The Project Gutenberg EBook of Berels Berta, by Jean-Pierre Zanen This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Berels Berta Eine Bauerngeschichte aus dem Luxemburgischen Author: Jean-Pierre Zanen Release Date: May 18, 2019 [EBook #59534] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BERELS BERTA *** Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.)
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1915 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und inkonsistente Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert. Passagen in luxemburgischer Sprache wurden dem Original entsprechend übernommen.
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Eine Bauerngeschichte
aus dem Luxemburgischen.
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Novelle
von
J. vun der Hardt.
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Preis 30 Sous.
Verlag von Charles Beffort, Luxemburg, Heiliggeiststraße 14.
Copyright 1915 by Charles Beffort, Verlag, Luxemburg.
Begleitwort.
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Ich bin stolz auf meinen Bauernbetrieb.
Weil ich als freier Mann ein freies Leben führe. Weil mein Hof rentabel und neuzeitlich und bequem ist. Und weil meine Wirtschaftsweise bei allen Landwirten Anklang und Nachahmung findet.
Das war nicht immer so.
Es gab eine Zeit, wo ich anders dachte.
Kaum zwei Jahre sind es her. Damals hatte ich meine fortschrittlichen Bestrebungen verflucht und zu allen Teufeln gewünscht.
Wegen einer Freierei. Wegen eines bildschönen Mädchens. Und wegen der Borniertheit seines Vaters.
Das waren schwere Tage.
Beinahe hätte ich alles im Stiche gelassen. Vater und Mutter und Hof. Und ich wäre nach Amerika geflüchtet, um die Unglücksgeschichte zu vergessen.
Nun ist alles anders gekommen. Eine tüchtige Frau waltet an meiner Seite im lieben Elternhause.
Wir leben im reinsten Glücke.
Und wo glückliche Menschen übereinstimmend nach einem Ziele streben, da ist das Leben schön und leicht. Und da auch mehrt sich der Gewinn.
Wie das alles gekommen ist, Freund, will ich dir erzählen.
Ich hatte schon über 25 Jahre. Meine Mutter war alt und schwach. Und es war auch wirklich zu viel Arbeit im Haushalt. Seitdem meine beiden Schwestern geheiratet hatten, war sie öfters unwohl.
„Der mußt èng Schnauer an d’Haus kréen,“ meinte jedesmal mein Oheim von der Meß, wenn er auf Besuch kam.
Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Ich war ja auch im richtigen Alter.
Länger als 30 Jahre soll man nicht warten. Sonst wird man zu alt, ehe man die Kinder groß hat.
Dann ist keiner da, der die Wirtschaft weiterführt. Und dann geht es bergab mit dem Hofe.
So sagten Vater und Mutter. So auch meinte der Oheim. „An,“ fügte er hinzu, „wann’s du nach mé lâng warts, da gêt et dîr wé mîr. Da kris du net mé, wâts du wölls; an da wölls du net, wâts du nach kanns kréen...“
Ich wollte nicht so durchs Leben gehen wie der Oheim. Nicht als Junggeselle.
Vor zwei Jahren, Ende November, einige Wochen nach unserer Kirmes, schrieb der Oheim, er hätte das Richtige gefunden. Ein tüchtiges Mädchen aus einem guten Bauernhause an der Syr. Vermögen wäre auch genug da. Nur zwei Kinder. Das Mädchen hätte erst 24 Jahre, die andere wäre seit einem Jahr ins Haus verheiratet. Am folgenden Sonntag würde ich die Joffer Berta Berels kennen lernen.
Natürlich war ich ganz einverstanden.
Wir wurden freundlich empfangen.
Das Mädchen gefiel mir auf den ersten Blick. Es war kein gewöhnliches Landmädchen. Geweckt, offen, mit großen, treuen, schwarzen Augen. So war auch die Mutter.
Die Berelsleute schienen eher für zwanzig gekocht zu haben als für fünf.
Der alte Berelsvater schnitt vor, aß tüchtig, sah selten vom Teller auf und sprach wenig. Das besorgten hauptsächlich der Oheim und die Berelsfrau.
Es war ein Essen ohne Ende. Vier Gänge hatten wir schon hinter uns. Da brachte Berta den Quetscheflûot. Ich atmete[S. 7] erleichtert auf. Auch der Oheim reckte sich im Stuhle.
„Nu, Joffer Berta,“ seine Stimme hatte einen vollen, breiten Klang, „nun hâlt emol èng Kéer opp mat dem Erânbrèngen! Kommt, setzt êch emol bei eìs.“
„Meija, Berta, komm, fliéw hinnen emol. Sie wöllen neischt mé éssen. Ech mèngen, d’schmâcht hinnen net.“
Berta setzte sich mir gegenüber.
Wir waren bald in eifrigem Geplauder von diesem und jenem, von der Gegend und vom Wetter der letzten Tage.
Es wurde so recht gemütlich. Das Gespräch verlief ungezwungen. Und wenn ich Berta in die schönen, schwarzen Augen blickte, las ich darin, daß wir uns verstehen würden.
Auch der alte Berelsvater ging allmählich aus seiner steifen Schwerfälligkeit heraus.
Er zog d’Tubaksblos aus der Tasche und reichte sie dem Oheim herüber. „Hei, lôsse mer emol èng umâchen.“
Das Gespräch ging weiter, wurde lebhafter, zog größere Kreise. Vom Wetter kamen wir auf landwirtschaftliche Fragen, auf Vieh- und Butterpreise und auf den Pferdehandel.
Mein Oheim schwärmte immer für schöne,[S. 8] belgische Pferde. Auch der Eidam interessierte sich sehr dafür. Er schien ein tüchtiger Landwirt zu sein.
Die Uhr schlug zwei. Da nahm der Eidam seinen Hut und ging hinaus. „Der mußt mech entschölligen, ech muß nach kuken go’en, ob de Kniécht mat Fidderen fèrdig aß.“
„Ma, da losse mer mat go’en,“ meinte der Berelsvater, „da gesit der eise Perdsstall an èngems!“
„An och eise Késtall,“ ergänzte die Berelsfrau.
Im Stalle standen 4 kräftige Arbeitspferde und 3 Fohlen.
Der Eidam war stolz auf seinen Bestand. Er hatte die Ställe sauber in Ordnung. Die Pferde waren gut besorgt und ordentlich im Futter.
Wir standen einen Augenblick allein, etwas abseits. Ich lobte seine Pferde.
„Et sin nach Pèrd vum âle Schlâg,“ sagte er, fast als wollte er eine Entschuldigung vorbringen. „Sie könnten eppes mé schwéer sin. An am Késtall könnte mer och Hollänner hun.[S. 9] Awer mei Schwéerpapp aß nach vun der âler Èrd. Dèn héert net mat dèm Oûer.“
Der Kuhstall war wirklich nicht zeitgemäß. Der Bestand war allerdings hoch, 10 Milchkühe und 7 Stück Jungvieh. Aber alles Landrasse, an der sich die Veredlungen des staatlichen Importes kaum abzeichneten.
Auch über die veralteten Stallungen klagte der Eidam. Der Berelsvater trat zu uns. Wir mußten das Gespräch abbrechen.
Der Eidam hatte richtiges Verständnis für die Wirtschaft. Er war fleißig, strebsam. Die Ueberzeugung hatte ich gewonnen. Schade, jammerschade, daß er seine Kräfte nicht ganz entfalten konnte. Der hätte den Hof in Schwung bringen können. Er mußte am alten Tau den alten Karren im alten Geleise weiter ziehen. Jahre lang, viele Jahre hindurch. Und so verzehrten sich seine besten Kräfte, unnütz, fruchtlos.
Wir setzten den Rundgang fort.
So will es eine alte Bauernsitte. D’kêft ên kèng Kâtz am Sâk, sagt ein Sprichwort.
Darum ist es auch ein schöner, alter Brauch, das ganze Haus zu schauen, wann ên d’Gelèenhêt kuken gêt. Das ist alte, ererbte, treuherzige Bauernehrlichkeit.
Ich hielt mich meistens in der Nähe des Eidams auf. Der Mann war mir auf einmal sympathisch geworden.
In dem einen Jahre hatte er zwar ganz nach dem alten Schema gewirtschaftet. Und doch war er ein schlauer Kopf. Er wirtschaftete so, weil er seinen Schwiegervater kannte. Der war in seinen jungen Jahren auf die alte Wirtschaftsweise eingepflügt worden.
Der konnte nicht mehr anders.
Und was der nicht konnte, durfte auch der Eidam nicht wollen.
So sind viele unserer alten Bauern.
Mit eisernem Hebel hemmen sie den Fortschritt. Und dann zwingen sie noch die Jüngeren, mitzubremsen. Die darben in harter Fron. Und doch müssen sie aushalten, weil der Friede des Hauses höher steht als der Fortschritt.
So wird die junge, tüchtige Kraft in Ketten gelegt.
Und so bleibt der Rückstand in manchem Bauernhause.
Das ist ärgerlich, aufreibend, nervenzerstörend. Und das frißt das Feuer der Begeisterung.
Auch hier war für den Eidam der goldene Ehering zur eisenfesten Kette geworden.
Die lastete schwer auf ihm.
Er arbeitete, er schuftete wie eine Ameise. Das sah man auf Schritt und Tritt. In den Stallungen, in der Scheune, im Hofe, überall herrschte die beste Ordnung.
Aber nirgends war eine Spur von neuzeitlicher Landwirtschaft, nirgends ein Zeichen von Aufschwung.
„Geseîste Jämpi, an der âler Zeit hun d’Leit vill mé solid gebaut wé haut. Wé âl aß èrt Haûs schon?“
Der alte Berelsvater, der als Führer voranschritt, drehte sich um. In dem wettergebräunten, runzlichen Gesichte leuchtete der alte, ererbte Bauernstolz.
„Meî Groûßpapp huôt et schon fierun der Revoluziôun gebaut. An dèm Gebei leît gutt êche Gehölz.“
„Jô, jô,“ setzte der Oheim hinzu, „geseit ê baußen a bannen, daß et dât bèscht aus dem ganzen Duôrf aß.“
So klang die Melodie weiter.
Mein Oheim lobte alles, fortwährend in einem Atemzuge. Bei kleinlichen Neuerungen, die gar keine Beachtung verdienten, blieb er stehen, schaute und staunte. Dabei machte er ein Gesicht, als würde ihn die Sache sehr interessieren. Er nahm Maße, erkundigte sich nach den Herstellungskosten, schritt zwei-, dreimal auf und ab, drehte den Kopf etwas zur Seite und musterte.
Dann trat er an den alten Berelsvater heran: „Wât sed dîr emol e schlaue Kapp!“ Dabei klopfte er ihm ganz zutraulich auf die Schulter. „Esoû en Haus, dât muß Geschäfte mâchen.“
Mir war das Gerede sehr zuwider. Auch der Eidam empfand es peinlich. Darum schritten wir beide etwas voraus. Und als wir wieder außer Hörweite waren, redete der Eidam offen und machte mich auf vieles aufmerksam, das er neuzeitlicher einrichten möchte. „Awer esoûlâng, ewé mei Schwéerpapp Mèschter aß, aß neîscht ze wöllen,“ fügte er jedesmal kleinlaut, als Entschuldigung, hinzu.
Der Eidam hatte gesunde Ansichten.
Beim Schweinestall wurden wir von Berta und ihrer Mutter erwartet.
„Da kommt och nach e wénig hei erân kuken. Hei aß, woû mîr Frâleit Mèschter sin.“
Die Türe war breit aufgestoßen. Wir schritten durch den sauber geputzten Gang.
Wieder altmodische Ställe. Ich schaute sofort über die Wände in die einzelnen Abteilungen.
„Jesses, wât hutt dîr e schéne Schweîstall,“ fiel gleich der Oheim ein. Er stand noch nicht einmal mit beiden Füßen im Gang. „A wât schén Zûchtsei! A wievill sen et der? — Eng, zwoû, dreî, véer, fönef!“ Er zählte mit lauter, erhobener Stimme.
„Alt e bösse loûs!“ fiel die Berelsfrau ein. „Et sen awer nömmen dreî Zûchtsei! An fönef Brillicken! An siewen Fetter!“
„Mä, èr Zûchtschweîn sin gutt am Flèsch,“ griff ich ins Gespräch ein. Was ich sagte, war wirklich meine Ueberzeugung. Keine Aufschneiderei.
„Jô, jô,“ meinte der Oheim, und seine Stimme klang noch einen Ton höher, „geseît ên, dat dichtèg Frâleit an desem Haus sin!“
Die alte Berelsfrau hatte sich neben mich gestellt.
„D’sin âl Ställ,“ sagte sie ein wenig bedrückt. „Mer mussen ömbauen. Hei eisen Émchen wöllt nach net. Mä, am Fréjohr gin mer eis awer drun. Elo hu mîr den Hâri op eiser Seît. Da se mîr mé stârk!“
Das gefiel mir von der alten Frau.
Wir gingen ins Haus zurück. Die Berelsfrau sprach noch immer von dem Umbau des Schweinestalles. Sie hatte Sinn für das Praktische — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
In der Küche hantierte die junge Frau bei der Kochmaschine. Es brodelte in mehreren Töpfen.
„Da gin mer elo nach op de Speîcher,“ bat die alte Berelsfrau. „Der musst jo och nach de Klèderschâf mam Léngend gesin!“
In einem Zimmer stand ein schöner, solider Eichenschrank. Den sollte Berta bekommen. So erklärte die Berelsfrau. Sie öffnete breit die beiden Türen.
Ihre Augen leuchteten. „An hei aß sei Léngend. D’aß nach e lauter Hausmâchenduch. Mer hun et selver gezîllt a gesponnen!“ Der Schrank war angefüllt von unten bis oben.
Wir setzten den Rundgang fort. Der Oheim lenkte immer wieder auf das richtige Gespräch ein und bahnte den Weg weiter. Und er bestimmte die Zeit des nächsten Besuches.
In zwei Wochen sollte ich wiederkommen. So hatten wir es abgemacht.
Dumpf schlug die Hausuhr. Es klang durchs Haus bis herauf zu uns. Viermal rief sie „Tink“, wie eine helle Kinderstimme. Dann setzte sie fünfmal „Bum“, mit dumpfem Tone hintendran.
„Jesses, scho fönef Auer!“ stöhnte der Oheim, „elo musse mer eis tommeln! Em sechs Auer fîrt eisen Zug!“
Die Berelsleute suchten uns zu überreden, doch zu bleiben, wie das so Brauch ist.
Aber der Oheim ließ nicht nach. Wir aßen ein Stück von der alten Hâm und tranken von dem guten Grächen — — — — — — — — — — — — — — —
„Dajé! Iwer véerzeng Dèg, Joffer Berta!“
Ich drückte ihr die Hand zum Abschied, fester als am Morgen. Und ich blickte in die tiefschwarzen, treuen Augen.
Alle waren freundlich.
Wir schritten durch den Hof. Ich schaute noch einmal zurück und grüßte. Im Hîrzel des Scheunentores lugte jemand. Das war der Knecht...
Wir waren schon weit fort. Da reckte der noch immer den Hals heraus, guckte uns nach und witterte................
„Net, Jämpi, dât aß d’Mädche fir dech. An d’wärd dîr och gefall hun.“
Der Oheim sah mich fragend an.
„Jô, jô,“ sagte ich, „d’Mädchen gefällt mer. Mä, den A-a-l-e-n!“....
Der Oheim drehte sich plötzlich auf dem Absatze herum und blickte mich ganz ärgerlich an.
„Mä, du ges jo net mat dem Aalen bestoûd! Wann d’Mädchen der gefällt, dât aß d’Hâptsâch!“....
„Jô, d’Mädchen gefällt mer ausgezèchent, an Vermégen schént jo och genug do ze sen, awer.... awer“....
„Dajé,“ fiel der Oheim ungeduldig ein, „eraus mat der Sprôch!“
„Awer d’Gut könt mé neimoûdesch sin.“
Der Oheim schüttelte den Kopf und lachte.
„Dât aß erem esoû eng fix Idi vun dîr,“ sagte er scharf, mit Betonung. „Du ges jo net bei dem Aalen âgesalzt.“
Ich holte tief Atem.
„A mat dengen neien Idéen, dât aß och esoû eng Sâch. Et mussen der vun allerhand Zorten sin. Esoû hoût den Härgott et gemâcht. An esoû aß et gutt.“
Dann zeigte er mit dem Arm hinüber in das Halbdunkel.
„Kuk, do iwer dè Bichebösch. Wé stêt dèn elo do?“
Der gute Grächen hatte den Oheim redselig gemacht. Und er erzählte von dem Buchenwald.
„Der ruht ja auch im Winter, bis der Frühling kommt. Dann stellt sich wieder neues Leben ein. So will es die Natur. So auch ist es in den Bauernhäusern. Da kommt eine Generation, ein junger Stamm, der schafft, ist fortschrittlich, neuzeitlich und bringt das Gut auf die Höhe. Aber auch für diese kommt der Herbst und der Winter des Lebens. Dann schläft der Fortschritt ein, und auf dem Gute herrscht Stillstand, bis wieder andere kommen. So will es der ewige Wechsel im[S. 18] Kreislauf der Natur- und Menschengeschichte. Auch das Feld will eine Brachzeit. Der alte Berelsvater hat Brachzeit. Auch für mich kommt sie bald,“ meinte der Oheim.
Ich hatte noch nie so recht darüber nachgedacht. Ganz richtig ist es allerdings nicht. Es gibt ja Betriebe, die bleiben immer fortschrittlich, neuzeitlich. Die kennen keine Brachzeit. Aber ganz falsch ist es auch nicht. In den meisten Häusern geht es wirklich von Generation zu Generation bald auf, bald ab. Nach einer Periode des Aufschwunges kommt eine Zeit des Stillstandes.
Aber Berta und ich, wir sind noch im Frühling des Lebens. Vor uns liegt noch ein langer Sommer mit viel Sonnenschein. Und wir denken noch gar nicht an den Winter....
In das Dunkel der Nacht fiel ein trautes, anheimelndes Licht....
Bei dem saßen Vater und Mutter und warteten auf mich, warteten auf meine Erlebnisse.
Darum war ich so rasch durch den kalten, dunklen Abend geeilt.
Noch nie hatte es mich so sehr nach der Heimat gezogen wie an dem Abend.
Ich war ganz eingenommen von einer neuen Sehnsucht, von neuen Gefühlen. Die konnte ich nicht gut allein tragen. Die mußte ich Vater und Mutter anvertrauen...
Rasch schritt ich durch die lange Pappelallee.
„Baß d’erem?“ Es war das erste Wort der Mutter, als ich eintrat.
Die Stube war überheizt. Es war drückend warm.
Ich warf den Ueberzieher ab und sank müde auf den Stuhl.
Der Vater richtete sich hinter dem Ofen auf.
Er blieb scheinbar gleichgültig, ruhig. Aber er schaute mich so sonderbar groß an, so forschend.
Die Mutter hatte sich zu mir an den Tisch gesetzt.
„A fir wât schwèst d’esoû? D’méngt ên, d’wir der net gut gâng op der Rès.“
Unruhe klang aus ihrer Stimme. Die Falten in ihrem Gesicht schienen mir plötzlich viel zahlreicher, viel tiefer.
„Dach, séer gut, Mamm.“ Und ich erzählte von dem guten Erfolg der Reise, von den zuvorkommenden Leuten, von dem schönen Empfang und dem tüchtigen Mädchen.
„A wé hêscht et dann?“
„Berta.“
„Berta,“ wiederholte die Mutter.
„O wat,“ sagte der Vater kurz, fast bissig, „de Noûm aß Niéwesâch; dé mêcht d’Médchen net besser a net schlechter!“
Er blies ein paar dicke Rauchwolken in das Zimmer.
Die Mutter saß andächtig da, die müden Hände wie zum Gebet auf dem Schoße gefaltet.
„Berta,“ lispelte sie nochmals still vor sich hin. Dabei blickte sie mich sorgenvoll an.
„Aß et dann en dichtègt Médchen? A kann ên et och allnenne weisen?“
Das versicherte ich ihr mit überzeugenden Worten.
„A wât fir e Gleîch hoût et dann? Aß et zimlech groûß?“
Ich nannte mehrere Dorfschönen, Schmatz Ketti, Mäsch Sisi a Wônesch Henriette.
