinem Vorhaben hindern, wenn ich auch rechtzeitig dazu käme, am wenigsten aber Jemanden wieder aus dem Wasser holen.“

„Aber das Gefühl der That —“

„Bah,“ sagte der Fremde, „glauben Sie denn, daß Sie dessen Zustand gebessert hatten, als Sie ihn auf’s Trockene brachten? Erstlich blieben seine Ver[S. 317]hältnisse nach dem kalten Bade genau dieselben, als vor dem Sprung in’s Wasser, außerdem brachte er noch das Bewußtsein seiner feigen That mit herauf, und drittens war er durch und durch naß — wo ist da die Verbesserung?“

„Aber die Spielbank hat ihm zwanzig Gulden Reisegeld gegeben,“ sagte Florian.

„Gut,“ nickte der Fremde, „die bringt er einmal so rasch als irgend möglich auf die Schwesterbank nach Wiesbaden, und dann kann er die ganze Geschichte noch einmal von vorn anfangen.“

„Aber wenn er nun doch den begangenen Fehler bereut,“ sagte schüchtern die ‚Nixe der Lahn‘ — Florian hatte noch keinen anderen Namen für sie — „wenn er wieder ein guter Mensch wird?“

„Er ist Knopfreisender,“ sagte der ältliche Herr trocken, „und — spielt. Uebrigens will ich es ihm von Herzen wünschen. Aber jetzt basta mit dem langweiligen Patron, von dem schon genug und übergenug gesprochen ist, und nun erzählen Sie uns einmal vor allen Dingen, wer Sie selber sind — denn wie gesagt, meine beiden Damen haben sich vor Neugierde kaum lassen können, da sie einen ‚Menschenretter‘ natürlich wie eine Art von überirdischen Wesen betrachten.“

„Sie beschämen mich,“ sagte Florian verlegen.

[S. 318]

„Und womit?“ frug der ältliche Herr, „ich gebe Ihnen mein Wort, daß es bloße Neugierde ist, zu der auch ich mich mit einem Bruchtheile bekenne; denn ich muß Ihnen gestehen, daß ich selber aus Ihrer ganzen Erscheinung nicht recht klug werden konnte, obgleich ich mir sonst einen ziemlich richtigen Blick in der Beurtheilung fremder Charaktere zutraue.“

Es lag in den leicht hingeworfenen, fast spöttischen Worten eigentlich mehr Beleidigendes als Zutrauen Erweckendes, und Florian fühlte auch wirklich halb und halb heraus, daß ihn der ältliche Herr etwas obenhin behandele. Florian’s eigene Gutmüthigkeit half ihm aber darüber hinaus, und dann war er auch wirklich im Leben noch nie verwöhnt worden, um sich durch einen leisen Spott gekränkt zu fühlen. Erfolge hatte er noch nie, oder doch nur in seinen eigenen Augen errungen, und wenn er auch einigen seiner Gedichte die riesigsten Wirkungen zutraute und die feste Ueberzeugung hegte, sie würden wie ein Weltbrand durch Europa flammen, so befand er sich dabei in derselben Lage eines Johanniswürmchens, das auch den ganzen Wald zu erleuchten glaubt, weil es sich selber fortwährend in einem lichten Scheine sieht. Deshalb durfte er aber auch diese Gelegenheit nicht versäumen, den jungen Damen seinen Namen zu[S. 319] nennen — sie mußten ja das Bändchen bei F. A. Brockhaus erschienener lyrischer Gedichte kennen. Er zögerte auch nicht lange mit der Antwort und sagte bescheiden, aber doch mit innigem Selbstgefühl:

„Ich bin Schriftsteller, verehrter Herr — lyrischer Dichter — und mein Name ist Florian Heldenstern. Sollten die Damen vielleicht zufällig —“

Fast unwillkürlich griff er dabei mit der rechten Hand in die linke Brusttasche, denn einzelne Manuscripte führen alle lyrischen Dichter bei sich; der fremde Herr aber, der die drohende Bewegung merkte, streckte rasch und abwehrend seinen Arm aus und sagte:

„Lassen Sie stecken — wir glauben es Ihnen auf’s Wort. Die Damen müssen Sie aber entschuldigen, wenn sie in der deutschen Literatur nicht bewandert sind, denn wir kommen aus weiter Ferne, um die Heilkraft dieses Wassers zu erproben. Sie sind doch nicht etwa Bade-Dichter?“

„Bade-Dichter?“ sagte Florian verdutzt — „ich verstehe nicht —“

„Ah, dann nehmen Sie es nicht übel,“ sagte der ältliche Herr trocken — „ich kenne Ihre hiesigen Einrichtungen nicht, und glaubte, daß Sie vielleicht, wie Sie Badeärzte, Badecommissaire und dergleichen[S. 320] haben, auch vielleicht, zur Verschärfung der Kur, Bade-Dichter hätten. Die Schnelle, mit welcher Sie neulich in die Lahn tauchten, rechtfertigte auch einen solchen Verdacht in etwas. Aber, wie gesagt, wir sind hier so vollkommen fremd, daß wir Ihre inneren Einrichtungen nur sehr wenig kennen.“

„Aber woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?“ sagte Florian schüchtern, denn noch wußte er ja weder Namen noch Vaterland der ‚Lahnnixe‘, die doch sein ganzes Herz erfüllte.

„Aus Amerika,“ sagte der ältliche Herr.

„Aus Amerika?“ rief Florian erstaunt — „aber Sie sprechen das Deutsche so geläufig.“

„Wir sind auch keine geborenen Amerikaner, sondern stammen aus Norwegen — meine Aeltern waren Deutsche.“

„Und Sie kehren nach Amerika zurück?“ fragte der junge Dichter scheu und bestürzt.

