The Project Gutenberg EBook of Aus dem Reiche des Buddha, by Paul Dahlke This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Aus dem Reiche des Buddha Sieben Erzählungen Author: Paul Dahlke Illustrator: Bruno Steigüber Release Date: June 24, 2019 [EBook #59803] [Last updated: July 31, 2022] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS DEM REICHE DES BUDDHA *** Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
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Sieben Erzählungen
von Paul Dahlke.
Breslau 1913.
Walter Markgraf.
Alle Rechte vorbehalten.
Titelzeichnung von Bruno Steigüber, Breslau.
ie der Mönch Suriyagoda in weltlichem Stande geheißen habe, ehe er in den Orden des Erhabenen getreten war, dessen wußte sich niemand mehr zu entsinnen. So lange lebte er schon im Orden. Auch über sein Alter wußte niemand etwas sicheres. Kopf und Gesicht trug er stets glatt geschoren, auch seine Haltung war stets aufrecht. Trotzdem behaupteten manche, daß er das achtzigste Lebensjahr längst überschritten habe, und daß es die Strenge und Leidenschaftslosigkeit seines Lebenswandels sei, die ihn über das Alter siegen lasse.
Er war von einer wahrhaft vollendeten Magerkeit, und sein Auge leuchtete in einem so gleichmäßig milden und doch so starken Glanze, daß alle, die ihm nahe kamen, eher einen verklärten Geist als einen unreinen Körper zu sehen meinten.
Auch stand er längst im Geruche, die Arahatschaft erreicht zu haben, zur Einsicht gekommen zu sein:[S. 2] „Dieses ist meine letzte Geburt; nie wieder werde ich auftauchen im Strudel des Samsara.“ Er selber freilich hatte nie auch nur eine Andeutung darüber gemacht. Denn daß einer sich seiner höheren Einsichten rühmt, anderen oder sich selber gegenüber, das gibt es nicht im Orden des Erhabenen.
Seine Klause lag abseits von den anderen, auf dem Wege zum At-Vihara, und wenn die Gläubigen an Mahasāya-Dagoba angebetet hatten und zum At-Vihara hinaufgingen, so pflegten sie auch vor seiner Schwelle Blüten vom Tempelbaum niederzulegen. So groß war der Ruf seiner Tugend und Weisheit.
Mit Suriyagodas Erwachen war es merkwürdig zugegangen. Freilich ist das innere Erwachen der Menschen stets das Merkwürdigste des ganzen Lebens, aber selbst die ältesten Theras wußten sich niemandes zu erinnern, bei dem das Erwachen so früh eingetreten war wie bei ihm. Auch die Umstände, unter denen sich alles ereignet hatte, waren einigermaßen merkwürdig. Der Eine erwacht wohl, wenn er einen kranken Menschen, ein zu Tode getroffenes Tier sieht; ein Anderer, wenn er sinnend sitzt und den Wind in den Blättern säuseln hört; wieder ein Anderer, wenn er eine Flamme züngeln, ein Licht verlöschen sieht; die meisten freilich, wenn sie, nach dem Almosengange zurückgekehrt, sich an einem stillen Orte niederlassen, die Beine gekreuzt, den Körper gerade aufgerichtet und der Einsicht pflegen, wie sie vom Buddha belehrt worden sind. So trifft es den[S. 3] Einen so, den Andern so, je nach den Vorbedingungen. Mit dem ehrwürdigen Suriyagoda war alles folgendermaßen zugegangen:
Er war wiedergeboren worden in das Haus eines reichen Brahmanen, der von Süd-Indien arm herübergewandert war nach Lanka und in Anuradhapura in Diensten des Königs stand, weil er einiges konnte, was die eigenen Untertanen des Königs nicht konnten.
Dieser Mann wohnte in der Nähe des Tempels, den man schlechthin den Pfau-Tempel nannte, nicht weit vom heiligen Bo-Baume, dem täglich ungezählte Scharen von Anbetern ihre Ehrfurcht erweisen. Er selber freilich hielt fest am Glauben seines Heimatlandes, in dem man Shiva anbetete. Er verachtete das Gesetz des Buddha und nannte es eine vergrübelte Narrenlehre, weil er es eben nicht verstand. Die Mönche aber im Orden des Erhabenen nannte er „kahlgeschorene Pfaffen“. Deswegen geschah es nie, daß diese auf ihrem täglichen Almosengange vor seiner Tür stillstanden, um Gabe in Empfang zu nehmen.
Eines Tages nun kam ein fremder Bhikkhu durch Anuradhapura, um in Mihintale am Mahasaya-Dagoba Ehrfurcht zu erweisen.
Das war so gekommen:
Seit vielen Jahren lebte er fern im Süden in Tissamaharama, ernsthaft, enthaltsam, innig bemüht um Einsicht. Denn das sieht ja jeder Nachdenkliche bald, daß Leben zwecklos ist, und hat es Zwecke, daß sie[S. 4] von uns hineingelegt sind; also wozu das Ganze, wozu? Antwort gibt nur der Tathāgata.
Zu diesem Mönch kam eines Tages ein Mönch aus dem Norden der Insel. Der erzählte von der Heiligkeit der Plätze dort oben, so daß den Anderen ein Verlangen ankam, dort Ehrfurcht zu erweisen. Als nun sein Besucher ihn aufforderte, mit ihm nach Norden zu gehen, da stand er, wie er gerade dasaß, auf und sagte: „Gut, so laß uns gehen!“ Der Andere aber hatte allerhand Habseligkeiten bei sich, die er im Pánsala niedergelegt hatte, so daß er nicht sogleich aufbrechen konnte. Da sagte der Tissamaharama-Mönch: „Du bist kein rechter Jünger des Erhabenen. Es dürfte besser sein, allein zu gehen.“ Damit wandte er sich und trat unverzüglich seine weite Reise an; denn von Tissamaharama bis Mihintale sind wohl zwölf Tagemärsche oder mehr.
Dieser Mönch nun trat, als er auf seiner Wanderung durch Anuradhapura kam, vor des reichen Brahmanen Haus und wartete schweigend auf Almosen; denn er wußte nicht, daß dieser die Bhikkhus verspottete und kahlgeschorene Pfaffen schimpfte.
Der Brahmane saß gerade in der offenen Vorhalle seines Hauses beim Essen und hatte viele und reiche Gerichte vor sich, wie es so seine Gewohnheit war.
Als nun der Mönch herantrat und schweigend am Tore stehen blieb, da, wo an jeder Seite ein kleiner Elefant aus Stein den Eingang bezeichnete, da wandte[S. 5] er sich ein wenig seitwärts, gleichsam als ob er ihn nicht sähe; denn er war nicht nur ein Verächter des Dharma, sondern auch ein Geizhals. Suriyagoda aber war damals etwa zwölf Jahre alt.
Als nun der Knabe sah, daß sein Vater dem Mönch nicht geben wollte, trat er auf diesen zu und sagte, gleichsam um seinen Vater zu entschuldigen: „Er genießt die Frucht früherer Taten.“ Er meinte: Mein Vater lebt jetzt üppig, weil er in früheren Leben Gutes getan hat, wofür ihn jetzt der Lohn trifft. Worauf der Mönch, ohne den gesenkten Blick vom Boden zu erheben, erwiderte: „Und ich lehre die Frucht früherer Taten.“
Bei diesen Worten wurden die Augen des Knaben weit. Wie unschlüssig stand er da, dann sagte er leise:
„Wenn du die Frucht früherer Taten lehrst, so will ich mit dir gehen.“
„So mußt du zuvor deinen Vater um Erlaubnis bitten.“
Da trat der Knabe auf den Essenden zu und sagte: „Vater laß mich mit diesem da gehen.“ Und mit einer Stimme, die gedämpft war vor verhaltener Leidenschaft, fügte er hinzu:
„Er lehrt die Frucht früherer Taten.“
Der Alte hielt erstaunt im Essen inne.
„Siehst du nicht, daß es so einer ist? Weißt du nicht, daß du eines Brahmanen Sohn bist?“
„Vater, er lehrt die Frucht früherer Taten. Laß mich mit ihm gehen.“
Und zum zweiten Male der Alte:
„Siehst du nicht, daß es so einer ist? Wer soll an meinem Grabe die Totenopfer vollziehen, wenn du uns verläßt? Überdies haben nicht auch die Rishis die Frucht der Taten gelehrt?“
Der Knabe stand bedrückt; denn er fühlte, daß sein Vater recht hatte mit dem Totenopfer. Indem kam des Brahmanen jüngeres Söhnchen, das er mit einer anderen Ehefrau gezeugt hatte, in die Halle gehüpft und schrie wie zum Scherz einmal über das andere: „Vater, Vater!“
Da richtete sich der Knabe plötzlich auf und sagte zum dritten Male:
„Laß mich mit dem Manne gehen. Ich will nicht Speise, nicht Trank nehmen, läßt du mich nicht gehen.“
Weil nun der Vater merkte, wie es mit dem Kinde stand, daß es das Geheimnis des Samsara gewittert hatte, sagte er, schweren Herzens und dem Mönche grollend: „So geh!“ Dann aber, als er den am Tor noch unbeweglich und gesenkten Blickes dastehen sah, überkam es ihn, und sich vor seinem eigenen Groll fürchtend, daß er ihm in diesem oder einem folgenden Leben schaden könnte, rief er dem Mönche zu: „Mönch, ich zürn’ dir nicht!“
Es war aber auch schon vorher eigen zugegangen mit ihm.
Noch als kleiner Knabe hatte er einst zwei Papagei-Mangos vom Gärtner geschenkt bekommen. Da dachte er:
„Ich will den einen auf den Altar legen für Sivī und will den anderen nicht eher essen, als bis sie den ihren genommen hat.“
So legte er die Frucht hin und wartete, mit der anderen Frucht in der Hand.
Aber die Göttin nahm die Gabe nicht. Sehnsüchtig blickte der Knabe bald auf den Mango in der Hand, bald auf den auf dem Altar. Ihn hungerte, auch aß er Mangos für sein Leben gern. Er begann leise zu weinen, erst in sich hinein, dann lauter und lauter, bis schließlich sein Vater kam.
Als der ihn sah mit dem Mango in der einen Hand und dem anderen Mango auf dem Altar, fragt er:
„Was ist das, Sohn?“
„Für Sivī, Vater! Sie nimmt nicht.“
„Sohn, es ist auch nicht so, daß die Götter nehmen.“
Damit nahm er den Mango vom Altar und gab ihn dem Knaben. „Iß nur!“ Worauf dieser schnell beide Früchte verzehrte.
Eine geraume Zeit danach fragte er seinen Vater unvermittelt:
„Vater, wie ist es, daß die Götter nehmen?“
Der Alte wußte erst nicht, was die Frage sollte. Dann erinnerte er sich der Mangos.
„Sohn, es ist nicht so! Die Götter sind geheimnisvoll. Sie nehmen, sie geben — wir wissen nicht wie.“
Der Knabe schwieg dann.
„Und die in Tanjor?“
Er meinte die Priester am Subrahmanya-Tempel in Tanjore, ob die etwa mehr wüßten.
Solch ein Knabe war Suriyagoda gewesen von jeher.
So nahm er jetzt seine Matte und sein Trinkgefäß und folgte dem Gelben nach.
Der schritt fürbaß, ohne den Kopf zu heben, die Tempelstraße entlang, am Abhayágivi-Dagoba vorbei dem Tissawēwa zu.
Als sie nun auf dem hohen Damme entlang gingen, über den der Sturm hinwegsauste, — es war gerade die Zeit des Monsun — da sah der Knabe mit Staunen, wie der See weiß am Ufer schäumte. Gespenstern glichen die grauen Stümpfe abgestorbener Bäume, die halb im Wasser ertrunken dastanden und ihre toten Äste in die Luft streckten. Jetzt wandte er den Kopf und sah hinter sich, weit, am anderen Ufer Ruanweli hochragen wie ein Gebirge, in seinem marmorweißen Mantel glänzend wie Silber.
„Wie weit bin ich fort von Hause“ dachte er. Er war noch nie hier gewesen; denn die Kinder vornehmer Brahmanen verlassen selten das Haus, weil sie Unreinheit fürchten.
Ihm wurde schwer und ängstlich zu Mut. Er dachte: „Ich will warten, bis jener da wieder vor einer Hütte stehen bleibt und um Almosen bittet; — denn im Hause seines Vaters hatte er nichts bekommen — dann will ich um Erlaubnis bitten, zurückkehren zu dürfen, ich fürchte mich.“ Dabei sah er auf den Mönch,[S. 9] der vor ihm schritt, schweigend, das Haupt gesenkt, das gelbe Gewand gebläht im Winde wie eine Glocke.
Der aber dachte bei sich: „Die Sonne hat ihren höchsten Punkt bereits überschritten; die schickliche Zeit zum Essen für heute ist vorbei. So ist es besser, ich warte bis morgen.“
So gingen sie an den letzten Hütten vorüber, ohne daß jener still hielt, und der Knabe trottete hilflos hinter ihm drein, immer in der Hoffnung, daß jener stille stehen oder sich wenden würde.
Und wie schrecklich war erst der Wald, in den sie jetzt traten. Vom Sturm draußen gab es hier nichts. Regungslos alles, wie gelähmt von etwas furchtbarem, bei dem das Herz fragt: „Was mag es nur sein?“ und aus dem Ausbleiben jeder Antwort neue Schrecken saugt.
Die Augen schmerzten ihn, wenn er auf die Straße sah, die weiß, blendend, scheinbar endlos sich vor ihm dehnte und über der die Luft flimmerte. Seitwärts am Wege aber standen diese mächtigen Termitenhaufen, und mit ängstlicher Scheu sah er große, häßliche Eidechsen auf ihnen, die den Kopf erhoben, das Maul geöffnet, regungslos dasaßen, wie bezaubert von dieser grimmigen Sonne. „Gewiß, es sind böse Geister“ dachte der Knabe und blickte starr vor sich.
So mochten sie wohl zwei Stunden gewandert sein, da kamen sie an die ersten Häuser eines anderen Ortes. Hinter dem erhob ein zweigipfeliger Fels sich hoch in die Luft. Beide Gipfel aber waren gekrönt mit einem Dagoba.
Der Knabe wußte wohl, das war Mihintale, das heilige Mihintale, aber nie vorher war er hier gewesen.
An einem lieblichen Weiher, voll von Lotus, vorbei schritt der Mönch auf diesen Berg zu. Die geisterhaften Schrecken des Waldes waren vorüber. Machtvoll wehte der Wind über die Wasserfläche. Von weitem schon winkte eine mächtige Eingangspforte. Durch sie schritt der Mönch; Suriyagoda eng hinterdrein. Sie waren plötzlich wie in einer anderen Welt. Große und kleine Dagobas, Hallen für Gebet und Speisung, heilige Feigenbäume, von Mauern umrahmt, Steintafeln mit Inschriften, Bäder in schön behauenen Stein gefaßt. Zwischen dem allen eine Treppe, deren Stufen große Steinquadern bildeten, flach und so breit, daß wohl vier Elefanten nebeneinander auf ihr gehen konnten. Diese Flucht von Stufen verlor sich nach oben zu im geheimnisvollen Halbdunkel des Urwaldes: die heilige Treppe von Mihintale.
So verlebte Suriyagoda in Mihintale, dem heiligsten Platze, Jahr für Jahr. Früh vor Sonnenaufgang erhob er sich zusammen mit den anderen Klosterschülern. Dann wurde der Hof gefegt, Blüten von den Bäumen geschüttelt, um sie vor dem Buddha-Bilde nieder zu legen. Die Mönche sangen im Vihara, auf der Erde vor dem Buddha-Bilde knieend, Gesänge, die in ihrer Monotonie dem Klange tiefer Glocken glichen; Gesänge zum Preise des Buddha, zum Preise des Gesetzes, zum[S. 11] Preise der Mönchsgemeinde. Hörte der Gesang dann plötzlich auf, so tönte es von den geschlossenen Lippen der Mönche noch ein Weilchen weiter, wie das Nachschwingen in Erz.
Schon früh wurden die Knaben angehalten zum Meditieren über Menschenliebe, über Wohlwollen gegen alles Lebende, über die Allvergänglichkeit, über die Unreinlichkeit alles Körperlichen und über den Tod. Auch mußten sie sich fleißig üben die Gedanken zu regeln durch achtsames Ein- und Ausatmen. Auch die heiligen Schriften wurden gelesen, indem ein älterer Mönch vorsprach und die Schüler nachsprachen, vorläufig freilich ohne Sinn und Bedeutung zu verstehen. Am Abend sangen die Mönche wieder vor dem Buddha-Bild im Vihara.
Wie lieblich aber waren die Festtage an den Neu- und Vollmonden, wenn alle Anhänger kamen, schon früh am Tage, lautlos, in blütenweißen Kleidern, alle Männer, Weiber und Kinder, ganze Körbe voll gelber und weißer Blüten brachten und vor dem Buddha-Bilde aufhäuften, so viel als ob es die ganze Nacht Blumen geregnet hätte; wenn dann alles still niederkniete und ein Mönch die Satzung rezitierte.
Wenn aber abends der ganze Vihara vom Glanz der Lichter strahlte, dann kam es dem Knaben wohl vor, als ob die bewegungslose Ruhe des Buddha-Bildes Leben bekäme. Das Gesicht schien im Ausdruck zu wechseln, die Lippen sich zu regen, die zum Predigen[S. 12] erhobene Hand sich zu bewegen. Eine inbrünstige Ehrfurcht wallte dann im Herzen des Knaben. Er mußte sich Gewalt antun, hier nicht anzubeten, wie er es im Hause seines Vaters gewohnt war. Denn das muß man ja wissen, daß man zu einem Buddha nicht beten kann; daß man ihm nur Dank und Ehrfurcht erweisen kann dafür, daß er den Weg, den er selber gefunden, auch uns, der Welt, gezeigt hat. Es war die mit der Muttermilch eingesogene Gottsucht, die noch in dem Knaben arbeitete und seine Einsicht hinderte.
Am Abend spät begann dann das Predigen, das oft bis tief in die Nacht dauerte. Gepredigt aber wurde von der Vergänglichkeit, dem Leiden, der Wesenlosigkeit aller Dinge; dem Unbefriedigenden, Leiden züchtenden der Lust, dem Segen des Entsagens. Wovon sonst sollte auch wohl ein Mensch dem andern predigen!
Am Tage nachher aber folgte dann das Beichten der Mönche. Mit gefalteten Händen knieten sie vor dem Abte nieder und sprachen mit diesen tiefen, klangvollen Stimmen:
„Herr, wenn wir unwissentlich mit einer der drei Pforten (Tat, Wort, Gedanke) gefehlt haben, so vergib uns.“ Worauf der Abt erwiderte:
„Ich habe vergeben. So vergebt auch ihr mir.“
So wird im Orden des Erhabenen gelebt, den der Erhabene selber „das unvergleichliche Feld um Verdienst zu erwerben“ nennt. Und wirklich sind ja diese Mönche, indem sie ständig allem Lebenden in einem Wohlwollen[S. 13] zugetan sind, die größten Wohltäter der Menschheit. Ein einziges Herz voll heiterer Entsagung trägt ja zum Wohle der Menschheit mehr bei als ein ganzes Leben voll rastloser Philantropie.