„Awer,“ ergänzte ich gleich meine Aufzählung, „d’Berta aß navell mé dichtèg, wé engt vun dènen.“
Bei jedem Namen, den ich anführte, winkte sie bejahend mit dem Kopfe, und ihre Augen leuchteten.
Einen Augenblick war es still im Zimmer.
„An hâten sie sech och ziemlech gerîcht?“ fragte die Mutter weiter. „A wât hâten se gekacht?“
Ich erzählte umständlich von den vielen Gängen.
„A wé aß dann d’Geheiß?“ unterbrach der Vater unser Gespräch.
Ich machte den Rundgang durch das Berelshaus und berichtete bis auf nebensächliche Einzelheiten.
„Awer,“ ergänzte ich, „d’Haus an d’Ställ, alles aß ziemlech âlmoûdesch.“
„O wat,“ meinte der Vater in ganz wegwerfendem Tone, „dât hoût ké Wèrt. Wann d’Médchen nömmen net ze âlmoûdesch aß. Mä,“ setzte er gleich hinzu, und dabei betonte er scharf jedes einzelne Wort, „ze vill neimoûdesch brauch et och net ze sin. Eng Stiédspöppchen, dé passt nu goûr net an e Bauernhaus!“
„Jô, jô,“ seufzte die Mutter, „nömme kèngt, dât de ganzen Dâg firum Spiegel stêht........... An dât d’Arbecht scho fièrt, ir et se geseît.... A wéné hoûst de versprach, erem hannescht ze go’en?“
„Iwer véerzeng Dèch.“
Der Vater hatte die Pfeife ausgeraucht, klopfte sie aus und steckte sie vorsichtig in die Tasche.
„Esoû, iwer véerzeng Dèch gêst dû hannescht. Mä, da kann jo nach fir d’Foûsend eppes d’raus gin.... Dajè, gut Noûcht! Elo gin ech schlôfen. Da könnt dîr nach e wéneg babbelen!“ — — — — — — — — — — —
Die Uhr hatte schon lange elf geschlagen, da plauderte die Mutter und ich noch über Berta und die Hochzeit, die Einladungen und die kommenden Zeiten.
Am nächsten Tage war der Vater neugieriger als am Abend. Wenn wir allein waren, ohne die Knechte, brachte er sofort das Gespräch auf den Verlauf der gestrigen Reise.
Er verstand es, mit kurzen Fragen so manches aus mir herauszuholen.
Die Mutter ließ mich während des Tages ziemlich in Ruhe.
Abends, wenn die andern bereits schlafen waren, war ihre Zeit. Dann besprachen wir so mancherlei.
Die Mutter war stets goldiger Laune. Wenn auch der Tag Aerger gebracht hatte,[S. 23] so ließ sie sich diese Plauderstunde doch nicht verderben.
„A wât werd Wônesch Henriette e Gesîcht mâchen, wann dât eppes heivun héert!“
Ihre Augen strahlten. Es war ihr ein wirklicher Genuß, dieses Mädchen gründlich abblitzen zu können.
„Dât dommt hoûfrigt Dèngen!“ Sie machte eine kleine Pause. „Dât dommt Steck mat dem decken Tuppi.“ Das sagte sie langsam, gezogen. Denn sie war ganz von der Wichtigkeit ihrer Worte überzeugt.
„Hât dèn Èfalt sèch jo net an de Kapp gesât, hat mîsst dèch kréen.“
Die Mutter redete sich nach und nach in einen förmlichen Eifer hinein. „Mä, mat mèngem Wöll wär et nie hei erân kom.“
Meine Mutter konnte Henriette nie leiden. Sie war kein übles Ding, diese Henriette. Drei Jahre hatte sie die Pension besucht. Und war dann noch zwei Jahre in Nancy gewesen.
Henriette war wirklich chic. Immer neumodisch gekleidet. Darum hatte sie es uns allen angetan. Ein richtiger Lockvogel, diese Henriette.
Es ist doch gut, daß man auf Freiersfüßen nicht ganz freien Lauf behält!
Es schadet gar nichts, wenn alte, erfahrene Leute bei Zeiten bremsen.
Derartiges hatte die Mutter mir schon oft vorgehalten.
„An daß nach lang neîscht esoû Dichtiges, dât Henriette,“ schloß sie jedesmal ihre Predigt. „D’aß èng domm Gäns! Schién Plommen mâchen schién Fullen. Wäret zwê Johr an d’Haushaltungsschoûl gângen, an d’hätt geléert kachen a brachen, an plâtz sèch ze fiezen, da wär et vleicht èng Hausfrâ gin.“
Früher, wenn ich dieses alles anhören mußte, ärgerte ich mich jedesmal.
Heute blieb ich ziemlich ruhig. Die Flamme, die einmal hellauf in meinem Herzen für Henriette gebrannt hatte, flackerte wohl noch ein wenig. Aber sie war stark am Erlöschen. Berta schüttete Asche auf dieses alte Feuer und erstickte es. Und es war gut so.
Wenn ich mir das Berelshaus so recht vorstellte, wo alles wie geleckt war, und dann die Küche der Henriette, bekam ich einen Ekel vor diesem Modepüppchen.
Henriette war ein richtiger Firlefanz, mit dem man gerne den Bauernsonntag der Schobermesse in Luxemburg verlebte und den man auch wohl gern auf einer Kirmes traf.
Aber sie war nichts für den langen Weg des Lebens.
Mizi war vom Schoß der Mutter heruntergesprungen und duckte sich näher an den Ofen. Dem war das Schnarchen vergangen. Da schob ich noch zwei Scheite nach; es war erst zehn Uhr.
„D’aß och goûr net nédèg, daß d’Bauereméderchen mat dem allerneiste Moûd fiergin........ Kuck, Mäsch Sisi. Dât aß èngt dichtègt Kand. Dât wêß sèch ze klèden, proper a fein. Mä d’aß kê Klédergeck. A wann dât net dohèm âbestoûd mißt gin, wär dât d’Médchen fir dech gewéscht!“
Mäsch Sisi war nicht übel. Ich war auch einmal in die Sisi verliebt. Sisi ist wirklich ein gutes, nettes Mädchen.
Aber Berta gefällt mir besser.
Ich erzählte der Mutter noch einmal lang und breit, was mir so gut im Berelshause gefallen hatte.
Daß es kein neuzeitlicher Betrieb war, dafür konnte Berta nicht. Sie war tüchtig und fleißig und liebte die Ordnung.
Und sie war schön und jung.
Das alles malte ich der Mutter mit warmen Worten aus — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Die Uhr war rasch auf elf gesprungen.
Wir wollten schon schlafen gehen. Da dachte ich noch an eine süße Pflicht.
„Ech muß awer nach èng Ansichtskârt mat eisem Haus un se schéken!“ Die Mutter lächelte.
Fünf Tage später kam schon die Antwort:
Meinen besten Dank für die schöne Karte. Hoffentlich werden Sie den Besuch nicht zu lange aufschieben.
Es grüßt Sie herzlichst im Namen des ganzen Hauses
Berta Berels.
Rosig fiel ein Sonnenstrahl durch den grauen Winterhimmel.
Und in meinem Herzen war lauter Sonne und Helle und Wärme.
Berta, noch zehn Tage, zehn lange Tage, dann werde ich dich wiedersehen!
An dem Sonntag war ich schon früh auf den Beinen. Ueber Nacht war der Winter ins Merschertal gekommen. Handhoch lag der Schnee auf den jungen Saaten.
Die kalte Luft tat mir wohl, und ich schritt lustig zum Bahnhof hinunter.
In meinem Coupé saß nur eine alte Frau. Die fuhr zu ihrer Tochter nach Luxemburg. Wir plauderten gemütlich mit einander.
Die gute Frau erzählte mir von ihrer Tochter. Vor zwei Jahren hatte sie geheiratet. Einen kleinen Fonktionär hatte sie genommen. Gegen den Willen der Eltern. Die wollten die Tochter auf dem Lande behalten und mit einem braven Jungen aus dem Dorfe verheiraten. Jäng hieß der Junge. Der hatte ziemlich Land, sechs Milchkühe, zwei Pferde, und er war ein fleißiger und tüchtiger Landwirt.
Lisa konnte ihn auch recht leiden, und Jäng kam oft auf Besuch. Die Freierei war flott im Gange. Und die Eltern sahen das gerne.
Da kam eines Tages ein junger Fonktionär ins Dorf. Der war tüchtig herausgefiezt. Er konnte so schön tun, erzählte allerhand Faxen und hatte bald dem Mädchen den Kopf verdreht. So berichtete die alte Frau.
Die Sache interessierte mich sehr.
„A wé aß et dû gângen?“
„Wé et gângen aß! Krâch a Streit hu mir an t’Haus krit. D’Lisa konnt de Jäng net mé leiden. An hat hoût him Frechhèten gemâcht, wo et nömme konnt, an....“
„Jô, an....“, warf ich ein, um die alte Frau, die sich in einen förmlichen Eifer hineingeredet hatte, etwas ausschnaufen zu lassen.
„.... an dât dommt Steck hoût hién missen hun.“
„An dû?“
„An dû hu mir dem Här Fonktionär seng Scholden misse bezoûlen.“
Ich nickte mißfällig.
Es entstand eine Pause. Die alte, energische Frau atmete schwer. Sie hatte sicherlich noch etwas auf dem Herzen, was sie drückte und das sie nicht sagen wollte.
„Wé an engem Prisong sötzt et do,“ spann sie den Faden weiter. „A wann et kê Kand hät, dann dét et sech zu Doûd lângweilen.“
„Kanner brengen Frid an de Stod,“ bemerkte ich, um das Gespräch abzuschließen.
Mein Ausspruch gefiel der Alten. Ihre Augen leuchteten.
„Ganz richteg, jongen Här. Wann dât Kand net wär, dann géng ech och nach haut net no hinnen kucken.“
„.... Dir hud e gut Hiérz, Madam!“
„Dat könnt hinnen elo gut,“ betonte kräftig die alte Frau. „Et get ên hinnen jo och giér, wât ên huôt, Botter, Solperflêsch, a frösch Èer; awer d’Henger léen elo esoû wéneg, an....“
„Letzeburg! Alles aussteigen!“
Da war unser Gespräch abgerissen. Ich reichte der Frau den Korb hinunter. Er war ordentlich schwer — — — — — — —
Lisa!
Ich saß allein im Coupé mit meinen Gedanken. Und immer wieder kam mir die alte, energische Frau in den Sinn. Und die Lisa.
Wie diese Lisa gibt es viele, sehr viele. Die hat das Leben der Stadt geblendet. Anmutig und sorgenlos und genußreich scheint ihnen das Leben.
Aber sie kennen es nicht, weil sie oberflächlich urteilen. Weil sie alles nach Aeußerlichkeiten bewerten.
Arme Lisa! Denk doch etwas weiter!
Was ist Glück?
Das Glück hängt nicht an einem schönen[S. 30] Kleide, an einem neumodischen Hute, an gelben Schuhen, an durchbrochenen Strümpfen.
Warum hatte die Lisa den Jäng nicht gewollt? Weil der zu schwerfällig war, zu ernst und zu alltäglich. Weil er nicht begriff, daß das Weib auch Sonnentage begehrt, an denen es nichts hören will von der rauhen Sprache der Arbeit.
Jäng kannte nur diese Sprache der Arbeit.
Darum schnappte ihm der Fonktionär die Lisa weg.
So darf man nicht ums Weib anhalten. So will ich nicht um Berta freien.
Mit den rauhen Händen der Arbeit und einem Herzen voll Sonne wirbt man um die Braut.
Die rauhen Hände sind für die Alten, das junge, sprudelnde Herz ist für die Braut.
So muß man auftreten können. Nicht immer wie ein sorgender Großvater. Und auch nicht immer streng und grießgrämig wie ein barmherziger Bruder.
Mut, Lebensfreude, Humor, das suchen die Mädchen.
Ein freundliches, lustiges Wort, das dringt zum Herzen. Mit Freundlichkeit kann man die Welt erobern.
So rüstet man sich für die Werbung. So ging auch ich auf Brautschau.
Auf dem Bahnhof erwartete mich der Eidam.
In Heinrich Holmer hatte ich ein unbegrenztes Vertrauen.
Merkwürdig. Es gibt Menschen, die wirken stets abstoßend, entfremdend. Andere wieder ziehen uns an und öffnen uns das Herz und sind unsere Freunde.
Das sind Sonntagskinder. Die dürfen niemals unglücklich werden.
Heinrich Holmer gehörte zu denen.
Wir plauderten zusammen, wie zwei, die sich schon lange, sehr lange kennen und sich gut verstehen.
Wir sprachen vom Wetter, vom ersten Schnee, von den jungen Saaten und von Berta.
Holmer erzählte mir von Berta.
Ich hätte gute Aussichten, viele Chancen, meinte er. Wenn er es sagt, kann ich es glauben.
„D’Mamm aß ganz derfir. An d’Berta natirlech och. Nömmen....“
Ich blickte ihn etwas erschrocken an. Ein kalter Schauer fuhr mir durch die Glieder.
„.... nömmen de Papp wöllt nach e böschen zereckhâlen.“
Stürmisch trieb der Wind den Schnee vor mir her.
„Esoû. A woûfir?“
„Woûfir! Well hién en âle Man aß. E Man vun der âler Èrd.“
Dann schwieg er.
So schritten wir eine Weile weiter.
Vor uns auf der Anhöhe lag das Dorf. Im Schneegestöber erkannte ich schon den hohen Kirchturm.
In der Stille klangen die Mittagsglocken. Manchmal laut, feierlich; dann wieder leise, gebrochen, wimmernd.
„Mä, dât hoût neischt ze bestellen,“ griff Holmer das Gespräch wieder auf. „D’Sâch wärd schon an d’Rei go’n.“
In den Pappeln stöhnte der Wind.
„Hei, do kommen se jo!“ rief er auf einmal und zeigte mit dem Arm auf die Beiden, die unten aus dem Dorfe herkamen.
„Sie kommen aus der Möß,“ fügte er erklärend bei.
Nun erkannte auch ich Berta und ihren Vater. Wir gingen rascher.
Vor dem Berelshause trafen wir uns.
„Der brengt Schné a Kèlt mat. Kommt, loß mer an t’Haus go’en,“ sagte der Berelsvater.
Ich drückte Berta fest die Hand. Sie blickte mir offen in die Augen und ich verspürte ihren noch kräftigeren Händedruck.
Der Empfang war wieder sehr freundlich.
Berta servierte das Essen, wie bei meinem ersten Besuche. Und als sie die Torte aufgetragen hatte, machte die Mutter ihren Platz frei. Dahin setzte sich Berta. Dicht neben mich.
Dann sprachen wir von meiner Heimat.
„D’aß nach ewell e groûßt Duôref,“ meinte der Berelsvater.
Berta brachte die Ansichtskarte. Und nun mußte ich erklären. Dort unten die Kirche. Links der Bahnhof eine halbe Stunde vom Dorfe; hier unser Haus mit den Ställen zur rechten Seite.
Der Berelsvater hatte seine alte Hornbrille aufgesetzt und war etwas näher gerückt.
„An hei aß eise Bongert hannert dem Haus.“
Mit Interesse folgte er meinen Worten.
„Aß dé groûß?“ warf er dazwischen.
„Anerhalve Moûrgen.“
„Soû!“
„Und daneben haben wir noch ein großes Feld, das jetzt als Weide für Jungvieh und Schweine eingezäunt ist. Die Tiere können direkt aus dem Stall hineingelangen.“
Der Berelsvater war auf seinen Stuhl zurückgesunken und horchte gespannt.
„Ei, dât aß kamoûd,“ rief Berta mit heller Stimme dazwischen.
„Ja, sehr bequem. Uebrigens haben wir fast all unser Land in der nächsten Nähe des Hauses. Etwas weiter am Berg haben wir noch vier Hektar, die auch aneinander liegen; das war früher Ackerland. Aber seitdem ich am Ruder bin, haben wir es uns bequemer gemacht und...“
Der Berelsvater machte große Augen.
„.... und haben es zu Viehweiden angelegt.“
„Ist das rentabel?“
„Und ob? Es bringt viel mehr Gewinn als früher, wo wir es ganz unter dem Pfluge hatten. Und wo man sich zu Tode schinden konnte. Nur einen Nachteil hat diese Weide noch.“
„So! Und welchen?“ Der Berelsvater zeigte großes Interesse für diese neue Ausnutzung des Landes.
„Es fehlt noch an Wasser. Wir haben uns lange den Kopf zerbrochen, was da wohl zu machen wäre. Die Wasserleitung können wir nicht hinführen. Und Wasser ist oben im Berg nicht zu finden, da....“
„Da wird wohl nicht viel zu machen sein,“ meinte wegwerfend der Berelsvater.
„Ja doch. Es ist schon zu machen. Und im nächsten Jahr wird’s gemacht. Dann setzen wir einen Windmotor hin, der uns das Wasser aus der Tiefe heraufpumpt. Wasser ist da. Wir haben gebohrt und in 6 Meter Tiefe Wasser gefunden. Aber es muß mit einem Windmotor heraufgepumpt werden.“
„Ein Windmoootooor?....“ Der alte Berelsvater war ganz erstaunt.
„Und was kostet der?“ fügte er gleich hinzu.
„Was der kostet? Ich schätze die Einrichtung mit der Pumpe auf etwa sechshundert Mark.“
„Sechshundert Mark!“ klang seine Stimme gedehnt zurück.
„Ja, so viel wird es wohl kosten. Aber[S. 36] es macht sich sicherlich gut bezahlt. Denn eine Viehweide ohne Wasser ist und bleibt immer nur eine halbe Weide.“
Einen Augenblick war es ruhig im Zimmer. Hastig tickte die alte Uhr die Sekunden herunter.
„So ist es mit vielen Ausgaben in der Landwirtschaft,“ griff der Eidam ins Gespräch ein. „Wenn man immer davor zurückschreckt, bleibt man im alten Geleise stecken und kommt überhaupt nicht voran.“
Das freute mich.
Auch Berta nickte bejahend zu.
„Ja, so ist es,“ spann die alte Berelsmutter das Gespräch weiter, „man muß einmal mit den veralteten Einrichtungen aufräumen. So ist es auch mit unserm Schweinestall, der muß für’s Frühjahr neu gemacht werden.“
Der alte Berelsvater warf ihr einen finstern Blick zu.
Ich erzählte von unsern Schweineställen, die erst vor einem Jahr umgebaut worden waren und jetzt ganz praktisch sind.
Auch von dem Trockenfütterungsapparat und der automatischen Selbsttränke erzählte ich.
Damit hatte ich die Neugier aller geweckt. Berta und die junge Frau und die Mutter[S. 37] bestürmten mich mit Fragen. Wie das eingerichtet wäre. Und ob es sehr bequem sei. Und ob es sich gut rentiere.
Auf die Rentabilität ging ich näher ein, wegen des alten Berelsvaters. Einnahmen und Gewinn, damit muß man die Alten ködern. Von Ausgaben sind die kein Freund.
Darum erzählte ich, wie das Körnerfutter in geschrotenem Zustande viel besser verwertet wird. Und wie vorteilhaft es ist, das Schroten selbst zu besorgen.
„Von allen Maschinen scheint die Schrotmühle sich am besten bezahlt zu machen, hat man mir schon oft gesagt,“ ergänzte der Eidam.
„Schro-o-otmühle.“ Es lag so ein sonderbarer Klang in der Stimme des Berelsvaters. „Und womit treibt man diese Schrotmühle?“
„Wir haben schon seit vier Jahren einen fünfpferdigen Benzinmotor, der treibt die Schrotmühle, die Dreschmaschine, die Häckselmaschine und eine Kreissäge.“
„Und eine Kreissäge,“ wiederholte der Berelsvater. „Dann müßt ihr ja bei den vielen Maschinen beständig einen ‚Mécanicien‘ zum Reparieren haben.“
Ich mußte lachen. „Nein, der Mécanicien bin ich selbst.“
„So-o-o!“
„Ja! Vor vier Jahren habe ich im Winter in Mons einen Maschinenkursus, den die Regierung organisiert hatte, mitgemacht. Mein Vater hielt darauf und ich auch. Um diese Zeit ist ja doch nur sehr wenig zu Hause zu tun. Ich lernte den Motor und das Montieren genau kennen. Und zugleich habe ich mich wieder etwas mehr im Französischen geübt.“
Berta blickte mich erstaunt von der Seite an. Es gefiel ihr, daß ich all die Sachen kannte.