„Allerdings, sobald unsere Kur beendet ist — befremdet Sie das?“

„Mich? — o nein,“ stammelte Florian verlegen — „wie könnte es auch — ich — würde nur unendlich bedauern, wenn ich mir denke“ — er stak fest; der Fremde aber, der sich an seiner Verlegenheit zu weiden schien, sagte lächelnd:

[S. 321]

„Bitte, vollenden Sie Ihren Satz. Man soll einen Schriftsteller nie unterbrechen, denn es gehen ihm dabei oft höchst kostbare und nie zu ersetzende Gedanken verloren.“

Florian befand sich schon in dem Falle, und war sich dabei nur noch nicht klar, ob er überhaupt einen Gedanken gehabt habe. Die junge Dame aber, die seine Verlegenheit wohl bemerkte, kam ihm mit ihrer unendlichen Liebenswürdigkeit zu Hülfe und sagte freundlich:

„Wir werden hier jedenfalls noch vierzehn Tage oder auch vielleicht drei Wochen verweilen, und hoffen dann noch öfter das Vergnügen zu haben, Sie zu sehen.“

„Sie sind sehr gütig,“ sagte Florian, und stand scheu von seinem Stuhle auf, denn er hielt das irrthümlicher Weise für eine leise Andeutung der Jungfrau, daß er sich gegenwärtig entfernen könne — „wenn Sie mir dann erlauben —“

„Bleiben Sie nur sitzen und trinken Sie Ihren Kaffee,“ rief aber der ältliche Herr, der sich vortrefflich zu amüsiren schien — „da bringt ihn der Kellner eben. Der Henker werde aus Ihnen klug — von der Brücke springen Sie, ohne sich einen Moment zu besinnen, in den Fluß hinunter, um einen Ertrin[S. 322]kenden zu retten, und hier thun Sie, als ob Sie nicht drei zählen könnten. Ihr Deutschen seid wirklich ganz verzweifeltes Volk. Sie fürchten sich doch wahrhaftig nicht vor den beiden Damen?“

„Ich? — o nein, sicher nicht,“ stammelte der junge Mann, der sich aber jetzt mit aller Gewalt zusammennahm, weil er das Schlimmste fürchtete, was einem Menschen in Damengesellschaft begegnen kann: sich lächerlich zu machen, „die beiden Damen sehen dazu viel zu lieb und gut aus. Ich — fürchtete nur, Ihnen als Fremder lästig zu fallen.“

„Bah,“ sagte der ältliche Herr, „wir sind hier Alle fremd, und wer sich findet, sollte sich deshalb aneinander anschließen, um dies verwünscht langweilige Leben nur in Etwas zu betäuben.“

„Ems bietet freilich nicht viel Unterhaltung,“ lächelte Florian, „und Sie scheinen vorlieb zu nehmen.“

„Das spricht wieder Ihre verwünschte Bescheidenheit,“ rief der Fremde — „kennen Sie nicht das Wort Ihres großen Dichters —

Und wenn Ihr Euch nur selbst vertraut,
Vertrau’n Euch auch die andern Seelen?

Uebrigens ist es mir ein höchst unbehagliches Gefühl, das Gewühl und Gewimmel dieser aufgeputzten Men[S. 323]schen in einem Badeorte zu sehen. Die ganze Gesellschaft kommt mir immer vor wie ein Korb voll noch rothbackiger, aber wurmstichiger Aepfel, die für den Augenblick noch den Schein für die Gesundheit bewahren, aber im Herzen schon den Todeskeim tragen. Ihnen scheint doch Nichts zu fehlen?“

„Mir? nein, Gott sei Dank,“ sagte Florian, „ich bin nicht zur Kur hier — und ich hoffe nur, daß —“ sein besorgter Blick streifte dabei der neben ihm sitzenden Lahnnixe Gestalt.

Uns fehlt auch Nichts,“ lachte der Fremde, „und wir sind nur eigentlich in Begleitung einer älteren kranken Verwandten hier.“

„Und gefallen sich die Damen hier?“

„Warum nicht,“ lächelte die Jüngste — „uns ist das Alles doch nur neu und interessant; dieses Wogen und Drängen, dieser Putz und Staat, die Musik — das Spiel selbst mit seinen leidenschaftlichen Bewerbern, und kehren wir nach Amerika zurück, wird es uns immer eine liebe und angenehme Erinnerung bleiben.“

Das Gespräch wurde jetzt allgemein und Florian erfuhr wenigstens dabei, daß der fremde Herr Olaf heiße und im Panorama wohne. Gleich darauf kam aber ein Diener, der ihn zu suchen schien. Er flüsterte[S. 324] ihm in ehrerbietiger Stellung einige Worte zu und der ältliche Herr nickte langsam mit dem Kopfe. Dann stand er auf; die Damen folgten seinem Beispiele und mit freundlichen Grüßen zogen sie sich zurück, während Herr Olaf selber ihm noch die Hand reichte und viel herzlicher, als er bis jetzt gesprochen, sagte:

„Ich hoffe Sie einmal unten bei uns zu sehen — die Damen wünschen es ebenfalls.“ Damit reichte er Beiden seinen Arm und schritt mit ihnen langsam nach Ems hinab.

Florian Heldenstern blieb in einem wahren Taumel von Entzücken zurück, denn die junge Dame hatte die Einladung, die Bekanntschaft fortzusetzen, mit einem so freundlichen Blicke begleitet, daß er kaum daran zweifeln konnte, willkommen zu sein. Jetzt aber mußte er vor allen Dingen Näheres über die Fremden erfahren, und ließ sich deßhalb augenblicklich die Kurliste bringen, die sich ja in jedem Gasthause oder Café findet.

Den Anhaltepunct hatte er ja auch, Namen und Wohnort und das Uebrige mußte die Kurliste angeben.