Es war nun die Zeit gekommen, daß Suriyagoda mit der Robe bekleidet, d. h. selber Mönch wurde. Wie die anderen machte er von da ab alle Vormittage seinen Almosengang, indem er, das Gewand schicklich geordnet, gefaßten Sinnes, gesenkten Auges von Haus zu Haus ging und an den Türen schweigend wartete, bis ihm der Reis in die Almosenschale getan wurde. Kam dann der Geber, hatte den Reis in die hingehaltene Schüssel hineingetan und auf der Erde kniend, die gefalteten Hände vor dem Gesicht, seine Ehrfurcht erwiesen, so ging der Mönch schweigend weiter zur nächsten Tür, bis die Schale zur Genüge gefüllt war. Dann trat er den Rückweg zum Kloster an und verzehrte dort, stets unter dem gleichen Schweigen, sein Mahl an einem einsamen Orte.
Eines Tages nun, als Suriyagoda schweigend dastand, gesenkten Blickes und auf die Gabe wartete, trat plötzlich ein Mensch auf ihn zu, der war nackt bis auf einen Eulenflügel, der seine Scham notdürftig deckte. Die Haut war Asche beschmiert und sah aus wie graues Leder; die Haare verfilzt wie eine schmutzige Kokusmatte; der Blick wirr und unheimlich.
Der sprach leise aber heftig zum Mönch:
„Du, es ist mir gegeben, in deiner Zukunft zu lesen. Ehre und Lob dem Allmächtigen! Du mußt durch eine große Liebe gehen.“
Dann dicht vor Suriyagoda hintretend fuhr er lauter fort:
„Wolltest du deine Augen nur einmal heben, so könnte ich dir sagen, wo und wie.“
Suriyagoda verharrte unbeweglich. Es überkam ihn etwas Unheimliches, einer jener Schauer aus unbekannten Regionen, unter denen er als Knabe so oft gelitten hatte; jene Schauer, die den in Weisheit noch nicht gefestigten immer wieder fragen lassen: „Gibt es doch wohl etwas hinter dieser Welt hier, das über uns herrscht?“
Er fühlte instinktiv, wenn er den Blick heben und das Auge dieses Menschen treffen würde, so würde es ihn greifen, ihn ansaugen, er würde fallen — einer grundlosen Tiefe zu.
Indem erschien der Anhänger, um den Reis in die Schale zu schütten. Als er den Fakir sah, winkte er mit der Hand und rief „husch, husch!“, wie man Krähen von einer Schüssel scheucht. Worauf der sich eilig abwandte, aber knurrend und schnüffelnd, wie ein Jagdhund, der eine Spur gewittert hat und sie nicht verfolgen darf.
Am selben Abend, als Suriyagoda, bevor er zur Ruhe ging, vor dem Abt niederkniete und ihm Ehrfurcht bezeugte, bat er ihn um die Erlaubnis, in Zukunft,[S. 15] wenn er den Anhängern und Anhängerinnen predigte, hinter einem Palmblatt-Fächer sitzen zu dürfen. Er wollte sich dadurch davor schützen, daß sein Auge auf irgend etwas träfe, was ihm Liebe erregen könnte, denn er dachte: „Wofür bin ich schon als Knabe in den Orden des Erhabenen getreten, wenn ich doch die Qualen und den Schmutz der Liebe durchmachen muß? Es ist besser, ich schütze mich beizeiten.“
Nun war Suriyagoda von schöner Gestalt, schlank aber kräftig, von feinem Gesicht, mit vollem, freiem Auge und von hoher Anmut bei allem was er tat und redete. Daher war die Predigthalle stets am vollsten, wenn er den Anhängern und Laien predigte.
So fragte der Abt, weshalb er denn von jetzt ab hinter dem Fächer predigen wolle? worauf Suriyagoda stockte und errötete, dann aber die Sache mit dem Fakir berichtete.
Der Abt lächelte ein wenig und gab ihm die Erlaubnis. Dann aber, als leisen Tadel, fügte er den Spruch des Erhabenen hinzu: „Ist dieses, wird jenes; ist dieses nicht, wird jenes nicht,“ womit er sagen wollte, daß ein jeder Mensch aus dem jetzigen Moment heraus sich das nächste selber schaffe, je nachdem was er tut, was er redet, was er denkt. Und wie bei einem rollenden Stein ein Moment der Bahn das nächste bestimmt, und dieses wieder das nächste, so auch beim Menschenleben. Nicht in den Händen eines Schwärmers oder der Gestirne liege unsere Zukunft, sondern in den Händen dieses Jetzt hier, das ich selber bin.
So predigte von jetzt ab Suriyagoda Jahr für Jahr hinter einem Palmblattfächer. Die Prophezeiung des Fakirs hatte er längst vergessen, aber der Fächer war ihm so zur Gewohnheit geworden, daß er überall der Fächerprediger hieß.
Einstmals, am Upósatha-Tage des Vessak-Monats veranstaltete der König eine große Feier zu Ehren des Erhabenen. Die ganze Straße von Anuradhapura bis Mihintale, zwei Wegstunden lang, war mit gelben und weißen Blüten bestreut. Überall am Wege hingen Fahnen und Banner.
Zur festgesetzten Stunde verließ der König seinen Palast in der Nähe des Jetavanarama-Dagoba mit dreiunddreißig Elefanten. Auf ihnen ritten die Adeligen, immer je vier in einer Reihe; an der Spitze aber der König auf dem Königselefanten, der von Gold und Edelsteinen glänzte.
Dieser Elefant war so einer, von dem man sagt: „Er hat seinen Rüssel preisgegeben.“ Denn ehe ein Elefant nicht im Kampf den Rüssel preisgibt, leistet er nicht das höchste. Hat er aber den Rüssel preisgegeben, so kann ihm nichts mehr widerstehen.
Hinter den Elefanten folgte die Mönchschaft vom heiligen Bo-Baum und der anderen Klöster Anuradhapuras in Sänften; dahinter aber das Volk zu Fuß.
Wie ein einziger Sadhu-Ruf ging es von der Hauptstadt bis hin nach Mihintale.
Als nun der Zug am Ambastalla-Dagoba angekommen war, da stiegen alle, selbst der König, ab; denn hier ist der heiligste Platz Ceylons nahe: die Höhle, in welcher Mahinda, König Açokas Sohn, der Apostel Ceylons, sein Leben in Heiligkeit, d. h. heil von Leidenschaften und Lüsten, verbrachte. Das Felsenbett auf dem Boden dieser Höhle ist heute noch zu sehen.
Hier nun stießen auch die Mönche von Mihintale, Suriyagoda mit ihnen, zum Zuge.
Vom Ambastalla-Dagoba stieg alles, der König an der Spitze, zum Mahasaya-Dagoba hinauf, auf jenen schwarzen Fels, in welchen flache Stufen hineingehauen waren. Wer aber unten die schneeweißen Gewänder auf dunklem Grunde leuchten und die goldenen Banner und Standarten in der Sonne funkeln sah, der meinte, es wäre das schönste Schauspiel, das Menschen überhaupt schaffen sowohl wie betrachten könnten.
Nun hatte es vor kurzem einen starken Regenfall gegeben und in den Löchern der Steinstufen standen noch Wasserreste. Als nun der König, Upatissa war sein Name, in feierlicher Langsamkeit hochschritt, da sah er in einer dieser Lachen ein Insekt dem Ertrinken nahe. Sofort regte sich Mitleid mit dem Lebendigen in ihm; er machte Halt und, indem er den flimmernden Pfauenwedel in die Pfütze hineintauchte, rettete er das Tierchen vom Ertrinken.
Als das umstehende Volk das sah, da wurden die Sadhu-Rufe noch viel freudiger. Denn wie der König[S. 18] es liebt, ein frommes gesetzes-freudiges Volk zu haben, so liebt auch das Volk, einen frommen König zu haben.
Mit dem Stillstehen des Königs ging eine Stockung durch den ganzen Zug und ein jeder fragte, was geschehen sei, wobei dann, sobald Antwort kam, das Sadhu-Rufen immer wieder aufs neue hochflackerte, wie ein Feuer, das über trocknen Grasgrund hüpft.
Auch Suriyagoda ließ seinen Palmblattfächer, der groß war wie ein Schild und ohne den er nie seine Zelle verließ, sinken und sah sich um. Dabei fühlte er ein paar Augen auf sich gerichtet und verbarg sich sofort wieder hinter seiner Wehr. Aber einige aus dem Volke hatten ihn gesehen und raunten sich zu: „Der Fächerprediger! Es ist der Fächerprediger!“ Er stand nämlich bei diesen Leuten in hoher Achtung. Denn wer einen reinen Lebenswandel führt und sich bezähmt, der verdient und erhält Achtung.
Nachdem nun der König und der ganze Zug den Mahasaya-Dagoba, ihn zur rechten Hand habend, feierlich umwandelt und auf allen Altären Blüten niedergelegt hatte, kehrten der Hof nach Anuradhapura und die Mihintale-Mönche in ihre Klausen zurück.
Am nächsten Morgen fand Suriyagoda die Schwelle seiner Hütte mit Blumen bestreut.
Gewöhnt an derartige Ehrfurchtsbezeugungen achtete er nicht darauf. Dieses wiederholte sich Morgen für Morgen und Suriyagoda tat nichts als täglich die Blumen wegzufegen.
Eines Abends gegen Dunkelwerden hörte er ein Geräusch vor seiner Tür. Als er öffnete, sah er ein junges Weib auf den Knien liegen, die Hände anbetend vor dem Gesicht.
Suriyagoda verharrte regungslos die schickliche Zeit. Denn der Mönch muß schicklicher Weise warten, bis der Laie seine Ehrfurchtsbezeugung vollendet hat.
Als das Weib aber liegen blieb, sagte er:
„Was ist?“
Die blieb erst regungslos, dann sagte sie leise:
„Das Glück, sagt man, Bhante, das Glück.“
Einen Moment war es, als ob sie sich aufrichten wollte, aber sofort sank sie wieder zusammen.
Suriyagoda schwieg betroffen. Dann sagte er ruhig:
„Geh!“
Und wieder das demütige, lockende:
„Das Glück sagt man ja, Bhante, das Glück.“
Dabei wiegte sie leise den tiefgesenkten Kopf, sodaß die Wellen bis zu den vollen Hüften zu gehen schienen.
Suriyagoda blickte starr gerade aus.
„Freilich, Weib! Das Glück, sagt man ja, das Glück. Aber was ihr da draußen Glück nennt, das ist Unrat und Verderben im Orden des Erhabenen. Und was ihr da Verderben nennt, das ist Glück und Schmuck im Orden des Erhabenen. Aber geh! Ich darf hier nicht zu dir reden.“
Der Körper des jungen Weibes zuckte von unterdrücktem Schluchzen. Mitleidig neigte sich Suriyagoda.[S. 20] Berühren durfte er sie nicht, aber er wollte ihr im Näherkommen seiner Stimme Trost geben.
Sei es nun, daß das Weib sehr erregt oder schnell gestiegen war: Indem Suriyagoda sich herabbeugte, stieg der Duft der Haut zu ihm empor. Verwöhnt, überempfindlich gemacht durch die strengen, aber keuschen Klostergerüche richtete er sich schnell auf. Dieser Duft war ihm zuwider. „Geh, geh!“ sagte er fast ungeduldig.
Bei dieser dritten Aufforderung erhob das Weib sich; die gefalteten Hände vor dem Gesicht behaltend wandte sie sich schnell und verschwand in der Dämmerung.
Gerade in diesen Tagen wurde das Kloster, in welchem Suriyagoda lebte, von einem schweren Schlag betroffen, indem der Abt, Suriyagodas Lehrer, plötzlich starb.
Suriyagoda war sein Lieblingsschüler gewesen. Jahrelang hatten sie sogar dieselbe Zelle geteilt — der Ältere, um stets Belehrung geben, der Jüngere, um stets Belehrung empfangen zu können.
Dem scharfen Auge des alten Denkers war Suriyagodas Charakter bis in seine Tiefen klar. Denn sobald man das Licht der eigenen Ichsucht ausgelöscht hat, sieht man jeden Schein im Innern des Anderen:
Dem Abte war nicht entgangen, daß Suriyagoda, trotz seiner Aufnahmefähigkeit für die Lehre des Buddha doch immer noch durch das körperliche Material, das er auf Grund seines Karma verarbeiten mußte, am fessellosen Erkennen gehindert wurde; daß er immer[S. 21] noch an der Fessel des Gottesglaubens krankte, wenn auch in jener reinen, höchsten pantheistischen Form des Vedanta, die aber, wo es auf völliges Durchdringen des Dharma ankommt, eben so hinderlich ist, wie der rohe Glaube an einen persönlichen Gott.
Eines Tages, nach längerer Unterredung sagte er zu Suriyagoda:
„Die Liebe, vor der du dich durch den Palmblattfächer schützen willst, ist gar nicht eine solche Liebe, daß man sich vor ihr durch äußere Mittel schützen könnte.“
Suriyagoda verstand nicht. Da jener aber nichts weiter sagte, so wagte er nicht zu fragen.
Der war nun plötzlich gestorben, aufrichtig betrauert von seinen Mönchen und seiner ganzen Gemeinde. Und das Kloster war vorläufig ohne Abt. Mancher munkelte, daß Suriyagoda trotz seiner Jugend (er war damals noch nicht 30 Jahr alt) sein Nachfolger werden sollte. Suriyagoda selber würde eine solche Ehrung ausgeschlagen haben. Sein Streben ging nicht auf Amt und Würden, sondern auf ein Leben stiller Nachdenklichkeit. Wer erkannt hat, wozu er lebt, der weiß auch, daß jeder Augenblick aufgeht im Arbeiten an sich selber, im stillen zähen Kampfe mit sich selber.
In der ersten Zeit nach dem Tode des Abtes, wenn die Mönche abends still und beklommen in der weiten Halle saßen, in welcher das flackernde irrende Kokosnuß-Lämpchen nur Schatten, nicht Licht zu geben schien, da tauchte leise immer wieder die Frage auf:[S. 22] „Wohin mag er wohl wiedergeboren sein?“, eine Frage, auf die freilich niemand eine andere Antwort geben konnte als die: „Dahin, wohin seine Taten ihn geführt haben.“ Denn nicht Vater und Mutter, sondern die Taten dieses Lebens wahrlich sind der Mutterschoß, aus welchem das nächste Leben hervorgeht. Deswegen ist es ja, daß der Buddha die Wesen „Karma-entsprossen“ nennt, nicht „Eltern-entsprossen.“
Daß der Alte weiter wandern mußte im Samsara, daß er Nirwana, das Ende, das Verlöschen, noch nicht erreicht habe, darüber war ja freilich kein Zweifel. Er selber hatte es noch in seinen letzten Stunden gesagt, aber in Ruhe und Fassung, so daß man wohl die frohe Hoffnung heraus hörte, nicht in niederen Wesenheiten wiedergeboren zu werden. Man wußte auch, daß der Verstorbene nicht ganz frei war vom Hängen an gewissen kleinen Lüsten dieser Welt. Fast scherzhaft war seine Neigung für Süßigkeiten gewesen und seine Anhänger, die seine Vorliebe kannten, hatten ihn stets reichlich damit versorgt.
Als nun eines Abends wieder die große Frage erörtert wurde: „Wohin mag er wohl wiedergeboren sein?“, da meinte einer der Klosterschüler, der mittags die Schalen der Mönche am Brunnen wusch, ein kleiner Knirps, aber keck wie einer:
„Beim Zuckerbäcker!“
Suriyagoda verwies ihm solche unziemliche Rede ernsthaft und sandte ihn zur Strafe aus der Halle;[S. 23] aber ein Weilchen herrschte Schweigen, weil jeder mit einem Lächeln kämpfte.
Von diesem Abende an wurde die Frage der Wiedergeburt des Abtes nicht mehr berührt.
Suriyagoda befand sich damals in einer merkwürdigen Verfassung. Im Verlauf jener Unterhaltung, an deren Schluß der Abt ihm gesagt hatte, daß jene Liebe, durch die er gehen müsse, nicht durch einen Palmblattfächer abzuwehren sei, hatten sie über den Wert der Religionen gesprochen und der alte Abt hatte das Christentum mit ungewohnter Schärfe abgetan. „Es befriedigt weder das Bedürfnis des Menschen nach Wissen, noch sein Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Laß dich,“ fuhr er eindringlich fort, „nicht durch dieses Aushängeschild der Liebe bestechen. Erste Pflicht der Menschen ist nicht die Liebe, sondern das Denken. Höchstes Menschtum liegt nicht im Lieben, sondern im Denken. Lieben tun die Tiere auch, denken tut nur der Mensch — und die Götter,“ fügte er mit einem Lächeln hinzu. „Liebe ohne denken ist, als ob der Karren den Ochsen zieht.“ Er meinte, Liebe solle stets vom Denken geleitet werden, nicht ihm vorauslaufen.
Dann hat Suriyagoda um die Erlaubnis gebeten, die Upanishaden in der Ursprache lesen zu dürfen. Er war der beste Sanskrit-Kenner des ganzen Klosters.
Der Alte hatte nicht gleich geantwortet. Die weichen Hände ein wenig fester zusammenpressend hatte er in den Klostergarten hinausgeblickt, wie interessiert[S. 24] in die letzten Regentropfen, die von den Palmblattwedeln an der Halle zur Erde fielen. Dann hatte er ruhig gesagt: „Wenn du willst, so lies.“ Nach diesem hatte er dann jene Worte von Suriyagodas Liebe gesprochen, die der Mönch nicht verstanden hatte.
Noch am selben Abend hatte Suriyagoda seine Lektüre begonnen. Er las und las. Ihm war, als ob er ertrinken müßte in diesem Gedanken-Ozean. Was waren das für Menschen, diese Gott-Trunkenen, Yajñavalkya, der in Worten und Gedanken spricht, welche Himmel und Erde gleichsam mühelos in sich hineinsaugen; diese Maitreyi, die da sagt: „Gieb mir nicht, was man Weibern gibt — jenes große Wissen gib mir, das du hast.“ Sie meinte das Wissen von der Einheit zwischen Mensch und Gott. War es nicht etwas ungeheuerliches, mit einem einzigen Erkenntnisakt jenes Wissen zu erreichen, das Seligkeit gibt für immer! Denn kann der Mensch größere Seligkeit fühlen, als die Erkenntnis: „Ich und Gott, wir sind eines Wesens; ich Gottes, Gott meines Wesens und Täuschung, wahrlich, ist das, was mich von der All-Einheit trennt.“ Wie anders, wie erhaben war das alles in Vergleich zu diesem dürren, nüchternen, mühevollen, ja unerhört hartem Ringen mit jeder Tat, jedem Wort, ja jedem Gedanken, wie die Lehre des Buddha es verlangt. Diese schreckliche, fast aussichtslose Arbeit des Gedankenbändigens, das Stillstellen der ewig mahlenden Räder, die sich selber mahlen, wirft man kein Korn zwischen sie.[S. 25] Wie eine Art Wollust überkam es ihn, wenn er an die Geheimnisse jenes mystischen Lautes dachte, den der Gott-Ergriffene von der zitternden Lippe schweigt. Kurz: Er sehnte sich aus der harten Arbeit des ewig wachen Denkens in die mollige Ruhe des Gottfriedens, wie der Knecht nach den Fleischtöpfen des Herrn.