Einen Augenblick stockte das Gespräch.
„A woû hut dir èrt Franzéscht geléert?“ forschte der Berelsvater weiter.
Da erzählte ich von der Ackerbauschule und von dem Hofe bei Nancy, wo ich ein Jahr lang gearbeitet hatte. Es ist gut, wenn man auf einem Musterbetriebe andere Leute wirtschaften sieht. Sonst ererbt man die alte Wirtschaftsweise und bleibt ganz im alten Geleise.
Der Eidam nickte mir zu. „D’get ên en ânere Kiérel,“ meinte er.
Der Berelsvater schaute wieder einmal groß auf.
„Dât aß ganz rîchteg,“ ergänzte die Berelsfrau. „An doûfir hun ech drop gehâlen, dat ons zwé Méderchen d’Pensioûn matgemâcht hun.“
Dann erzählte die Berelsfrau viel über die Pensionszeit der Berta, und was sie alles da gelernt hatte — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Berta hatte unterdessen den Tisch gedeckt. Denn die Uhr zeigte schon auf halbfünf. Und um sechs ging mein Zug.
Natürlich wollte das ganze Haus mich wieder überreden, zu bleiben. Aber das ging nicht.
Wir aßen von der saftigen Hâm, vom frischen Braten und tranken von dem guten Grächen.
Der Abschied kam. Wir wurden ernster und besprachen das Weitere. Wann die Berelsleute zu uns kommen würden, fragte ich.
„An enger Woch komme mer,“ bekräftigte die Berelsmutter. Berta war etwas befangen. Ein leichtes Rot huschte über ihr Gesicht. Aber in ihren Augen leuchtete eine selige Freude.
„Jô, da komme mer, wann d’Wiéder net ze schlecht get,“ meinte der Berelsvater. Seine Stimme klang tiefer, tiefer als gewöhnlich.
„Papa, d’Wiéder get net esoû schlecht!“ Berta war ungeduldig.
Ich blickte ihr tief in die Augen. Sie lächelte.
„E schéne Groûß fir èr Mamm an ère Papp,“ flüsterte sie. Und sie lehnte sich dicht an mich, daß ich die Wärme ihres Atems spürte.
„Eddé dann, bis iwer âcht Dèch!“
„Jô, oder iwer véerzeng Dèch. Mir schreiwen iéch!“ rief der alte Berelsvater mit seiner harten, unfreundlichen Stimme.
Wir schritten durch den Hof die Straße hinunter, der Eidam und ich.
Einmal noch schaute ich zurück. Berta stand auf der Türe und winkte. Da winkte auch ich.
Im Hîrzel des Scheunentores lag wieder jemand.
Das war der Knecht....
Der reckte noch lange den Hals heraus und witterte — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Der Eidam gab mir eine gute Strecke das Geleite.
„.... Dajé! Loß mer hoffen, daß mer bâl Familjen gin! Eddi!“..........
Vom Berge her klangen die Abendglocken. Hell und silbern zitterten sie durch die stille, kalte Winterluft.
Nun wird Berta zur Andacht gehen und beten, damit wir uns finden.
Mei léft, gut, bravt Kand!
Mir war so wohl, so leicht ums Herz. Und goldiger Laune schritt ich hinunter durch das frostige Halbdunkel.
Liebeslieder, Heimatslieder zogen mir leise durch die Seele..............
Der Zug war vollgepfropft mit langweiligen Menschen. Die rochen nach Bier und Schnaps und protzten mit ihrer Kraft.
„Hackernondikaß! Ech hun haut véerzeng Humpen gepackt!“ brüllte ein kleiner, dickgesetzter Bursche aus der Ecke.
Jeder wollte mehr vertragen können als der andere.
Und sie stritten sich um diese Ehre. Ein sonderbares Vergnügen, diese Sauferei.
Blutjunge Kerls waren darunter. Von sechzehn, siebzehn Jahren. Das waren die wildesten.
Aarem Médercher, dé d’Ongléck hun, esoû ên opzetrommen.
Bis Luxemburg mußte ich in dieser Gesellschaft ausharren.
Da suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen in dem Merscher Zuge. Ich wollte allein sein mit meinen Gedanken, mit meinen Erlebnissen, mit meinen Erinnerungen....
„Endlech!“ Das war das erste Wort der Mutter, als ich eintrat. „Wât aß mir haut Zeit lang gin!“
Wir gingen in die warme Stube. Nun mußte ich erzählen und Antwort stehen.
Das tat ich gern und leicht und lachenden Mundes.
Es war schon halb elf. Wir plauderten immer noch von den kommenden Zeiten.
„Da mâch an deser Woch alles gut an d’Reih,“ sagte der Vater noch beim Schlafengehen. „Vun der éschter Impressioûn hängt vill of. An dû wês, elo am Enn vom Johr gin Kniécht mé lidderèg. Kuk hinnen doûfir mé op d’Fangeren!“
In den folgenden Tagen war ich sehr geschäftig. Ueberall war noch zu säubern und zu ordnen.
Vom ersten Augenblick an muß es den Berelsleuten bei uns gefallen. So wollte ich es.
In der Scheune lag noch ein Haufen Weizen vom Samstag. Der sollte in diesen Tagen gereinigt und abgeliefert werden. Ich ließ ihn liegen. Wegen des Berelsvaters. Damit der sehe, was wir alles zu verkaufen haben. Alte Leute muß man zu ködern wissen.
Mit den Knechten war ich strenger als sonst. In Ställen, Scheune und Schuppen mußte alles in bester Ordnung sein.
Wenn der Berelsvater das sieht, wird er staunen.
Eine Drillmaschine hat er ja auch noch nicht. Da werde ich ihm die unserige zeigen.
Und dann erst die Motor-Einrichtung. Schade, daß der Besuch an einem Sonntag stattfindet. Sonst könnte ich ihm alles in Betrieb setzen.
Na, vielleicht lasse ich den Motor nur mit der Schrotmühle laufen. Das macht nicht so viel Spektakel.
Die Schrotmühle möchte ich ihm jedenfalls zeigen. Wegen des Eidams und des Futterautomaten.
Der wird Berta gefallen, dieser Futterautomat mit der Selbsttränkanlage.
Da ist wenig Arbeit, viel weniger als früher. Und rentabel ist es auch. Natürlich muß es richtig gemacht werden. Und richtig gemacht wird es schon. Dafür sorge ich.
Und wenn das Wetter gut ist, gehen wir noch in den Jungviehpark und hinauf in die neue, große Weide, wo wir nächstes Jahr den Windmotor aufstellen. Von da aus kann ich ihm einen Ueberblick über unsere Flur geben. Auch werde ich ihm dort zeigen, wo wir das meiste Land haben. Dann sieht er, wie bequem unser Betrieb ist.
Das alles muß ihm gefallen.
Jeden Tag wartete ich auf einen Brief der Berelsleute.
Es kam nichts.
Ich wurde verdrießlich. Die Tage lasteten schwer auf mir und nahmen mir alle Freude.
Mein Vater ging mißgestimmt aus und ein.
Die Mutter suchte mich zu beruhigen.
„Sie wêrde woûl mâr schreiwen,“ sagte sie jeden Abend.
So hoffte ich auf den kommenden Tag.
So verbrachte ich unruhige Nächte.
Ob der Brief wohl morgen kommt?
Erst Samstags schrieben sie.
Ich riß den Brief erregt auf und las.... Der Brief zitterte in meiner Hand. Und ein Zittern ging mir durch den Körper.
„Nondikaß! A woûfir schreiwt dén esoû e Bréf?“ Kalt lief es mir den Rücken herunter. „Woûfir schreiwt dén esoû e Bréf?“
Ich spürte ein Stechen in der Brust.
Und Lebenslust und Freude fielen von mir ab wie Blüten vom sturmgeschüttelten Aste. Ich knitterte an dem Brief und wollte ihn in Stücke zerreißen.
„Hun se geschriewen?“ rief die Mutter herüber von der Haustüre.
Aerger stieg mir im Halse herauf und würgte mich an der Kehle. Mein Atem stockte. Die Lunge keuchte.
„Kommen se net?“ rief sie wieder.
Da reichte ich ihr den Brief. „Do liést, Mamm.“.................
Wir schritten langsam ins Haus.
Der Vater kam uns entgegen.
„Hun se geschriewen?“
„Jô, Papp!“
Die Mutter las. Ihre Hand zitterte.
„D’aß gefèhlt, Piér! D’aß gefèhlt!“ Sie schüttelte den Kopf.
„Mä, wât schreiwen se dann?“ Der Vater war ärgerlich. „Liéß emol hârt, wat se schreiwen!“
Da las ich mit zitternder Stimme in abgerissenen Sätzen:
Geehrter Herr Welsch!
Ich tue Ihnen zu wissen, daß wir die Sache einstweilen wegen des schlechten Wetters ausgesetzt haben, und daß ich mir mit der Berta die Sache anders überlegt habe. Sie ist übrigens noch jung und kann noch ganz gut ein Jahr warten.
Grüßt bestens
Johann Baptist Berels.
Stürmisch peitschte der Wind nassen Schnee gegen die Fenster.
Im Zimmer war es einen Augenblick still.
Schwermütig tickte die alte Wanduhr.
„Wèrd woûl ên eppes gént eis geschriewen hun!“ sagte der Vater mit ziemlicher Ruhe. Er verstand es sich zu beherrschen.
Die Mutter sah mich groß, fragend an.
„Wât mengst du, Jämpé?“
Was sollte ich meinen?... Mir war es elend und erbärmlich... Die ganze Welt hätte ich in Stücke schlagen können...
Ich ging hinaus in den Stall zu den Knechten. Die waren mit Ausmisten beschäftigt. Ich musterte die Arbeit und schimpfte. Ich fand den Dünger schlecht ausgebreitet. Und die Türe der Ställe stand zu groß auf. Das gäbe Zugluft, schimpfte ich. Darüber wetterte ich aus voller Lunge.
Die Knechte sagten nichts, stießen die Türe zu und arbeiteten weiter wie Tiere.
Nachmittags gingen wir in den Wald. Dort fällten wir Bäume, bis der Abend kam.
Wald, Einsamkeit, Kälte, harte Arbeit, das alles brauchte ich.
So starb der unselige Tag dahin.
So kam der Abend.
Ich haßte diesen Abend. Weil wieder von dem Briefe gesprochen wurde. Weil ich[S. 48] nichts für das Herzeleid meiner Eltern hatte, keinen Trost, keine Aussicht.
Eltern denken mehr an unsere Zukunft als wir.
Dieser verfluchte Brief!
Warum hat der Berelsvater den geschrieben? Warum?
Die Mutter saß am Tisch über dem Nähzeug gebückt. Schweigend reihte sie einen Stich an den andern. Und mit jedem Stich reihte sie einen schmerzlichen Gedanken zum andern.
Der Vater sog mißgestimmt an der Pfeife.
Schwermütig schleppte sich das Gespräch durch die Abendstunden.
Schwermütig tickte die Uhr.
Schwermütig rasselte der Wind.
Ich trug in die Buchführung ein, um eine Beschäftigung zu haben. Und ich blätterte rückwärts, vorwärts, stellte Konten auf, erdrosselte den Abend.
Ich ging bald schlafen, früher als sonst.
Lange stand ich noch am Fenster und schaute hinunter in das winterliche Alzettetal.
Warum schrieben sie diesen Brief? Warum?
Es kam eine stürmische Nacht, ohne Sterne, ohne Mond.
Dunkel war es draußen und dunkel in meinem Herzen.
Ich schlief schlecht.
Wirre Träume jagten mir durch den Kopf. Träume von Liebe und Glück. Ich wachte auf. Die Bilder zerbrachen. Andere folgten. Zerbrochene....
„Berta! Berta!“ Wir haben uns doch so lieb!
Warum dieser Brief? Warum?....
Sonst freute ich mich immer auf den Sonntag.
Heute haßte ich ihn. Weil er mir zu viel Zeit zum Nachgrübeln brachte. Lange Stunden, die ich nicht in Arbeit ersticken konnte.
Ich war aufgeregt, streitsüchtig. Das machte die schlechte Laune. Die mußten die Knechte austrinken. Bei der Morgenfütterung blieb ich in den Ställen, bis sie mit der Arbeit fertig waren.
Als ich zur Kirche ging, hatte es schon abgeläutet. Ich kam später als sonst. Keinen Kameraden wollte ich treffen. Keinen Menschen wollte ich lachen sehen.
Neben mir, in der zweiten Reihe, saßen Mäsch Sisi und Wônesch Henriette.
Als ich nach ihnen umschaute, gingen meine Gedanken weit fort, über den Grünewald, hinüber ins Syrtal.
Nein, wie Berta, gab es kein zweites Mädchen. Wie ein blankes Goldstück unter altem Kupfergeld, so stach Berta unter allen hervor....
Der Pfarrer stieg auf die Kanzel.
Der Gesang verstummte.
Die Männer murmelten mit tiefer Stimme:
„Unser tägliches Brot gib uns heute!“
„Unser tägliches Brot....“
Ich stand da, murmelte mit und grämte mich....
Nicht vom Brote allein lebt der Mensch....
„Vergib uns unsere Schuld!“
War es meine Schuld?....
War ich schuldig?....
Ich sann, sann....
Der Pfarrer verlas das Evangelium.
Ich schenkte ihm wenig Beachtung, ich[S. 51] grübelte weiter, sann, suchte...., bis auf einmal das Geräusch mich aufrüttelte....
Wir setzten uns....
In den Stühlen ward es ruhig. Das Husten ließ nach, schwieg. Man fühlte, wie die Leute aufmerksam wurden.
Der Pfarrer sprach mit schöner, voller Stimme, mit heiligem Feuer, mit himmlischer Begeisterung.
Es ging eine Kraft von ihm aus, die alle erfaßte. Und sie saßen da, gespannt, hingerissen.
In mir war Trauer....
Ich war ohne Trost, ohne Hoffnung seit diesem verfluchten Brief.
Was konnten die schönen Verheißungen des Pfarrers nutzen? All die großen Seligkeiten, die er versprach, was konnten die mir helfen?
Verlorene Liebe ist doch immer verlorener Glaube....
Seine Stimme wuchs. Und sie beherrschte die ganze Kirche. „Arbeiten und hoffen und nie verzweifeln!“ In seinen Worten lag Klang, metallischer, alles überwältigender Klang.
In mir blieb Trauer....
„Wirken müssen wir, so lange es Tag ist. Wirken und hoffen und nie verzweifeln.“
Er liebte es, seine Predigt an Naturbilder des Tages anzuknüpfen. In feierlichem Tone sprach er von der winterlichen Erde, die unter Schnee und Eis erstorben ist und von der trauernden, kränkelnden Sonne, die über uns steht, matt und altersschwach, wie eine Sterbende.
„Sollen wir verzweifeln! Sollen wir nicht mehr auf einen neuen Frühling hoffen!“
Dann redete er von Job und seinem Elende und seiner Ergebung. Und er feierte Job’s Vertrauen und Job’s Belohnung.
„Darum glaubet, darum hoffet, darum liebet wie Job!“ Seine Stimme klang prophetisch, versprechend, gnadenspendend.
Wie Weihwasser, wie segnendes Weihwasser flutete sein Schlußsatz:
„Des Glaubens Stärke ist die Hoffnung! Des Glaubens Krone ist die Liebe! Und keine Seele, die liebet, verzweifelt an göttlicher Liebe! Amen....“
Der Chor stimmte ein Adventslied an....
Es liegt eine unendliche Sehnsucht in den Adventsliedern, eine Sehnsucht nach einem fernen Glück....
Dieser Sehnsucht gingen meine Gedanken nach.... Sie suchten nach freudiger Erfüllung. Aber sie fanden keinen Weg.
Die Kerzen brannten, schimmerten. Der Weihrauch stieg empor, erfüllte die Kirche mit weihevollem Duft. Ein Sonnenstrahl drang durch die hohen Fenster und malte rote, grüne und blaue Flecken an die Wand....
Meine Gedanken hingen sich an dieses Durcheinander, flogen hinaus durch die bunten Fenster und suchten nach Licht und Wärme....
Eine quälende Sehnsucht trieb mich immer wieder zu der, auf die ich meine Zukunft aufgebaut hatte.
„Dem Job gab der Herr alles wieder. All seine Kamele und Esel und Rinder gab er ihm wieder. In doppelter Zahl schenkte ihm der Herr alles, weil Job geglaubt und gehofft hatte.“ So hatte der Pfarrer gepredigt.
Warum sollte ich nicht hoffen? Warum?
Meine Gedanken sammelten sich. Ich wurde ruhiger.
Warum sollte ich nicht hoffen? Wer ist gegen mich? — Nur der Berelsvater. Nur der.
Und wer ist für mich? — Berta. Und die Mutter. Und die Schwester. Und der Eidam. Die alle, alle Vier. Nur einer nicht.
Also brauchte ich nicht zu verzagen.
Dieser lumpige Brief kann doch nicht mein Glück zerstören, kann doch nicht die Entscheidung bringen.
So grübelte ich, als ich heimging.
Ich schloß mich keinem an. Ich wollte allein bleiben mit meinen Gedanken.
Henriette schielte nach mir herüber. Ich sah nicht nach ihr.
Die konnte mich nicht glücklich machen, die nicht.
Nur die eine! Nur die eine!....
Im Schnee pipste ein Distelfink. Zwei Schritte vor mir hüpfte er, streckte das Köpfchen zutraulich zur Seite und suchte nach Nahrung. Dann flog er zu dem alten, kahlen Birnbaum. Dort stand noch sein Nest vom letzten Jahr.
Das war verschneit, zerfallen.
Auch er hofft auf den Frühling, auf Sonne und Glück....
„Hé, Här Welsch!“
Ich wandte mich rasch um. Wer rief?
Unten kam der Briefträger.
„Houd der eppes?“
„Ei, natirlech!“
Er lachte. „E Bréf mat enger feiner Schröft. D’Freiesch werd éch woûl geschriewen hun.“
„Merci!“
Von Berta. Ich erkannte sofort die Schrift. Ein plötzliches Rot überflog mein Gesicht. Als wäre ich auf einer bösen Tat ertappt worden, so wurde mir.
Ich riß den Brief auf.... Mein Herz klopfte....
Ich las:
Mein lieber Herr Welsch!
Ich schreibe Ihnen heimlich, um Ihnen zu sagen, daß ich Sie immer herzlich liebe und ich sehr bedaure, daß mein Vater gegen unsern Willen gestern den Brief an Sie....
Warm sandte die Sonne ihre Strahlen auf die kalte Erde. Oben im Baum trillerte der Fink wie im Frühjahr.
Mir war, als hätte ich eine schwere Last abgeworfen.
Ich las den Brief noch einmal....
Und ich faßte ihn fester, aus Furcht, ich könnte ihn verlieren....
Der Pfarrer hatte Recht.
Hoffen! Hoffen! Und nie verzweifeln!
Berta, ich hoffe auf dich! Berta, ich liebe dich. Dich allein, einzig und immer und ewig....
Dieser Tag mußte kommen, mußte kommen .....................
Berta! Könnten wir uns jetzt sehen!
Dann würde ich einen Kuß auf deinen rosigen Mund drücken und wir würden „Du“ zu einander sagen. Denn wir gehören zusammen. Und wir müssen uns finden, müssen, müssen.
Heimlich hast du mir geschrieben, heimlich, aus Sehnsucht, aus Liebe.
Dein Vater weiß nichts von deinem Brief, darf auch nichts davon wissen.
Du hast mir das Herz erleichtert und du hast mir Hoffnung und Zuversicht gegeben.[S. 57] Weil du mir schreibst, daß deine Mutter und deine Schwester von deinem Briefe wissen. Und weil sie auf unserer Seite stehen, gegen den Vater.
Wir siegen, schreibst du; der Vater muß in einigen Monaten einwilligen, muß.
Wie schön ist deine Zuversicht, Berta, wie schön und tröstlich!
Gerade so groß ist meine Liebe.
Einen Besuch soll ich einstweilen nicht machen. Weil ich hierdurch deinen Vater nicht besser stimmen würde. Und weil du meinen letzten Besuch bis jetzt nicht erwidern konntest.
Meine liebe Berta! Ich füge mich deinem Rate, weil ich Vertrauen in dich habe.