Panorama — da stand es — alle Wetter, dort logirten lauter vornehme Leute — meist russische Fürsten und Würdenträger mit vollkommen unaussprechlichen Namen — aber da stand Olaf — er schüt[S. 325]telte enttäuscht mit dem Kopfe, denn daraus erfuhr er auch nichts Näheres:

Olaf, Hr., m. Familie u. Bed. a. America

das war Alles. Aber wozu brauchte er auch die Kurliste; das nähere Familienverhältniß konnte er sich doch selbst recht gut aus der äußeren Erscheinung der Fremden zusammenreimen. Die ältere Dame — obgleich noch in sehr jugendlichem Alter, war jedenfalls die Gemahlin des ältlichen Herrn — vielleicht seine zweite Frau, und die jüngere dann möglicherweise ihre Schwester? — Nein, das konnte nicht gut sein, denn die beiden Damen schienen auch nicht die geringste Aehnlichkeit miteinander zu haben. Die Aeltere hatte rabenschwarzes, die Jüngere goldblondes Haar, die erste dunkle, die andere blaue, seelenvolle Augen. Ebenso wenig konnte er in den Zügen Beider auch nur das Geringste finden, was selbst nur auf eine nahe Verwandtschaft schließen ließ. Die Jüngste war deßhalb jedenfalls die Tochter des ältlichen Herrn aus erster Ehe und Elise hieß sie — den Namen hatte er im Gespräche gehört — Elise — was für ein reizender Name, für den er schon einmal in früherer Zeit und unter anderen Umständen geschwärmt, ja sogar einige seiner gelungensten Sonette auf den Namen gedichtet. Er hätte ihr keinen anderen Namen wün[S. 326]schen mögen, wenn sich auch schmerzhafte Erinnerungen daran knüpften.

Und er durfte sie besuchen; am Liebsten wäre er freilich gleich herunter gegangen, aber das würde sich nicht geschickt haben — heute auf keinen Fall — er durfte nicht zudringlich erscheinen — morgen — morgen Nachmittag — und morgen früh traf er sie gewiß auf der Promenade. — Aber an dem Hause konnte er wenigstens vorübergehen — vielleicht sah er sie dann, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment, am Fenster.

Florian befand sich wirklich in einem ganz gefährlichen Grad von Aufregung, die sich mit dem dämmernden Abend nur steigerte. Er fing auch an schon allerlei Pläne zu machen und Luftschlösser zu bauen, und lief noch lange nach zehn Uhr zwischen dem Hôtel de Paris und dem berliner Hof immer vor dem Panorama auf und ab, um hinter den hie und da erleuchteten Vorhängen die Gestalt der Geliebten zu träumen. Aber nicht einmal einen Schatten von ihr konnte er entdecken, und die Füße thaten ihm zuletzt so weh, daß er nach Hause mußte, um sich auszuruhen.

Er warf sich auch in der seligen Hoffnung auf sein Bett, jetzt nur von ihr zu träumen — und was An[S. 327]deres erfüllte denn auch seine ganze Seele? Aber Gott bewahre! Es war ordentlich, als ob ihn der neckische Traumgott verhöhnen wolle; denn statt mit dem Bilde der holden Lahnnixe, wie er sie noch immer nannte, beschäftigte er ihn die ganze Nacht mit einer dicken, unangenehmen Polin, die er an demselben Mittage vor dem Kurhause in einem mit Spitzen bedeckten, aber schmuzigen weißen Kleide, auf zwei Stühlen hingeräkelt und mit einer Cigarre zwischen den dicken Lippen gesehen und sich darüber geärgert hatte. Mit der unterhielt er sich im Traume die ganze Nacht — mußte ihr Feuer zu einer Cigarre geben, ging mit ihr an die Spieltische, ließ sich von ihr verleiten, zu setzen, verlor sein ganzes Reisegeld, was er bei sich führte und wachte endlich, vor Angst in Schweiß gebadet und mit den heftigsten Kopfschmerzen, wieder auf, als die Sonne schon hell auf sein Lager schien.

Florian Heldenstern führte eine Kaffeemaschine bei sich und kochte sich selber Morgens seinen Kaffee, und rauchte dazu eine leichte Cigarre, weil er keine schweren vertragen konnte. Aber sein Blut war in der Nacht, trotz des häßlichen Traumes, abgekühlt und er überdachte die Vorgänge des letzten Tages ruhiger.

Allerdings war er darüber keinen Augenblick mit[S. 328] sich in Zweifel, daß er heute seine Elise aufsuchen und sie wiedersehen würde, aber er fing doch auch an, die Folgen eines solchen Zusammenlebens zu überlegen, an die er gestern mit keiner Sylbe gedacht hatte.

Was sollte daraus werden? — Er liebte Elisen, so viel war sicher, und wenn auch nicht mit der ersten, doch mit der zweiten Gluth seiner Leidenschaft — aber liebte Elise ihn wieder und würde er im Stande gewesen sein, die jedenfalls nicht fehlenden Vorurtheile ihres Vaters zu besiegen? — Was konnte er ihr bieten? Ich will gewiß nicht behaupten, daß Florian Heldenstern sein ganzes Selbstgefühl verleugnet und sich gar so gering geschätzt hätte; aber er besaß trotzdem zu viel gesunden Menschenverstand, um sich über seine eigenen Verhältnisse so gründlich zu täuschen, daß er nicht auch den möglichen Widerstand älterer und deshalb vernünftiger Verwandter in Anschlag bringen sollte.

In den Morgenstunden fließt außerdem das Blut des Menschen langsam durch die Adern, und er fühlte sich im Stande, das pro und contra der ganzen Sache ruhig zu überdenken.

Vermögen besaß er gar keines — schnödes wenigstens, das „Motten und Rost“ verzehren können — geistiges dagegen in Hülle und Fülle, aber damit be[S. 329]zahlte man allerdings keine Miethe und kein Wirthschaftsgeld, wie alle die tausend anderen entsetzlichen Bedürfnisse, die nun einmal zum bürgerlichen Leben gehören und das alte Sprüchwort: „Eine Hütte und ihr Herz“ lange außer Cours gesetzt haben. Er war auch viel zu practischer Natur, um das Alles zu ignoriren, und da konnte er sich denn freilich nicht der Ueberzeugung verschließen — Morgens beim Kaffee wenigstens — daß er der Geliebten nicht im Stande sei, etwas Weiteres zu bieten, als eben sein Herz. Es blieb nur die Frage, ob sie oder ihr Vater sich damit begnügen würden.