Alle diese Stimmungen und Gefühle fanden ihr ständiges Gegengewicht im Dasein seines Lehrers. Mit dessen Tode ging das Steuer seines Lebensschiffes verloren. Immer tiefer arbeitete er sich in diesen Zwiespalt zwischen Verstand und Gemüt, zwischen Belehrung und natürlicher Neigung. Immer wieder freilich sagte ihm der Verstand: „Die Wahrheit lehrt der Tathāgata. Nur hier, wo gezeigt wird, daß ich selber Frucht meiner Taten bin, nur da ist Gesetz; nur wo Gesetz ist, ist Gerechtigkeit; nur wo Gerechtigkeit ist, ist Befriedigung.“ Aber das Erdige an ihm, das von Vater und Mutter stammte, hing sich wie ein Gewicht an den Flug dieses reinen Erkennens. Immer wieder raunte es in ihm: „Wenn es doch ein Ewiges gäbe! Wenn es doch eine Seligkeit gäbe, jenseits! Wenn dieses „Neti, Neti“ der Upanishaden doch dereinst unerhörte Wirklichkeit werden könnte! Wenn die alten Rishis doch Lehrer wären und nicht Schwärmer!“
Eines Tages ging er, müde vom fruchtlosen Denken, gegen Abend zum Ort hinunter. Er fühlte das Bedürfnis, andere Menschen um sich zu sehen, auch wollte er sich am Ufer des Sees, der einem großen Lotusteich glich, ergehen.
An einem abgelegenen Winkel, von den überhängenden Zweigen eines wilden Mangobaumes halb verdeckt, sah er einen Mönch aus dem Nachbarkloster sitzen. Der saß, die Beine gekreuzt, die Hände ineinander gefaltet, hoch aufgerichtet, da, und wiederholte immer das eine Wort: „Wasserkranich, Wasserkranich!“
Erstaunt hörte Suriyagoda ihm eine Weile zu; dann, weil der Andere ihn gar nicht bemerkte, räusperte er sich, trat höflich näher und ließ sich zu seiner Rechten nieder. Dann begann er:
„Bruder, ist wohl eine Frage erlaubt?“
„Freilich, Bruder.“
„Weshalb sagtest du eben in einem fort das Wort ‚Wasserkranich, Wasserkranich‘?“
Der sah ihn verdutzt an, dann erwiderte er:
„Bruder, nicht ‚Wasserkranich, Wasserkranich,‘ sondern ‚Vergänglichkeit, Vergänglichkeit‘ habe ich gesagt.“
„Verzeih, Bruder. Du sagtest ‚Wasserkranich, Wasserkranich‘.“
Da schlug sich der andere vor die Stirn und rief:
„Schöne Geschichte! Der Abt hat mir als Aufgabe zum Meditieren ‚Vergänglichkeit, Vergänglichkeit‘ gegeben, nun sitze ich hier und sehe die Kraniche auf dem Wasser hin- und herziehen, und statt, ‚Vergänglichkeit, Vergänglichkeit‘ sage ich ‚Wasserkranich, Wasserkranich‘.“ (Beide Worte unterscheiden sich nämlich nur durch einen Laut, so daß sie leicht zu verwechseln sind.)
Dabei lachte er lustig und auch Suriyagoda lachte[S. 27] so kräftig, wie er seit Jahren nicht gelacht hatte. Denn stille Heiterkeit gehört sich wohl im Orden des Erhabenen, aber hörbares Lachen ist nicht schicklich.
Als er zurückkehrte, dachte er bei sich: „So ist das nun, und das wird daraus.“ Er meinte: So ist die Lehre beschaffen, daß sie in dieser geistlosen Weise verarbeitet werden kann. Er fühlte auch nicht einmal, daß er ungerecht urteilte; denn zu geistloser Verarbeitung bietet auch die Lehre der Upanishaden Anhalt zur Genüge.
Der Zufall wollte es, daß er auf dem gleichen Spaziergange in der Nähe der großen Eingangspforte, auf dem Wege, der zum Rajagiri-Lena führt, zwei Männer traf, die auf einer Stange einen Sack trugen. Als sie an Suriyagoda vorbeigingen, sagte der eine: „Bhante, verzeiht, daß wir heute nicht Ehrfurcht erweisen können. Es ist dieses wegen da.“ Dabei zeigte er auf den Sack.
„Was habt ihr denn in dem Sack?“ fragte Suriyagoda.
„Herr“, antwortete derselbe Mensch, der vorhin gesprochen hatte, „es ist eine Cobra, dick wie mein Arm. Wir sollen sie töten.“
„Seit wann tötet ihr denn Lebendiges?“ fragte Suriyagoda erstaunt.
Der Mensch schwieg.
„Herr,“ begann der andere, „wir sind arm; es ist des Lohnes wegen.“
Damit schien sich dem ersten die Zunge wieder zu lösen und er begann eilfertig:
„Herr, die Sache ist die: Der Alte, unten am See, der die Lotusblüten auf dem Brett feil hält, hat uns gedungen, sie zu töten. Er sagt, es ist eine schlechte Schlange. Vor vier Jahren ist sie zu ihm an den Feuerplatz gekommen, da hat er ihr gesagt: ‚Was willst du hier? Das ist nicht dein Haus. Du weißt, dein Haus ist das Djangel‘. Darauf wendet sich die Schlange schnurstracks und huscht zum Walde zurück. Sie war damals noch eine gute Schlange. Gestern Abend nun tritt der Alte auf seine Plattform. Was liegt da? — die Cobra! — aufgerollt und zischt. Sie ist dick wie mein Arm, Herr. Er nimmt ein Steinchen und wirft es ihr zu. Ist so erschrocken, daß er ihr nicht zureden kann. Sie geht weg. Heute ist sie wieder da, zischt wieder. So meint der Alte, wenn er mal im Dunkeln auf sie tritt, wird sie ihn töten. Deswegen bat er uns, sie zu fangen und im Sack auf die Straße zu legen, daß ein Elefant sie zertritt.“
„Weiß denn der Alte unten, daß es die nämliche ist, wie vor vier Jahren?“
„Sicherlich Herr!“
„War sie denn damals schon ebenso dick?“
„Nicht doch Herr; sie war damals klein.“
„Wie kennt er sie denn wieder?“
„Er weiß es eben, Herr.“
Und wie zur Bekräftigung fügte der andere hinzu:
„Es ist so, Herr.“
Suriyagoda ging weiter und die beiden gingen[S. 29] die Straße entlang. Er hatte nicht das Recht, diesen Menschen zu sagen: „Ihr dürft nicht töten! Laßt das Tier frei! Seid ihr ihm wirklich wohlgesinnt, so wird es nicht beißen.“ Aber wieder deutete er parteiisch. Er dachte bei sich: „Ein Brahmane würde das nicht tun. Er würde eher sterben.“
In der nächsten Nacht hatte Suriyagoda einen Traum. Er sah den verstorbenen Abt, seinen Lehrer, greifbar deutlich vor sich stehen. Der sagte zu ihm:
„Suriyagoda, gehst du früh zum Eßsaal, ohne vorher im Vihara gewesen zu sein?“
Der Mönch erwachte mit einem Schreck, den Traum noch lebendig vor sich. Fast verdrossen fragte er sich:
„Was soll das? Ich bin doch nie zum Eßsaal gegangen, ohne vorher im Vihara gewesen zu sein.“ Aber da sein Gewissen der Lehre wie dem Lehrer gegenüber nicht rein war, so begann er seine Betübungen zu verlängern. Er entzog sich Schlaf, woran er nicht gewohnt war, — denn die Jünger des Buddha sind wohl an ein strenges, aber nicht an ein asketisches Leben gewöhnt — und wurde matt und überreizt dabei.
Die Mönche badeten damals im Naga-Pokana, dem Schlangenbad, so benannt, weil an der Felswand der einen Seite eine mächtige, dreiköpfige Cobra ausgemeißelt war.
Eines Tages geschah es, daß er sein Bad außer der Zeit d. h. gegen Abend nahm und infolgedessen allein badete.
Als er, wie es bei den Mönchen Sitte ist, mit dem losen Untergewand bekleidet, langsam ins Wasser stieg, sah er aus der Tiefe eine weibliche Person sich entgegenschweben, schön wie eine der Asparasen. Als er aber hinblickte, da sah er, daß es sein eigenes Spiegelbild war. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie mager und großäugig er geworden war. Halb belustigt, halb verächtlich lachte er auf:
„Soweit hätte ich es also gebracht, daß ich am hellen Tage von Weibern phantasiere.“
Still setzte er sich auf einen Fels und blickte auf dieses unvergleichliche Landschaftsbild zu seinen Füßen. Die Sonne ging zur Rüste, glorreich wie ein Held, in einen schier überwältigenden Strahlenmantel gehüllt. Über der unendlichen Waldfläche lag ein duftig violetter Schimmer und scharf hoben sich zur Linken die Dagobas von Anuradhapura — das Dreigestirn Ruanweli, Abhayagiri und Jetawanarama — aus dem grünen Meer — die ganze Welt ein einziger, stiller Feiertag.
Er saß da, der Körper gespannt, das Auge rücksichtslos am glühenden Sonnenball hängend. „Was ist dieses Leben ohne ein Göttliches“ sagte er endlich leise, als ob er sich vor dem Schall der eigenen Stimme fürchte. „Eine Nacht in der Fremde.“
Er begann leise den Oberkörper hin und her zu wiegen. Plötzlich wurde er sich dieser seiner Bewegung bewußt. „Weshalb wiege ich denn hin und her wie ein Elefant im Stall?“ dachte er. Dabei fiel ihm[S. 31] jenes Weib ein, das neulich abends liebebettelnd auf seiner Schwelle gelegen hatte. Er sah das Wiegen des flechtenschweren Kopfes, das bis zu den Hüften herab ging. Er hatte alles wohl gemerkt, trotzdem er geradeaus gesehen hatte. Einen Moment wohl durchfuhr es ihn: „Sollte nicht auch das Glück der Umarmung gesucht werden?“ Aber das waren nicht die Bilder, an welchen Suriyagodas Phantasie haftete. Noch ehe ausgedacht, war der Gedanke schon verdrängt von diesem rastlosen Suchen, diesen Qualen seiner großen Liebe.
Als er ins Kloster zurückkehrte, fand er Leute beschäftigt, Ehrenbogen aus Bambus zu errichten. Da es nicht die Zeit des Voll- oder Neumondes war, so fragte er einen dabei stehenden Mönch nach der Ursache. Der sah ihn erstaunt an. „Weißt du nicht, Bruder, daß morgen der neue Abt einzieht?“
Suriyagoda wußte von nichts. Ganz in seinen Gedanken und Zweifeln ertrunken, hatte er diese ganze Zeit wie abwesend gelebt.
Am nächsten Morgen hielt der neue Abt seinen feierlichen Einzug auf dem heiligen Fels, von den Theras in Anuradhapura geleitet.
Fast mit Schrecken sah Suriyagoda, daß es jener Mönch war, mit dem er vor so vielen Jahren von seines Vaters Hause nach Mihintale gezogen war. Die Jahre hatten ihn wenig geändert.
Als er in dieses strenge und doch milde Mönchgesicht sah, fühlte er blitzartig: „Dieser wird Hilfe bringen.“
Einzeln knieten die Mihintale-Mönche vor dem neuen Oberhaupte nieder, mit vor der Stirn gefalteten Händen dreimal den Erdboden berührend. Danach versammelte sich alles in der großen Halle, wo für jeden in zwei gegenüberlaufenden Reihen ein Kissen bereit lag.
Nach dem Range, d. h. nach dem Alter in der Mönchschaft, ließ man sich nieder, so daß die Ältesten im Orden an einem Ende, die Jüngsten am andern Ende zu sitzen kamen.
Suriyagodas Sitz fiel etwa auf die Mitte. Zerstreut und befangen saß er da. Ihm war, als ob der Abt die Augen auf ihn geheftet hielte, er wagte aber nicht hinzusehen.
Plötzlich stand ein jüngerer Mönch vor ihm, der ihm leise sagte, daß der Abt ihn zu sich wünsche. Er blickte hastig auf, da sah er jenen sich zulächeln.
Als Suriyagoda vor ihm kniete, sprach jener nicht sofort. Suriyagoda fühlte, daß er ihn prüfe und wandte das Gesicht so tief zum Boden wie möglich.
Dann begann der andere in einer milden und liebreichen Stimme, die von der Strenge seines Gesichtes merkwürdig abstach, sich nach seinem Ergehen in all diesen Jahren zu erkundigen. Es waren nur wenige leise Worte auf beiden Seiten; dann wurde Suriyagoda mit demselben liebreichen Lächeln entlassen.
Von diesem Augenblick an wurde der junge Mönch nicht mehr von dem Gedanken verlassen: „Dieser kann[S. 33] Hilfe bringen.“ Daneben aber wurmte stets der gleiche Zweifel: „Wenn ich ihn frage und er auch keine Hilfe weiß — was dann?“ So geschwächt war sein Willenssystem, daß er das Bewußtsein einer möglichen Hilfe dem Versuch einer wirklichen Hilfe vorzog.
An den Voll- oder Neumondtagen nahm er sich wohl vor, zu beichten, aber kam es dann so weit, so zerschellten diese Versuche stets an der Frage: „Was soll ich denn nur beichten?“ Das, mit dem er rang, diese Urneigung zu einem Göttlichen, hatte sich für ihn noch gar nicht klar genug, begriffsmäßig formuliert, um es zum Gegenstand einer Beichte zu machen. Überdies beichten mußte man Fehler. Was man beichtet, erkennt man allein durch den Akt des Beichtens als Fehler an. Und dieses Ringen mit dem Göttlichen — war denn das überhaupt ein Fehl? Sagte nicht alles rings um ihn, sagte nicht sein eigenes Dasein immer nur das Eine: „Es muß ein Schöpfer, es muß ein Erhalter da sein!“
Also so geht es mit der Lehre des Buddha, wenn man sie nur mit dem Verstande begreifen will, ohne sie an sich selber zu verwirklichen. Man gleicht dem Toren, der vor der vollen Schüssel Reis sitzt und sagt: „Nicht eher will ich hiervon essen, bis ich verstehe, wie und warum diese Nahrung sättigen kann.“
Auf einem seiner einsamen Spaziergänge, als er, wie immer in grüblerische Zweifel versunken, wieder einmal sich selber verloren hatte, kam ihm plötzlich der[S. 34] Entschluß, den Orden ganz zu verlassen, ins Haus seines Vaters zurückzukehren und dort in der Weise seiner Vorfahren weiter zu leben.
So mächtig überwältigte ihn dieser Gedanke, daß er beschloß, ihn auszuführen so wie er ging und stand. Ohne erst ins Kloster zurückzukehren, wollte er sich sofort auf den Weg nach Anuradhapura machen. Prüfend sah er nach der Sonne. Sie neigte sich schon merklich, aber er konnte kurz nach Sonnenuntergang in seinem Vaterhause anlangen. Seit vielen Jahren hatte er nichts mehr von dort gehört, ja er wußte nicht einmal, ob sein Vater noch am Leben war. Für den Alten selber war dieser Sohn tot. Ein Sohn, der die Götter der Väter verlassen hatte, der die Opfer verachtete, konnte sein Kind nicht mehr sein. Ganz allmählich, ohne Haß, aber auch ohne Rücksicht, hatte er den Sohn abgestoßen, wie der Baum einen welken Zweig abstößt.
Halb willenlos bog Suriyagoda in den ersten Seitenpfad ein, der von der heiligen Höhe, wo Reinheit und Keuschheit herrschte, in die Ebene hinabführte, zu den Menschen mit ihren Sorgen und ihrem Schmutz.
Er ging hier durch dichten Urwald, über dem es schon wie Abendstimmung lag. Hier und dort ließ sich das hohle Brüllen eines Affen vernehmen. Jetzt hörte Suriyagoda ein schweres Geräusch dicht über sich in den Zweigen. Es waren zwei dieser häßlichen Tiere, die miteinander kosten.
Widerwillig blickte er vor sich auf den Weg. „Überall Liebe, überall Liebe!“ Eilig schritt er weiter. Dieses Dämmerlicht des Urwaldes war ihm trotz der langjährigen Gewohnheit immer noch unheimlich.
Wieder hörte er ein schweres Geräusch, aber diesmal weit abseits im Dickicht. Er fuhr zusammen. „Ein Elefant?“ Dann sich seiner Furcht schämend, blieb er trotzig stehen. Er wollte in klarem Bewußtsein diese Gefühle der Feigheit vorübergehen lassen.
Regungslos stand er da, den Blick fest auf den Boden geheftet. Ein Zug von Ameisen lag wie ein dunkler Strick vor ihm quer über den Weg hin, die eine Hälfte des Heeres in der einen Richtung, die andere ihr entgegen strebend, und jede in einer Hast, als gelte es, die letzte Stunde dieses Lebens auszunutzen.
„Es ist die blinde Liebe für ihr Heim, das sie treibt,“ dachte Suriyagoda, während er nachdenklich auf dieses Gewimmel blickte.
Plötzlich wieder dieses schwere Geräusch im Dickicht, aber näher. Das mußte ein Elefant sein. Er fühlte, wie ihm die Knie zitterten. Solche einzeln umherschweifenden Elefanten sind nicht wie Herden-Elefanten friedlich, man möchte fast sagen kultiviert, sondern sie sind das schlimmste und bösartigste Wild, das ein Mensch treffen kann.
Er wollte davon stürzen. Aber im nächsten Augenblick kam wieder diese Scham vor sich selber. „Ich will mich nicht fürchten,“ sagte er fast störrisch. Dabei[S. 36] stemmte er den Fuß in den Erdboden des Fußwegs wie ein Ringer, der einen Halt gegenüber dem Gegner sucht. „Ehe ich mich fürchte, will ich wissen, warum ich mich fürchte.“
Indem sah er etwas Weißes durch das Dickicht schimmern und ein Mensch arbeitete sich, halb kriechend an den Weg heran, auf dem Suriyagoda stand.
Es war Wogiswera, der Arzt und Schulmeister unten im Dorf.
Verwirrt sah der Mönch ihn an, als er herantrat und sich tief verneigte.
Ehe er das tat, legte er vorsichtig eine Art Grabstock und ein in weiße Baumwolle gehülltes Bündelchen beiseite. Nach der Begrüßung richtete er sich schnell auf und nahm Stock und Bündelchen wieder an sich. So schritten sie schweigend den Pfad abwärts weiter, Suriyagoda zu sehr mit der Scham über sich selber beschäftigt, um den anderen zu fragen, Wogiswera zu bescheiden, um den Mönch, dem man Ehrfurcht schuldet, anzureden.
Mit einer Art Ingrimm wiederholte Suriyagoda sich immer wieder: „Wovor habe ich mich denn nun gefürchtet! Ist in allem das Göttliche und alles im Göttlichen — woher dann die Furcht? Wie stehts wohl mit meinem Glauben! Schlecht stehts! Du Narr, du Narr nach beiden Seiten hin!“
Er lachte kurz auf.
Wogiswera warf ihm einen scheuen Seitenblick zu.[S. 37] Er war ein Mann, fast doppelt so alt als der Mönch. Früher selber Mönch gewesen, war er vor langen Jahren, kurz ehe Suriyagoda in Mihintale in den Orden trat, in die Fesseln der Liebe gefallen, hatte geheiratet und Kinder gezeugt und erwarb sich jetzt seinen Unterhalt mit Unterrichten der Kinder des Dorfes und mit dem Heilen von Krankheiten.
Von Natur redselig, fiel ihm nichts schwerer als das Schweigen. So benützte er den Augenblick, wo Suriyagoda auflachte und sagte:
„Es ist schwer, Herr, es ist schwer.“
Der Mönch sah auf. Sein Blick blieb auf dem weißen Bündelchen Wogisweras hängen.