Aber, wenn es sein müßte, würde ich tausendmal zu dir kommen. Tausendmal würde ich den Weg zu Fuß machen, wenn ich dich damit erobern könnte.
Berta, ich füge mich, weil dein Vorschlag in mir neue Hoffnung weckt. Denn du schreibst, daß du mich auf dem Neumarkt[A] in Luxemburg wiedersehen willst, um mir noch vieles zu sagen, um mir dein Herz auszuschütten.
Bis dahin sind es noch dreiundzwanzig Tage. Aber ich warte. Weil du es willst...
Etwas hast du mir nicht geschrieben. Warum ist dein Vater gegen mich, gegen uns? Warum?....
[A] „Neumarkt“ ist der erste Jahrmarkt im Monat Januar.
Eine Erlösung brachte der Brief in unser Haus. Und eine erlösende Freude legte sich auf die alternden, still leidenden Herzen meiner Eltern, wie heilendes Oel auf eine schmerzende Brandwunde.
Einen Korb hatte ich nicht bekommen. Das war ihnen ein Trost.
Als die Mutter den Brief las, traten ihr Tränen in die Augen. Es war ihr eine große Genugtuung, daß dieser Brief auf den des alten Berelsvaters gefolgt war.
Der Vater verstand es, sich zu beherrschen.
„D’aß e sonderbare Bréf,“ meinte er, „d’Médchen schéngt ganz an dech verschossen ze sin.“
Er schüttelte den Kopf und lachte.
„An d’Mamm schéngt jo och ganz derfir ze sin,“ ergänzte die Mutter. „Ower wofir aß de Papp dergént? Wofir?“
Die Sonne lächelte durchs Fenster und[S. 59] streute Gold über den Tisch und auf den Brief.
Bisweilen schleppte sich eine Schneewolke über die Sonne und stahl das Gold.
Ja, warum ist der Berelsvater dagegen? Ich wußte es nicht. Ich konnte mir es nicht erklären.
„Alte Leute sind oft eigensinnig,“ meinte der Vater.
„... und kneckig,“ ergänzte die Mutter.
Ja, kneckig ist der Berelsvater. Das hatte ich bei meinen Besuchen überall gemerkt. Das hatte auch der Eidam gesagt.
Die Schatten huschten vorüber. Hell schimmerte die Sonne.
Der Vater erzählte von den alten, kneckigen Bauern.... Die möchten oft gern die Kinder verheiraten, wenn sie ihnen nichts mitzugeben brauchten.
Sie bretzen sich mit dem Helligsgut. Und wenn sie damit herausrücken sollen, winden sie sich wie ein Wurm, auf den man tritt.
Zu der Sorte gehörte vielleicht auch der Berelsvater.
Ich schüttelte den Kopf. „Wât aß do ze mâchen?“
„Wât do ze mâchen aß,“ griff meine Mutter[S. 60] schnell ins Gespräch ein, „mä, dât aß einfach. Dei Mononk muß emol mat dène Leiden iwer dé Sâch schwetzen.“
Das war das Richtigste. Ich schrieb gleich dem Oheim und lud ihn zu Weihnachten auf ein Stück „Gesolpertes“ ein. Er müsse bestimmt kommen. Wir hätten Wichtiges zu besprechen.
Den Berelsleuten bedauerte ich, daß das schlechte Wetter den Besuch unmöglich gemacht habe, und drückte den Wunsch aus, sie an einem der kommenden Sonntage erwarten zu können.
So gefiel der Brief meinem Vater. Es war nichts zu viel darin. Darunter setzte ich freundliche Grüße von uns allen an die Berelsleute und ganz besonders an Berta — — — — — — — — — — — — — — —
Dann trug ich die beiden Briefe hinunter in den Kasten an der Schule.
A Mäsch, neben der Kirche, stand d’Sisi auf der Haustüre, die Hände unter die Schürze vergraben.
Ich grüßte.
„Jämp, héerst du se sangen?“
Ich lauschte.
„Jô, Sisi!“
„D’sin d’Amerikaner. Sie hun haut d’Karte krit, fir ze foûren. Den éschte Februar gêht d’Schöff zu Antwerpen fort,“ sagte sie mit trauriger Stimme.
„Soû! Schon den éschte Februar?“
Wir lauschten.
Traurig, schwermütig klangen die Abschiedslieder in den stillen Abend.
Einen Augenblick verstummte der Gesang. Die Harmonika stimmte eine neue Weise an, ein neues Lied von unglücklicher Liebe, von unerfüllter Sehnsucht, von trauriger Verlassenheit.
Sisi stand dicht neben mir. Wir sprachen kein Wort und horchten. Sisi atmete schwer.
Traurig klang die Weise:
Sisi hatte meine Hand ergriffen und schluchzte.
„Jämpé, solle mer mat sangen?“ Sie lehnte sich an mich und weinte....
„Sisi! Wât aß dir?“ Ich drückte ihr fest[S. 62] die Hand und ging hinunter zu den Kameraden. Was hat heute eigentlich die Sisi? Was hat sie? — — — — — — — —
Lange saß ich bei den Kameraden.
Bisweilen blickte ich hinüber nach dem Mäsch-Hause. Sisi stand noch immer auf der Türe. Was die Sisi heute hatte....
Am nächsten Tage fuhr ich den Weizen zum Bahnhof.
Ich ließ gleich nach Mittag anspannen, um mit der Nacht wieder zu Hause zu sein.
Fast geräuschlos rollte der Wagen über den verschneiten Weg.
Als ich bei Mäsch vorbeifuhr, stand Sisi auf der Haustüre, die Schürze zu einer Schoßtasche zusammengeschlagen. Sie streute Brotkrümchen und Tischreste in den Hof. Spatzen, Goldammern und Finken flogen heran und flatterten herum bis dicht an Sisi, ohne Furcht.
Ich blickte hinüber.
„Moûrgen Sisi! Wé gêt et?“
Sie schüttelte den Kopf und kam herüber durch den Hof bis an die Straße.
„Bast de bés, Sisi?“
„Jo—o! Iwer dech!“
„Oho—o!“ Ich schaute ihr forschend in die Augen.
„Du brauchs net esoû ze kuken. Zönter der Kirmes wölls du mech jo net mé gesinn.“
„Zönter der Kirmes!“ Ich war ganz verwundert.
„Jô, zönter der Kirmes!“ Ich hörte ihren tiefen Atem. Sie sprach schnell, aufgeregt, mit hoher Stimme. „De lèschte Sonndég, no der Maß, baß du lanscht mech gedauscht. An e Méndeg den Owend hâst du knapps Zeit mat mir ze schwetzen.“
Ein Zucken ging um ihren Mund.
Ich rieb mir die kalten Hände, in leichter Befangenheit.
„Sisi, sef dach kê Kand!“
Ich ließ die Peitsche knallen. Die Pferde zogen kräftig an. Der Wagen rollte weiter, über die Schneestraße am Mäsch-Hause vorbei, hinunter in das weite, tote Tal.
Auf den hohen Pappeln saßen ein paar Krähen. Sie schielten hinauf nach dem grauen Winterhimmel, hinunter auf die schnee[S. 64]bedeckten Wiesen, hinüber in den öden, toten Wald.
Als ich näher kam, flogen sie krächzend fort. Und sie riefen einander heisere Worte zu von Elend und Kummer....
Der Abend kam früher als sonst.
Als ich das Dorf erreichte, lag schon mattes, rotes Licht hinter den halbverhüllten Fenstern. Dort sah man die gekochten Kartoffeln dampfen. Es roch angenehm nach Grévefett.
Was die Sisi wohl jetzt machte?
Ich blickte hinüber. Im Hof war kein Mensch. In der Küche war Licht. Und aus den Ställen klang dünn, klagend ein Lied:
Wie die Sisi das so traurig sang.
Traurig wirkt ein solches Lied aus einem jungen Munde.
Ich knallte mit der Peitsche; der Wagen rollte geräuschvoll weiter. Aber immer noch klagte das Lied:
Der Wagen rollte weiter. Das Lied verstummte....
Nach dem Essen trug ich in die Buchführungshefte ein. Ich stellte die Konten für die Knechte, Tagelöhner und die Handwerker auf.
Immer wieder klang mir die Melodie von Sisi’s Lied im Kopf. Und immer wieder dachte ich an die ernsten Worte der schwermütigen Weise.
Eine Ermüdung kam über mich, wie nach einer langen Anstrengung.
Ja, die Sisi hatte ich früher geliebt, in reiner, ernster Absicht, mit treuer Liebe.
Ich hing diesen Gedanken nach. Die flogen rückwärts, acht Jahre, zu meiner ersten Liebe.
An einem schönen Sonntagabend war es, Ende Mai. Wir kamen vom letzten Abendzuge. Die Bäume standen in der Blüte. Die Feldgrillen zirpten. Und die Luft war durchsetzt vom süßen Hauch der Frühlingsblumen....
Sisi und ich kamen zuletzt. Einen Steinwurf vor uns gingen die andern, Sisi’s Eltern und mein Vater. Sie diskutierten über landwirtschaftliche Fragen, über den Stand der Saaten und die Geldaussichten des Jahres.
Wir blickten weiter, viel weiter in die Zukunft. Die schien uns schön, wie der Abend, wie unsere Jugend.
Ich nahm Sisi leise bei der Hand und schritt mit ihr glücklich durch die schöne Frühlingsnacht.
Beim alten Birnbaum vor dem Dorfe zog ich sie fest an mich und gab ihr einen Kuß, einen langen Kuß....
Es war unser erster Kuß.
Die Bäume dufteten. Ein frischer Wind strich leise durch die Kronen und schüttelte Blüten auf uns. Weiße Blüten.
Damals hatte ich Sisi ein silbernes Herzchen versprochen.
Am folgenden Sonntag war ich nach Mersch gefahren. Irgend einen Grund hatte ich meinen Eltern angegeben. Und ich kaufte ein silbernes Herzchen mit einer silbernen Kette. Fünf Franken und acht Sous hatte es mich gekostet, fast den ganzen Bestand meiner Barschaft.
Um Abend, vor der Andacht, suchte ich Sisi auf. Ich traf sie im Stalle, ganz allein. Schüchtern legte ich ihr das dünne Kettchen mit dem silbernen Herzchen um den Hals. Hastig, aufgeregt, fürchtend, es könnte jemand uns sehen.
Und am folgenden Tage, als ich das Vieh zur Weide trieb, schnitt ich ein Herz mit einem S und einem J in die Rinde der Grenzbuche.
So war unser Bündnis besiegelt....
„Drêmst de?“ Meine Mutter blickte von der Handarbeit herüber.
„Nê, Mamm! Ech iwerléen, wé mer eis Buchführung am nächste Johr nach besser mâche können.“
„Esoû!“ Sie ließ mich weiter träumen.
.... So war unser Bündnis besiegelt.
Seit dem Tage traf ich die Sisi oft. Fast täglich.
Unsere Eltern sahen es gern und waren ganz damit einverstanden.
Dann kam der Tod im vorletzten Winter. Der riß Sisi’s einzigen Bruder hinweg, im Alter von 25 Jahren.
Nun war Sisi einzige Tochter.... Sie mußte in ihr Elternhaus einheiraten.
Ich aber konnte nicht fort von Hause, weil meine beiden Schwestern ausverheiratet waren.
So wurden meine Pläne vernichtet. Ich trug meine Hoffnungen zu Grabe. Aber ich fügte mich in das Schicksal. Wir sahen uns trotzdem noch oft; denn Sisi war ein gutes Mädchen.
Ich hatte sie wirklich vernachlässigt, seit unserer letzten Kirmes. Das merkte ich jetzt.
Aber daß Sisi meinte, wir könnten uns heiraten, war mir ganz unverständlich.
Das war doch unmöglich, ganz unmöglich, seit dem Tode ihres Bruders.
Wie konnte Sisi dieser Hoffnung immer noch nachhängen?....
„Wé aß et mat der Schloßrechnong vum Jôr?“ Der Vater blickte über die Zeitung. „Bast de bâl ferdig mat denger Buchführung?“
„Nach net, Papp!“
Jahresabschlußrechnung....
Auch mit Sisi muß ich jetzt abschließen....
Sie muß doch wissen, daß wir uns nicht heiraten können.
Ich kann doch nicht von unserm Hof fortgehen....
Und Sisi will ja auch ihr Elternhaus nicht verlassen.
Ich muß mit ihr sprechen, muß ihr die Sache klar machen. Dann ziehen wir einen Strich durch die ganze Rechnung. Und damit Punktum....
Die Sisi kann mir doch keinen Vorwurf machen....
In meinem Kopfe klang immer wieder das traurige Lied von der unglücklichen Liebe.
Nein, die Sisi kann mir keinen Vorwurf machen, kann nicht.
„Man liebt auch Mädchen bei frohen Zeiten“.... das soll sie auch mal singen. So hatten wir ja noch auf der letzten Kirmes gesungen....
An den folgenden Tagen hatten wir in der Scheune zu tun.
Nachmittags schroteten wir auf Vorrat für die Christtage, bis es Zeit zur Abendfütterung wurde.
Das war die Stunde, wo Sisi gestern so traurig gesungen hatte. Ich wurde unruhig.
Es hielt mich nicht mehr länger in unserm Hause....
Ich will mit dem Mädchen sprechen. Sisi muß sich den dummen Gedanken aus dem Kopfe schlagen.
Wenn ich jetzt hinuntergehe, treffe ich Sisi vielleicht allein. Ihr Vater wird wohl noch nicht von seiner Reise zurück sein.
Ich gehe jetzt, jetzt gleich. Eine gute Ursache habe ich, um in ihr Haus zu kommen. Ich frage nach der Arnikaflasche, die ich dem Mäschvater vor acht Tagen geliehen hatte, um der Bleß die eiternde Wunde am Fuße zu heilen.
Ich ging hinunter....
Aus dem Stalle klagte wieder das schwermütige Lied. Ich trat in die Küche. Kein Mensch. Die Lampe wachte allein bei der Kochmaschine. Dort brodelten die Kartoffeln. Ich schritt leise durch den Gang in den Stall.
„Jesses, baß dû dât!“ Sisi war erschrocken.
„Jô, Sisi! A wé gêt et mat der Koû?“
„Gut, Jêmp!“
„Dât frèt mech. Dann hoût d’Möttel awer geholef?“
„Jô, Jêmp! d’aß e séer gut Möttel!“
Ich trat heran an die schöne, schwarzweiße Kuh, streichelte über den glatten, geraden Rücken und besah den Fuß. „D’aß ganz hêl.“ Dann erzählte ich von unserm alten Fox, der sich am Kéler wund gerieben hatte, und bei dem ich jetzt die Flasche brauchte.
Sisi war vom Stuhl aufgestanden und hatte den Milcheimer in die Mitte des Ganges gestellt.
Ich hustete ein paarmal. Einen Augenblick war es ruhig. Man hörte das Reiben der kauenden Kühe.
Dann kam ich auf die eigentliche Ursache meines Besuches.
Sisi stand dicht neben mir und schaute mich groß an. Sie ließ mich aussprechen.
Noch nie war sie mir so tüchtig vorgekommen, wie an diesem Abend.
Sie schien gefaßt, sehr ruhig. Nur ihr Atem ging schwerer und stärker als sonst.
„Nê, Jämp, kên âneren! A wann ech och eng[S. 72] âl Joffer mîßt gin. An t’brauch kên mir en âneren ze bréngen. Meî Papp net, a kê Mensch!“
Das Weinen war ihr nahe. Müde lehnte sie sich an den eisernen Träger. Ein tiefer Seufzer straffte die flanellene Bluse.
„Sisi, sef dach verstäneg! Dû muß dach âgesinn, dat et net ka sinn!“
Sie schwieg und schaute mich groß, sehnsüchtig an.
Dann griff sie an den Hals und zog unter der Wolljacke ein dünnes Kettchen hervor: „Kennst et nach?“
Am Kettchen hing das silberne Herzchen.
„Zönter dêr Zeit hun ech et nach ömmer gedrô’en.“
In ihren Augen lag ein feuchter Glanz. Eine lange Pause folgte. Eine große, andächtige Stille. Wir atmeten tief in dieser wehen und doch so schönen Erinnerung...
Sisi lehnte den Kopf an meine Schulter, schloß halb die Augen und erzählte mit flüsternder, schluchzender Stimme, wie das Herzchen ihr stets ein Unterpfand unserer Liebe gewesen. Und wie treu und aufrichtig und ergeben sie mich liebte. Nur mich, mich allein. Und daß sie alles für mich täte, alles....
Ihre Stimme klang klagend, flehend. Die Aufregung machte ihr das Atmen schwer[S. 73] und hatte ihre jugendlichen Wangen rot gefärbt.
Ich ergriff ihre Hand. Sisi ließ es ruhig geschehen. Ich hielt die warme Mädchenhand in der meinen wie etwas Liebes, das man nur gezwungen fortgibt.
„Sisi, mer gin dach net bés ausenâner?“
Eine Träne leuchtete in den blauen Augen, perlte über die roten Wangen und fiel brennend auf meine Hand.
Ganz leise weinte sie vor sich hin — — — — — — — — — — — — — —
Aus der Küche kamen Tritte.
„Meng Mamm!“ Sisi fuhr erschrocken auf und hielt erregt den Atem an.
„Meng Mamm!“
Hastig fuhr sie mit der Schürze über das Gesicht, trocknete die Tränen, ergriff den Eimer und den Melkstuhl und setzte sich zu einer Kuh, das Gesicht nach der Wand gekehrt.
In schnellem Takte folgte das Zischen der Milchstriche. Bisweilen rasselte eine Kuh an der Kette. Sonst war es ruhig.
Die Tritte kamen näher....
Es war ihre Mutter.
Ich stand bei der kranken Kuh, strich ihr über den Rücken und besah den Fuß.
Die alte Frau trat freundlich zu mir und bedankte sich für das gute Mittel. Sie wolle sich auch mal erkenntlich weisen. „É Gefâlen aß enges ânere wèrt,“ sagte sie in treumütterlichem Tone.
Sisi sah nicht um, drückte den Kopf fest an die Flanke der Kuh und melkte weiter....
Wir gingen in die Küche. Die alte Frau gab mir die Arnikaflasche und begleitete mich hinaus bis auf die Haustüre.
Der Himmel stand voll funkelnder Sterne. Drüben im Walde klagte ein Käuzchen.
Schaurig drang sein wimmernder Schrei in die große, kalte Einsamkeit.
„Den Doûdevull,“ sagte kurz die alte Frau. „Erem ên, dé stiérven muß....“
„Stille
Nacht, heilige Nacht,
Alles schläft....“
Anheimelnd klang die liebe Weise aus der Schule herüber. Dort übten die Kinder ihr Weihnachtslied für das morgige Fest.
Es war schon lange über die Schulzeit hinaus, bereits halb fünf, als die kleinen[S. 75] Sänger entlassen wurden. Geräuschvoll ergoß sich der Schwarm ins Freie. Es kam Leben, jugendliches, rasch pulsierendes Leben auf die neubeschneite, stille Straße. Die Knaben tummelten sich herum, machten Schneebälle, johlten, warfen nach den Mädchen. Die standen noch ganz unter dem Einfluß des heiligen Liedes. Sittsam, ruhig, in kleinen Gruppen, gingen sie nach Hause. Nur wenn die Jungen ihnen zu arg mit den Schneeballen zusetzten, liefen sie schreiend fort.
„Ob d’Kreschtköndchen och mûr könnt?“ meinte traurig eine der Kleinen.
Die andern blickten besorgt auf.
„A woûfir soll d’Kreschtköndchen dan net kommen?“ Fast gleichzeitig kam die Frage von allen Seiten.
„Well ze vill Schné fällt. Wan et net dran stéchen bleiwt.“
„Nên, et dârf net dran stéchen bleîwen,“ sagte flehend ein kleines, blondes Ding. „Mîr béden, dat den Hergott deß Nûcht ké Schné mé herofschitt, da könt d’Kreschtköndchen secher.“
„A mîr sin och ömmer brav gewescht, da werd et dach bei eis kommen,“ ergänzte schüchtern ein kleines Schwarzhaariges.
„Hähähä!“ fiel lachend ein Junge, der sich herangeschlichen hatte, ins Gespräch.[S. 76] „Kreschtköndchen! Hähähä!.... D’könt gewéß e Kreschtköndchen!.... D’Mamm aß d’Kreschtköndchen! An d’Sâche kèft se bei Gudekâfs Nékel oder beim Schoûlklos....“
Die Mädchen blickten den frechen Jungen erstaunt, bös an, stießen ihn von sich und liefen weg, so rasch sie konnten.