Allerdings philosophirte er ganz richtig: „Was ist eigentlich todter Mammon? — Eine eingebildete Größe, die nur allein durch die Habgier der Menschen ihren Werth erhält“ — aber die Sache blieb trotzdem dieselbe, und war er erst verheirathet, so verlangte der Bäcker diesen todten Mammon für Brod und der Metzger für Fleisch, wie die Modenwaarenhandlung noch für viele andere Nebenbedürfnisse.

Was hatte er dagegen in die Schaale zu werfen? — Seine Honorare? — Du lieber Himmel, er wußte selber am besten, wie schwer es ihm geworden, sich mit denen in den bescheidensten Verhältnissen durchzubringen. Er hatte keine Schulden, ja — aber das[S. 330] war weniger seine, als der Leute Schuld, die ihm Nichts borgen wollten, und er hätte nie hoffen dürfen, sich und Elisen mit dem, was er verdiente, „standesgemäß“ (wer nur das entsetzliche Wort erfunden hat!) durchzubringen.

Ihr Vater besaß jedenfalls Vermögen — er mußte reich sein, wenn er hier einen Monat lang „mit Familie und Bedienung“ im Panorama logiren konnte, wo sie die unverschämtesten Preise für Miethe allein forderten; aber würde der gerade geneigt gewesen sein, ihn, den armen Schriftsteller, damit zu unterstützen?

Sein Herz sank ihm, während er sich die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit einer abschlägigen Antwort überdachte, und er blies den Rauch seiner hellgelben pfälzer Cigarre in matten, kräuselnden Wolken vor sich aus. —

Nur eine Hoffnung — nur ein Trost beseelte ihn noch: Elise liebte ihn — dessen fühlte er sich gewiß, und mit dieser Liebe hoffte er auch alle weiteren Schwierigkeiten zu überwinden, zu besiegen.

Freilich war das immer nur ein schwacher — aber doch ein Trost, und wenn es auch noch galt, wahre Gebirge von Hindernissen zu beseitigen, so glaubte er das doch mit Hülfe der Geliebten in’s Werk zu setzen.[S. 331] Vorläufig beschloß er aber, ihr zu entsagen — d. h. nur in einem Gedichte, das sich ihm auf die Lippen drängte und das er im Uebermaße seiner Gefühle niederschrieb:

Du sollst es nun und nimmer wissen,
Wie lieb und theuer Du mir bist
Und wie Dein hold unschuldig Wesen
Gerade mein Verderben ist.
Ich will das Herz im Busen halten,
Daß mich sein Klopfen nicht verräth —
Ich will den Blick nicht zu Dir heben,
In dem’s mit heißen Worten steht.
Doch bann’ mich nicht aus Deiner Nähe,
Laß mir den Gram, der mich verzehrt —
Und wenn er Gift — es ist das Einz’ge,
Von dem sich meine Seele nährt.

Wie er damit zu Ende war, beschloß er, Toilette zu machen, die Promenade zu besuchen, um die Geliebte dort vielleicht zu treffen und seine tägliche Portion „Gift“ zu sich zu nehmen — aber er kam zu spät. Die Brunnengäste hatten ihr „Krähnchen“ schon getrunken und die Musici den Platz geräumt — nur die schreckliche Polin in ihrem noch nicht gewaschenen weißen, spitzenbedeckten Kleide fegte den Staub der Promenade und etwa herumliegende Cigarrenstummel mit ihrer Schleppe zusammen und ein Paar hustende[S. 332] alte Herren stritten sich an einem der Tische über Politik.

Mittags aß er im Guttenberg und gerirte sich als Kurgast, weil er dadurch billiger wegkam, denn er trank keinen Wein, und Nachmittags um drei Uhr erst wagte er es, von der erhaltenen Erlaubniß Gebrauch zu machen und Herrn Olaf „m. Fam. u. Bed.“ im Panorama aufzusuchen.

Er fand den alten Herrn auch gerade beim Kaffee und in bester Stimmung; die beiden Damen erschienen ebenfalls bald nachher, und da sich Florian heute viel weniger befangen als gestern fühlte, wurde das Gespräch bald animirt und man scherzte und lachte zusammen. Nachher, als die ersten Töne des Musikcorps laut wurden, begab sich die ganze kleine Gesellschaft hinüber auf die Promenade, und als Florian an dem Abende von ihnen Abschied nahm, glaubte er nie einen glücklicheren Tag verlebt zu haben.

Armer Florian — er glich der um das Licht flatternden Motte, die immer nur nach dem strahlenden Glanze geblendet schaut, bis sie der Flamme zu nahe mit ihren dünnen Flügeln kommt, und dann gelähmt, zerstört zu Boden sinkt.

Und doch fühlte sich Florian in dem Gefühle einer unglücklichen, oder wenigstens ungewissen Liebe wohl.[S. 333] Es hatte ihm bis jetzt jener größere Schmerz gefehlt, den alle lyrischen Dichter nothwendig zu ihrer Arbeit brauchen, wenn sie nicht matt und fade werden sollen. In den nächsten Tagen floß ihm die poetische Ader wie eine Sturzfluth. Er besang den — schon allerdings früher besungenen — Mond, den Abendstern, die heiße Quelle von Ems, die er, ziemlich glücklich, mit seinem kochenden Blute verglich — ja sogar das Schweizerhaus, wo er zum ersten Male mit ihr Kaffee getrunken, und verschiedene andere lebendige und leblose Gegenstände.