Unvermittelt fragte er:
„Was hast du denn da in dem Bündelchen?“
Sofort begann Wogiswera:
„Seht hier, es sind Kräuter darin; Heilkräuter für meine Frau. Sie ist krank, schwer krank und fünf Kinderchen! Es ist schwer. Ein gutes Weib, Herr! Das beste Weib der Welt. Ich will euch erzählen, wie sie krank wurde. Sie war guter Hoffnung, müßt ihr wissen. Da bekommt sie neulich Verlangen auf Zucker, weißen Zucker. Schickt den Diener hin. Weil ihr der zu lange bleibt, tritt sie selber in die Gartenpforte, um nach ihm auszusehen. Da sieht sie ihn, am Zucker naschend. Um ihn nicht zu beschämen — bedenkt, Herr, um ihn nicht zu beschämen, bückt sie sich schnell zur Erde, als ob sie da was zu schaffen hätte.[S. 38] Und dabei ist das Unglück gekommen. Sie war immer schwach und zart. Jetzt diese Last! Fünf Kinderchen und kein Weib im Hause, nur Unruhe und Geschrei. Ach, Herr, wenn ihr wüßtet, wie oft ich an den Klosterfrieden zurückdenke.“
„Möchtest du wieder in den Orden zurücktreten?“
„Ach, wie gern Herr! Aber kann ich! Jetzt sind es tausend Fäden, damals war es einer, ein einziger. Ich hätte ihn zerreißen können — so!“ Damit nahm er einen dürren Grashalm und zerriß ihn zwischen den Fingern. „So leicht ist es im Anfang, der Lust zu widerstehen. Je später, je schwerer.“
In diesem Augenblick drang der Ton der Klosterglocke von oben her zu ihnen, tief dunkel, dröhnend, die letzte Tagesstunde anzeigend.
Unwillkürlich blieben beide stehen und lauschten. Beide zählten die Schläge, einen nach dem andern.
Nachdem der letzte Schlag verklungen war, begann Wogiswera wieder:
„Seht, Herr, es ist im Leben gerade wie hier. Ein Schlag ist wie der andere, — einfach ein Schlag. Zählt ihr aber mit, so bekommt eben ein Schlag Sinn und Wert aus dem andern. Was ist der letzte Schlag anderes wie der erste? Ein Schlag schlechthin. Habt ihr aber vom ersten Schlag ab mitgezählt, so ist es der höchste Schlag, den es schlägt. So ist es im Leben, Herr. Es ist eines wie das andere, ein Schlag schlechthin. Zählt man aber mit, so bekommt eines aus[S. 39] dem anderen Sinn und Bedeutung und je länger man mitzählt, um so höher wird der Wert. Man muß sich nun fügen. Es ist zu spät jetzt. Bin ich mehr als der Buddha! Er verließ ein Söhnchen, kann ich fünf verlassen?“
„Habt ihr fünf Söhne?“ fragte Suriyagoda zerstreut.
„Das nicht Herr. Ich meine nur so. Fünf Kinderchen.“
Er schwieg und Suriyagoda verfiel wieder in sein Grübeln.
Plötzlich begann er:
„Fürchtest du dich nicht im Djungel?“
Wogiswera schüttelte den Kopf. „Nein, Herr. Ich kenne den Schlangenzauber und ich kenne den Elefantenzauber, und der Elefantenzauber ist so stark, sagen sie, daß er für die Bären mit hilft.“
„Er glaubt,“ dachte Suriyagoda. „Darum fürchtet er sich nicht.“
Indem stießen sie auf den Hauptweg, der nach rechts hin zum Kloster hinauf, nach links hin zum Dorf hinabführte.
„Hier geht euer Weg, Herr,“ meinte Wogiswera, bergauf zeigend. „Ich muß mich eilen. Es ist schon fast dunkel.“
Dabei legte er Stock und Bündelchen abermals schnell beiseite, kniete nieder und verabschiedete sich von dem Mönch. Wie urplötzlich alles eigenen Willens beraubt, wandte der sich sofort zur rechten und stieg den bekannten Weg zum Kloster hinan, während der andere halb springend bergab eilte.
Im Kloster angelangt, begab Suriyagoda sich sofort, ehe er noch seine Zelle betreten hatte, zum Abt, jetzt fest entschlossen, alles rückhaltlos zu beichten. Seinen Plan, das Kloster und den Orden ohne vorherige Ankündigung zu verlassen, mußte er doch beichten.
Der Abt saß in seinem hohen, luftigen Gemach, das durch die spärliche Beleuchtung noch größer aussah, auf einem sehr niedrigen Stühlchen, das Suriyagoda sich nicht erinnerte, je bei ihm gesehen zu haben. Es war so niedrig, daß Suriyagoda, als er vor ihm niederkniete, fast in gleicher Höhe mit ihm sich befand.
Der Abt hatte ein Palmblatt-Manuskript vor sich und schien darin zu lesen oder doch darüber nachzudenken. Das Licht stand hinter ihm, so daß sein Gesicht im Dunkeln war, während auf Suriyagodas Gesicht voll der Schein der Flamme fiel.
Es war weder Neu- noch Vollmondtag. Trotzdem, als der Mönch seine Bitte aussprach, heute beichten zu dürfen, gab jener durch Schweigen seine Zustimmung.
In innerer Hast begann Suriyagoda, weit ausholend, aber Jahre zusammendrängend. Er erzählte vom Fakir, der ihm die große Liebe prophezeit habe, vom Palmblattfächer, vom alten Abt. Dann, wie ein vulkanischer Ausbruch, stoßweise, unzusammenhängend rang sich aus ihm das Bekenntnis seiner inneren Kämpfe, dieses schreckliche Ringen zwischen Verstand und Gemüt, das ihn zu entmannen drohe. An den heutigen Fluchtversuch dachte er gar nicht mehr; er wäre auch zu erschöpft gewesen, noch von ihm zu sprechen.
Der Abt saß regungslos. Man hätte ihn für einen Schlafenden halten können, wenn das Auge nicht voll, aber mit eigenartiger Starrheit auf einen Lichtreflex gerichtet gewesen wäre, den die hinter ihm stehende Flamme auf dem Metallbeschlag des kleinen Schreines, der die heiligen Schriften enthielt, spielen ließ. Es war wie ein mildes aber starkes Sprühen, ein Licht-Wogen. Wie ein mächtiges Auge leuchtete es aus der Tiefe des dunklen Zimmers heraus.
Als der Mönch geendet, herrschte langes Schweigen. Der Abt starrte unentwegt in den glänzenden Lichtknauf vor ihm. Endlich begann er leise und eintönig:
„Ich höre dieses und du, Bruder, höre auch. Es ist, als ob die Glocke die letzte Tagesstunde verkündet. Ein Schlag, noch einer — noch einer — zwölf Schläge. Jedes ein Schlag schlechthin. Zählt man aber mit, so erhält ein Schlag aus dem andern Wert und Sinn — ja so ist es: Wert und Sinn einer aus dem andern.“
Weit aufgerissenen Auges starrte Suriyagoda den Sprecher an. Dessen Augen hingen immer noch starr am Lichtknauf. Tiefer noch als sonst lagen die harten Furchen des mageren Gesichtes. Die Lippen bewegten sich lautlos, gleichsam mechanisch den letzten Worten nachschwingend.
Plötzlich ging es wie ein Erwachen durch seine Züge. Das Auge, bisher gleichsam auf eine Unendlichkeit eingestellt, nahm Leben an. Er seufzte leicht auf und[S. 42] alles schien vorüber. Mit seiner gewöhnlichen milden Freundlichkeit blickte er auf den zu seinen Füßen knieenden Mönch. Er nahm jetzt einen höheren Sitz und es lag fast wie ein schelmisches Lächeln auf seinen Zügen, als er sagte:
„Bruder, müssen wir nicht alle durch eine große Liebe gehen? Der eine nennt sie Weib, der andere Kind; der eine Geld, der andere Ehre, und noch ein anderer nennt sie Gott. Aber alles dieses, mag es heißen wie es will, es ist ja nichts als die Liebe zum eigenen Ich. Denn: ‚Nicht um der Gattin willen ist die Gattin lieb — um des Selbstes willen ist die Gattin lieb.‘“ Und an diese Worte aus den Upanishaden anschließend fuhr er fort:
„Nicht um des Göttlichen willen ist das Göttliche lieb — um des Selbstes willen ist das Göttliche lieb. Was aber ist das Selbst? Ist, Bruder, dir wohl ganz klar geworden, was das Selbst ist? Ist, Bruder, dir wohl das Verständnis aufgegangen, daß das Ich wesenlos ist, wie die Flamme sich selbst unterhaltend durch die Nahrung, die es in jedem Augenblick heranreißt. Ist aber, Bruder, dieses Verständnis dir nicht ganz klar aufgegangen, daß das Selbst wesenlos ist; geht es dir wie jenen, die am Tage vor dem Vollmond zweifelnd fragen: ‚Ist der Mond wohl heute schon voll? Ist der Mond wohl heute noch nicht voll?‘, nun so hast du eben um solche Einsicht, um solche Erkenntnis, um solches Wissen, um solche Weisheit [S. 43]unermüdlich zu ringen. Aber es ist ja so, Bruder! Weil man sich selber nicht kennt, deswegen liebt man sich selber. Und weil man sich selber liebt, deswegen liebt man Gott. Hat man aber sich selber erkannt, hat man begriffen: ‚Von Anfangslosigkeit her brenne ich, mich selber unterhaltend, durch die Kraft meines Wollens‘ — Bruder, was soll da noch der Gott? Es ist ja alles klar geworden!“ Bei den letzten Worten machte er eine leise Bewegung mit der Hand, die aber den Eindruck machte, als umschriebe er das ganze Weltall.
Suriyagoda hatte regungslos zugehört. Nach den letzten Worten erhob er sich schweigend. Vor der Tür seiner Zelle, da wo das Weib die Blumen hingelegt hatte, nahm er Platz. Die Nacht war mondlos aber sternklar und wie leises Seufzen kam es aus dem Dunkel des nahen Waldes, wenn der Nachtwind durch die Bäume ging.
So saß er, kreuzbeinig, den Körper gerade aufgerichtet, die Hände verschlungen, das Auge fest nach innen geschlagen, die ganze Nacht. Als er zum ersten Male aufblickte, glänzten die Dagobas von Anuradhapura bereits im ersten Schein des neuen Tages. Jetzt schoß hinter ihm der Sonnenball hoch und übergoß alles ringsum mit seinem Licht.
Suriyagoda erhob sich still, schüttelte einmal kräftig sein Gewand, ordnete es frisch und begab sich zum Abt. Wieder vor ihm niederknieend bat er um die Erlaubnis, von heute ab ohne Fächer lehren zu dürfen.
Der gab still lächelnd seine Zustimmung. Er wußte: „In dieser Nacht ist dieser Bruder durch seine große Liebe hindurchgegangen, ist im Licht aufgetaucht, wird im Lichte bleiben.“
So war es mit Suriyagodas Erwachen.
iese Geschichte fängt an wie ein Märchen:
Es war einmal ein Mann, der lebte in der heiligen Stadt Kandy und dazu garnicht weit vom Tempel des heiligen Zahnes. In der Gesetzes-Gasse hatte er einen Laden und ernährte sich schlecht und recht.
Als dieser Mann fühlte, daß es mit ihm wohl bald zu Ende gehen könnte, sprach er zu seinem Sohn: „Nala, mein Sohn, du weißt, deine Mutter und Geschwister haben uns schon verlassen und sind weiter gewandert, (er meinte: sie sind gestorben und haben eine neue Wiedergeburt erlebt.) Auch meine elende Körperform, dieser Haufe Sankhāra steht im Begriff sich aufzulösen und sich zu neuer Form wieder zusammen zu schließen; denn das Nirvāna ist mir noch fern. Nun habe ich viel geschwankt, ob ich mein Hab und Gut dem Tempel zum heiligen Zahn vermachen oder dir hinterlassen soll. Als ich dich aber neulich[S. 46] deswegen befragte, und du antwortetest: ‚Wie es dir beliebt, Vater,‘ da sah ich, daß du die glückselige Gabe der Nachdenklichkeit besitzest und daß du das Geld nicht dazu verwenden wirst, nur noch mehr zusammen zu häufen. Darum will ich dir alles hinterlassen, nicht um dich träge zu machen, sondern um dir das Leben der Nachdenklichkeit zu erleichtern. Denn es ist schwer, nachdenklich zu sein, wenn man sein tägliches Brot erjagen muß. Aber heilig und teuer mußt du mir zweierlei geloben: Erstens beherzige stets den Satz des Buddha: ‚Wer nichts Liebes hat, der hat auch nichts Leides‘ und zweitens: stelle nie eine Frage an ein Weib.“
Der Sohn versprach heilig und teuer, es sein Leben lang wie ein Gelübde zu halten.
Darauf fuhr der Vater fort: „Dieses habe ich von dir verlangt, weil ich dir all mein Gut hinterlassen habe, wo es doch viel verdienstlicher für mich wäre, und mir bessere Wiedergeburt sichern würde, wenn ich es dem Tempel schenkte. Denn du weißt, mein Sohn, daß im Tode die Wege von Eltern und Kindern sich trennen, und daß niemand mit uns geht als unsere Tat. Jetzt gebe ich dir aber einen guten Rat, den du befolgen magst oder nicht: führe nicht diesen Handel fort, den ich führe. Mein Karma war es, Weib und Kinder zu haben; darum mußte ich Handel treiben, um sie zu ernähren. Am makellosesten lebt aber der Mensch, wenn er von der Erde lebt. So kann er andere am wenigsten schädigen.“
Auch diesen Rat versprach der Sohn zu befolgen.
Einige Zeit danach starb der Alte. Der Sohn betrauerte ihn in gebührlicher Weise, weil er aber ein guter Sohn war, so tröstete er sich mit dem Gedanken an die Vergänglichkeit alles Entstandenen. Dann nahm er alles, was sein Vater ihm hinterlassen hatte, und kaufte sich oben am Berge auf der anderen Seite ein Häuschen mit einem Stück Land und lebte dort einsam, aber friedlich. Wenn er in die gewaltige Ebene zu seinen Füßen sah, in der die fernen Felsrücken Schiffen im Ozean glichen, und die Ströme Silberadern, dann war ihm so froh, so ruhig zu Mut. Tag für Tag dachte er: „Wie herrlich ist dieses Leben. Wer nichts Liebes hat, der hat auch nichts Leides.“
Eines Tages nun sah er in seinem Garten ein Vögelchen, das war nicht bunt und schillernd wie die anderen, sondern einfach schwarz und weiß gefärbt und wippte mit dem Schwänzchen, daß es ein Vergnügen war, es zu sehen.
Nala dachte: „Was bist du denn für ein kleiner Patron?“ und blieb behutsam stehen, um es nicht zu stören. Da begann das Vögelchen eilig zu tippeln und nach Insekten zu schnappen, immer von einem Ende des Gartens zum anderen. Dann blieb es wohl ein Weilchen stehen, so recht keck breitbeinig und sah zutraulich zu Nala hin. Mit dem Schnabel bearbeitete es sein Gefieder, so weit es nur kommen konnte, und am drolligsten sah es aus, wenn es oben am Hals[S. 48] herumpickte. Dann breitete es einen Flügel aus und trat kräftig drunter, dann den anderen. Wenn es aber sein Füßchen nahm und sich am Kopf kratzte, erst eine Seite, dann die andere, so konnte Nala kaum vor Lachen an sich halten.
Als es so ein paar Stunden gejagt und sich vergnügt hatte, flog es zwitschernd davon.
Am nächsten Morgen, Nala sitzt ruhig in seinem Garten und schaut in die Ebene hinab, ist plötzlich das Vögelchen wieder da und beginnt dasselbe Spiel.
So ging es nun alle Tage, Woche für Woche. Sein erster Blick, wenn er morgens in den Garten trat, galt dem Vögelchen. Und wenn es da war, so hielt er sich sorgsam in der Seite des Gartens, in welcher es gerade nicht jagte, oder er hielt sich gar im Hause, um es nicht zu stören. Wenn es im Eifer ganz nahe an ihn herankam, so pflegte er zu sagen: „Sieh doch einer den frechen kleinen Kerl.“ Und wenn er sich nicht in den Garten traute, um es nicht zu stören, so meinte er schmunzelnd: „Hier heißt es auch: Wem’s Haus gehört, der scher’ sich raus!“
So ging es viele Wochen. Eines Tages aber blieb das Vögelchen aus. Nala wartete und wartete, aber vergebens. Ebenso am nächsten Tage und an den folgenden: Das Vögelchen kam nicht. Da wurde er traurig, das Essen schmeckte ihm nicht, und die Sonnen-Auf- und -Untergänge sagten ihm nichts mehr.
„Was mag dem Vögelchen zugestoßen sein?“ dachte er. „Ist es mir untreu geworden, weil es einen besseren Jagdgrund gefunden hat? Ist es von einem Habicht oder einer Schlange gefressen worden? Ist es in eine Schlinge geraten?“ Eine Möglichkeit war ihm so schmerzlich wie die andere. Da merkte er, daß er etwas Liebes hatte, darum hatte er jetzt dieses Leid.
„Wie recht hat doch der Erhabene“, dachte er, „wenn er sagt: ‚Wer nichts Liebes hat, hat auch nichts Leides.‘ Ich muß mich sorgfältiger hüten.“ Im stillen aber wartete er immer noch auf das schwarz-weiße Vögelchen mit dem wippenden Schwänzchen und musterte alles Gefiederte ringsum.
Da sah er eines Tags, wie ein Sperling sein Junges fütterte. Das saß auf einem spitzen Ast, und das Alte hielt sich mühsam flatternd vor ihm, bis es das Futter in den aufgesperrten Schnabel hineinbefördert hatte. Das wiederholte sich wieder und wieder.
Nala sah nachdenklich. „Wie wundervoll!“ dachte er. „Nicht genug, daß diese Mutter sich die Nahrung entzieht und gibt sie dem Jungen, läßt sie sich auch die Mühe nicht verdrießen, ihm flatternd die Nahrung zu geben. Sie sagt nicht: Du, komm herunter von deinem spitzen Ast, Du machst mir die Arbeit zu schwer! Wundervoll, fürwahr!“ Das machte, sein Herz war voll von Liebe wegen des Vögelchens.
Da sann Nala hin und her, vom Morgen bis zum Abend. Nachts schlief er. Endlich sagte er sich:[S. 50] „Es ist doch besser, ich nehme ein Weib. Es scheint mir nicht gut, sich der Natur zu widersetzen. Meine beiden Gelübde kann ich doch halten. Es ist nicht verboten, sein Weib zu achten und zu ehren, und fragen will ich sie nimmer.“
Als er so entschlossen war, setzte er sich vor die Tür an die Straße. Er dachte: „Vielleicht kommt die Rechte hier vorbei.“ Es kam aber nur ab und zu ein Lastträger oder ein altes Weib mit einem Korb auf dem Kopfe. Die sagten nichts als: Guten Tag! und gingen vorüber.
Da er nun einsah, daß es so unmöglich ging, spazierte er hinunter in die Stadt. Er war aber schüchterner Natur und wagte kaum ein Weib anzusehen.
Nahe vor der Stadt kam er an einer einzelnen Hütte vorbei. Vor der saß ein Mädchen und hatte vor sich auf einem schwarzen Brettchen ein Zuckerrohr, ein Stück Büffelhorn und ein Stück Elfenbein liegen.
Nala blieb stehen und besah sich alles. Für sein Leben gern hätte er gefragt, was das bedeute, aber er durfte ja nicht.
Als er ein Weilchen schweigend gestanden hatte, begann das Mädchen: „Was stehst Du denn da und fragst nicht, was das bedeutet?“
„Ich darf keine Fragen stellen“, sagte Nala.
„Weshalb denn nicht?“ lachte sie.
„Weil ich es meinem Vater gelobt habe.“
„O, so bist Du Nala aus der Gesetzesgasse!“ Das Mädchen lachte laut.