Nein, mit dem wollten sie keine Gemeinschaft halten....
Ich ging gerade vorüber, hinunter zur Station.
Das war doch etwas ganz Eigentümliches, dieser kindliche Glaubensstreit.
Kaum zehn Jahre hatten die Mädels. Und der Junge war auch nicht älter.
Wie die Mädchen sich gegen die Lästerung wehrten! Ihren heiligen Glauben wollten sie sich nicht rauben lassen, nicht von diesem dummen, naseweisen Jungen, dem sie in der Schule weit überlegen waren.
So sind die Mädels. Den Puppen geben sie eine Seele. Und das Christkindchen lassen sie in kalter Winternacht durch den Schnee kommen....
So bleiben sie auch später. Und so ist Mäsch Sisi noch heute....
Vor mir reckte der alte Birnbaum seine dürren Aeste breit in den nebligen Abend.
Damals stand er in weißer Blüte, als ich Sisi das kleine Herzchen geschenkt hatte. An diesem Herzchen hängt Sisi noch heute mit ganzer Seele.
Kinder waren wir damals. Große Kinder mit kindlichem Glauben an eine gemeinsame, glückliche Zukunft. Die hatte der Tod geraubt, als er Sisi’s Bruder mit fortriß. Das war hart. Ich fügte mich in das Schicksal. Aber Sisi hängt noch immer an dem erstorbenen Glauben.
So sind die Mädchen. Sie können die rauhe Wirklichkeit nicht leicht fassen. Und sie wollen sich nie von den goldigen Jugendträumen trennen....
Drunten durchs Tal rasselte der Zug. Ich griff erschrocken nach der Uhr.... Nein, es war noch Zeit, noch eine halbe Stunde....
Der Zug eilte vorüber. Ein fahler Lichtstreifen jagte dahin, verlor sich im Nebel....
Diesem Lichtstreifen gingen meine Gedanken nach, von Station zu Station, über die hohen Brücken, nach Luxemburg.
Dort mußte jetzt der Oheim abfahren.... Dort sollte ich in drei Wochen mein Liebchen sehen....
Vielleicht weiß der Oheim etwas Neues[S. 78] über die Freierei. Vielleicht hat der alte Berelsvater ihm etwas geschrieben....
Der Zug hatte über eine Viertelstunde Verspätung. „Wè’nt dé ville Leiten, dé elo résen,“ meinte der Oheim. Er war der Einzige, der mit mir ins Dorf ging. So war es ganz recht. Da konnten wir ungestört mit einander plaudern.
„A wé stömmt et dann?“ Er blickte mich fragend, neugierig an.
Ich erzählte meine Erlebnisse.
Der Oheim lauschte, stellte Fragen, lauschte.
„D’aß dach koriés,“ meinte er. Dabei schüttelte er den Kopf.
Eine Weile schritten wir still durch den Schnee. Er zog seine kurze Holzpfeife aus der Tasche, stopfte auf, blieb stehen, zündete an.
„Da wären sî jo all derfir, bis op den âlen Berels?“ Er blinzelte durch die Rauchwolke und schaute mich fragend an.
„Jô, all!“
„A wofir soll dén dergént sin?“ Er faßte mich am Arm.
„Mononk, ech hun keng Ahnong. Aß et fleicht aus Knéckigkét?“....
„Mengst de?.... Dan erziél mer emol gené, wé et op dengem leschte Besuch gângen aß.“
Ich erzählte.
„Soû, vun èrem Doûref hut der geschwât.... A vun denge Pîrchen.... A vun dengem Motor.... An denger Schroûtmillen....“
Der Oheim nickte gewichtig bei jedem Wort.
„A wât sot du den âle Berelspapp?“
„Pô! En âle Mann. Hé kennt ze wéneg derfun. An hién aß....“
Der Oheim ließ mich nicht aussprechen. Er faßte mich am Arm.
„Kuck, Jämp, hoûl mer et net iwel. Ech mengen, du häß dech fleicht ze vill gebrätzt.“
Ich machte ein saures Gesicht. „Mä Mononk, ech....“
„Los mech emol ausschwetzen. Dir jong Leit wöllt den ânere Leit èr Sâch ze vill opdrängen.“
Wieder blieben wir einen Augenblick stehen.
„Kuck, Jämp, ech kennen dech jo wé kên zwêten. Du baß e ganz dichtege, fleißege Jong. All Respekt derfir. Awer du baß nach e böschen jonk.“
„Wé meng der dât, Mononk?“
Er räusperte sich und schob die ausgebrannte Pfeife in die Tasche.
„Mä, du baß dach net bei den âle Berelspapp gângen, fir dèn ze beléeren.“
„Nên, Mononk.“
Er legte mir die Hand auf die Schulter.
„Du kenns jo dât âlt Sprechwoûrt: Um Klank erkennt ên d’Klack.“
Ich nickte.
„D’Muß ên fir d’éscht lauschteren, dat ên de Klank erkennt. Awer dir jong Leit, dir lauschtert net genug. Dir zéht ömmer nömmen un èrer Klack. An dir git gleich un dé groûß Klack zéhen.“
Langsam schritten wir zwischen den hohen Pappeln durch die kalte Einsamkeit.
„Verstehst de, wât ech wöll so’n?“
„Jô, Mononk!“
„Jämp! Jidder Mönsch mengt, hié méch et am beschten. Ech wöll dem Berelspapp sei Bauerewiésen net loûwen. D’aß net zeitgeméß. Mä, de Berelspapp mengt, wât et wär. A wann nun e jonge Borscht kömt, an dé sèt him: „Päterchen, èr Sâch aß Brach“, mengst du, dé kréch d’Médchen?“
Ich wurde ärgerlich. „Mononk, esoû hun ech awer net gebroßelt.“
Der Oheim reckte sich vor mir in seiner ganzen Länge. „Dât gléwen ech. Mä du hoûs him net genug an sei Krom geschwât.“
„Dât ka sin.“
Wir waren bei den ersten Häusern angelangt. Da lenkte der Oheim das Gespräch ab.
Ich lauschte hinüber nach dem Mäsch-Hause, etwas verdrießlich, gedrückt.
Hatte ich mich geirrt? Mir war, als hätte ich ihre Stimme gehört.... Nein, es war nichts....
Wir kamen näher. Leise, feierlich klang es herüber:
„Eng schén Stömm,“ bemerkte der Oheim.
„Jô, Mononk.“
Das war nicht mehr das schwermütige Lied von der unglücklichen Liebe.... nicht mehr, wie gestern Abend.
Also hat Sisi sich doch gefügt.... also doch....
Als der Oheim die beiden Briefe gelesen hatte, war er beruhigt.
„Um Neimârt wèrde mer jo héeren, wé et stêt,“ meinte er. Natürlich käme er auch[S. 82] hin. Und wenn alles gut stände, würde er einige Tage später zu den Berelsleuten gehen. Dann würde er auch wohl das „Jawort“ erhalten.
So war das Weihnachtsfest doch noch ein Hoffnungsfest geworden.
Und so erwartete ich vom neuen Jahr, was das alte nicht eingelöst hatte.
Aus blauem Himmel lächelte die Sonne dem neuen Jahre. Das hatte seinen schönsten Winterschmuck angelegt. Im Rauhreif glitzerten die Bäume.
So kam das neue Jahr zu uns ins Merschertal, festlich, feierlich.
Auch in meiner Seele war es festlich, hoffnungsfreudig.
Was Berta wohl schreiben wird?... .....................
Der Briefträger kam sehr spät; erst nach Mittag.
„Prosit neit Jährchen, Här Welsch!“ Er reichte mir die Postsachen.
Ich musterte schnell die Adressen, suchte. Wirklich, da war ihr Brief. Ich riß hastig den Umschlag auf und las....
Herrje, wie Berta das so schön sagen konnte von den herzlichen Neujahrsgrüßen, der treuen Liebe und dem Wiedersehen in Luxemburg.
Ich sprang ins Haus.
„Hei aß de Bréf!“
Die Mutter las. Der Vater setzte die Brille auf. „A wât aß nach kommt?“
Ach ja, die andern Briefe. Ich schaute. Die interessierten mich wenig. Einige Neujahrskarten von Kameraden, einige Prospekte....
„A wât aß dât elei dann?“ Aus einem großen Umschlage zog mein Vater eine bunte, farbige Karte. Er drückte ein wenig daran und blätterte. Die Karte öffnete sich und wurde zu einem schönen, mit rotem und grünem Seidenpapier gefüllten Blumenstrauß.
„D’aß nach ewell eng deier Neijorschkart,“ meinte er. „A vu wêm aß dé?“
Ich schaute. Vom Sisi war sie, vom Mäsch Sisi.... „Bonne et heureuse année, Sisi.“ so stand unter der bunten Karte.
Mein Vater schüttelte den Kopf und lachte.
„An hei, kuck hei, elo könt dei Wandmôtor jo och!“
Ich las. In den nächsten Tagen würde die Sendung eintreffen, meldete die Firma.
„Mä, d’schreift schén,“ bemerkte die Mutter, die noch immer ganz vertieft in Bertas Brief war und nun erst aufschaute.
Sie reichte meinem Vater den Brief. „Hei, liés! D’mengt ên, d’Sâch mîßt gutt stôn!“
Dann sah sie nach den übrigen Briefschaften. „Aß dât dem Sisi seng Kârt?“ Sie musterte die bunte Karte. Ein Lächeln spielte um ihren Mund....
So blickte ich voller Hoffnung in das neue Jahr. Es lag nicht mehr verschlossen vor mir. Nein, ich sah hell und klar in die Zukunft. Die hatte ihr Tor geöffnet, ein ganz klein wenig, an dem Tage, wo ich Bertas Brief erhielt. Heute war dieser Spalt größer geworden. Durch die Oeffnung schaute ich hinüber in die kommenden Monate. Die schienen mir voll Sonne und Seligkeit.
Diese Zuversicht erwärmte meine Seele und färbte nachts meine Träume mit dem Glanze des jungen Frühlings.
So ging die Zeit, in der ich arbeitete und wirkte und wartete auf mein Glück.
So gingen die Nächte, in denen ich träumte und mich sehnte nach meinem Glück.
Und so kam der Tag des Luxemburger Neumarktes.
Vor dem Bahnhof trafen wir uns.
Berta trug den grauen Mantel und das kleidsame Pelzkäppchen, wie damals bei meinem Besuche.
Wie eine Prinzessin war sie in dieser einfachen, schönen Kleidung.
Schon von weitem erkannte ich sie in dem Strom der fremden Menschen.
Berta sprach schweren Herzens von den Briefen, von dem aufgeschobenen Besuche und dem Grolle ihres Vaters.
Der Vater ist also wirklich gegen uns.
Er ist gegen mich, weil ich ihm für seine Berta nicht ganz passe. Weil ich zu neuzeitlich, zu modern bin. Und weil unser Betrieb zu fein eingerichet ist.
„Esoû aß mei Papp,“ sagte Berta besorgt. Eine Träne leuchtete in ihren schönen schwarzen Augen.
„Da kann ère Papp mech net recht leiden?“
Berta antwortete nicht auf meine Frage, sondern blickte mich flehentlich an.
„Wa mir mat enên bestoûd wären, da wöllt mei Schwor och alles esoû fein angerìcht hun, mengt mei Papp. An dât kascht ze vill Geld.“ Sie atmete tief, schwer. Und sie drückte sich an mich, als würde sie fürchten, mich zu verlieren.
„Esoû, aß dât d’Ursach?“
Wir schritten still durch die belebte Straße hinüber in den ruhigen, fast menschenleeren Park.
„Aß dât d’Ursâch eleng?“ Ich blickte sie fragend an. „Aß neischt gént mech geschriwen gin?“
Sie nickte ab. „Nên, neischt.“
Eine Weile herrschte Stille.
„A wât séd èr Mamm dann?“
Da schaute sie mich glücklich an. Ihre tiefschwarzen Augen leuchteten.
„Menger Mamm gefâlt dir ganz gut....“
Berta ging ganz nahe neben mir. Unsere Hände faßten sich.
„An ech hun éch ganz gér esoû. An ech wöll kên aneren, kên aneren.... Do kann mei Papp so’en, wât e wöllt....“
Das sagte sie ganz langsam. Jedem Wort[S. 87] gab sie eine bedächtige Betonung. Wie ein Schwur klang ihr Bekenntnis.
Ich zog das liebe gute Mädchen in meine Arme.
„Berta, ech loßen dech och nie, nie!“...
Sie lehnte zärtlich den Kopf an meine Schulter. Ihre leuchtenden Augen schauten sehnsüchtig in die meinen.
„Ech dech och nie,“ lispelte sie leise.
Ich hielt sie fest umschlungen. „Berta, vun haut un so’e mir ömmer „Du“ zu enâner. Wölls du?“....
„Ganz gêr, Jämp.“ Sie drückte meinen Arm fest an ihre Seite.
Ein Sonnenstrahl huschte durch die kahlen Bäume und streute Gold in den winterlichen Park.
Wir vergaßen für einen Augenblick unsere Sorgen und schritten glücklich über den stillen Weg.
Drüben auf der Straße spielte der Orgelmann die alte Weise von der jungen Liebe:
„Aß et esoû, Berta?“
„Jô, Jämp!“
Ihre Augen strahlten. Ihre Wangen glühten. Und ich zog sie an mich und küßte sie heiß, leidenschaftlich....
Langsam schritten wir am Amaliendenkmal vorbei, hinüber in die Neutorstraße.
Bauernjungen kamen vom Jahrmarkt, kräftige, kerngesunde Gestalten. Sie stießen sich in die Hüfte und sahen sehnsüchtig nach meinem schönen Mädchen.
Studenten gingen vorüber. Dünne, schmächtige Kerls.
„Hei, kuck sie zwé!“ So hörte ich den einen zu seinem Kameraden sagen. „D’aß e flott Médchen!“
Die Studenten blieben stehen, drehten sich um, blickten uns nach und zogen den Mund spitz zusammen.
„Jô, esoû hu mîr der wéneg an der Stâd.“ Das sagte einer laut, daß Berta es hören mußte. Ein tiefes Rot huschte über ihre Wangen.
Eine freche Bande, diese Studenten. Aber Recht hatten sie.... Wie die Berta, gibt es nicht viele in der Stadt.
Berta wollte schon mit dem Mittagszuge nach Hause fahren. So würde der Vater nichts von der Zusammenkunft merken.
Das gefiel mir nicht. Nein, sie durfte so früh nicht fort dieses erste Mal. Das konnte nicht sein an diesem schönen heiligen Tage.
Sie blickte mich groß, angstvoll in die Augen. „Da get mei Papp granzég,“ meinte sie schüchtern.
„Da loß dé granzen. Hé wöllt jo dach net onst Gleck. Dât musse mir ons selver sichen.“
Endlich willigte sie ein.
Wir gingen hinunter in die Stadt, durch die Großstraße, über den Wilhelmsplatz, zum „Goldenen Anker.“
Das Haus war voll lärmender Menschen. Wir setzten uns gleich an den Tisch. Wir aßen, ohne viel zu plaudern. Bisweilen suchten sich unsere Blicke.
„Hei bleiwe mer net lâng,“ meinte Berta, „d’sen ze vill Leit hei. D’Könnt e Könnigen eis gesinn, an dohém mengem Papp eppes so’en. An da wär d’Feier am Stréi.“
Ich nickte.
„Jô, Berta, Du huôs Recht. Mä, mir mussen nach e bösche wârden, mei Mononk sollt mech nach hei fannen.“
„Dei Mononk?“
„Jô, Berta!“
Da sah sie mich voll Vertrauen an.
„Da bleiwe mer.“ Sie war gleich einverstanden.
Der Oheim kam bald, ließ sich einen Kirsch geben und bestellte eine Flasche Bordeaux. Es wurde recht gemütlich in unserer kleinen Gesellschaft. Der Oheim hatte das richtige Zeug zum Hellechsman. Und er hatte auch bald gemerkt, wie der Wind wehte.
„Joffer Berta, ech kommen nach an deser Woch bei ère Papp, da kucken ech, dat d’Sâch an d’Rei gêt.“
Sie lächelte. „Jô kommt. Vun éch hölt hién éschter eppes un.“
Als wir hinausgingen, verabschiedete er sich „Dajè, eddé Kanner.“ Er drückte Berta und mir die Hand, nickte mit dem Kopfe und blinzelte mit dem rechten Auge, wie er immer tat, wenn er guter Laune war. „Eddé, ech loßen éch jong Leit nach e beschen elèng. Dir hutt[S. 91] jo och neischt dergént.“ Er schmunzelte. „An ech hun wirklech och nach eppes Geschäften.“
Wir gingen über den Wilhelmsplatz, sahen uns die vielen schönen Geschäfte an, fanden manches, das wir uns später für unsern Haushalt anschaffen würden und plauderten von der Zukunft.
Berta hatte noch einige Einkäufe zu besorgen. Die erledigten wir zusammen. Und ich kaufte ihr noch ein Dutzend Blutorangen für die Mutter und ein Päckchen Gebäck für ihre Schwester und die kleine Nichte. Für Berta suchte ich eine schöne Bonbonnière aus mit einem Vergißmeinnicht auf dem Deckel. Darunter stand in großen goldenen Buchstaben: „Elle te dira que je ne t’oublie pas!“
Berta lächelte und dankte mit einem treuen, lieben Blick.
So vergingen die paar kurzen Stunden. Als der Zug hinauseilte ins Syrtal, hatte sich der Entschluß in zwei Herzen festgesetzt: wir werden uns finden, wir müssen uns finden.
Sanft entschlief der Tag. Und mit silbernem Monde und goldenen Sternen kam die Nacht.
Nie in meinem Leben werde ich diesen schönen Tag vergessen....
„Da wärd de Mononk d’Sâch an d’Rei kréen.“ Die Augen meiner Mutter glänzten. Zufriedenheit lag auf ihrem welken Gesichte.
Ich erzählte weiter. Meine Worte brachten Freude in unser Haus. Und auch meine Mutter gewann ihre Zuversicht wieder.
„Los mer eis awer net zevill an de Kapp setzen,“ meinte mein Vater. „Ech trauen dem Aalen nömmen hallef.“
Ich war nicht so kleingläubig.
Nein, der Berelsvater muß einwilligen, muß, muß.... Wie sollte der gegen sein ganzes Haus ankämpfen.... Gegen seine Frau und seine Kinder.... Nein, er muß einwilligen. Das wird ihm der Oheim schon beibringen....
Ich blieb voller Hoffnung; und ungeduldig wartete ich auf die Nachricht vom Oheim.
„Hén wärd woûl den nächste Sondég mat der Norîcht kommen,“ meinte die Mutter.
Dann kam etwas ganz Unerwartetes.
Vom Berelsvater erhielt ich Donnerstags folgenden Brief:
Herr Welsch!
Ich tue Ihnen zu wissen, daß Sie sich nicht mehr um meine Tochter Berta zu bemühen brauchen, und wenn ich vorher etwas von der Zusammenkunft in Luxemburg gewußt hätte, so wäre meine Tochter nicht hingekommen. Das können Sie mir glauben, und Sie können sich anderswo eine moderne Frau suchen, da mit meinem Willen niemals etwas aus der Sache wird. Ich hoffe nun hiermit mit Ihnen abgerechnet zu haben.
Jean Baptist Berels.
Eiskalt kroch es mir über den Rücken. Eine Weile starrte ich auf den Unglücksbrief.
„Jesses, Jesses! Wât aß dîr?“
Die Mutter stand auf der Haustür und blickte mich besorgt an.
„Wât aß dîr?“
Ich suchte mich zu beherrschen.
„Neîscht, Mamm! Neîscht!“ Ich atmete schwer.
„Neischt! Kommt.“ Wir gingen hinein ins Haus.
Langsam entfaltete ich den Brief und las mit zitternder Stimme.
Die Mutter sank auf einen Stuhl und stützte den Kopf schwer in die Hand.
„D’aß gefélt, Piér! D’aß neischt mé ze wöllen,“ sagte sie traurig, niedergeschlagen.
Es folgte eine lange Pause.