Aber noch größere Seligkeit stand ihm bevor, denn einige Male traf er es so glücklich, die Geliebte allein zu Hause zu finden, und er benutzte diese Gelegenheit auch augenblicklich — nicht etwa ihr seine Liebe zu gestehen — nein, das hätte er noch nicht gewagt, aber ihr doch einen Theil seiner Gedichte vorzulesen, und ordentlich rührend war die Geduld, mit welcher Elise den begeisterten Klängen des Barden lauschte.

Elise interessirte sich überhaupt sehr für Literatur; sie las viel und meistens deutsche oder englische Romane, wobei sie den letzteren aber den Vorzug gab. Sie behauptete, der Deutsche vermöchte nicht die tiefe Empfindung in sein Werk zu legen, wie der Engländer, und fragte ihren jungen Bekannten wiederholt, ob er[S. 334] noch nie versucht habe, einen wirklichen Roman zu schreiben.

Florian mußte es verneinen. Einzelne Novellen oder kleinere Erzählungen hatte er allerdings schon verfaßt und zum Abdrucke gebracht, aber ein größeres Werk noch nie. Sein Ehrgeiz war jedoch dadurch geweckt worden, und wo und unter welchen Umständen hätte er eine derartige, den Geist vollbeschäftigende Arbeit auch wohl besser beginnen können, als gerade jetzt und hier, unter dem unmittelbaren Einflusse und Zauber dieses holden Wesens, das seine ganze Seele wie in eisernen Banden hielt?

Schon an dem nämlichen Abende, ja die ganze Nacht hindurch arbeitend, entwarf er einen, für jetzt freilich noch ziemlich unbestimmten Plan, auf dem er aber weiter zu bauen hoffte, und nahm sich auch vor, der Geliebten noch für jetzt Nichts davon zu sagen — sie sollte mit den ersten Capiteln, die sie recht gut als ihr Werk betrachten konnte, da sie ja die erste Anregung dazu gegeben, überrascht werden. Die Sache schien nur nicht so leicht, als er sie sich Anfangs gedacht, denn eine derartige Arbeit verlangte Sammlung, und durch unseres jungen Dichters Hirn preßten eine solche Masse von Gedanken und Empfindungen, daß[S. 335] er Tage gebrauchte, um sie nur zu sichten und in ihre Grenzen zu bannen.

Indessen war er im Panorama nicht allein ein täglicher Gast geworden, sondern begleitete die Familie auch auf ihren Spaziergängen, manchmal bis weit hinauf in die Berge, wohin die Damen dann auf Eseln ritten, während die Herren plaudernd nebenher gingen. In solchen Fällen war Herr Olaf, wie Florian jetzt den ältlichen Herrn nannte, auch weit gesprächiger als in den Zeiten, wo die Damen mit in die Unterhaltung gezogen wurden, und erschloß in der Erzählung gar nicht so selten dem aufmerksam zuhörenden jungen Dichter die Wunder jener mächtigen amerikanischen Scenerie, die sich in den endlosen Prairien und himmelansteigenden Felsengebirgen des inneren Landes dem Wanderer zeigt. Von seinen Jagden berichtete er, von seinen einsamen Wanderungen und Entdeckungszügen in den wilden, von feindlichen Indianern noch außerdem bedrohten Felsenkämmen, und beschrieb ihm dann mit glühenden Farben die stillen heimlichen See’n in der Wildniß, den brausenden Wassersturz und die blumengeschmückte Prairie, so daß es Florian manchmal ordentlich war, als habe sich ein Märchen-Erzähler seiner Sinne bemeistert und trage ihn auf breiten Schwingen in sein Zauberreich.

[S. 336]

Der ältliche und sonst sehr ruhige Herr schien bei solchen Gelegenheiten auch — wie von seinen Erinnerungen übermannt, ein ganz anderes Wesen geworden. Seine Gestalt hob sich, sein Auge strahlte ordentlich; seine Stimme zitterte in der Erregung des Augenblicks und wie begeistert stand er vor dem jungen Dichter und starrte in die Ferne. Solche Momente waren es auch, in welchen dieser selber eine unbestimmte Sehnsucht nach fremden Scenen in sich erwachen fühlte, und wenn er sich dann noch dachte, daß er einst Alles das, was dieser merkwürdige Fremde mit solchem Entzücken ihm beschrieb, selber an der Seite der Geliebten sehen und genießen sollte, so wollte es ihm bald das Herz vor Lust zersprengen.

Aber die nüchterne Wirklichkeit machte dann doch auch wieder ihre Anrechte geltend, denn wovon und womit sollte er eine solche Reise machen; und sich allein von seinem Schwiegervater unterhalten zu lassen, dagegen sträubte sich sein Ehrgefühl. — Außerdem: liebte ihn denn Elise wirklich? — Er glaubte und hoffte es, war aber weit entfernt, sich vollkommen sicher darin zu fühlen. Sie hatte sich immer lieb und freundlich gegen ihn gezeigt, ja, und er selber noch nie das holde Lächeln auf ihrem Antlitz vermißt, wenn er einmal unerwartet das Zimmer betrat. Mit einer[S. 337] wahren Engelsgeduld saß sie auch stundenlang neben ihm und ließ sich vorlesen, und das war das Einzige, womit er sich stets ein Alleinsein mit ihr sichern konnte. Sobald er nämlich nur sein Buch herauszog, verließ der ältliche Herr das Zimmer, und seine Frau — es mußte seine Frau sein, denn er ging immer Arm in Arm mit ihr — machte sich dann auch sehr bald etwas zu schaffen, oder hatte nach der Kranken zu sehen. Aber er wagte es trotzdem nie, diesen günstigen Zeitpunkt zu benutzen; denn wenn er es sich auch oft und oft vorgenommen, Gewißheit über sein Schicksal zu erhalten: im entscheidenden Momente verließ ihn jedes Mal der Muth und es war ihm dann ordentlich, als ob ihm Jemand die Kehle zusammenschnüre.