„Ich wohne nicht in der Gesetzesgasse“, sagte Nala. „Ich wohne oben am Berg auf der anderen Seite und habe dort ein hübsches Häuschen.“
„Schadet nichts. Ich weiß schon, Du bist Nala.“ Dabei lachte sie, daß alle Zähne zu sehen waren.
Wieder hätte er von Herzen gern gefragt: „Weshalb lachst Du denn so?“ aber er durfte ja nicht. Da begann sie auch schon:
„Die Leute sagen, daß Du niemals ein Weib irgend etwas fragen dürftest. Wie willst Du aber jemals eine Frau bekommen, wenn Du nicht fragen darfst, ob sie Dich will?“
Nala bekam einen gewaltigen Schreck. Wahrhaftig! Daran hatte er noch garnicht gedacht. Er kratzte sich hinterm Ohr und sah das Mädchen bestürzt an.
„Nun“, meinte sie, „vielleicht wird es nicht so schlimm. Schließlich findest Du auch so schon eine, wenn Du recht suchst. Aber wenn Du doch mal nicht fragen darfst, so will ich dir erklären, was das Brettchen hier zu bedeuten hat: Das Zuckerrohr bedeutet: Süß muß mein Liebster sein wie Zuckersaft. Das Büffelhorn bedeutet: Stark muß er sein wie ein Büffel. Das Elfenbein bedeutet: Edel und klug muß er sein wie ein Elefant.“
„Himmel“, dachte Nala, „wenn die Weiber alle so anspruchsvoll sind, wie soll dann selbst ein Mann,[S. 52] der fragen darf, zu einer Frau kommen?“ Daß die Dirne ihn aber so ausgelacht hatte, das verdroß ihn sehr. Er sagte sich: „In Kandy bekommst du nie und nimmer ein Weib. Sie werden dich alle auslachen.“
Da kehrte er denn betrübt zurück, verschloß sein Haus und wanderte nach Norden zu. Er wollte so wandern, bis ihm der Zufall ein Weib zugeführt hätte. So wanderte er Tag und Tag, und wenn die Karrentreiber auf der Straße ihn frugen: „Wo willst Du hin?“ so sagte er: „Ich weiß nicht.“ Dann lachten sie und meinten, er wäre nicht recht bei Troste. Er aber dachte: „Lacht ihr nur!“ Um keinen Preis wollte er jedem Hans auf der Landstraße erzählen, daß er nach Norden zöge, um ein Weib zu suchen.
Eines Tages sah er ein Stück von der Landstraße entfernt einen schönen See liegen, der gar lockend aussah mit dem Kranz schattiger Bäume ringsum. Er ging darauf zu und war gerade im Begriff sich behaglich am Ufer hinzustrecken, da hörte er einen Schrei und sah ein Mädchen von einem Baum stürzen. Schnell sprang er zu. Es war nichts böses geschehen, aber ein Knöchel war verrenkt.
Nala setzte sich neben das Mädchen und wartete, bis sie ausgejammert hatte, denn sie gebärdete sich, nicht als ob sie einen Knöchel verrenkt, sondern als ob sie beide Beine gebrochen hätte.
Als sie endlich still geworden war, fing sie an, sich zu wundern, daß er immer noch nichts sagte.[S. 53] „Weshalb sagst Du denn nichts? Weißt Du denn, wie ich auf diesen Baum gekommen bin?“
„Nein.“
„Nun, so frag’ doch!“
„Ich darf nicht fragen. Es ist ein Gelübde.“
„Lieber Himmel! Was für ein böses Gelübde“, sagte das Mädchen mitleidig. „Wie machst Du es aber, wenn Du den Weg verloren hast und weißt nicht wohin?“
„Es ist nicht so. Ich darf nur ein Weib nichts fragen.“
„O, das ist es“, lachte sie. „Weil Du doch nicht fragen darfst, so will ich es Dir von selber erzählen, wie ich auf diesen Baum gekommen bin. Aber wie heißt Du eigentlich?“
„Ich heiße Nala.“
„Und ich heiße Katha. Du darfst nicht denken, daß das mein richtiger Name ist, aber die Leute rufen mich so, so magst Du es auch tun. Also siehst Du, von diesem Baum sagen die Leute im Dorf, wenn ein Mädchen bei Tage hinaufklettert und alle Beeren ißt, ohne von einem Menschen gesehen zu werden, — Du mußt wissen, hier baden viele Leute —, so ist der erste Jüngling, den sie nachher trifft, ihr Zukünftiger. Wird sie aber dabei von jemandem überrascht, so ist alles verloren. Das böse ist nun, ich hatte gerade die letzte Beere gepflückt und mein Leib ist voll wie eine Tonne, da kommst Du dazu und verdirbst mir alles.[S. 54] Wie ich Dich sehe, erschrecke ich, trete fehl und falle runter.“
„Das tut mir entsetzlich leid,“ sagte Nala und blickte sie ganz bekümmert an. „Aber was bin ich für ein Dummkopf,“ rief er plötzlich, sich vor die Stirne schlagend. „Ich habe Dich ja gar nicht auf dem Baum gesehen, sondern erst, als Du runterfielst.“
„So? Bist Du ganz gewiß?“
„Ganz gewiß! Verlaß Dich drauf. Deine Hacke war mindestens eine Handbreit vom Baum, als ich Dich sah.“
„Bin ich denn kopfüber gefallen, Nala?“
„Wahrscheinlich doch, Katha.“
„Hab’ ich denn sehr albern ausgesehen beim Hinunterfallen?“
Nala sann nach, während sie ihn scharf fixierte. „Besinn’ Dich ja!“ mahnte sie.
„Wahrhaftig, ich weiß es nicht. Du warst so schnell unten.“
„Hast Du schon ’mal ein Mädchen vom Baum fallen sehen?“
„Nie in meinem Leben.“
Nach einem Weilchen begann sie: „Wenn Du sicher bist, Nala, daß meine Hacke schon aus dem Baum heraus war, so kann ja alles noch gut werden. Aber was ich für ein Dummkopf bin,“ rief sie plötzlich, sich vor die Stirn schlagend. „Wenn Du mich nicht mehr auf dem Baum gesehen hast, so...“ Sie stockte.
„Wahrhaftig, Katha, Du hast recht.“ Er stockte auch.
„Ich muß jetzt nach Hause,“ sagte sie und wollte sich erheben. Sie hatte aber ihren kranken Knöchel vergessen und schrie laut auf vor Schmerz.
„Du lieber Himmel, wie soll ich nach Hause kommen?“ jammerte sie.
„Ich trage dich hin“, sagte er entschlossen.
Sie lachte wieder. „Das ist ja viel zu weit. Aber weißt Du was, trage mich nur bis an die Landstraße. Dort warte ich auf einen Karren, der wird mich mitnehmen.“
Da nahm er sie auf seinen Arm und trug sie zur Landstraße hin. Sie beugte sich von ihm ab.
„Leg’ Deinen Arm um meinen Hals“, sagte er. „Ich kann Dich so nicht tragen.“
Da legte sie den linken Arm um seinen Hals, und weil sie nun doch schon mal diese Stellung hatte, so sagte sie: „Nala, ich habe Dich lieb.“
„So kannst Du mein Weib werden, Katha“, rief Nala geschwind.
„Kann ich wirklich?“ antwortete sie schnippisch. „Da sind mehr, die auf mich warten, als Du allein.“
„Ich dachte nur, weil Du auf den Baum geklettert bist,“ sagte Nala kleinlaut.
„O“, entgegnete sie so recht von oben herunter, „das sind solche Mädchenstreiche. Alle Mädchen im Dorf tun das. Du mußt nicht denken, daß Dir nun schon alles sicher ist, weil Du mich hast vom Baum fallen sehen.“
„So bin ich aber doch Dein Zukünftiger“, beharrte Nala.
„Ja, wenn ich Dich will.“
„Du hast aber doch gesagt, daß Du mich lieb hast.“
„Das sagt garnichts. Wie kann ich Dein Weib werden, wenn Du mich nicht darum fragst?“
„Aber ich darf doch kein Weib fragen, Katha.“
„Willst Du denn in der Ehe Dein Weib auch nicht fragen, ob sie Dich noch lieb hat?“
„Ich darf nicht, Katha.“
„Nala“, sagte sie und legte ihren Arm etwas fester um seinen Hals, „bist du schon müde?“
„Ich fühle noch garnichts“, sagte er munter und schwenkte sie etwas zur Bekräftigung.
Sie lachte vor Vergnügen und sagte: „Nala, ich kann Dir die Frage eigentlich nicht erlassen. Wenn Du aber garnicht kannst, so will ich Dir erlauben, etwas anderes dafür zu tun. Wenn Du mich von hier nach meinem Dorfe trägst, so will ich dein Weib sein ohne Frage und Dir den schönsten Verlobungskuß geben. Wenn Du unterwegs auch nur frägst, ob Du absetzen darfst, so hast Du schon verloren. Wenn es Dir aber zu schwer wird, so brauchst Du nur zu sagen: ‚Katha, willst Du mein Weib werden?‘ so ist alles gut.“
Sie waren jetzt an der Landstraße. Nala war ein kräftiger Bursche. Er dachte: „Ich schaff’s schon. Überdies kann ich wandern, bis ich alt und grau bin, wenn es mir hier nicht glückt.“ Er hielt die Weiber für den rarsten Artikel der Welt. Darum sagte er:
„Gut, Katha, das soll ein Wort sein. So trage ich Dich denn bis ins Dorf.“
„Nein! Wo denkst Du hin! Nur bis an das Buddha-Bild. Ich zeige es Dir schon. Es ist nur eins.“
„Gut, aber ich habe auch meine Bedingungen.“
„Was denn für welche?“
„Erstens erlaube, daß ich Dich noch einmal hier absetze.“
„Das darfst Du, Nala.“
Er ließ sie vorsichtig auf das Gras gleiten.
„Zweitens mußt Du Dich ganz fest an mich halten, damit ich es leichter habe.“
„Auch das will ich, Nala.“
„Und drittens darfst Du kein Wort unterwegs sprechen. So wie Du nur einen Laut von Dir gibst, hast Du verloren und ich habe gewonnen.“
„Ich gelobe es Dir heilig und teuer.“
So glaubte Nala sich gut vorgesehen zu haben. Nur eins hatte er vergessen zu fragen: wie weit es denn überhaupt sei bis zu ihrem Dorf.
Als er sich ausgeruht hatte, nahm er sie wieder auf den Arm wie man ein Kind nimmt. Sie schmiegte sich, ihrem Versprechen getreu, so eng an ihn, daß ihr fester runder Busen voll auf seiner Brust lag.
„Ist’s recht so?“ fragte sie. „Das gilt aber noch nicht mit, weil Du noch nicht gehst.“
„Es ist recht so“, sagte er mit gepreßter Stimme. „Jetzt gehe ich.“
Damit begann er vorwärts zu schreiten. Ihm war, als ob er sein ganzes Leben so wandern möchte mit dieser Last im Arm. Er hörte förmlich, wie das kleine Herz Schlag für Schlag tat, er fühlte wie Busen und Leibchen sich hoben und senkten, und jeder Atemzug ging ihm wie ein kühler Hauch über die Wange. Er meinte, ihm wäre noch nie so wohlig gewesen. Glücklich still schritt er fürbaß. „Weshalb hat der Erhabene nur gelehrt: Wer nichts Liebes hat, hat auch nichts Leides?“ dachte er. „Was soll mir aus diesem Lieben hier für Leides erwachsen!“ Nie ist ein Gelübde in größerer Gefahr gewesen.
Nun war es gerade die frühe Nachmittagszeit, und die Sonne brannte unbarmherzig. Nala war noch keine tausend Schritt marschiert, als es ihm schon gewaltig heiß und durstig war. Aber tapfer schritt er weiter. Das Mädchen lag lautlos an seiner Brust. Immer langsamer wurde sein Schritt, immer stärker die Versuchung, die kleine Frage zu tun, die ihm mit einem Schlag alles gab und ihm nur eines nahm: sein Gelübde.
Er wartete still, ob sie nicht vielleicht sich vergessen und etwas sagen würde, etwa: „Sieh nur den schönen Vogel, Nala!“ oder: „Dort ist ein Stein, Nala! Nimm Dich in Acht!“ oder: „Dort ist ein schöner Schatten, geh dort, Nala!“ Aber nichts dergleichen geschah. Sie war stumm wie ein Fisch. Er begann zu keuchen. Vom purpurroten Gesicht rieselte der Schweiß. Der lebensvolle Leib, vorhin Inbegriff der Wonne, war ihm[S. 59] jetzt wie Blei und hitzte ihn unerträglich. Von Zeit zu Zeit lüftete er die Last ein wenig, um auch seiner Brust einen Moment Freiheit zu gönnen. „Wie hartnäckig ist solch ein Weib“, dachte er.
Sie ihrerseits fühlte sich ganz behaglich und kalkulierte folgendermaßen: „Wenn er solch ein Starrkopf ist, daß er lieber umfällt vor Erschöpfung, als dieses törichte Gelübde aufgibt, so muß ich bei Zeiten seinen Starrsinn brechen. Geb’ ich heute nach, so muß ich immer nachgeben. Im Übrigen: was hab’ ich zu riskieren? Setzt er ab, hab’ ich gewonnen. Trägt er bis zu Ende, nun so hab’ ich nichts verloren.“ So ließ sie sich ganz ruhig auf und ab wiegen und hörte seinem Keuchen zu wie der Schiffer dem Knarren seines Schiffes.
Als aber das Keuchen immer schwerer wurde, fast ein Stöhnen; als der Schritt immer unsicherer wurde, da bog sie vorsichtig ihren Kopf rückwärts und blickte ihm ins Gesicht. Es war blaß geworden, fingerdick traten die Adern an Hals und Schläfen heraus und die Augen schienen aus den Höhlen quellen zu wollen.
Nala merkte die Bewegung und dachte: „Dem Himmel sei Dank! Endlich! Jetzt wird sie sagen: Es ist genug!“
Die erschrak freilich, als sie dem Mann in’s fremde Gesicht sah, aber sie kniff die Lippen aufeinander. Das hieß: „hält er sein Gelübde, halt’ ich’s auch.“
Nala dachte: „Wie unbarmherzig ist solch ein Weib.“ Er machte eine letzte Kraftanstrengung. An[S. 60] einer Biegung des Weges winkte das Buddha-Bild. Mit schlotternden Knien, dem Hinstürzen nahe, setzte er seine Last auf den Sockel des Bildes nieder.
Das Mädchen breitete allsogleich gar lieblich die Arme aus und spitzte das Mäulchen zum Verlobungskuß. Nala aber tat ein paar gewaltige Schnaufer, so als ob sich einer ordentlich das volle Herz frei schnauft, dann sagte er: „Wart’ ein wenig, Katha!“
Damit begann er sich den Schweiß zu wischen, erst mit dem Handrücken. Aber was war der Handrücken für diese Bäche. Dann nahm er das Sacktüchlein, dann die Ärmel seines weißen Jacketts, endlich gar den Zipfel des Lendenschurzes. Und er übereilte sich nicht, ja fast sah es aus, als wenn er sich so recht zum Vergnügen Zeit ließ, und der steinerne Buddha sah ihm zu und lächelte. Derweil saß das Mädchen fest auf ihrem Piedestal, wie einer, der niesen will und nicht kann, oder wie einer, dem das Wasser im Munde zusammengelaufen ist und der doch nicht ausspucken darf.
Als nun Nala endlich fertig war, sagte er freundlich: „Jungfer verzeiht! Es ist mir unterwegs eingefallen, Eure Hacke war doch noch im Baum, als ich Euch runterfallen sah. So müßt Ihr schon noch mal Beeren essen gehen.“ Sprach’s, machte Kehrt und ging spornstreichs nach seiner Heimat zurück.
Dort angekommen, sah er wieder auf die gewaltige Ebene zu seinen Füßen, in der die fernen Felsrücken Schiffen im Ozean glichen, und die Ströme Silber[S. 61]adern, und alle Tage sah er die Sonne im Osten hoch- und im Westen niedergehen. Und weil er so in stiller Ruhe Jahr für Jahr lebte, kam er schließlich in das Ansehen eines Weisen, ja in den Geruch eines Heiligen. Und wenn Leute, Unglückliche, Beladene, zu ihm kamen und ihn fragten: „Vater, wie hast Du nur den Grad dieser stillen Heiterkeit erreicht?“ so pflegte er zu antworten: „Wer nichts Liebes hat, der hat auch nichts Leides!“ Und wenn der Besucher ein Mann war, so fügte er hinzu: „Richte nie eine Frage an ein Weib.“
So kam Nala in den Ruf immer größerer Weisheit und Heiligkeit. Und wem das Leben ein leidvolles Ding geworden ist, der mag nur hingehen und sehen, ob Nala noch lebt; denn sein Sprüchlein ist ein gutes Sprüchlein.
n Kolombo lebte ein Mensch namens Wijasingha, der von seinem Vater ein Häuschen und 10000 Rupien geerbt hatte. Damit lebte er, ohne daß man sonderliches von ihm hörte. Der lernte eines Tages das Glück der Liebe kennen, wie die Menschen sagen. Von jeher war sein Herz der Liebe geneigt gewesen. Er liebte, geliebt zu werden. Auf alles ringsum ließ er seine Sympathien überfließen, und da all Zusammenkommen nichts ist als der Anfang der Trennung, so strichen in einem fort Wolken über seine Lebenssonne hin. Es war ein ständiger Wechsel von Licht und Schatten, von Haften und Trennen. Oft dachte er: „Wie entgeh’ ich diesem ermüdenden, schmerzhaften Spiel?“ Da kam diese große Liebe, diese wolkenlose Sonne mit strahlendem Licht, aber quälender Glut.
Der Vater seiner Geliebten war reich, geizig und stolz, und man wußte, daß schon mancher Freier von[S. 63] ihm abgewiesen war. Er hieß de Soysa und wohnte in der Vorstadt Kolpetti.
Als Wijasingha sich der Neigung Lucias, so hieß seine Geliebte, versichert hatte, faßte er sich ein Herz und trat mit seiner Bitte vor den Vater.