Die alte Wanduhr tickte trostlos, gleichgültig. Und müde fuhr der Nordwind durch die kahlen Bäume des Hausgartens.
Der Vater blickte starr vor sich hin, ging schweren Schrittes durch die Stube, trat ans Fenster, trommelte an den Scheiben.
„Den âle Berelspapp schengt mir e groûßt Rendvéh ze sin... E richtegt âlt Pèrd...“ Aerger und Verachtung klangen aus seinen Worten.
„D’wèrd woûl ên eppes gént eis geschriewen hun,“ meinte die Mutter und sah mich unglücklich an.
Ich verspürte eine große Leere im Herzen. Und ich sah alles zusammenfallen, was ich in den letzten Wochen mit so viel Liebe aufgebaut hatte.
Das Mittagessen schmeckte schlecht. Aufgeregt löffelte ich die Suppe hinunter. Unachtsam und müde zerschnitt ich das Fleisch.
Mein Vater sank wieder in den Lehnstuhl hinter dem Ofen, stützte die Stirne in die flache Hand, sog an der Pfeife und sprach kein Wort.
Eine tote Ruhe lag über unserm Hause und machte mich elend und verlassen.
Den ganzen Nachmittag arbeitete ich in der Scheune mit den Knechten. Wir reinigten Getreide. Und ich ging erst zurück ins Haus, als die Mutter zum Essen rief.
Traurige Wintertage. Dicker Nebel liegt über dem Merschertal. Schmutziges Schneewasser sickert durch die Straße, dringt in das Leder der Schuhe und trägt den Husten in die Häuser.
Solche Tage sind drückend, abspannend, zehrend.
Ich fühlte mich vereinsamt, verlassen, verstoßen.
Erst jetzt spürte ich, wie sehr ich an Berta hing, wie sehr ich sie liebte.
Seit diesem Luxemburger Markttag war ihr Bild nicht mehr aus meinem Herzen gewichen.
Ich konnte es kaum fassen, daß ich sie nun verloren hätte.... Für immer verloren....
Alle Hoffnung hatte dieser Brief vernichtet, grausam vernichtet.
Langsam krochen die Tage dahin. Draußen im Hofe, in den Ställen oder in der Scheune war es noch erträglich. Aber im leeren Hause packte mich immer das Grauen.
Ich fühlte den Kummer der Mutter. Ich merkte den verbissenen Groll des Vaters.
Den ganzen Tag kamen dieselben traurigen Gedanken. Und abends fühlte ich mich noch verlassener.
Dann suchte ich mir Arbeit, eine geräuschvolle Beschäftigung, womit ich die beklemmende Einsamkeit verscheuchen konnte.
Ich brachte einzelne Teile des Windmotors in die Stube, studierte deren Arbeitsweise, nahm die Stücke auseinander, setzte sie wieder zusammen, hämmerte, schraubte, ölte. Und ich ließ die Reguliervorrichtung der Windscheibe funktionieren.
Am Samstag Abend hielt ich es im Hause[S. 97] nicht mehr aus. Da ging ich hinunter ins Wirtshaus. Dort saßen die Amerikaner und sangen traurige Abschiedslieder.
Mir war die Heimat zum Ekel geworden. Sie erdrückte mich. Und ich beneidete meine Kameraden, die bald in fernem Lande eine neue Heimat finden sollten.
Ich blieb lange bei den Amerikanern.
Spät kam ich nach Hause.
Es folgte eine schlaflose Nacht. In wildem Traum sah ich unsere Familie altern, aussterben — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — Müde, gebrochen stand ich auf. Dumpf hämmerte der Kopf. Und müde kam ich zum Morgentisch.
Die Mutter sah mich besorgt an.
„Haut wèrd woûl dei Mononk kommen, da gin mer eppes mé gewoûr,“ sagte sie tröstlich. Sie brachte mir eine Tasse Fleischbrühe mit einem Ei. „Do, drénk dât, da get et der besser.“
Ein trauriger Sonntagmorgen.
Dumpf läuteten die Glocken. Wie Totenglocken. In gedrückter Stimmung ging ich zur Kirche. Die Gesänge klagten wie[S. 98] im Leichendienste. Ich setzte mich in einen der letzten Stühle und stützte den Kopf schwer in die Hand. Und immer wieder kamen trübe Gedanken, die mich noch unglücklicher machten.
Was ist das Leben? Nichts. Nichts als Kummer und Trauer und Verfallen.
Was habe ich davon, daß ich fleißig war? Was haben meine Eltern davon, daß sie sich abgerackert haben? Was nützt es mir nun, daß ich ein strebsamer, neuzeitlicher Bauer geworden bin? Nichts. Gar nichts. Weil ich bei tüchtigen Landwirten gelernt habe, weil ich unsern Betrieb modern eingerichtet habe, weil ich nicht bin, wie andere rückständige Landwirte, darum, gerade darum soll ich das Mädchen nicht bekommen. Gerade darum. Das ärgerte mich.
Ich wurde unzufrieden mit meinem Leben, unzufrieden mit den Menschen, unzufrieden mit meinem Berufe — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Als ich das Haus erreicht hatte, war der Oheim schon angekommen. Er brachte keinen Trost. Alles was er sagte, machte mich noch elender. Langsam, mit gedämpfter Stimme[S. 99] erzählte er. Als ob wir einen Schwerkranken im Hause hätten, so war das Gespräch.
Noch nie habe ich mich so unglücklich gefühlt wie bei diesem Berichte des Oheims.
Unruhig ging mein Vater auf und ab. Ungeduldig rückte er an den Stühlen.
„Aß dén âle Kérel wirklech esoû e Rendvéh?“ rief er aufgeregt, mit heftiger Stimme.
Der Oheim nickte.
„Jämp, dann aß dén neischt fir an eis Familgen. Dann aß et och gutt, dat d’Sâch an d’Brech gêt.“
Er richtete sich in seiner ganzen Länge auf. „Wann den âle Berels esoû en Ochs aß, da soll hé sei Médchen behâlen.“
Dabei fuchtelte er mit der Hand, als mache er über dem Berelshause einen Totensarg zu.
Langsam erstarb der Tag.
Immer wieder kam das Gespräch auf die verfehlte Heiratsgeschichte und auf meine Zukunft.
„Et wär dach gutt, wann sech bâl eppes Passendes fir eise Jämp fanne gév,“ meinte die Mutter beim Abschiede des Oheims.
Ein klarer Morgen war auf eine stürmische Nacht gefolgt. Die Sonne stand am blauen Himmel über dem Grünewalde. Kleine Wolken trieben nach Westen dem großen Meere zu.
Nachlässig schritt ich durch den Hof, gleichgültig besorgte ich die Pferdefütterung.
Verschwommen klangen die Töne herauf aus dem Dorfe. Drunten sangen die Amerikaner. Sie machten heute den großen Abschiedsgang von Haus zu Haus.
Ich stieß die obere Türe des Pferdestalles auf und blickte hinunter zum Kirchplatz. Dort kamen sie. Viele Leute standen vor den Häusern, drückten ihnen die Hand und trugen schwer an der Trennung. Ein solcher Auswandertag ist ein großer Sterbetag für das ganze Dorf.
Leiernd klagte die Harmonika die alte Weise.
Am liebsten würde ich mit ihnen ziehen in die weite Ferne, über das große Meer.
Schmitts Mischi, Theis Jäng an Kirchens Piér, die haben es jetzt gut. Die können die alte Heimat abschütteln und sich eine neue gründen auf neuer Erde.
So ist es auch. Da würde ich auch bald mein Glück finden. Und ich könnte all den Kummer abschütteln, vergessen.
Was ist die Heimat? Heimat ist doch nicht Hof, nicht Feld. Nein, Heimat ist Glück, Heimat ist Frieden.
In meinem Dorfe habe ich meine Heimat verloren. Ein Fremder bin ich auf heimatlicher Scholle....
Kräftiger klang das Lied herauf.
Ich summte leise mit, schloß die Türe des Stalles und ging hinüber durch den Hof auf die Straße....
Lauter wurde das Singen, das Lachen. Es war eine traurige Freude. Wie Blumen auf den Allerseelengräbern....
„Bonjour, jongen Här!“
Hinter mir stand ein großer, älterer Mann in Ledergamaschen, mit einem Händlerstock.
„Bonjour!“ Er nickte freundlich.
„Ech hun héeren, der hät esoû e schéne Foûl!“
„Jô, mä dén aß net fêl.“
„Dât aß schoûd. Kann ech en awer vleicht gesinn?“
„Jô, kommt.“
Ich schritt voran. Der Fremde musterte das schöne Tier, ging hinüber zu den Arbeitspferden, lobte die praktische Anordnung der Fohlenställe, der Deckenanlage, der Ventilation....
Ich vergaß meine griesgrämige Laune und führte den Händler in den Kuhstall und in die Jungviehställe.
Mein Vater hatte uns vom Stubenfenster aus beobachtet; er kam herüber und schloß sich uns an.
Lauter klangen die Töne im Hofe.
Wir traten an die Stalltüre. Drüben kamen die Kameraden. Sie sangen, johlten wirr durcheinander, drückten meinem Vater die[S. 103] Hand, sprachen von Glück und Gesundheit und Wiedersehen.
Und die Harmonika leierte das alte Wanderlied.
Ich nahm Abschied vom Fremden und schloß mich den Amerikanern an.
Seit gestern waren die Amerikaner fort. Eine Messe hatte der Pfarrer noch für sie gelesen. Viele Leute hatten diesem Gottesdienst beigewohnt.
Und doch stand den Kameraden eine schlechte Fahrt bevor. Das Barometer zeigte Sturm. Von Luxemburg her brauste ein wilder Wind durchs Merschertal, schüttelte an den kahlen Bäumen und riß die Schiefer von den Dächern.
So haben auch die Kameraden noch Kämpfe zu bestehen, ehe sie die neue Heimat finden....
Auch ich muß noch kämpfen. Auch ich muß noch leiden. Aber ich will siegen.
Schwermütige Einsamkeit in dem Dorfe. Das feuchte, nasse Wetter hatte die Influenza in viele Häuser getragen. Die Kinder hockten beim Ofen und husteten. Die alten Leute wärmten sich den fröstelnden Rücken und die schlotterigen Kniee und suchten die böse Krankheit mit Kamillentee und der Quetschendröpp zu heilen....
Auch ich war krank.
Kamillentee und Zimmerwärme brachten mir keine Heilung.
Die stille Winterruhe drückte schwer auf meine leidende Seele.
Könnte ich nur einmal mit Berta sprechen! Könnte ich nur wissen, wie es dem guten Mädchen geht! Ob sie auch so viel leidet?
Könnte ich nur das wissen, nur das! Es wäre mir schon Trost.
Ich suchte Arbeit, anstrengende Arbeit. Wenn nichts mehr in der Scheune oder den Ställen zu tun war, ging ich mit den Knechten in den Wald. Dort fällten wir Bäume, schichteten Korden.
So war es mir recht. Nur keine Mußestunden. Durch Arbeit den Schmerz betäuben, das war das beste — — — — — — —
Langsam starb eine Woche dahin.
Noch einige Tage, dann kam der Februarmarkt in Luxemburg. Vielleicht könnte ich Berta dort wiedersehen....
Ich fuhr hin.
Unruhig ging ich vor dem Bahnhof auf und ab. Aus der großen Halle kamen immer wieder Leute.
Aber Berta war nicht zu finden. Traurig schritt ich über die neue Brücke zur Stadt. Und meine Gedanken verloren sich in weiter Ferne, wanderten, flogen über das große Meer zu den Kameraden. Die waren nun seit einigen Tagen in dem reichen Lande.... Wo schon so viele das Glück gefunden....
„Bonjour, Här Welsch!“
Ein Fremder reichte mir die Hand. Es war ein bekanntes Gesicht. Im ersten Augenblick wußte ich nicht recht, wo ich es schon gesehen hatte.
„A, dir set den Här, dén eis firun drei Wochen de Foûl wollt ofkafen.“
„Maija. Scheckt hién sech gut?“
„Ausgezéchend.“
Neben dem Manne ging ein großes, blondes Mädchen. Ich schaute hinüber und[S. 106] grüßte. Zwei tiefblaue Augen erwiderten meinen Blick. Das tat mir wohl. Es lag etwas Ruhiges, Stilles darin.
Traurige Menschen brauchen Sonnenschein. Ihr Blick war Sonne und Wärme.
„D’aß méng Duôchter,“ bemerkte der Fremde.
„An dât aß den Här, dên dé schéin Ställ an dé schéin Véhwêden huôt.“
Ich drückte ihr die Hand. „Esoû schéin aß et net bei eis, mä d’aß praktesch,“ fügte ich hinzu, um seine Worte etwas abzuschwächen.
„Wât praktesch aß, aß och ömmer schéin,“ sagte das Mädchen mit freundlicher, heller Stimme.
„Mèngt der, Joffer!“ Ich lächelte und wollte mich verabschieden.
Ob ich noch einen Augenblick Zeit hätte, bat der Fremde. Er möchte mich noch einiges fragen.
„Wann ech éch en Déngst lêschte kann, dann huôlen ech mer Zeit.“
„Dât aß schién vun éch.“
Er erkundigte sich über die Anlage unserer Viehweide, über die Grasmischung, die Wasserversorgung, die Kosten....
Das blonde Mädchen interessierte sich sehr für alles, was ich sagte.
„Ketty, dât häst du misse gesinn,“ unterbrach er meine Erklärungen.
Also Ketty hieß sie. Und sie war etwas hellblonder als Mäsch Sisi.
Wir sprachen weiter über die Viehweiden.
Ich zeichnete die Einteilung der Weideflächen und die Anlage der Wasserzufuhr mit dem Stocke in den Schnee. Ganz gespannt folgte die Joffer Ketty meinen Worten.
„A wât der Deiwel mâcht der do?“ Hinter uns stand der Oheim.
Er trat heran. „Da sed dir och op de Mârt kommt, Här Hallesch?.... An hei aß secher èr Joffer?“
Herr Hallesch nickte: „Meija“.
„Ei, wé groûß an dichteg! Wann der esoû daks an Stâd kémt, Joffer, wé ère Papp, dann hätt ech éch well mé lâng kannt.“
Ein bescheidenes Lächeln huschte über ihr rosiges Gesicht.
„Ère Papp an ech, mir kennen eis schon lâng. Mir gesinn eis daks op der Bourse. Mir hun schon oft e klenge Fruchthandel mat enên gemâcht.... Den Här Hallesch,“ dabei wandte er sich an mich, „dén hoût éng gutt Millen un der Syr. An och nach en dichtegt Bauerewésen derbei. Jämp,“ er klopfte mir auf die Schulter, „bei dém kannst du nach eppes léeren.“
Der Halleschmüller winkte ab..... „Mä..... dé jongen Här....“
„D’aß mei Növi,“ fiel der Oheim ins Gespräch.
„.... Mä ére Növi hoût séng Sâch séer fein âgerîcht. Ech sin elo bei him an der Schoûl.“
„Nên, Här Hallesch. Ech biéden éch!“....
Wieder blickte das Mädchen mich treuherzig an.
Der Oheim begann zu trippeln. „Hei gin et kâl Féß. Loß e mer bis bei de Brosius go’en.“
Herr Hallesch ging mit meinem Oheim voraus.
Ketty war etwas befangen. Sie hustete verlegen, begann gleich ein ernstes Gespräch, und erkundigte sich nach unserer Jungviehweide. Mit welchem Alter wir die Tiere hinausließen? Was wir neben der Weide fütterten? Das alles fragte sie mit dem Interesse der sorgsamen Hausmutter.
Die beiden Alten blieben bisweilen einen Augenblick stehen, streckten die Köpfe zusammen und schienen wichtige Sachen zu besprechen.
Im Hôtel Brosius bestellte der Oheim drei Mißerchen Wein und für die Joffer Ketty ein Gläschen Porto.
Die Stimmung war gemütlich. Der Halleschmüller fragte noch nach der Windmotoreinrichtung, fand die Anlage sehr zweckmäßig und lobte mein neuzeitliches Bestreben.
Als wir uns trennten, schüttelte er mir treuherzig die Hand. „Dajé, eddé, mir gesinn eis vleicht nach derno!“
„Eddé, Här Welsch!“ Mehr sagte die Joffer Ketty nicht. In ihren blauen Augen stand Güte und Milde.
Wir gingen die Philippstraße hinauf.
„A wé aß et dann mat der Freierei?“ leitete der Oheim unvermittelt das Gespräch ein.
Er blickte mich prüfend an.
„Wé soll et da sin? Ech hun d’Berta net gesinn. D’aß net hei.“
„Soû!“
Der Oheim beobachtete mich eine Weile von der Seite.
„Muß et da grad d’Berta sin? D’get jo nach vill Médercher.“
Ich schüttelte den Kopf. „Wé d’Berta? Nên!.... Dé se râr.“
„Dât méngst dû. Ech wês en ânert gutt Médchen fir dech.“
Der Oheim hatte die Pfeife ausgeraucht und schob sie vorsichtig in die Tasche.
„A propos! Éh ech dir vun dém schwätzen, wât méngst dû vun dem âle Halleschmöller?“
Er zeigte mit dem Arm hinüber nach der Maria-Theresienstraße, wo die Beiden sich von uns getrennt hatten.
„Po! En dichtege Bauer.... En helle Kapp....“
Er blickte mich lächelnd an.
„An d’Médchen?“....
„Net iwel. D’schéngt dem Alen nogeschl’n ze sin.“
Der Oheim schmunzelte. „Gêlt, dât gefällt dir!“ Er winkte gewichtig mit dem Kopfe.
„Wofir soll et mir net gefâlen? Wât héscht gefâlen? D’aß en dichtegt Médchen; dât aß alles.“
Er schaute mich groß, fragend an. „Dât wär alles, méngst dû?“ Er sprach die einzelnen Worte in lang gezogenem Tone. „Nên, dât aß nach lang net alles. An ech hoffen, dat dé Joffer ê guden Dâch d’Madam Welsch get.“ Er bog dabei den Kopf weit zurück.
„Madam Welsch!“
„Jô, jô, d’gêht an d’Rei.“
„Mononk!....“
„Jô, Jämpi. Den Hallesch hoût mat mir iwer dech geschwât.“
„Iwer mech geschwât?“
„Jô. An doûfir wor hièn och firun zwoû Wochen bei dech kucken komm.“
Ich starrte ihn sprachlos an.
Also darum! Also darum war der alte Halleschmüller als Pferdehändler zu mir gekommen.... Darum hatte er alles so lang gemustert.... Darum hatte er sich mit meinem Vater so vertraulich ins Gespräch eingelassen.... Also darum....
Das war eine Ueberrumplung, dieser Heiratsantrag. Ich fühlte mich beklommen, wie nach einem bösen Traume.
„Dajé, wât sèst du derzoû?“
„Net vill, Mononk.... Ech méngen...“
„Wât méngs du?“
„Ech méngen, den âlen Hallesch hät mech am Berelshaus ugeschwärzt.... oder hién hät dé dreckeg Arbecht durch en ânere mâche lôssen.“
„Jämp, sef net esoû éfälleg. D’aß ê ganz dichtegt Médchen. An d’aß och éng gutt Partie. Nach vill besser wé a Berels, loß der dât gesot sin. An d’aß och éng gesond Familgen.“
Langsam schritten wir die Philippstraße hinauf. Ein schwerer Bierwagen kam rasselnd in vollem Galopp herunter.
„Zwê guder Pèrd,“ bemerkte der Oheim.
Ich nickte und schaute zerstreut dem rollenden Wagen nach.
„A nach eppes. D’aß en Haus, dât dir gefällt. E neimoûdeschen, dichtege Betrieb. A wé de Papp, esoû sin d’Kanner. An d’sin der nömmen drei, zwê Médercher an e Jong. De Jong aß âbestuôd. An d’Ketty aß dât zwêt. D’huôt 23 Johr. An d’kret och vill mat....“
Ich war verstimmt. Und ich blieb dabei, daß dieser Mann mich bei den Berelsleuten hereingelegt hatte.
Einer hatte mich dort aus dem Sattel geworfen. Das war klar. Sonst hätte der Berelsvater nicht so plötzlich abgebrochen. Wer konnte es gewesen sein? Jedenfalls einer, der Nutzen daran hatte. Das konnte nur der Hallesch sein. Darum wollte ich nichts von dieser Heiratsgeschichte wissen....