So flog unserem Liebenden die Zeit dahin; er wußte kaum selber, wohin sie kam, und nur an seiner mehr und mehr ebbenden Casse merkte er die Spuren ihres Zahns.

Da traf ihn eines Tages, wie ein Donnerschlag — ich könnte sagen „aus heiterem Himmel“ — die Kunde, daß die Stunden seines Glückes gezählt seien, denn Herr Olaf, den er mit Elisen im Zimmer allein fand, rief ihm schon entgegen:

[S. 338]

„Das ist glücklich, daß Sie noch einmal kommen, lieber Heldenstern, denn ein Paar Stunden später würden Sie uns nicht mehr angetroffen haben.“

„Nicht mehr angetroffen haben?“ rief Florian, von Schreck wirklich wie erstarrt — „Sie wollen doch nicht —“

„Abreisen, in der That, bester Freund, denn unsere Zeit ist um und die Kranke soweit wieder hergestellt, daß wir uns jetzt auf die Nachkur der Seereise vertrösten müssen; — außerdem zwingt mich ein eben erhaltener Brief zum schleunigsten Aufbruch.“

Florian faßte krampfhaft nach seinem Herzen; ob aber der ältliche Herr glaubte, daß er wieder nach seinem Buche griffe, oder wirklich noch Einiges zu besorgen hatte, kurz, er nahm seinen Hut vom Tische und sagte:

„Ich lasse Sie einen Augenblick mit Elisen allein, da ich noch einen Weg zu gehen habe; Bertha wird wohl auch gleich herüber kommen, denn unsere Koffer sind alle gepackt. — Ich nehme auch noch nicht Abschied; wir sehen uns jedenfalls, wann ich zurückkomme.“

Die Thüre schloß sich hinter ihm und Florian fühlte, daß der entscheidende Augenblick gekommen sei, aber seine Courage nicht mit, und er stand, seinen Hut[S. 339] in eine unbestimmte Form hineindrückend, dem jungen lieblichen Wesen gegenüber, ohne im Stande zu sein, ein Wort über die Lippen zu bringen.

„Das ist recht rasch gekommen,“ brach da Elise endlich das Schweigen und wie es Florian vorkam, mit zitternder Stimme — „ich hatte gehofft, daß wir noch wenigstens acht Tage hier bleiben würden, aber Olaf drängt so zur Abreise.“

„Ich kann es noch gar nicht fassen,“ stammelte Florian.

„Wir werden Sie auch sehr vermissen,“ lächelte das junge Wesen wehmüthig — „wir hatten uns so an Sie gewöhnt und in unserer fernen Heimath hört man so wenig von der Welt da draußen.“

„Sie mich vermissen,“ sagte Florian bitter, „Du lieber Gott, und was soll ich da sagen — und wie hatte ich mich darauf gefreut, gerade jetzt noch mit Ihnen zu verkehren.“

„Gerade jetzt?“ frug Elise etwas erstaunt.

„Ich bin Ihrem Wunsche nachgekommen,“ fuhr Florian, zu ihr aufblickend, fort — „ich habe einen größeren Roman begonnen. Ich fühlte mich die ganze Zeit in einer so gehobenen — so seligen Stimmung, daß die Feder kaum der entfesselten Phantasie zu folgen vermochte, und jetzt — da ich Ihren Rath — Ihren[S. 340] Beifall brauche — wollen Sie fort — fort vielleicht auf immer.“

„Meinen Rath?“ sagte Elise kopfschüttelnd, „und wie könnte ich Ihnen bei einer solchen Arbeit einen Rath geben?“

Florian sah sie mit einem forschenden Blicke an. Ein plötzlicher Gedanke zuckte durch sein Hirn. Sollte er das Geständniß der ihn fast verzehrenden Liebe in seinem Herzen verschließen? Hätte sie ihn nicht selber für verzagt halten müssen und kam sie ihm nicht schon durch die Frage auf halbem Wege entgegen?

„Ich befinde mich gerade in einem sehr schwierigen Capitel,“ erwiderte Florian, jetzt plötzlich zum Aeußersten entschlossen — „ich habe die schüchterne Liebe eines jungen Mannes zu der Auserwählten geschildert — seinen Kampf mit sich — seine Furcht, es ihr zu gestehen.“

„O, das muß so interessant sein,“ sagte Elise.

„Sein Schwanken, ob er sie fliehen,“ fuhr Florian fort — „und unsagbar elend werden oder sich ihr zu Füßen werfen solle und ihr die ihn verzehrende Leidenschaft bekennen.“

„Das muß er doch unbedingt thun,“ rief die junge Dame rasch.

„Ja,“ sagte Florian mit gepreßter Stimme —[S. 341] „auch ich fühle, wie nothwendig das ist. Denn diese Ungewißheit würde er auf die Länge der Zeit nicht ertragen können, aber — ich befinde mich dabei in einer schwierigen Situation, denn — ich kann mich recht gut in die Lage und Gefühle des Jünglings versetzen, aber — nicht in die der Jungfrau. Ich weiß nicht genau, wie sie sich in einem solchen Moment benehmen — was sie denken, was sie sagen würde.“

„Und da soll ich Ihnen helfen?“ lächelte Elise.

„O, wenn Sie das wollten,“ bat Florian leidenschaftlich, „noch bleibt uns vielleicht eine Stunde Zeit.“

„Haben Sie Ihr Manuscript bei sich?“

„Die Gedanken sind noch nicht aufgeschrieben,“ erwiderte Florian, dem jetzt ungefähr so zu Muthe war, als ob er auf einem durchgehenden Pferde säße, und es eben laufen lassen müsse — „nur im Kopf trage ich sie herum, noch ohne Form und Gestalt, und Ihr Rath sollte ihnen eben Leben verleihen.“

„Das verstehe ich nicht ganz,“ sagte die junge Dame erröthend, „wie kann ich Ihnen einen Rath geben oder mir denken, was jene andere Dame geantwortet haben würde, wenn ich nicht vorher lesen kann, was ihr Geliebter gesagt?“

„Und wenn wir es nun dramatisch aufführten,[S. 342]“ fragte Florian, und es war, als ob ihm bei dem scharfen Ritt seines Durchgängers der Athem versetzt würde.