De Soysa begann bedächtig: „Freund, Du bist nicht der erste, der meiner Tochter wegen kommt, vielleicht wirst Du auch nicht der letzte sein“ — unserem Wijasingha sang der Mut gewaltig —, „indes“, fuhr de Soysa fort, „ich kannte Deinen Vater, ich kenne Dich; Ihr seid ehrbare Leute. Ich weiß auch, daß Du wohl erzogen bist. Aber wie steht es mit dem Wichtigsten?“
„O, ich denke, der Liebe Deiner Tochter bin ich gewiß.“ De Soysa lachte, daß sein Bauch etwas unruhig wurde. „Das mag für dich das Wichtigste sein, aber nicht für mich. Ich meine, wie steht es mit dem Geld? Wie viel nennst du dein eigen?“
„Du kennst mein Haus. Außerdem habe ich 10000 Rupie.“
„Nun, Freund, dann geh’ nur nach Hause. Aus dem Handel kann nichts werden.“ Als er aber Wijasinghas kummervolles und erschrecktes Gesicht sah, da kam auch in sein Herz, welches nur einer edlen Neigung, nämlich der für die edlen Metalle fähig war, etwas wie Rührung. Fast freundlich fuhr er fort:
„Siehst Du, was soll einer, der für seine Kinder sorgt, heutzutage anders machen. In früheren Zeiten galt ein Mensch so viel, als er eben war. War er[S. 64] wirklich was, so galt er was; war er nichts, so galt er nichts. Heute aber gilt jeder nicht das, was er ist, sondern das, was er hat. Wie sollen wir uns vor diesen Europäern anders retten, als daß wir gleichfalls beginnen, Geld aufzuhäufen? Ich weiß, es sind hier in dieser Stadt viele arme Schlucker, die im Lendenschurz und in Rindsleder-Sandalen umherlaufen, die sehen scheel auf mich, weil sie denken, es ist genug, das Wort des Buddha zu studieren und im übrigen die Welt laufen zu lassen, wie sie will. Schön! Sie sollen studieren, so viel sie wollen, aber sie sollen auch nicht heiraten. Sie schimpfen mich einen gottlosen Geldprotz. Aber glaub’ mir, Wijasingha, ich weiß, was ich tue. Du bist aber nicht gekommen, um das zu hören. Ich will milde zu Dir sein wie noch zu keinem anderen. Rühr’ Dich! Zeig, daß Du es verdienst, daß Dein Vater dir 10000 Rupie hinterlassen hat. Sie sind ihm sauer geworden, ich weiß es. Wenn Du vor mich treten und sagen kannst: 20000 Rupie sind mein eigen, so sollst Du Lucia haben, vorausgesetzt, daß sie Dich dann noch will. Bis dahin aber halte dich fern von ihr; wenn Du willst, daß ich Dir wohlgesinnt bleiben soll.“
Das war unserem Helden ein bitter-süßer Bescheid. Er hatte wohl gelernt, sich mit seinem Teil einzurichten, er wäre auch bereit gewesen, sich mit weniger zu begnügen, aber nie hatte er darüber nachgedacht, wie er wohl sein Ererbtes vermehren könnte.
Als er so in tiefsten Gedanken seinem Hause zuschritt, traf er einen bekannten Kaufmann.
„Weshalb so nachdenklich, Freund Wijasingha?“ Der sah ihn an, als ob er aus einem Traum erwache.
„Weißt Du ein Mittel, aus 10000 Rupien 20000 zu machen?“
„Weshalb nicht 100000?“ meinte der lachend.
„Mir ist gar nicht zum Spaßen. Weißt Du kein Mittel, um Geld zu verdienen?“
„Was hast Du denn mit einem Mal? Du bist doch sonst nie aufs Geld-Verdienen gewesen.“
„Laß das nur gut sein. Weißt Du mir gar nichts zu raten?“
„Ich wüßte schon etwas. Ein paar Kaufleute haben sich zusammengetan, um ein Fahrzeug auszurüsten. Wir wollen bei Manaar Perlen fischen. Das könnte seine 20 oder 30 vom Hundert abwerfen.“
Wijasingha spitzte die Ohren. „Ich will mich mit 10000 Rupien beteiligen“, sagte er entschlossen.
„Ich denke, da tust Du nicht schlecht“, meinte der Kaufmann, und der Handel wurde abgemacht.
Einige Zeit nachher kam der Kaufmann zu Wijasingha: „Freund, unsere Sache steht schlecht, wenn wir nicht noch ein paar tausend Rupien auftreiben, um uns halten zu können. Die Funde müssen kommen, siehst Du; alles liegt nur daran, Zeit zu gewinnen. Wir haben alle Weib und Kind, Du bist ledig. Überdies[S. 66] wird nichts geschafft, so geht mit dem unseren auch Dein Geld verloren.“
Da entschloß sich Wijasingha, verkaufte sein Haus und tat die 4000 Rupien auch noch in diesen Handel.
Als nun trotz allem die ganze Sache verloren war, war er ein Bettler.
Lucia hatte das Unglück ihres Geliebten erfahren, und er wußte, daß sie es erfahren hatte. Damit begnügte er sich. Der Mensch ist im Unglück gefaßter und verständiger als im Glück, und weil jede Spur von Hoffnung verloren war, so sagte er: „Es ist mein Karma. Ich muß mich fügen.“ Ob es freilich bei ihm Verständigkeit oder Unbeständigkeit war, ist schwer zu sagen. Sein späteres Leben spricht fast für letzteres. Immerhin: Völlig ohne Hoffnung sein, ist wahrlich nicht das schlimmste, weil es uns anregt, aus jenem Trost zu holen, das für alles Trost bietet: das Wort des Buddha, in dem alles Leid des Menschenherzens sich auflöst wie die Monsunwolken auf den Bergen, wenn sie ins warme Tal hinabgleiten. Wenn aber der Mensch vor dem zertretenen Feuer seiner Hoffnungen sitzt und das letzte Fünkchen schürt und hütet, und nichts anderes sieht und denkt, das verdirbt dieses und das nächste Leben.
So hatte Wijasingha nichts gerettet als einen gesunden Körper. Kurz entschlossen vermietete er sich als Führer eines Karrens, der zwischen Mātabe und Jaffna verkehrte. Das ist ein rauhes Leben voll äußerer Unruhe,[S. 67] aber gesund und beruhigend. Wenn sie abends am Brunnen lagerten oder am See, und er abseits in der stillen Nacht saß, so glitten freilich die Gedanken zurück, wie die Wasser abwärts fließen, aber nicht in Gram und Verzweiflung, sondern in Nachdenklichkeit. Wenn der Mensch aber erst einmal dahin kommt, daß er über sein Unglück denkt, so löst es sich ihm auf im Denken. Denn wer richtig denkt, der stößt auf das große Gesetz von der Vergänglichkeit, und wer auf dieses stößt, der stößt auf das große Gesetz vom Leiden, und wer dieses wittert: „Alles ist leidvoll,“ der denkt: „Was soll das Greifen! Ich greife ja nur das Leiden. Besser wahrlich ist es, ruhig in sich zu bleiben.“
So wurde ihm seine zertretene Liebe zur Staffel, auf der er in jene heiter-stillen Regionen trat, in denen sich kein Lüftchen der Leidenschaft mehr regt. Aber es war nur ein Gefühl, kein Wissen.
Als er etwa ein halbes Jahr lang zwischen Mātabe und Jaffna gefahren war, da kam ihm der Gedanke: „Wenn ich schon mein Leben lang als Karrenführer dienen muß, was fahre ich denn gerade in diesem heidnischen Lande.“ Jaffna liegt nämlich im Tamilen-Land und die Tamilen sind Shiva-Anbeter.
So wechselte er seine Stellung und verdingte sich für einen Karren, der nach Süden fuhr. Es war ihm wohler, wenn er die Dagobas und die Viharas sah.
Er mochte auch hier wohl ein halbes Jahr gefahren sein, da kam er mit seinem Karren eines Tages[S. 68] nach Ratnapura, der Edelstein-Stadt, in der heute noch viele Steine gefunden werden.
Hier ereignete es sich, daß einer der Buckelochsen krank wurde, und er einige Tage warten mußte. In seiner Muße setzte er sich an das Ufer des Baches und, indem er eine handvoll Sand langsam durch die Finger gleiten ließ, dachte er: „So gleiten die Augenblicke, so gleiten die Leben. Endlos ist die Reihe der Wiedergeburten, selig die Ruhe des nie mehr Auferstehens.“
Als aller Sand hindurchgeglitten war, blieb ihm ein Gegenstand in der Hand zurück, bei dessen Anblick es ihn wie ein Schlag durchzuckte. Fort waren die Gedanken vom Fluß aller Dinge und strahlend stand eines vor ihm: Glück, Liebe, Lucia! Wie Wolkenschichten ziehen die Gedanken in uns, eine Schicht über der andern, und wenn ein frischer Windstoß die unteren Wolken zerreißt, so lugen oben die Lämmerwölkchen durch, die in entgegengesetzter Richtung ziehen. Volle Ruhe ist nur, wo nicht mehr Strömung und Gegenströmung ist: die windstille, wolkenlose Ruhe des Wissens.
„Wie viel forderst Du für den Stein?“ fragte ihn der Händler.
„20000 Rupien,“ erwiderte er ohne Besinnen, „und das Reisegeld von hier bis Kolombo.“
Der sah ihn verwundert an und zahlte. Er mochte das Dreifache dafür wieder bekommen; denn es war ein Edelstein, wie er seit vielen Jahren nicht mehr gefunden war.
Daß unser Held sich auf dem Wege von Ratnapura nach Kolombo nirgends aufhielt, läßt sich heute noch nachweisen, weil er Extrapost nahm, und in den Postbüchern Tag und Stunde von Abreise und Ankunft verzeichnet stehen.
Wie er ging und stand begab er sich zu de Soysa.
„Hier sind 20000 Rupien. Gib mir jetzt Deine Tochter.“
Der ließ sich erzählen. „Du hast Glück“ sagte er dann. „Glückskind bist du,“ sagte er noch mal fast neidisch, „erstens weil Du den Edelstein gefunden hast und zweitens: Was nutzt einem Verliebten ein Diamant, groß wie ein Mangokern, wenn die Liebste nicht mehr da ist!“
„Wie meinst Du das?“
„Erschrick nicht! Ich sage ja, Du hast Glück. Sie hat mir nach Deiner Abreise so lange in den Ohren gelegen, ihr doch noch ein Jahr Freiheit zu gönnen, um, wie sie sagte, das Trauerjahr für Dich halten zu können, daß ich schließlich nachgegeben habe. Weil ich aber für Pünktlichkeit bin, so habe ich mir den Tag gemerkt. Morgen wird es just ein Jahr, daß Du weg bist, und es warten Freier. Deswegen sagte ich: Du hast Glück.“
Am nächsten Tage schon wurde Verlobung gefeiert, und unserem Wijasingha war, als ob alle Seligkeit des Himmels herunter gekommen wäre und sich just in sein Herz einquartiert hätte.
De Soysa neigte europäischen Anschauungen zu, nicht als ob er ihr Freund gewesen wäre, aber sein[S. 70] Lieblingsspruch war: „Man muß sie (er meinte die Europäer) mit ihren eigenen Waffen schlagen.“ Deshalb war das Leben in seinem Hause halb europäisch, deshalb hatte auch seine Tochter eine sorgfältige Ausbildung genossen und einen europäischen Namen bekommen. Er pflegte sich über solche alten poetischen Namen wie: „Freund des Jasmin“ oder „die Blüte öffnet sich“ und andere derart lustig zu machen. Dabei hielt er aber streng an der Religion des Buddha, hatte auch oben auf dem Fels vom Isevimaniya-Kloster ein Gitter gestiftet mit einer steinernen Gedenktafel. Gestiftet von M. de Soysa im Jahre — des Buddha. Ja, er ging sogar mit der Absicht um, eine neue Predigthalle in der Nähe des heiligen Bobaumes in Anuradhapura zu errichten. Seine Frau freilich war wenig mit seinen europäischen Neigungen einverstanden. Sie sah im Abweichen von den alten Sitten das Verderben und hielt sich am liebsten in der Abgeschiedenheit. Auch trug sie die steife Tracht der vornehmen Singhalesinnen, während Lucia sich europäisch kleidete auf Wunsch des Vaters. Als die Tage des ersten Rausches vorüber waren, sagte de Soysa:
„Mein Sohn, ich bin kein Freund eines langen Brautstandes. Langer Brautstand kommt mir vor, als wenn jemand sich den Strick um den Hals schnürt, bevor er sich wirklich hängen will.“ Er lachte, daß draußen ein paar Vögel erschreckt aufflogen und überließ es Wijasingha, sein Gesicht zu stellen, wie es ihm gutdünkte.
„Nun, nun,“ fuhr er fort, „man macht so seine Scherze. Der Tag sieht am Abend anders aus wie am Morgen. Also auf den Tag einen Monat soll Euer Brautstand dauern. Dann gibt es Hochzeit.“
Unserem Wijasingha war, als ob man ihm nach der Aloe Honig in den Mund steckte.
„Nun aber rühr’ Dich,“ fuhr de Soysa fort, „daß Du Deine Frau in ein Heim führen kannst, wie es sich für Dich und mich gehört.“
„Ich dachte, in der Umgegend der Stadt ein kleines Häuschen zu erwerben und da einfach und zufrieden zu leben.“
„Laß den Gedanken fahren. Mein Schwiegersohn kann nicht wie ein Bauer oder Krämer wohnen, in einer Lehmhütte.“
„Nicht Lehmhütte —.“
„Schon gut! sag’ ich. An der Seeseite, dicht hinter Kolupitiya-Station ist ein Haus frei.“
„Das, was der deutsche Kaufmann bewohnt hat?“
„Eben das.“
„Die Miete ist hoch.“
„Drum rühr’ Dich, rühr’ Dich! Der Mensch muß einen Sporn haben, wenn er vorwärts kommen will. Widerstand braucht der Mensch zum Gedeihen, nichts als Widerstand.“ Dabei machte er eine Bewegung mit den Armen wie ein Athlet, der im Begriff ist, sich auf den Gegner zu stürzen.
So mietete Wijasingha das Haus an der Seeseite und begann es auszustatten. Welche Arbeit! Wie viel[S. 72] Laufen, wie viel Reden, wie viel Ärger! Hätte ihm nicht der Abend mit der Liebsten gewinkt, er hätte längst gesagt: Ich mag nicht mehr!
Über die Hälfte des Monats war verflossen, da kam eines Morgens sein Schwiegervater eilig zu ihm.
„Sohn,“ sagte er fast feierlich, — denn je reicher einer wird, um so mehr Ehrfurcht hat er vor dem Geld — „ich sorge für meine Tochter, wenn ich für Dich sorge. Kennst Du Galgulum?“
„Freilich! Es liegt nördlich von Matale,“ erwiderte der ganz erstaunt.
„O, Du kennst es aus Deiner Fuhrmannszeit,“ rief der Alte lustig. „Danke den Göttern, daß Du einen Schwiegervater hast, der auf solche Sachen nichts gibt. Bei mir heißt es nicht: Zeige, was Du gewesen bist! sondern: Zeige, was Du bist! Laß sie in Kolombo nur kichern. Wenn Du was geschafft hast, werden sie aufhören. Wer Geld hat, der hat alles. Und Du wirst was schaffen. Du bist ein Glückskind. Wie hättest Du sonst den Stein gefunden. Denkst Du, wegen der 20000 Rupien allein, habe ich Dir meine Tochter gegeben! Aber genug der Schwätzerei! Also hör’ zu! Um den See von Galgulum wird Land urbar gemacht. Es ist alles im Stillen betrieben. Ich habe es eben erst erfahren. Verstehst Du nicht? Die Regierung will nicht, daß Geschäfte damit gemacht werden, indem einer das Ganze kauft, sondern will stückweise an die Bauern verkaufen. Unser Bauer hat aber kein Geld.[S. 73] Es ist ein wundervolles Geschäft, wenn wir zuerst hinkommen.“
Wijasingha verstand immer noch nicht.
„Verstehst Du noch nicht? Wir gehen hin, d. h. ich überlaß Dir das ganze Geschäft. Ich will Dich anlernen im Geldmachen, ich will Dir Mut und Lust zum Geschäft machen. Wir leihen den Bauern, damit sie kaufen können und nehmen unsere Zinsen. Ich habe meine Leute dort.“
„O, so meinst Du,“ sagte Wijasingha gedehnt.
„Bist Du bereit?“
„Wozu?“
„Abzureisen!“ rief der Alte heftig werdend. „In einer Stunde geht der Zug nach Kandy.“
„Wie lange bleiben wir denn?“
„Etwa drei Tage.“
„So muß ich doch erst von Lucia Abschied nehmen.“
„Du bist toll! Wir verlieren einen ganzen Tag. Das Geld läuft Dir fort, nicht die Braut.“
Verdrießlich saß Wijasingha im Coupé neben seinem schnarchenden Schwiegervater. Der Zug lief durch diese endlosen Reisfelder, die von Areka- und Kokos-Palmenwäldchen unterbrochen waren. Es war anmutig, aber eintönig. Er griff aus langer Weile die Zeitung, die dem Schlafenden aus den Händen gefallen war. Für ihn stand nichts darin.
Jetzt begann die Steigung der Bahn. Die Luft wurde frischer, leichter, die Bilder ringsum immer[S. 74] kühner, gewaltiger. Aus Ausschnitten lugten wilde Felsmassen gleich Türmen und Burgen; tief, tief unten im Tal lachte das helle Grün der Reisfelder, deren regelmäßige Furchen wie gemalt aussahen. Und wenn der Ausblick sich rückwärts in die Ebene eröffnete, so glitt das Auge wie in die Unendlichkeit.
Sein Entzücken stieg. Er war fast versucht, den Schlafenden zu wecken. Ihm war es solch eine Freude, wenn jemand neben ihm stand und ihm sagte: „Wie wunderschön!“
Sie waren jetzt fast auf der Kammhöhe. Der Alte gab einen Ton von sich, als wenn er im Erwachen wäre. Wijasingha hielt es nicht länger aus.
„Sieh nur, Vater!“ rief er.
Der Alte rieb sich die Augen. „Was ist los?“
„Sieh nur die Aussicht.“
De Soysa spuckte gleichgültig aus. „Steine genug,“ meinte er. „Unsere Aussichten sind in Galgulum.“ Damit drehte er sich nach der anderen Seite und schnarchte weiter.
Sie übernachteten in Mātale, dem Endpunkt der Bahn. Am nächsten Morgen fuhren sie mit der Post nach Galgulum weiter, von zwei Leuten begleitet, welche de Soysa mit tiefster Ehrfurcht behandelten.
An Ort und Stelle machte sich der Alte sofort mit den beiden ans Werk. Es schien ihm nicht daran gelegen zu sein, den Schwiegersohn jetzt bei sich zu haben.
„Nimm die Gegend in Augenschein, derweil ich mit den Leuten rede,“ sagte er.
Das war dem schon recht. Er schlenderte gemütlich um den weiten See. Große Strecken waren entsumpft worden und harrten wieder ihrer Bestimmung. Dieses wüste Gebiet, welches heute die ganze Nordhälfte der Insel einnimmt, war früher unter den buddhistischen Königen die Kornkammer Ceylons und von Millionen bevölkert.
Die Abendmahlzeit nahmen beide gemeinschaftlich im Rasthaus ein. De Soysa war in bester Laune. Er berichtete über die Abmachungen, die er getroffen hatte. „Lies nur!“ Damit breitete er seine Papiere vor Wijasingha aus.
Der begann den Inhalt zu studieren, erst nur so obenhin, allmählich aber wurde er aufmerksam. „Vater,“ sagte er endlich, „wovon sollen denn aber die armen Leute leben? Sie müssen Dir ja alles geben.“
Der sah ihn eine Weile sprachlos an, dann sagte er: „Hab’ ich denn die Leute gezwungen, solche Abmachungen zu treffen? Hab’ ich ein Recht, eine Gewalt, sie zu zwingen? Wenn ich mein Geld arbeiten lasse, so gut ich kann und für meine Familie sorge. — Aber was sag’ ich! Ich sorge ja garnicht für mich. Ich lasse ja Dein Geld arbeiten. Zum ersten Mal in meinem Leben lasse ich mir einen Profit entgehen und gleich habe ich meinen Lohn. Es geschieht mir schon recht, mir altem Narren. Das kommt davon, wenn man mehr für andere sorgt, als für sich selbst.“
Je mehr er redete, um so heftiger wurde seine Stimme. „Überhaupt sage ich Dir, es ist ein Unterschied, ob man als Einzelner durch die Welt geht, oder ob man eine Familie hinter sich hat. So lange Du einzeln bist, magst Du tun und lassen, was Du willst, ja Du magst, wenn es Dir so beliebt, Dich in einen Winkel setzen und freiwillig verhungern. Hast Du aber Weib und Kind, so sind die Zeiten vorbei. Da heißt es: Rühr’ Dich von früh bis spät! Willst Du denn, wenn Du mal stirbst, daß Dein Weib trägt und Deine Kinder Karren ziehen! In der Ehe pfeift ein scharfer Wind, Freund. Ich weiß, Du hast allerhand Flausen im Kopf. Die Worte des Buddha sind nicht dazu da, daß man mit ihnen durch dick und dünn geht. Wer das will, der darf sich nicht verlieben. Hörst Du, nicht verlieben! Laß das, Sohn, ich meine die Kopfhängerei!“ fuhr er milder fort. „Ich warne Dich ernsthaft.“ Damit packte er die Papiere zusammen und verließ den Raum.