Der Oheim suchte mich zu beruhigen.
„Dajé, bis de Mötteg beim „Wintersdorf“, daß ewell élef Auer. Ech hun nach eppes Geschäften.“
Er reichte mir die Hand. „Bis éng Auer, da schwetze mer weider.“
„Eddi!“
Langsam ging ich die Neutorstraße hinauf.
Handelsleute kamen in eiligem, geschäftigem Schritte vorbei. Ich achtete nicht auf sie.
Wie doch die Zeiten ändern! Vor einem Monate erst war ich hier mit Berta gegangen.[S. 113] Nichts in der Welt würde uns trennen. So hatten wir uns damals versprochen. Und schon heute kommt eine andere und will Berta verdrängen, will sie ausschalten, will sich an ihre Stelle setzen. Ich stieß den Stock fest, unwillig auf das Pflaster. Nein, das darf nicht sein. Ich kann Berta nicht lassen, kann nicht. Und wenn ich auch ein ganzes Jahr warten müßte.
Endlich jemand, mit dem ich mich aussprechen konnte.
Auf dem Glacis traf ich den Eidam. Auch er freute sich über das Wiedersehen.
„Kommt, loße mer go’n, woû mir e Wûrt elèng schwätze können.“ Wir drängten uns an den vielen Leuten, Karren und Teimern vorbei und gingen hinüber in den Park.
„Wé aß et? Wât mecht d’Berta?“
Er blickte mich traurig an. „Wât soll et machen? D’kreischt sech hallef blann.“
Ich hustete kurz, erregt.
Langsam gingen wir über den einsamen, stillen Weg. Alles, was der Eidam sagte, drückte schwer auf meine leidende Seele.
„Dann aß d’Berta esoû onglécklech!“ Ich atmete beklommen.
Er nickte. „A seng Mamm leid och vill.“
Drüben auf der Neutorstraße spielte wieder die Drehorgel wie damals:
Verwirrt schaute ich an Holmers Schulter vorbei hinüber nach der Straße. Und meine Gedanken flogen mit den Tönen fort, weit fort....
„Zönter dèr Zeit aß eist Haus wé op d’Kopp gekéert,“ unterbrach Holmer meine Träumerei.
Ich fuhr mit der Hand übers Gesicht, als wollte ich traurige Gedanken wegwischen, und blickte ihn zerstreut an.
„Soll dann neischt mé ze mâchen sinn?“
Holmer schüttelte den Kopf. In seinen Augen las ich Trauer und Teilnahme an meinem Kummer.
„Schwéerlech!“
Langsam gingen wir zwischen den kahlen Bäumen weiter.
Holmer fuchtelte nachlässig mit dem Stocke[S. 115] durch den Schnee. „D’wor alles esoû fein. Dir hât dem Berta gleich esoû gutt gefall. An der Mamm och.... Awer....“
Er vollendete den Satz nicht. Und er fuchtelte zerstreut mit dem Stock weiter, als wollte er den halbausgesprochenen Gedanken abhauen.
„Jo, awer?“ fragte ich erregt.
„.... awer d’aß neischt ze mâchen. Mei Schwéerpapp aß ganz dergént. Dém aß neischt auszechwätzen.“
Fröstelnd lief es mir über den Rücken. Ich fühlte mich bedrückt, beklommen. Und eine plötzliche Erregung, die vom Herzen, von der Brust ausging, trieb mir den Schweiß auf die Stirne.
„Neischt?“ Eine unendliche Trauer lag in meiner Frage.
Holmer schüttelte wieder den Kopf. „Nê, Frönd, neischt!“ Und er erzählte mir, wie sich der Schwiegervater in der letzten Zeit geändert hatte. Sonst hätte er nie ein Glas zu viel getrunken. Aber seit dem letzten Markttage wäre er schon öfters betrunken und schlechter Laune nach Hause gekommen. Dann hätte er in einem fort wegen dieser Freierei geschimpft. Und über alle wäre er hergefallen, und Berta hätte es kaum im Hause[S. 116] aushalten können. Meistens wäre sie fortgeschlichen und hätte sich dann heimlich ausgeweint.
„Dât âremt Kand!“ Mir war das Herz wie zugeschnürt.
Eine Weile gingen wir schweigsam neben einander.
„Soll vleicht ê mech ugeschwärtzt hun?“
Holmer runzelte die Stirne: „D’aß méglech!“
Eine lange Pause folgte. Ich strich mit der Hand über die feuchte Stirne.
„Soll den Halleschmöller mech vleicht ugeschwärzt hun?“
Holmer verneinte dies.
Dann erzählte ich von meiner Begegnung mit dem Halleschmüller und seiner Tochter.
Holmer lauschte ruhig. „Nên,“ fügte er hinzu, „dât sen gutt Leit. An Hallesch Ketty aß och e séer gutt Médchen....“
Wieder stockte das Gespräch.
„Nên, d’Halleschleit sin éerlech a brav. Dé hun net gestöppelt. Awer t’könt an de lèschte Wochen e jonge Borscht aus der Stâd. Dén hoût mei Schwéerpapp gestöppelt. Hé wèrd schons um Hypothékenamt an nach soss nogefrot hun, wé et bei eis mam Mommes stêt. Dé wöllt ech d’Berta wegschwätzen, an....“
„Dén niderträchtegen Kérel!“
„.... an dén wöllt sech nach iwert èrt Bauerewésen an èr Wandmillen löschteg mâchen.“
„Dén niderträchtegen Hond! Mä dé kritt et awer sénger Léwen net!“ Ich fuhr mit dem Arm durch die Luft, als wollte ich zwischen dem und mir eine große Scheidewand aufrichten.
„Nên, hién kritt et net. Duôfir suôrgt séng Mamm. An d’Berta wöllt dé Wandjang och nie!“
Ich atmete etwas erleichtert auf.
Hollmer wollte sich verabschieden.
„Hoûlt dem Berta a sénger Mamm e schéne Bonjour mat. A sot hinnen, ech bléf him trei. An ech géf nach e ganzt Johr wârden, wann et mißt sin.“
Der Eidam drückte mir die Hand. „Frönd, wann d’Berta nach e Johr esoû eng Hell wé elo bei séngem Papp aushâlen muß, dann drôen mer et op de Kîrféch.“
Drüben in der Straße spielte der Orgelmann eine kummervolle Weise.
Ich war müde. Und ich spürte ein Stechen in den Hüften, wie nach einem langen, arbeitsschweren Tage.
Ein starker Wind wehte herüber, riß die Töne mit sich fort und trug sie in die leeren Baumkronen. Und die Bäume wiegten sich traurig hin und her und klagten leise.
Ein Schneeschauer ging über den Park. Wie kleine, weiße Schmetterlinge tanzten die Flocken um die stillen Bäume und sanken tot zur Erde.
Langsam ging ich hinunter zum „Wintersdorf“. Allerlei Gedanken stürmten auf mich ein, gingen wirr durcheinander wie die Schneeflocken, blieben unklar und erstarben.
Ich fand den Oheim allein an einem Tische über eine Zeitung gebückt.
Er legte das Blatt bei Seite und rückte mir einen Stuhl zurecht.
„Komm, setz dech!... Hoûs du der d’Sâch iwerluôgt?“
Und gleich redete er von der ausgezeichneten Partie, von den tüchtigen Halleschleuten und dem guten Mädchen. Dabei blieb er ganz ruhig und sprach nur halblaut, wie zu sich selbst, ohne die Pfeife aus dem Munde zu nehmen.
Ich zuckte die Achseln. „Ech kann dem Berta dât net undin!“
Er schüttelte den Kopf und blickte mich aus den dunkeln Augen scharf an.
„Jämp, sef dach kê Kand!“
Eine Weile saßen wir still da.
Ich spürte in mir den Groll sich häufen. Der wuchs, drückte auf mich, schnürte mir die Brust zu. Das alles mußte heraus, mußte gesagt sein, mußte sich Luft machen.
„Dir hât mir net alles gesot. An d’Berta aß ganz froû mat mir. An dé verfluchte Wandjang soll et net onglécklech mâchen!....“
Ich sprach erregt, in hastigen Worten. Und ich hämmerte dabei mit dem Bierfilz auf den Tisch.
Der Oheim sammelte die Reste, schob sie in die Ecke, legte mir sanft die Hand auf den Arm und fragte mit dünner, ruhiger Stimme: „Hâs du den Édem haut begént?“
Ich erzählte weiter.
Er ließ mich ruhig ausreden. Gleichgültig zog er an der Pfeife. Wenn er antwortete, sprach er langsam, mit schleppender, kaum verständlicher Stimme. Er zeigte gar kein Verständnis für meine Aufregung.
Das ärgerte mich. Das Blut stieg mir immer mehr zu Kopfe. Die Schläfen hämmerten.
Ich wurde verbissener, trotziger: „Ech hun dem Édem versprach, dem Berta trei ze bleiwen. An duôrfir wöll ech neischt vun der[S. 120] âner Geschicht wössen! Verstit der, Mononk .... Duôrfir!....“
Er drehte ein paar Mal verlegen an seinem Glase: „Prost, komm loße mer Mötteg mâchen!“ Wir tranken aus und gingen hinüber in den Speisesaal.
Im Eßzimmer war es ungemütlich. Zu viele Leute saßen da. Wir konnten unser Gespräch nicht recht fortsetzen.
Am liebsten wäre ich wieder allein durch den Park gegangen und hätte über all das nachgedacht, was der Eidam mir gesagt hatte.
Ich war froh, als wir die drei Gänge hinter uns hatten. Ich wollte zahlen und mich sofort verabschieden.
Das ließ der Oheim nicht zu.
„Jé, jé!“ Dabei klopfte er mir väterlich auf die Schulter, „elo gin mer do iwer de Caffé drénken!“ Und vertraulich setzte er hinzu: „Mir hun nach eppes ze bespréchen.“ Er lächelte und blinzelte mit dem einen Auge: „Eppes ganz Wichtiges.“
Ich ließ mich bereden. Wir setzten uns in die untere Ecke des Saales.
„Du râchs jo och en Zigar?“ Er winkte dem Serviermädchen.
Ich suchte eine Zigarre aus, schnitt sie ab und legte sie neben mich auf den Tisch.
„Hei, fänk un!“ Er zündete ein Streichholz an und reichte mir es herüber.
Ich ließ die Zigarre anbrennen und prüfte das Aroma.
„Gelt, daß e guden Zigar?“
Ich nickte. „Jô, Mononk, net ze stârk a gutt dréchen.“
„Mäja. Desen Dâg verdrét eppes Besseres!“ Er machte eine kleine Pause, rührte mit dem Löffel im Kaffee und nippte ein wenig an der Tasse: „D’aß méglech, dat den Halleschmöller mat der Joffer nach bis erân kommen. Setz déng Sondeskuk op. A sef e bößchen fröndlech!“
Ich war ganz erstaunt. Die Zigarre zitterte ein wenig in meiner Hand. Eine Blutwelle schoß mir ins Gesicht. „Dât aß en ofgemâcht Spîll!“ sagte ich hastig, gereizt.
Der Oheim schüttelte verneinend den Kopf, lächelte sein gewohntes Lächeln und ging langsam hinaus.
Also darum war er so freundlich! Darum suchte er mich zurückzuhalten.
Ich legte die Zigarre auf den Aschenbecher und rückte unwillig an meinem Stuhl. Sollte ich bleiben? Nein, das wäre rücksichtslos gegen Berta. Einen Augenblick trommelte ich aufgeregt auf dem Tische, rief das Serviermädchen und verlangte meine Rechnung.
Da kamen sie.
Der Halleschmüller schritt gleich auf mich zu: „Bonjour, Här Welsch! Hud der èr Geschäfte gemâcht?“ Ganz freundlich klang seine Frage, und er drückte mir die Hand.
Ich stammelte etwas von Einkäufen, die ich noch zu besorgen hätte....
„Jé, jé, setz dech nach e Moment,“ fiel der Oheim gleich dazwischen, „mer gin jo geschwön mat.“
Das blonde Mädchen schaute mich etwas unglücklich an. Auch ihre hellen, blonden Augen baten darum.
Es ward mir ungemütlich. Ein Unbehagen ergriff mich, eine nervöse Erregtheit.[S. 123] Laufende Ameisen, kleine, beißende Ameisen, so glitt es mir über den Körper....
Nein, das war nicht recht vom Oheim, daß er mich so hintergangen, so überrumpelt hatte.
Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. Er ließ sich nicht beirren. Und unbekümmert um meine schlechte Laune schob er mir einen Stuhl hin und überließ mir die Unterhaltung mit der Joffer Ketty.
„Dann aß d’Frûcht e bößchen gestiegen?“ wandte er sich mit erheucheltem Interesse an den Halleschmüller.
„Jô, fofzéng Sou om Mâler,“ sagte derselbe in ruhigem, geschäftlichem Tone.
So sind sie, diese Leute. Schwindeln von Geschäftsinteressen. Und kommen mit ganz anderen Absichten....
Nein, so läßt er sich nicht fangen. So nicht.
Das Gespräch stockte.
„Hud dir vleicht nach Frûcht?“ fragte der Müller. „Ech géf éch e schéne Preîs.“
Jawohl, ich hatte noch Getreide, noch etwa 13 Malter zu verkaufen. Aber nicht für den Halleschmüller.
„Nên,“ log ich, „eis aß all verkâft.“
„Dât aß schuôd!“
„Dêd mer léd,“ fügte ich gleich hinzu, um nicht unhöflich zu sein, „ech hätt éch se soß gär verkâft.“
Wieder suchte mich der Blick des Mädchens; über ihr weiches Gesicht huschte ein sanftes Lächeln. Das war Dankbarkeit.
„Zillt der mé Wês bei éch?“ fragte sie leise. Eine starke Erregung bedrückte ihre Stimme.
„Jô, Joffer. An e bößchen Möschler.“
„Kê Kâr?“
„Ganz sélen, Joffer.“
Ein stärkeres Rot stieg ihr in die blühenden Wangen. Und ihre Hand tastete etwas erregt über den Rand des Tisches.
„Prost!“ rief der Oheim und warf mir einen schiefen Blick zu. Wir stießen an.
Ein paar Mal blinzelte er noch herüber, dann spann er das Gespräch mit dem Halleschmüller weiter.
Ich drehte verlegen an meinem Glase, ganz so, wie der Oheim es vorher getan hatte.
„Dir hud och schons Drechefiderong fir d’Schwein?“ fragte das Mädchen weiter.
Ich schaute auf.
„Gewöß, Joffer. Schon zönter zwê Jôr.“
„Gelt, d’aß eppes Guddes?“ Ihre Stimme klang sicherer, heller, lebenslustiger.
Erst jetzt musterte ich die Joffer Ketty genauer. Sie war wirklich schön, groß, schlank und nett gekleidet. Um den Hals trug sie ein goldenes Kettchen mit einem kleinen Medaillon. Ganz wie die andern.
Das Gespräch ging weiter. Sie erzählte von ihren Erfahrungen. Und sie blieb immer die ruhige, ungekünstelte, gleiche Freundlichkeit.
Ich griff bisweilen mit einer Frage ein, weil ich freundlich bleiben wollte.
Der Oheim bestellte noch eine Lanter Grächen. „Dé mecht wârem,“ bemerkte er schmunzelnd, als er mir eingoß.
Die Joffer Ketty hielt die Hand über ihr Glas und wollte abwehren.
„Jé, jé,“ bat der Oheim, schob ihre Hand bei Seite und füllte das Glas. „Wein brecht d’Eis, Joffer.“
Sie schmunzelte. Ihre blauen Augen durchsonnten sich.
Wir tranken.
Der Wein goß Feuer in unsere jungen Seelen. Wir wurden immer redseliger....
„Dir hud nach evell en dichtigen Diskur,“ griff ihr Vater in unser Gespräch ein. Er[S. 126] zog seine Uhr heraus und schaute. Auf seinem Gesichte lag Befriedigung.
„Mir musse go’n, Ketty! D’göt Zeit.“
Der Oheim winkte dem Serviermädchen. Ich wollte zahlen. Auch der Halleschmüller.
Der Oheim winkte ab. „Nên, haut aß mein Tour!“ Er fuhr mit der Hand über den Tisch: „Heit, Joffer, mâcht eise Kont. D’aß alles fir mech!“
Unter freiem Himmel haben wir Landleute ein freieres Auftreten.
Wir plauderten gemütlicher, ungezwungener.
Ein scharfer Ostwind hatte die Wolken weggefegt. Klar und blau war der Himmel. Wie ihre Augen.
Der Oheim ging mit dem Halleschmüller voraus. Ketty und ich kamen hinterher. So schritten wir langsam die Großstraße hinauf am Palais vorbei.
Ein Wachtposten Soldaten kam vorüber. Drei stramme Kerle in langen, schwarzen Mänteln. Auch sie lugten herüber nach der Joffer Ketty und schmunzelten.
Auf dem Wilhelmsplatz trennten wir uns.
„Eddé, Här Welsch!“ sagte sie mit sanfter Stimme. In ihren Augen lag wieder der aufleuchtende, milde Glanz.
Ich war freundlich zu ihr. Mehr aber auch nicht. Und mehr wollte ich auch nicht sein.
Berta kann mir keinen Vorwurf machen.
„Wât sést du nun?“ meinte der Oheim. „Gefällt et dir ewell besser?“
Ich zog die Schulter. „Wôufir soll et mir net gefâlen? D’aß en dichtegt Médchen. D’get eng dichteg Hausfra. Awer d’aß ké Berta!“
Er wurde ärgerlich.
„Dû mat déngem Berta!.... Dest aß d’Médchen fir èrt Haus.... An t’muß an d’Rei go’n.... So dohém, ech kém e Sonndeg. Da schwätze mer iwert d’Sâch....“
Er ging und ließ mich allein mit meinen Gedanken.
Zu Hause fand ich wenig Gehör. Ich hätte Unrecht. So meinte der Vater. So auch sagte die Mutter.
So urteilen alte Leute. Die verstehen nichts mehr von dem Feuer der ersten Liebe. Das soll man einfach abschütteln, wie man ein Kleid ablegt.
Wer das kann!
Ich kann das nicht. Und ich will das nicht.
Und ich lasse mich auch nicht verhandeln wie so viele....
Viele werden unglücklich in der Ehe. Ich bedaure die nicht. Sie haben sich selbst in ihr Unglück treiben lassen.
Es ist ein Fehler der heutigen Welt, daß die jungen Leute nicht mehr heiraten.
Die meisten werden verheiratet, verhandelt, verkauft.
Sie heiraten einen Hof mit Land und Pferden und Kühen. Die Person ist Nebensache.
Ich lasse mich nicht verheiraten, nie, nie!
Ich werde heiraten.
Das verstanden meine Eltern nicht.
Weil sie zu alt waren.
So stand ich allein im Kampfe um die Liebe, allein gegen alle.
Am folgenden Sonntag kam etwas ganz Unerwartetes. Ein unglückseliger Brief.
Erregt öffne ich ihn. Ich schaue, schlage um. Vier lange Seiten in kleiner, dünner Schrift.
Ich lese... Meine Augen leuchten... Ich lese weiter... Aerger überläuft mich... Ich fluche... stampfe mit dem Fuß auf den Boden... und atme schwer...
Ich lege den Brief zusammen, gehe in den Garten, lese noch einmal Wort für Wort, langsam, bis ich alles gut verstanden habe, bis ich klar in ihr Herz sehe....
Berta, auch mich drückt dein Kummer. Auch ich spüre den Groll, den dein Vater auf dich häuft....
Aber ich spüre auch deine Liebe.
Diese Liebe willst du opfern; mußt du opfern, schreibst du. Dem Hause mußt du sie opfern, dem Hausfrieden, deinem Vater....
Diesem Elenden....
Berta, verzeihe mir, wenn ich deinem Vater zürne. Verzeihe mir, wenn ich den hasse, der unser Glück vernichtet....
Verfluchen möchte ich auch den Stadtjunker, diesen gemeinen Menschen.
Der hat gestöbert, geschnüffelt, gehetzt, schreibst du.
Der hat mich angeschwärzt bei deinem Vater, hat sich über mich, über meine Wirtschaftsweise lustig gemacht, hat mich als einen überspannten Bauer hingestellt....
Der Elende....
Berta, ich teile deinen tiefen Haß. Ich verstehe deine bitteren Worte, und ich leide mit dir....