„Dramatisch?“

„Wir spielen die Scene durch,“ sagte Florian und mußte sich Mühe geben, die Worte über die Lippen zu bringen.

„Und liebt sie ihn denn auch?“ lächelte Elise.

„Ja das weiß er ja noch gar nicht,“ erwiderte Florian, „gerade diese Ungewißheit und — der drängende Augenblick — denn die Geliebte soll ihm gerade durch einen harten Vormund entrissen werden — treibt ihn zu der Erklärung und eben von der Antwort derselben hängt das ganze weitere Schicksal seines — des Romans eben ab.“

„Also dann beginnen Sie,“ nickte Elise, still vor sich hin lächelnd; „schade nur, daß Bertha nicht da ist, die könnte mich unterstützen.“

Florian war darin anderer Ansicht, aber in diesem Augenblick wirbelte es ihm auch durch Kopf und Herz; er wechselte in dem Ansturm seiner Gefühle mehrmals die Farbe, und wieder kam ihm die schon frühere Empfindung des Erstickens, bis er endlich entschlossen die Zähne aufeinander setzte. Es mußte sein, und mit dem Bewußtsein griff er den abgelegten Hut wieder[S. 343] auf, that als ob er eben erst in die Thüre träte und sagte:

„Mein Fräulein, der Drang des Augenblicks mag mein plötzliches Erscheinen entschuldigen. Aber die furchtbare Nachricht hat mich ereilt, daß Sie uns verlassen wollen, und nicht vermochte ich in dem Bewußtsein der Leere, die fortan mein ganzes Leben ausfüllen würde —“

„Aber bester Herr Heldenstern,“ unterbrach ihn lächelnd Elise — „ich bin allerdings der deutschen Sprache nicht so vollkommen mächtig, aber — kann man denn mit Leere etwas ausfüllen?“

Florian war durch die Zwischenfrage ganz aus seinem Concept gekommen. Was lag jetzt an einem Worte, an einer Redensart, wo sein ganzes Lebensglück auf dem Spiele stand, und Elise saß ihm dabei so ruhig gegenüber. Sollte er sich getäuscht haben? sollte sie nicht ahnen, was in seinem Herzen vorging, und wie das Geständniß seiner „unsagbaren“ Liebe eben im Begriffe sei, über seine Lippen zu quellen?

„Sie haben Recht, mein Fräulein,“ stammelte er, „aber entschuldigen Sie den falschen Ausdruck mit der Erregung des Augenblicks — ich wußte nicht, was ich sagte — ich weiß es noch nicht — aber nur Eines — Eines auf dem ganzen Erdenrunde weiß ich,“ rief er[S. 344] — und jetzt ging der Renner wieder ordentlich mit ihm durch, denn er warf sich leidenschaftlich dem verführerischen Wesen zu Füßen — „Eins nur, daß ich Sie liebe und anbete — daß ich nicht leben kann ohne Sie, daß ich verzweifeln müßte, wenn Sie sich jetzt in diesem Augenblicke von mir abwenden und mich in mein leeres Nichts zurückstoßen würden.“

Er hatte dabei ihre Hand gefaßt, die er mit seinen Küssen bedeckte. Er sah und hörte auch nicht, wie in diesem Moment gerade die Thüre sich öffnete und der ältliche Herr, allerdings mit einem unverkennbaren Ausdrucke des Erstaunens, sonst aber vollkommen ruhig und leidenschaftslos auf der Schwelle stand und die Gruppe betrachtete.

„Allerliebst,“ sagte er jetzt, als Florian schwieg; „ist das etwa eine Abschiedsscene?“

„Nur eine Probe, Olaf,“ lächelte die junge Fremde, aber eben so unbefangen und ruhig, als sie bis jetzt das Ganze hingenommen. „Herr Heldenstern probirt eine Scene seines neuen Romans.“

„Nein — nein,“ rief aber dieser jetzt, nicht mehr im Stande, die einmal losgebrochenen Gefühle in ihr altes Bett zurückzudämmen, denn selbst die Erscheinung des Fremden dämpfte nicht die Gluth. „Wahrheit ist’s, furchtbare beseligende Wahrheit, und Glück[S. 345] oder Elend meines ganzen Lebens hängt an dieser Stunde. Herr Olaf,“ fuhr er fort, indem er in die Höhe sprang und sich an diesen wandte, „nicht vermögend, die Scheu zu bewältigen, die mich in der Nähe dieses Engels erfaßte, trieb es mich, zu schnöder List meine Zuflucht zu nehmen und ihr unter der Maske eines fingirten Romans meine Liebe zu gestehen. Der Roman war Erdichtung, aber nicht die Liebe selber. Ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter.“

Scheu streifte sein Blick, während er diese Worte in leidenschaftlicher Heftigkeit sprach, die schlanke Gestalt Elisens, die, wie von Purpur übergossen, neben ihm stand, und schaute dann fragend und flehend zu dem ältlichen Herrn empor, der immer noch, langsam dazu mit dem Kopf schüttelnd, seine Stelle behauptete.

„Meine Tochter, Herr Heldenstern?“ sagte aber Olaf endlich; „ich verstehe Sie nicht — ich habe gar keine Tochter.“

„So ist Elise nicht Ihre Tochter?“ rief Florian rasch.

„Allerdings nicht,“ erwiderte Herr Olaf mit derselben lächelnden Ruhe — „aber ich kann doch nicht[S. 346] gut glauben, daß Sie mich um die Hand meiner eigenen Frau bitten?“

„Ihrer Frau?“ schrie Florian und sprang wie von einer Natter gestochen zurück — „heiliger Gott! und ich glaubte, die andere Dame, Frau Bertha, sei Ihre Gemahlin.“

„Das ist auch meine Frau,“ erwiderte mit unzerstörbarer eiserner Ruhe der Entsetzliche.