Wijasingha stand ein Weilchen regungslos, dann verließ auch er den Raum und das Haus. Ihm war zumut wie einem Menschen, der morgens erwacht mit dem Gefühl: Es ist etwas nicht in Ordnung mit Dir.
Wieder kam er zum See. Über den hohen Steindamm ging ein starker, warmer Wind. Die Sonne hing tief, rings von glühenden Wolkenfetzen umgeben. Fern auf dem Wasser lagen wunderbare Farben. Sie sahen aus wie farblose Schatten, blickte man aber[S. 77] still hin, so entdeckte man das schnelle Spiel von Gold und Violett. Er ließ sich unten am Steindamm nieder. Er entledigte sich der Schuhe und tauchte die Füße leise ins Wasser. Kosend kamen die Wellen. Er saß still und schaute und schaute. Vergessen war alles. Ihm war wie einem, der seine letzte Arbeit getan und nun ruhevoll vor seiner Hütte sitzt und dem Klang der Abendglocken lauscht. O, du kühler seliger Abendfriede!
Ein einsamer Kranich durchfurchte stolz mit gebogenem Hals das Wasser, eine lange Furche nach sich ziehend. Jene Stelle aus den Suttas kam ihm in den Sinn: „Zweierlei Freuden, ihr Jünger, gibt es. Welche zwei? — Die Freude des Familienlebens und die Freude des heimatlosen Lebens.“
Jetzt hörte er Laute über sich. Oben auf dem Damm ging ein junger Mensch mit einem Mädchen. Beide taten zärtlich zueinander und sahen ihn nicht. Der junge Mensch sang dem Mädchen eine Melodie vor, die diese versuchte nachzusingen, aber immer falsch. Er wiederholte unverdrossen, nur unterbrochen durch die Liebkosungen des Mädchens.
Die Szene erschien unserm Wijasingha albern. Das Mädchen war nicht mehr jung, offenbar älter als der Jüngling und begann schon korpulent zu werden. „Nichts ist alberner als das Verliebtsein“ dachte er.
Plötzlich hörte er de Soysas Worte wieder: „In der Ehe pfeift ein scharfer Wind.“ Wieder hatte er dieses unangenehme Gefühl eines, der erwacht und[S. 78] weiß: Es ist etwas mit mir. „Wann war ich wohl besser dran, jetzt wo ich als Schwiegersohn des reichen de Soysa hier sitze oder damals, als ich als Karrenführer hier übernachtete und abseits am Lagerfeuer saß, alle Sterne des Himmels über mir, das Glück des Freiseins von Wünschen genießend. Damals war mir das Leben ein Ding zum Schauen, ein Ding, von dem der Verständige weiß: Es ist ein Spiel. Jetzt soll ich aufhören, Schauer zu sein. Jetzt soll ich selber handeln, mich abmühen, mich drängen und stoßen lassen und für alle Püffe danken als für ein Lehrgeld.“ Er zog die Mundwinkel nach unten und bog den Kopf ein wenig zurück wie ein Kind, das eine widrige Nahrung abweist.
„Weshalb aber das alles?“ Er meinte des Alten Worte zu hören: „Wer das nicht will, der darf sich nicht verlieben.“ Mißmutig stieß er einen Kiesel ins Wasser. Der zog seine Ringe, einen nach dem anderen, immer weiter. Wijasingha blickte aufmerksam. „So folgt jeder Ursache die Wirkung; so hat jede Tat ihre Folge, unausweichlich. Unterlaß die Tat, so werden die Folgen ausbleiben. Andere Hilfe ist nicht. Meine Tat ist die Liebe zu Lucia, ihre Folgen sind das Hasten und Mühen des Familienlebens. Und nur des Familienlebens? Bin ich seit diesem Glückstag schon einen Augenblick ganz ruhig, ganz glücklich gewesen? Muß ich nicht auf jedes ihrer Worte, auf jeden ihrer Blicke achten! Ich will, daß sie da redet, wo ich meine, daß geredet werden soll; daß sie da schweigt, wo ich meine,[S. 79] daß geschwiegen werden soll. Rastlos läuft mein Herz mit ihr wie ein Hündchen mit seinem Herrn. Eine mühevolle Arbeit!“ Er schwieg gedankenvoll.
Die Sonne war verschwunden. Auf dem Wasser lag das eintönige Grau des Abends.
Sie blieben noch einen Tag hier. Dann kehrten sie nach Kolombo zurück, der Alte aufgeräumt, der Junge zerstreut und nachdenklich. Es war nicht de Soysas Sache, durch anderer Stimmungen mit berührt zu werden. War er guter Laune, so galt ihm als selbstverständlich, daß der andere es auch war.
Wijasinghas erster Gang galt seiner Braut.
Er traf sie mit einem jungen Menschen im Gespräch, den Wijasingha nicht leiden mochte. Es war ein eitler Bursche, von dem man wohl wußte, daß er gleichfalls Absichten auf die schöne Lucia gehabt hatte, beiläufig ein entfernter Verwandter und Namensvetter der Familie.
Als Wijasingha eintrat, lachten beide gerade lustig, verstummten aber sofort.
Lucia sprang auf, um ihren Bräutigam zu umarmen; der aber meinte grämlich:
„Wovon spracht Ihr denn gerade, als ich Euch unterbrach?“
„Aber,“ sagte Lucia, „wir sprachen von den Pferderennen.“
„Deswegen brauchtet Ihr doch nicht so plötzlich verstummen.“
„Aber — sollte ich Dich denn nicht begrüßen?“
Sie lachte lustig und der junge de Soysa mit.
Wijasingha wollte auffahren. Plötzlich blieb sein Auge auf dem lachenden Gesicht seiner Braut hängen. Er hatte sie in dieser etwas spöttischen Weise noch nie lachen sehen und halb mit Staunen, halb mit Schrecken sah er auf diesem blühenden hübschen Gesicht, der durch einen haarfeinen Flaum etwas sammetartiges bekam, etwas weich nachgiebiges, das ihn stets so entzückt hatte, die Züge des Vaters, des alten de Soysa hervortreten.
Lucia war ein gutes Mädchen, wie sie durch ihr entschlossenes Warten auf ihren Geliebten bewiesen hatte, aber tatsächlich vom Charakter ihres Vaters, weder gewohnt noch befähigt, in anderen zu lesen.
Als sie daher das kühle, zerstreute Wesen ihres Bräutigams sah, wendete sie sich ganz dem jungen de Soysa zu und Wijasingha saß schweigend daneben, während die beiden miteinander scherzten.
Plötzlich war ihm, als ob alle Verdrossenheit, alle innere Gereiztheit, aller Widerwille gegen de Soysa, aber auch alle Liebe gegen Lucia dahinschwänden und nichts bliebe, als eine unwiederstehliche Neigung nachzudenken.
Sein Auge lag sinnend auf den feinen Linien seiner Braut, aber weil die Sinnlichkeit ihn verlassen hatte, so suchte er im Nachdenken dieses Wesen da vor ihm gleichsam zu analysieren, in seine Bestandteile aufzulösen. Es wurde ihm klar und klarer: „Das, was[S. 81] mich bisher in einem Taumel gehalten hat, das wird in längerer oder kürzerer Zeit dahin sein. Lohnt es sich, deswegen seine Ruhe und Unabhängigkeit hinzugeben? Sind sie nicht auch Güter, ebenso süß wie die Sinnenlust? — Wenn ich das aber alles lasse, wofür lebe ich dann noch? — Und plötzlich: Wofür lebe ich überhaupt? Wofür leben die Menschen? Wozu ist dieses alles?“
Ein plötzliches Staunen ergriff ihn, daß überhaupt etwas da sei und für einen Augenblick durchzuckte ihn die Einsicht, gleichsam fühlbar, wie jemand seine eigenen Glieder fühlt: Ist etwas da, kann es nie nicht dagewesen sein; muß von Anfangslosigkeit her da sein. Ist es so, nun so muß man eben dem Heiligen, dem vollkommen Erwachten folgen. Dann gibt es ja kein anderes Ziel als das Aufhören, das Eingehen, das Verlöschen.
Indem trat der alte de Soysa ein und erfüllte mit seiner dröhnenden Lustigkeit den ganzen Raum.
Wijasingha verabschiedete sich so bald es anging und noch am selben Abend schrieb er an seine Braut sowohl wie an deren Vater, daß er entschlossen sei, alle weltlichen Pläne fallen zu lassen und Mönch zu werden.
Am nächsten Morgen in aller Frühe fuhr er nach Ratmalana hinaus, um dort im „Kloster zum allervorzüglichsten Gesetz“ um Aufnahme zu bitten.
Während er aber in der weiten Vorhalle auf das Erscheinen des Abtes wartend auf und ab ging, hörte er nicht das ruhevolle Rauschen der Palmwedel, das nur eine Melodie singt: „Laß fahren, es ist nicht der[S. 82] Mühe wert!“, sondern er hörte vor seinem geistigen Ohre die Stimme seiner Braut, er meinte sie vor sich zu sehen in ihrer wollusterregenden Schönheit, die ganz Colombos Jugend in Bann hielt. „Auf dich hat sie ein ganzes Jahr gewartet, während alles ihr zuflog. Wonach andere sich hoffnungslos sehnen, das wirfst du Narr leicht von dir.“
So sprang er, von seinen Empfindungen überwältigt, kurz entschlossen in das draußen wartende Ochsenwägelchen, ohne den Abt abzuwarten, und fuhr schnurstracks nach Colombo zurück, um womöglich gut zu machen, was noch gut zu machen war.
Trotz seiner Angst vor dem Alten trat er entschlossen in die Vorhalle und ließ sich vom Diener melden. Der aber kam sogleich mit der Botschaft zurück, daß niemand zu sprechen wäre.
Da sah Wijasingha, daß alles verloren war und kehrte voller Verzweiflung in seine Wohnung zurück. Was er vor einem Jahr mit Fassung und Vernunft getragen hatte, das machte ihn jetzt fassungslos und halb wahnwitzig.
Als er bei sich angekommen die leeren Räume betrat, überkam ihn solch ein Ekel vor der Zwecklosigkeit des Lebens, daß ihm war, als ob es ihn anröche. Und was er gestern aus wahrer Einsicht in die Natur des Lebens tun wollte, das entschloß er sich nun, aus Ekel am Leben zu tun: Alles aufzugeben und ins Kloster zu gehen.
Nach dem „Kloster zum allervorzüglichsten Gesetz[S. 83]“ zurückzukehren, schämte er sich. So beschloß er, nach Kelanya zu gehen, wo ein Verwandter von ihm schon seit Jahren als Mönch lebte.
Der Abt, der ihn kannte, nahm ihn gütig auf.
Als Wijasingha nun, nachdem er die Erlaubnis zum Eintritt erhalten hatte, meinte, er wolle zurückfahren, um zu Hause erst alles zu ordnen, erwiderte der Abt lächelnd, ob er nach seinem Tode denn auch nachsehen wolle, ob beim Leichenschmaus alles gut geordnet sei?
Daraufhin blieb Wijasingha dort, so wie er war, übersandte nur seinem Hausverwalter einige Anordnungen.
Nun hatte er freilich zu seinem eigenen Erstaunen die Liebe zu Lucia bald ganz überwunden, wie sich klar darin zeigte, daß er ihre bald darauf erfolgende Verheiratung mit dem jungen de Soysa ohne Kummer vernahm. Sein eigener Spruch war stets gewesen: „Der Mann ist nicht wert, Mann zu heißen, der an einer Weiberliebe zu Grunde geht.“ Trotzdem kam er nicht aus dem inneren Schwanken heraus. Er blieb in einem Zustand fruchtloser Nachdenklichkeit. Die Wahrheit der Buddhalehre leuchtete ihm ein, aber nicht die Notwendigkeit, die Welt zu lassen. So glich er einem Ochsen, der zwischen zwei Bündeln Gras langsam verhungert, weil er nicht weiß, bei welchem er anbeißen soll.
Etwa zwei Jahre quälte er sich in dieser Weise hin. Als er nun einmal durch einen halb-blödsinnigen Menschen, der die ganze Nacht vor der Tür des Viharas[S. 84] gesungen und gebetet hatte, am Schlaf behindert worden war, so war ihm das, weil eben gar kein innerer Halt in ihm war, Anlaß genug, das Kloster und den Mönchstand zu verlassen.
Draußen ergab er sich aber bald einem lockeren Lebenswandel, bei dem all sein Hab und Gut verloren ging.
Danach verdingte er sich wieder als Karrenführer; lebte aber nicht wie damals in heiterer Ruhe, sondern elend, weil er seinen ganzen Verdienst meist in Palmschnaps vertat. Er war eben auf abwärtsführende Fährte geraten, wie es wohl geschehen kann, so lange jemand im Begreifen nicht festen Halt gefunden hat.
Und dabei geschah es, daß er nicht nur sich quälte, sondern auch andere, indem er seine Ochsen schlecht behandelte, so daß alle redlich Denkenden sich von ihm abwandten.
Als er einstmals einen Ochsen so geschlagen hatte, daß ihm Blut von den Weichen tropfte, warnten ihn die anderen und sagten: „Denk’ an Deine nächste Geburt.“ Aber Wijasingha, der schon ganz verkommen war, antwortete roh: „Kümmert Ihr euch nur um euch selber.“
Da erschraken die anderen Karrentreiber und sagten unter sich: „Was können wir tun? Es kommt auf sein Karma.“
Eines Tages hatte er in der Nähe von Pallai einem Weibe am Wege einige große Mangos abgekauft und wollte gerade die nötigen Kupfer aus dem[S. 85] Gürtel ziehen, um zu bezahlen, als ein Weißer des Weges kam, der gleichfalls bei dem Weibe stehen blieb, um Mangos zu kaufen.
Da nahm das Weib Wijasingha die Mangos wieder ab und gab sie dem Weißen, weil er mehr zahlte. Wijasingha aber wurde darüber aufs höchste aufgebracht und da er weder am Weibe noch an dem Weißen seine Wut auslassen konnte, so ließ er sie an sich selber aus, indem er all sein Geld in der nächsten Taverne vertrank.
Als es nun zum Abend ging, wo die Karrenführer ihren Reis nehmen, hatte er kein Geld, um sich eine junge Kokosnuß für den Kurry zu kaufen. Daher stieg er, als es dunkel geworden war, auf einen Palmbaum, um eine zu stehlen.
Sei es nun, daß die Eile, oder die Dunkelheit oder der reichliche Branntwein schuld waren — oben, dicht unter der Krone, stürzte er ab und brach das Genick. In Ceylon sagt man aber, daß, wer beim Besteigen eines Palmbaumes verunglücke, ein schlechter Mensch sein müsse. Wie weit das freilich für Wijasingha zutrifft, will nicht ich entscheiden.
Der Abt von Kelanya aber pflegte ihn als Beispiel anzuführen, wenn er über das Wort des Buddha predigt, daß die Lehre, falsch befolgt, wie ein Messer sei, daß man bei der Schneide fasse. Es nütze nichts, sondern verletze nur die Hand und gäbe nichts als Schmerz und Schaden.
ch wundere mich oft, weshalb die Menschen sich Märchen erzählen. Die Wirklichkeit ist das wunderlichste aller Märchen. Wie plump sind die Märchen der Märchenwelt gegenüber dem Märchen „Wirklichkeit“.
Ich, das Kind des Garda-Sees, mit dem ich verwachsen war im guten wie im bösen, sitze jetzt hier im indischen Randgebirge, in Lanauli, sitze hier seit Jahr und Tag, und fast sieht es aus, als ob ich hier meine Tage beschließen soll — entwurzelt mich nicht irgend ein Sturmwind aufs neue.
Mir ist, als ob die herbe Strenge, die einsame Größe dieser Landschaft hier rings um mich mir die Lieblichkeit meines alten Sirmione nur noch lebhafter macht. Wenn ich oben am Cap saß, über der alten Villa des Catull; wie unzählige Male habe ich dort gesessen, als Knabe schon, als Jüngling, als angehender Mann.
Ich entsinne mich deutlich, daß ich als Knabe schon gesonnen habe, nachgedacht über die Rätsel des Lebens, über die Welt, über die Frage: Woher dieses alles?
Und dieses Sehnen, wenn im Abendglühen der See dalag wie ein Saphir und die Boote orangefarbene Streifen nach sich zogen. Es war dann, als ob unsichtbare Fäden an mir zogen, ich weiß nicht wohin. Denn schöner und friedlicher konnte es ja nirgends sein. Aber es ist, als ob Schönheit und Frieden nicht dazu da wären, sie zu genießen, sondern nur dazu, ein unbestimmtes vages Sehnen nach Schönheit und Frieden in mir anzuregen.
Da saß ich denn, bis alles Licht auf dem See geschwunden war und über mir, in dieser dunklen Klarheit ein Lichtchen nach dem anderen aufflimmerte.
Schon die Natur allein sollte uns lehren, daß Reinheit das Schönste ist. Ach Reinheit, wie köstlich! Wenn ich unter diesem klaren Sternenhimmel stehe, und Sirius und Orion funkeln, so ist mir, als zöge es mich aus mir selber heraus in dieses reine Feuer, in diese himmlische Reinheit. Soll ich überhaupt schon etwas anbeten, nun weshalb denn nicht dieses! Weshalb denn ein Unsichtbares, Unhörbares, Undenkbares — kurz ein Unding hinter diesem Sternenhimmel anbeten?
Eines Tages — ich war damals bereits Arzt in Mailand, gesuchter Arzt und nur für kurze Zeit zur Erholung bei meinen Eltern — ging ich gegen Abend vom Cap nach Hause zurück. Wie gewöhnlich ging ich[S. 88] am Kirchlein auf der Höhe, im Olivenwäldchen vorbei. Wie gewöhnlich blieb ich vor dem offenen Fenster stehen, und schaute hinein in die dunkle Kühle des Innern. Schmucklose, weiß-getünchte Wände, ein Altar mit allerhand buntem Flitter und in der Mitte auf ihm das Kreuz mit jenem Manne daran, der eine so fragwürdige Rolle im Geistesleben der Menschheit spielen sollte.
Gottglauben hatte ich längst nicht mehr. Überhaupt scheint mir, als ob sehr, sehr wenige Menschen wirklichen Glauben hätten und daß man sich über diese Tatsache täuscht nur deshalb, weil man sich nicht die Mühe nimmt, sich ernsthaft selber zu prüfen.
Von mir persönlich weiß ich nicht, ob ich überhaupt je Glauben an Gott gehabt habe. Ich entsinne mich nur als Knabe bei heftigen Gewittern etwas wie Gottesfurcht empfunden zu haben. Aber das verlor sich, als ich dem Phänomen gedanklich Herr geworden war.