Also der hat deinen Vater umgarnt, im Wirtshaus geködert mit Wein und Kognak, mit hohlen Redensarten....
Der hat uns von einander gerissen, hat alles zertrümmert, was wir in reiner Liebe so schön aufgebaut hatten. Dieser....!
Und den will dein Vater dir aufbürden gegen deinen Willen, gegen den Willen deiner Mutter....
Unglückliches Kind!
Ich lese zwischen deinen Zeilen. Und ich sehe deinen Kummer und ich spüre dein Elend und ich empfinde deine Trostlosigkeit.
Eine Märtyrin bist du, Berta. Und du hast Willensstärke genug, um den abzuweisen, den dein Vater dir aufbürden will.
Es ist mir eine Genugtuung und eine[S. 131] innere Freude, daß du diesen abweisest, daß du dein Leben nicht vertrauern willst an der Seite dieses in öder Schreiberfron und ohne alle Selbständigkeit dienernden Menschen, der kein Verständnis hat für deinen Wirkungskreis, der dich nur heiraten will wegen .... wegen deines Geldes....
Berta, ich leide mit dir.
Ich leide mit dir, weil ich dich aus tiefstem Herzen liebe und weil ich dich nicht aus dem Unglücke reißen kann.
Ich leide mit dir, weil ich deine edle Gesinnung sehe.
Berta, du bist zu gut! Du bist unendlich unglücklich, und doch willst du mir zum Lebensglück verhelfen. In diesem Briefe deines tiefsten Jammers schreibst du mir süße Worte von Hallesch Ketty, deiner Freundin.
Ketty ist deine Jugendfreundin, deine Kameradin aus der Haushaltungsschule, deine Herzensfreundin, ein gutes, braves Mädchen.
Ketty würde eine tüchtige, fleißige Hausfrau, meinst du.
Ketty würde mich sicherlich glücklich machen.
Du willst leiden und sterben, aber du willst, daß ich glücklich werde! Berta, du bist edel und erhaben über viele, erhaben über alle.
Könnte ich mit dir den Weg durchs Leben gehen.... könnte ich.... könnte ich!....
Ich drücke den Brief fest in die Hand, lehne mich an die Mauer, schließe die Augen.
Und ich stehe da wie vor einem Sarge, der etwas verschließt, was mir teuer war — — — — — — — — — — — — —
Ich öffne noch einmal den Brief, lese noch einmal die letzten Worte:
„.... und mit jedem Tag spüre ich mehr, daß der Schmerz um Liebe
unheilbar ist. Und doch müssen wir uns zu vergessen suchen, als ob wir
uns nie gesehen, nie gekannt hätten. Werden Sie glücklich!
Berta Berels.“
Unleserlich steht der Name unter dem Briefe. Etwas verwischt. Die Tinte auseinandergelaufen. Dahin war wohl eine Träne gefallen....
Eine Träne der Liebe.
Eine Abschiedsträne. — — — — — — — — — — — — — — — — —
Gute, liebe, unglückliche Berta.
Lange stehe ich da in unsäglicher Traurigkeit.
Mußte das so endigen?
Nun ist es aus. Nun gibt es zwischen dir und mir keine Brücke mehr. Die hat dein Vater eingerissen.
Vor uns liegt ein tiefer, schwarzer Abgrund. Darin ist alle deine Lebensfreude begraben.
Warum all dieser Jammer, all dieses Elend, warum?....
Weil dein Vater rückständig ist, vernagelt, borniert....
Elender Berelsvater! Wie wirst du dies verantworten können vor der Welt, vor deiner Familie, vor deinen Kindern, vor deinem Richter!....
Aergerlich und niedergeschlagen schreite ich durch den Hof.
Aus grauem Himmel fallen schwere, weiße[S. 134] Flocken hernieder. Langsam legen sie sich über die Erde wie ein Leichentuch.
Durchs Merschertal klingt die Mittagsglocke. Dünn und schwach zittert sie durch die kalte Luft, wie eine Glocke, die zum Sterben läutet.
Heute habe ich meine letzte Hoffnung begraben. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Vier Monate sind seitdem ins Land gegangen.
Nun habe ich mein Glück doch gefunden.
Ich habe geheiratet. Ketty von der Halleschmühle ist meine Frau.
Sechs Wochen lebe ich schon in diesem Glück. Uns fehlt nichts. Wenn wir gesund bleiben, möchte ich mit keinem Menschen tauschen.
Ketty ist fleißig, haushälterisch, freundlich und zuvorkommend. Sie versteht es, meinen Eltern jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie ist die Sonne des Hauses.
Neues Leben hat sie auf unsern Hof gebracht. Ich habe noch nie so leicht, so gerne[S. 135] gearbeitet. Erst jetzt hat die Arbeit Lebenszweck. Ich weiß, für wen ich arbeite.
Merkwürdig. Wie das alles gekommen ist seit diesem Abschiedsbrief von Berta.
Ich habe gekämpft, gestrebt, mich aufgelehnt. Ich trauerte mit Berta um das verlorene, entrissene Glück. Ich wollte nicht den neuen Weg zum neuen Glück gehen.
So ging eine Woche um die andere dahin. Meine Herzenswunde vernarbte, und die Trauer verwandelte sich nach und nach in Entsagung, stilles Gedenken.
Ich dachte noch oft an Berta. Aber meine Gedanken hafteten nicht untätig, gelähmt an ihr. Sie flogen weiter, suchten Bertas Freundin auf. Und die Sehnsucht ging neben uns und flüsterte mir von Glück und schöner Zukunft. Und Berta zeigte auf Ketty. Ich hörte sie sagen: „Greif zu, dort ist dein Glück.“
So gingen meine Gedanken. Zuerst verschwommen, dann stärker, sehnsuchtsvoller.
Das war keine Untreue. Das war der Wille Bertas.
So schlich sich nach und nach das Bild der blonden Ketty in mein Herz.
Berta war nicht daraus verdrängt. Ich kann Berta nie vergessen. Eine liebe Schwester ist sie mir geworden.
Halbfastensonntag fuhr ich mit dem Oheim hin.
Andere Besuche folgten.
In der Osterwoche feierten wir Hochzeit.
So fand ich mein Glück. Und mit diesem Glück kam neuer Aufschwung, neues Leben auf unsern Hof.
Unsere Welt ist wunderschön.
Pfingstsonntag.
Das Merschertal träumt im Sonnenschein der stillen Nachmittagsstunden. Ueberall Blütenschmuck, wogende Saaten.
Wir gehen über Land, meine Frau und ich. Das tun wir so gerne am Sonntag.
Ein leichter Wind spielt in den Obstbäumen, liebkost die Blüten und schüttelt sie tanzend auf den grünen Rasen.
Droben auf der Höhe dreht sich schläfrig die Windmühle. Einförmig singt sie den ganzen Tag ihr zirpendes Lied. Wie die Grillen.
Dorthin setzen wir uns, ins Gras, in die blühende Weide.
Lange sitzen wir da und lauschen auf die tausend kleinen Geräusche des stäubenden Sommers und fühlen uns so behaglich und glücklich, als gehörte die ganze Welt uns, uns allein. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Drunten im Tal zieht eine Schar singender Studenten vorüber:
Mit der bitteren Wehmut eines Unglücklichen rufen diese Lebensfrohen die Sehnsuchtsklänge nach einer verlorenen Heimat in den goldigen Ferientag.
So würde auch ich vielleicht jetzt flehen, wenn ich damals mit über das große Meer[S. 138] ausgewandert wäre. So jammern auch jetzt vielleicht meine Kameraden....
Schon so viele sind voller Hoffnung ins Dollarland gegangen und haben dort nur schwere Enttäuschungen erfahren.
„Eisen Haff leît awer schén,“ unterbricht meine Frau die Träumerei.
Ihre Augen leuchten.
Ich nicke zustimmend.
„Gefällt déng nei Hémècht der dann grad esoû gut wé dé âl?“ frage ich lächelnd.
„Jô, vill besser.“ Es klang Glück aus ihren Worten, reines Glück.
Wir haben beide das Glück gefunden.
Und doch fiel ein Schatten auf unser junges Glück.
Die Mäsch Sisi.
Meine Gedanken gingen rückwärts, über drei Monate, zu der Zeit, wo meine Freierei mit der Ketty im Dorfe bekannt wurde. Sisi war untröstlich. Sie hatte immer noch damit gerechnet, daß wir uns heiraten könnten. So sind die Mädchen. Die glauben an das Unmögliche. Auch Sisi konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, daß unsere[S. 139] Wege sich trennten, seit jenem Unglückstage, an dem ihr Bruder starb. Die Weiterführung des Hofes steht doch über der Liebe. Ich konnte ja unsern Hof nicht aufgeben. Und auch sie durfte den ihrigen nicht verlassen. Das Opfer mußte sie bringen können.
Sie wußte es nicht zu bringen, weil sie in ihrer Liebe nur ihr Herz reden ließ. So ergeht es vielen.
Auch ich war zuerst in dieser Verfassung auf Brautschau gegangen.
Dadurch habe ich viel gelitten. Dadurch kommt viel Unglück in die Welt.
Wenn man auf Brautschau geht, soll man das Herz zu Hause lassen und nur den Verstand mitnehmen.
So hatte der Vater mir oft gepredigt. Damals wollte ich es nie glauben.
„Domt Geschwätz“, hatte ich jedesmal gedacht. Und jedesmal hatte ich mich sehr geärgert.
Jetzt urteile ich anders. Heute weiß ich, daß der Vater recht hatte. Der Verstand muß die Bremse des Herzens sein, muß, muß. Sonst wird man sein Leben lang unglücklich.
Leider sehen die meisten das zu spät ein. Oder sie wissen nicht zu bremsen.
So geht Wonesch Henriette ins Unglück.
So auch leidet Mäsch Sisi.
Und das bricht auch der guten Berta das Herz.
Wie traurig, daß bei der Erreichung meines Glückes das Glück anderer in Scherben gehen mußte, wie traurig! — — — — — — — — — — — — — — — — —
„Komm Jämp, mir mussen hém gôn, d’aß Zeit. Wann dem Bérelsédem sei Bruder mat desem Zug könt, dann aß hién gleich hei. Hién könt vleicht nach bis erân, éer hién a Mäsch geht,“ sagte meine Frau in sorgendem Tone. Sie schlang ihre Hand in meinen Arm.
Ich fuhr auf aus meiner Träumerei. Ganz richtig, der sollte heute kommen, um im Mäsch-Hause vorzusprechen. Es wäre mir eine Erleichterung, wenn ich diese Heirat zustande brächte. Sisi verdient einen guten Mann. Und sie weiß auch einen Mann glücklich zu machen. Auch dem Berelseidam würde ich es gut gönnen, wenn sein Bruder das Mädchen heimführen könnte.
Dann würde Sisi ja auch noch sein Glück finden.
Aber Berta?....
Herbstzeitlosen blühen in den Dorfwiesen. Der Sommer geht zur Neige. Die Ernte ist eingebracht.
Wir sind bei meinen Schwiegereltern auf Besuch.
Verträumt liegt die Mühle in der tiefen Stille des Sonntagnachmittags.
Verträumt klingen die Glocken droben im Dorf. Sie läuten zur Vesper. Dort wird Berta wohl jetzt beten.
Wir sitzen vor der Mühle in der lauen Sonne und plaudern.
Von allerhand geht das Gespräch. Von den Viehweiden, von der Ernte, von den Berelsleuten.
„An dât Haus aß emol vill Onglèck komm,“ meinte mein Schwiegervater.
Dann erzählte er von Berta.
Ich stützte den Kopf schwer in die Hand. Schläfrig fuhr der Wind durch die Bäume.
„Do oûwen könt et!“ Ich blickte auf. Wirklich, da kam Berta langsam den Weg herunter, gebückt, schleppenden Schrittes.
Meine Frau sprang auf, eilte ihr entgegen.
Auch ich ging hinüber.
Berta lächelte. Krank lag das Lächeln auf dem eingefallenen Gesichte.
Meine Frau küßte sie auf die Wange.
Ich drückte ihr die Hand. Schlaff und kalt lag ihre Hand in der meinen.
Sie atmete tief und war ganz erschöpft. Ihre Stirne stand voll Schweißtropfen.
„Dât mecht eis Fréd, daß du könns, Berta,“ sagte meine Frau tröstend.
Berta lächelte wieder das kalte, fremde Lächeln.
„Ech hun héren, daß dir hei wärd. An dû wollt ech iech zwé nach emol gesinn.“
Sie war ganz erregt und konnte kaum sprechen.
„Dât aß schén!“ Meine Frau legte den Arm um ihre Schulter. Eng aneinandergeschmiegt standen sie da.
„A wé geht et dann, Berta? Du wars krank?“ fragte ich teilnahmsvoll.
„Jô, ech war krank, mä — d’géht — erem — besser.“
Ihre Brust keuchte. Sie hielt den Atem an und gab sich Mühe, nicht zu husten. Und die Erregung malte noch einmal jugendfrische Farbe auf ihr Gesicht.
„Du geseîs gut aus,“ tröstete meine Frau. Berta lächelte wieder das kranke Lächeln.
Ich sah das blühende Rot ihrer Wangen.
Kirchhofsrosen....
Wir setzten uns auf die Bank am großen Mühlenweiher.
Die Wellen spiegelten das welke Gesicht noch durchsichtiger, verfallener. Frühling und Sommer waren daraus verschwunden. In ihren Augen lag der trübe Schein des freudlosen Winters.
Eine Weile saßen wir stille.
„Ech sin froû, daß dîr zwê esoû glèckléch set.“ Sie hatte ihren Arm in den meiner Frau geschlungen und drückte ihr leidenschaftlich die Hand, als wollte sie damit ihre tiefe Freundschaft bezeugen.
Meine Frau hatte ein paar Blumen gepflückt und reichte ihr das Sträußchen hin.
Nachdenklich nahm sie eine Blume nach der andern, legte sie gleichmäßig zusammen, blickte wehmütig auf dieselben und riß zerstreut einige Blüten ab.
Wie tote Schmetterlinge sanken die Blätter in ihren Schoß und fielen zur Erde.
„Fir mech bléen keng Blumen mé!“ Langsam sagte sie das, leise und kummervoll.[S. 144] Langsam band sie Wort an Wort, wie sie die Blumen zusammengelegt hatte. Ich dachte an das alte, traurige Lied von der unerfüllten Liebe und dem frühen Sterben, das die Mädchen auf den Feldern singen, wenn die Kartoffeln ausgehoben werden und der rauhe Herbstwind über die kahlen Stoppeln treibt.
Ich suchte sie zu trösten, aufzumuntern. Sie schaute mich groß an wie eine, für die es keine Hoffnung mehr gibt.
„Nê, Jämpi.“ Sie schüttelte den Kopf. Eine unendliche Wehmut klang aus der gebrochenen Stimme.
Sie fröstelte ein wenig, zuckte mit den Schultern und wickelte die Hände in die Schürze.
„Jämp, du wars den Enzigen, mat dém ech froû war.“ Ein tiefes Keuchen drang aus ihrer Brust. Ihr Atem ging erregt, hastig. Eine dunkle Glut schoß ihr in die Wangen. Sie hustete tief. „D’Huôt net könne sin. Ech hu mech drân ergin.“ Sie preßte die Hand auf die Brust, als ob das Atemholen ihr wehe täte. „An ech sin dach froû, Ketty, daß du fir mech glèckléch baß.“
Gern hätte ich ihr jetzt eine tröstende Zärtlichkeit gesagt. Es fiel mir nichts ein.[S. 145] Nichts Passendes, womit ich dem guten Mädchen hätte Freude machen können. Da legte ich ihr leicht die Hand auf die Schulter.
„A wé gét et dann mat déngem Papp?“ Meine Frage rührte an eine alte Herzwunde. Berta schlang den Arm um den meiner Frau und zog sie mit sich fort hinunter am Mühlenteich vorbei in die Einsamkeit.
Ich stand auf und schritt langsam hinüber in den Garten. Dort sah ich sie am äußersten Ende stehen. Berta hatte sich an eine Pappel gelehnt, rieb sich die Augen mit dem Taschentuche und schluchzte, schluchzte bitterlich. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Langsam, geräuschlos ging ich zurück zur Mühle, sank auf die Bank und stützte mich müde an die Lehne.
So viel Elend hat der Berelsvater über sein Haus gebracht.
So unglücklich hat er sein Kind gemacht.
Leise wanderte der Wind in den herbstlichen Bäumen. Bisweilen raschelte ein Blatt herunter; ein gelbliches, fahles Blatt. Einen Augenblick wirbelte es in der Herbstsonne, dann sank es tot in den großen Weiher. — — — — — — — — — — — — —
Droben am Wege kamen Schritte.
Ich schaute auf. Heinrich Holmer und seine Frau.
„Aß d’Berta net hei?“ fragte die junge Frau sorgenvoll.
„Dach! D’aß mat ménger Fra e böschen spazéeren.“ Ich bemühte mich ruhig zu sprechen.
Wir setzten uns. Ich lenkte das Gespräch auf seinen Bruder und auf Mäsch Sisi. Holmer dankte für meine Bemühungen. Er freute sich, daß die Sache so weit geregelt war. Schon nach dem Winter sollte die Hochzeit sein.
Meine Schwägerin trat zu uns. Die Frauen sprachen von der Obsternte und schritten hinüber in den Garten.
So blieb ich mit Holmer allein.
„Aß d’Berta wirkléch esoû krank?“
„Jô, den Dokter get et verspielt. D’hät nach spétestens bis nôm Wanter.“
Eine tiefe Stille. Ein drückendes Schweigen.
Ich atmete beklommen.
„Nömme bis nôm Wanter,“ wiederholte ich.
Er nickte. „Jô, bis nôm Wanter.“
Leise strich der Herbstwind durch die Pappeln.
„A wât mecht dann de Papp?“
„Dén dêt et stiérwen!“ Das sagte er stoßweise, mit verhaltenem Groll.
„Wât mei Schwéerpapp eisem Haus schon Kreiz a Léd ugedôn hoût!.... Hién aß ganz verännert.... All Woch könnt hién e poûr môl vôl hém.... An dann péngecht hién dât aremt Kand, daß net ze soen. Mir leiden all dröner.“ Er machte eine lange Pause, nahm den Hut ab und fuhr mit der flachen Hand über die Stirne. „Awer, mir mussen et erdrohen. An d’aß dem Berta sein Doût.“
Der Eidam brach ab und blickte bekümmert vor sich auf den Boden. Ich wollte nicht weiter fragen.
Jetzt wußte ich, daß es aus war mit ihr. Ich sah sie zusammenbrechen. Und ich sah das Berelshaus leiden, abbröckeln, vergehen....
So kommen Elend und Rückgang in manches Haus.... Und der Schuldige trägt nicht mit, weil er seine Schuld nicht einsieht. Die Unschuldigen aber gehen daran zu Grunde. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Drunten kamen sie.
Berta versuchte zu lächeln. Ihre schwarzen Augen waren gerötet. Sie hatte viel geweint.
Wir tranken den Kaffee. Berta konnte nichts essen. Sie sah elend aus.
Ich wollte essen, wollte. Aber auch ich brachte nichts hinunter. Ein bitterer Geschmack lag mir auf der Zunge.
Ich hörte den keuchenden Atem des unglücklichen Kindes, das erst im Blütenalter stand, und dem kein Sommergold und kein Herbstsegen beschieden ist, und das schon so bald abgerufen werden soll.
So bricht ein Kind zusammen, dem der Vater ein schweres Kreuz aufgedrückt hat. — — — — — — — — — — — — —
Und so erdrückt dieses Kreuz ein ganzes Haus.
Herbst und Winter waren vergangen. Schöne Tage kamen, wo die Menschen wieder froh werden.
Damals verblaßten Bertas Wangen. — — — — — — — — — — — — —
Im weißen Kleide geht Mäsch Sisi zum Traualtar, und die Sonne streut Gold auf ihren weißen Brautkranz.
Im weißen Kleide schläft Berta den ewigen Schlaf. Dorfmädchen im weißen Schleier tragen sie durch die Frühlingspracht zum Friedhof.
Die Glocken läuten. — — — — — — — — — — — — — — — — — —
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End of the Project Gutenberg EBook of Berels Berta, by Jean-Pierre Zanen *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BERELS BERTA *** ***** This file should be named 59534-h.htm or 59534-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/9/5/3/59534/ Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. 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