„Aber ich bitte Sie um des Himmels willen.“

„Und die kranke Dame, derethalben wir Ems besucht haben, ebenfalls,“ nickte der ältliche Herr.

Florian faßte seinen Kopf mit beiden Händen — er wußte nicht, ob er wache oder träume und sein fragender Blick flog nach Elisen hinüber — war es ihm doch als ob ein leiser Zug von Mitleiden über ihr liebes Antlitz zuckte. Aber nur bestätigend nickte sie mit dem Kopf und der junge Dichter rief verzweifelnd aus:

„Wollen Sie mich wahnsinnig machen? — Es ist ja gar nicht möglich, denn Sie stammen doch aus Norwegen und nicht aus der Türkei.“

„Nein,“ erwiderte der ältliche Herr lächelnd — „ein Türke bin ich allerdings nicht, sondern ein Christ.“

„Mit drei Frauen?“

„Wir gehören zur Secte der Mormonen,“ nickte[S. 347] Herr Olaf, „und kommen vom Salzsee, wohin wir gerade im Begriffe sind, wieder zurückzukehren. Liebe Elise, der Wagen hält schon vor der Thüre und das Gepäck ist sämmtlich unten.“

„Mormonen!“ stöhnte Florian vollkommen vernichtet.

„Daß uns hier Nichts daran lag, als solche gekannt zu sein, können Sie sich denken,“ fuhr der ältliche Herr fort, „und ich hatte nicht das Geringste dagegen, daß meine jüngste Frau für meine Tochter galt. Uebrigens kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß es mich und uns Alle herzlich gefreut hat, Sie kennen zu lernen. Sollten Sie jemals unsere Ansiedlung am Salzsee, an der anderen Seite der Cordilleren, besuchen, so werden wir Ihnen beweisen können, wie willkommen Sie uns sind.“

„Gnädiger Herr, der Zug ist schon signalisirt,“ meldete in diesem Augenblicke der eintretende Diener, „die Damen warten unten.“

„Leben Sie wohl, lieber Freund,“ sagte Olaf, ihm die Hand entgegenstreckend und Elisens Arm nehmend, „und bewahren Sie uns ein freundliches Andenken.“

„Leben Sie wohl, Herr Heldenstern,“ flüsterte auch Elise und reichte ihm ihre kleine Hand.

Er nahm sie wie in einem Traum und drückte sie[S. 348] an seine Lippen, dann sah er, wie die Personen verschwanden und hörte, wie unten der Wagen fortrollte. Er wollte ihnen nach, aber er vermochte keinen Fuß zu regen und stand da, willenlos und wie gebannt, allein mitten im „Panorama.“

Doch nicht lange dauerte dieser Zauber, den er endlich gewaltsam von sich abschüttelte. Jetzt stürmte er die Treppe hinab und dem Bahnhof zu — was er dort wollte, wußte er freilich selber nicht, denn welche Gewalt stand ihm über die Frau eines Anderen zu. Aber er kam auch zu spät; wie er flüchtigen Laufes der nahen Station zueilte, pfiff die Locomotive und der Zug brauste davon. Nur aus einem Coupé erster Classe erkannte er noch ein weißes wehendes Taschentuch.

Florian verließ an dem nämlichen Abend Ems. Die Erinnerung an das Durchlebte war ihm zu furchtbar. Vorher aber schrieb er noch in sein eigenes Stammbuch:

„Aus dem Salzsee stieg die Nixe, zauberschön, ein Bild der Minne,
Und sie stahl mein Herz; ich dachte Nichts, als wie ich sie gewinne,
Aber Täuschung nur und Trug war’s; sie entschwand trotz meinem Sehnen
Und mir blieb allein der Salzsee, den ich schuf mit meinen Thränen.“
Verzierung





End of the Project Gutenberg EBook of Hüben und Drüben; Erster Band (1/3), by 
Friedrich Gerstäcker

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HÜBEN UND DRÜBEN; ERSTER ***

***** This file should be named 59028-h.htm or 59028-h.zip *****
This and all associated files of various formats will be found in:
        http://www.gutenberg.org/5/9/0/2/59028/

Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
http://www.pgdp.net (This file was produced from images
generously made available by The Internet Archive)


Updated editions will replace the previous one--the old editions will
be renamed.

Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
law means that no one owns a United States copyright in these works,
so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
States without permission and without paying copyright
royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
of this license, apply to copying and distributing Project
Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm
concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive
specific permission. If you do not charge anything for copies of this
eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook
for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports,
performances and research. They may be modified and printed and given
away--you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks
not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the
trademark license, especially commercial redistribution.

START: FULL LICENSE

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK

To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase "Project
Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full
Project Gutenberg-tm License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project
Gutenberg-tm electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the
person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph
1.E.8.

1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the
Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country outside the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work
on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the
phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed,
performed, viewed, copied or distributed:

  This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
  most other parts of the world at no cost and with almost no
  restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it
  under the terms of the Project Gutenberg License included with this
  eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the
  United States, you'll have to check the laws of the country where you
  are located before using this ebook.

1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase "Project
Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg-tm License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format
other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg-tm web site
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain
Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the
full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works
provided that

* You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
  the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
  you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
  to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has
  agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
  within 60 days following each date on which you prepare (or are
  legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
  payments should be clearly marked as such and sent to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
  Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg
  Literary Archive Foundation."

* You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
  you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
  does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
  License. You must require such a user to return or destroy all
  copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
  all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm
  works.

* You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
  any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
  electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
  receipt of the work.

* You comply with all other terms of this agreement for free
  distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
Project Gutenberg Trademark LLC, the owner of the Project Gutenberg-tm
trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    gbnewby@pglaf.org

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.