Ich hatte draußen am Cap in einem physikalischen Buche gelesen, einem jener modernen Bücher, die in mehr oder minder geistreicher Form auf rein physikalischen Gesetzen eine Weltanschauung aufzubauen versuchen und damit sich selber vor die Notwendigkeit stellen, schließlich auch mich, das denkende, selbstbewußtseinbegabte Lebewesen, den physikalischen Gesetzen einzuordnen. Heute in besserer Einsicht, lache ich über alle derartigen gelehrten und geistreichen Versuche, weil ich ihre Wertlosigkeit und Verkehrtheit kenne. Damals[S. 89] hingegen fühlte ich nur, daß dieses nicht der rechte Weg sein könne. Aber ich erkannte die Gründe nicht. So machten mir alle diese Hypothesen und Gedanken, die eine Welt aufbauen wollen, in welcher der, welcher sie aufbauen will, keinen Platz mehr hat, viel Not. Ich sann, ich grübelte. Es störte mir sogar den Schlaf und machte mich oft fast schwermütig. Aber wenn ich mich aufs genaueste durchforsche, so weiß ich selbst heute noch nicht, ob diese Nöte ehrliche waren, oder einem Kokettieren mit mir selber entspringend. Denn das war mir schon länger klar geworden, daß eine starke Eigenliebe den Grundzug meines Charakters bildete.
Als ich an jenem Tage, von welchem ich oben sprach, wieder durch das Fenster in die Dämmerung des Kirchleins sah, die kahlen Wände, den Altar mit seinem Flitter, das schwarze Holz mit dem gekreuzigten Manne daran, da seufzte ich unwillkürlich tief auf: „Hier ist Sicherheit, hier ist Ruhe! Hier gibt es keinen Kampf um eine Weltanschauung, kein Ringen mit Lebensrätseln. Wohl dem, der in so sicherem Schoß ruht.“
Indem hörte ich auf der anderen Seite des Kirchleins reden. Ich konnte ganz deutlich eine Männerstimme verstehen, die in langsamer und gewählter Sprache sagte:
„Für mich ist es garnicht zweifelhaft, daß die Form des Glaubens, der wir zufällig angehören, eine der rohesten ist. Wir haben in dieser Beziehung den Zeiten der Neuplatoniker gegenüber unerhörte Rückschritte[S. 90] gemacht. Und mir scheint, ein Halt ist hier nur deshalb eingetreten, weil ein weiteres Rückwärts überhaupt nicht mehr möglich ist.“
Schon während der letzten Worte war der Sprecher hinter der Mauer hervorgetreten und in der Richtung auf meinen Standpunkt zugekommen. Er hatte beim Sprechen fest vor sich auf den Boden gesehen, so daß er, als er aufhörte zu sprechen und hoch blickte, fast dicht vor mir stand.
Seine Worte richteten sich an eine jugendliche weibliche Person, die ebenso gesenkten Hauptes wie er selber, neben ihm ging.
Offenbar betroffen blickten beide hoch.
Der Fremde grüßte, wie es Leute wohl in plötzlicher Verlegenheit tun.
Dieses Gefühl schien der Sprecher selber zu haben; denn gleichsam, um sich mir gegenüber in eine andere Lage zu bringen, begann er ein Gespräch.
Es waren so gleichgültige Sachen, wie eben Reisende, die sich zufällig treffen, mit einander reden.
Wir gingen zusammen den schmalen Pfad zum Ort hinab, ich neben dem Alten, seine Begleiterin ein Stückchen hinter uns.
Der Alte war eine jener Persönlichkeiten, die wir „interessant“ nennen. Groß, hager, graubärtig, ein Kopf, der an Leonardo da Vinci erinnerte.
Im Gespräch stieß ich zufällig an einen der Olivenbäume, die den engen Pfad begrenzen. Mein Physik-[S. 91]Buch fiel zur Erde, und alle meine Notizen, auf vielen einzelnen Blättern niedergeschrieben, flogen auseinander.
Während ich eilig zusammenraffte, war die Begleiterin des Alten herangekommen und half mir im Aufsuchen.
Wir richteten uns beide gleichzeitig auf und unsere Augen trafen sich voll im gleichen Moment.
Wenn ich heute an diesen Augenblick zurückdenke, heute, wo mein Haar schon zu grauen beginnt, so erscheint er mir immer noch als der merkwürdigste meines Lebens. Wie einen Menschen ein Schlag trifft, so wußte ich: Mein Schicksal hat mich getroffen.
Seit ich dieses an mir selber erlebt hatte, gebe ich mir gar keine Mühe mehr, jene merkwürdige Umwandlung, die Paulus auf seinem Wege nach Damaskus befiel, zu „erklären“. Es gibt derartige Umwandlungen, die wie der Blitz aus heiterem Himmel den Menschen überfallen, und jeder Versuch, solche Erlebnisse aus gewissen Vorstadien herleiten zu wollen, führt zu Absurditäten. Es ist eben so und wir müssen uns fügen, ebenso wie wir uns der Tatsache fügen müssen, daß wir überhaupt da sind.
Der Alte hatte, während wir die losen Blätter aufsammelten, mein Buch vom Boden genommen und den Titel gelesen.
Wie mir schien, mit leisem Lächeln fragte er:
„Interessiert Sie dieses?“
Damit hatte das Phrasenmachen ein Ende und[S. 92] das Gespräch begann. Wir sprachen lebhaft, ununterbrochen; wir kamen zur Landungsbrücke, in deren Nähe das Hotel der beiden lag — sie waren auch nur auf Besuch hier — wir gingen sprechend ein Stück zurück, dann in der anderen Richtung am alten Stadtturm vorbei, die Landstraße entlang. Die Sonne ging unter; es fing an zu dunklen; schließlich bat mich der Alte, mit ihnen zusammen im Garten des Hotels das Abendessen zu nehmen.
Was wir sprachen? Ich weiß es nicht mehr genau. Ich weiß nur, daß ich mich in einem Hochgefühl befand, das mich geneigt machte, meine Ansichten in einer übertrieben scharfen, fast übermütigen Weise geltend zu machen. Ich fühlte, daß ich geistreich war und gefiel mir. In einer Art Befangenheit richtete ich meine Worte fast ausschließlich an den Alten, während ich mir doch wohl bewußt war, daß ich im Grunde genommen nur zu dem Mädchen sprach, begierig, von ihr bewundert zu werden.
In einem fielen wir beide, der Alte und ich, ganz zusammen: Das unbefriedigende der modernen Zustände, ihre Oberflächlichkeit, ja Verlogenheit: ihre Unruhe, ihre Hast, ihre Gewalt, uns uns selber zu entfremden, so daß wir schließlich den Weg zu uns selber nicht mehr zurückfinden — kurz: ihre Nichtwirklichkeit.
Der Alte setzte nun die an der Kirche oben unterbrochene Unterhaltung fort. Er bekannte sich als eifrigen Verehrer der Neu-Platoniker, insonderheit des[S. 93] Plotin. Dessen Satz „ta panta hen“ war für den Alten Weltanschauung und Religion in einem. Mit Geist und Gelehrsamkeit entwickelte er die Fäden, die sich in diesem Pantheismus von Indien her zu uns hinüberziehen. Er ging sogar soweit, diesen Gedanken als den eigentlichen, tiefsten Jesus-Gedanken zu erklären, wohingegen das, was wir jetzt als Christentum haben, vielmehr Paulinisches Machwerk sei. „Es ist mir ganz gleichgültig,“ meinte er im Lauf des Gesprächs, „ob Jesus bei indischen Weisen in die Schule gegangen ist. Tatsache ist, daß sein Denken zum Pantheismus hinneigt, wie ja schließlich jeder Feinfühlende von der intellektuellen Rohheit des Monotheismus sich abgestoßen fühlen muß. Sicherlich hat das Christentum einen bösen Tausch damit gemacht, daß in der christlichen Theologie nicht mehr Christus, sondern Paulus der Führende war — statt eines natürlichen Gefühlsmenschen ein finsterer Fanatiker, dessen Temperament nicht vom Herzen, sondern vom Kopf ausgeht. In seinen widersinnigen Deduktionen steckt schon die Wurzel jener späteren Scholastik, zu welcher die ursprüngliche Jesus-Lehre nie die Möglichkeit gegeben hätte.“
Ich sah bei diesen scharfen Worten zur Tochter hinüber, um mich über den Eindruck, den diese Äußerung auf sie machte, zu vergewissern.
Der Alte bemerkte es. Lächelnd sagte er:
„Sie dürfen nicht denken, daß meine Tochter über solche Reden erschrickt. Sie gehört zu den weiblichen[S. 94] Wesen, welche denken. Und sobald man anfängt zu denken, hat der persönliche Gott ausgespielt.“
Wieder blickte ich erwartungsvoll zu unserer Gefährtin hinüber.
Die schien die letzten Worte des Alten nicht zu hören. Sinnend sah sie über den See hin; die kräftigen Lippen schienen einander kaum zu berühren und glichen den sich öffnenden Kelchblättern einer Blume. Es war, als ob sie auf etwas aus der Unendlichkeit her lausche. Ich hatte nie ein reineres, schöneres Mädchengesicht gesehen.
Langsam, wie bei jedem Worte überlegend, sagte sie mit einer merkwürdig klaren, wohllautenden Stimme, die etwas gesangartiges hatte:
„Ich denke immer, wenn es einen Gott gäbe, so müßte auch jedes Wesen es wissen, aus sich selber wissen, und es könnte ein Zweifel überhaupt gar nicht möglich sein. Diese Möglichkeit, an Gott zu zweifeln, ist eine Tatsache, die mich immer wieder stutzig macht, über die ich gar nicht hinwegkommen kann.“
„Wie tief Sie gedacht haben!“ sagte ich mit ehrlichem Staunen.
„Ich weiß nicht, was Sie ‚tief denken‘ nennen. Meinem Gefühl nach ist es einer jener Gedanken, die so auf der Oberfläche liegen, daß allein dieses der Grund sein kann, warum alles darüber hinweggeht.“
Nicht gewöhnt, meine Gefühle zu verstecken, sah ich ihr mit so unverhohlener Bewunderung in die Augen, daß sie leicht errötete.
Mit diesem Moment schien es wie ein eisiger Reif auf unsere Unterhaltung gefallen zu sein. Das Mädchen saß verstummt da; der Alte sah plötzlich frostig und unnahbar aus. Hätte ich nicht vorher schon, im Laufe des Gespräches erfahren, daß beide gleichfalls in Mailand wohnten — sie hatten einen der kleinen, mir wohlbekannten Vororte genannt — so würde ich jetzt wohl nichts mehr erfahren haben.
Ich merkte, daß es Zeit war, mich zu verabschieden. Ich war betroffen über diesen plötzlichen Wechsel, den ich mir gar nicht erklären konnte. Denn schließlich war es doch keine Beleidigung, wenn ein Mensch in meiner Lebensstellung einem jungen Mädchen in Gegenwart ihres Vaters zeigte, daß er sie bewundere.
Als ich um die Erlaubnis bat, ihnen in Mailand meine Aufwartung machen zu dürfen, sagte das Mädchen nichts und der Alte gab seine Zustimmung mit jener kühlen Reserve, die mich, hätte es sich um eine rein konventionelle Höflichkeit gehandelt, sicher nicht bestimmt haben würde, von der Erlaubnis Gebrauch zu machen. Da ich aber, gerade herausgesagt, verliebt war wie noch nie in meinem Leben, so ließ ich mich nicht beirren und ging mit dem festen Entschluß, beide in ihrem Heim aufzusuchen.
Ich wußte nicht, wann sie abreisen wollten. Am nächsten Morgen spähte ich deshalb überall umher, ohne etwas entdecken zu können. Sie mußten schon in aller Frühe Sirmione verlassen haben.
Schon am Tage nach meiner Rückkehr nach Mailand — länger ließ mir meine Ungeduld keine Ruhe — machte ich meine Aufwartung.
Sie wohnten draußen, in einer mir wohlbekannten Vorstadt. Das Haus, nur klein, lag tief im Garten und war gegen die Straße durch eine hohe weiße Mauer abgeschlossen. Das Ganze machte einen merkwürdig stillen zurückhaltenden Eindruck, trotzdem es, im Grunde genommen, sich kaum von den Nachbarhäusern unterschied. Aber wie es Persönlichkeiten gibt, die, trotzdem sie den gleichen Rock tragen, wie andere, doch zugeknöpfter aussehen als andere, so geht es auch mit den Baulichkeiten; und die Fensterscheiben kommen mir allen Ernstes manchmal vor wie Augen, die dem Hause einen gewissen Charakter geben.
Der Alte empfing mich freundlicher als ich erwartet hatte.
Er nahm mich gleich nach der ersten Begrüßung mit in seinen Arbeitsraum.
Hier sah es aus wie bei einem mittelalterlichen Alchymisten. Tigel, Retorten, allerhand verschiedenfarbige Pulver und Flüssigkeiten standen umher. Die eine Längswand nahm die Bibliothek, die andere eine Art zoologischen Museums ein.
Im Laufe des Gespräches stellte sich heraus, daß es die Liebhaberei des Alten sei, allerhand fremde Gifte herzustellen. Er nutzte alle seine Beziehungen aufs eifrigste aus, um sich mit den nötigen Drogen oder[S. 97] Tieren versehen zu lassen. Nicht ohne einen gewissen Stolz deckte er einen Kasten in der Ecke des Zimmers ab, in welchem eine ziemlich kleine, aber häßlich dickköpfige Schlange träge dahingestreckt lag — eine javanische Giftschlange, deren Biß unrettbar und in kürzester Zeit töte. Der Name klang mir so fremd, daß ich ihn völlig wieder vergessen habe.
Der Alte war selbst früher Arzt gewesen, hatte aber die Praxis seit vielen Jahren aufgegeben, war lange im Orient gewesen und lebte jetzt nur seinen Privatstudien. Nach dem ganzen Eindruck, den ich von dem Hause empfing, mußte er begütert sein.
So interessant alles dieses sonst für mich gewesen wäre, heute hörte ich nur mit halbem Ohr. Von derjenigen, deretwegen ich gekommen war, ließ sich nichts weder sehen noch hören, und der Alte schien gar nicht zu wissen, daß er eine Tochter habe.
So heuchelte ich Interesse, um die Zeit hinzuziehen, auch jenen toten Punkt in der Unterhaltung zu vermeiden, der mich genötigt haben würde, mich zu verabschieden.
Endlich ertönte die Hausglocke. Der Alte horchte auf und sagte:
„Sicherlich meine Tochter. Sie wird sich freuen, Sie wiederzusehen.“
Damit ging er mir voraus in den Salon, ein ziemlich großes Zimmer, aber mit jener altmodischen Eleganz eingerichtet, die nur in bestimmter Umgebung sympathisch wirkt.
Nach einem Weilchen trat Vera — das war ihr Name — ein. Trotz der feinen Zurückhaltung, mit der sie mich begrüßte, fühlte ich, daß ich angenehm sei.
Die nun folgende Zeit ist, nach weltlichem Maßstab gemessen, fraglos die schönste meines Lebens. Denn so lange der Mensch nicht richtig denken gelernt hat, ist er ja gewohnt, „Schönstes“ nur das durch die Liebe verschönte zu nennen.
Meine Besuche wiederholten sich, wurden immer häufiger und entgegen meiner ursprünglichen Erwartung, hatte ich gar keine Schwierigkeiten Vera zu treffen, ja selbst mit ihr allein zu sein. Manchmal kam es mir vor, als ob der Alte sich absichtlich zurückzöge. Es kam mir dann freilich auch vor, als ob Vera hiernach für eine ganze Weile noch ernster wäre, als sie es für gewöhnlich schon war.
Trotz Wahrung strengster Sitte in jedem Wort, in jedem Blick, waren wir doch bald in einen Zustand von Vertraulichkeit geraten, in dem keiner dem anderen aus seiner Liebe ein Hehl machte. Und doch fühlte ich zu meinem Befremden immer wieder, daß Vera jedem direkten Annäherungsversuch auswich.
Da ich annahm, daß es eine natürliche, unüberwindliche Schüchternheit ihrerseits sei, die ich freilich bei einer geistig so hochstehenden Persönlichkeit nicht begreifen konnte, so entschloß ich mich schließlich, beim Vater um sie anzuhalten.
Zufällig war es der Charfreitags-Tag, als ich zu meinen Freunden hinausfuhr. Da ich wußte, daß beide nie zur Kirche gingen, so war ich sicher, sie gerade heute zu Hause zu treffen.
Während ich sprach, war es, als ob der Alte noch gerader und größer wurde. Jede Muskel seines verwitterten Gesichtes schien zu erstarren. Ohne mich anzusehen, den Blick fest auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, hörte er zu und als ich schwieg, sagte er mit einer Art maschinenmäßiger Ruhe:
„Mein junger Freund, es ist das bei uns nicht so, wie es sonst zwischen Vater und Tochter ist, ich meine so, daß der Vater einfach die Hand der Tochter vergeben könnte. Da müssen Sie meine Tochter selber fragen.“
Damit brach er so plötzlich ab, daß ich nichts erwidern konnte als:
„Gut, so will ich das tun.“
Als ich gleich darauf Vera gegenüberstand und ihr sagte, worum es sich handele, wurde sie totenblaß. Fast weinerlich sagte sie:
„Mein Gott, mein Gott, was soll das nur geben? Ich habe es ja kommen sehen, aber jetzt — was soll das nur geben!“
Trotz ihrer Aufregung mußte sie mein Befremden fühlen. Plötzlich sagte sie:
„Setzen Sie sich. Ich muß Ihnen das alles erzählen.“
Sie nahm mir gegenüber Platz und blickte mit eng zusammengezogenen Brauen starr vor sich auf den Boden. Nach einem Weilchen begann sie:
„Ich bin nicht die rechte Tochter. Mein Vater heiratete schon als älterer Mann meine Mutter sozusagen von der Straße weg — wegen ihrer Schönheit.
Gleich nach der Verheiratung merkte er aber, daß sie bereits ein Kind unter dem Herzen trug. Er wollte sie im ersten Zorn sofort verstoßen, ließ sich dann aber durch die inständigen Bitten meiner Mutter bewegen, sie bis nach ihrer Entbindung bei sich zu behalten. Dann wollte er selber in den Orient gehen, wo er schon vorher lange Jahre gelebt hatte, meine Mutter aber sollte in ihre Heimat zurückkehren.
Mein Vater hielt sich während dieser ganzen Zeit völlig fern von meiner Mutter. Nach der Entbindung aber mochte wohl das natürliche Mitgefühl ihn übermannt haben. Am Morgen war ich geboren. Gegen Abend, so erzählte mir später meine Mutter, trat er in das Krankenzimmer, blieb nachdenklich neben dem Bettchen stehen, in dem ich gerade lag, und spielte mit meinen zur Faust zusammengekniffenen Fingerchen.
Dabei geschah es, daß ich seine Finger umklammerte und nicht wieder los ließ.
Die Wärterin lachte laut auf vor Vergnügen und rief zur Mutter hinüber:
„Seht doch, seht doch, sie hält den Herrn fest!“
Meine Mutter lachte mit und auch mein Vater[S. 101] soll dabei zum ersten Mal, seit ihn der schwere Schlag mit meiner Mutter getroffen hatte, wieder gelächelt haben.
Seit dem kam er alle Tage und spielte mit mir. Vom Wegschicken meiner Mutter war keine Rede mehr. Aber nachdem ich entwöhnt war, ließ er sie einst zu sich in sein Zimmer rufen und eröffnete ihr, daß es jetzt an der Zeit für sie sei, das Haus zu verlassen, daß er aber gern mich an Kindesstatt annehmen möchte. Träte sie mich ihm bedingungslos ab, so wolle er ihr eine Summe anweisen, durch welche sie für ihr ganzes Leben sicher gestellt sein würde; außerdem solle sie die Erlaubnis haben, mich hin und wieder zu besuchen.
Da beging meine Mutter das, was mir lange Zeit hindurch ganz unbegreiflich erschienen ist: Sie gab alle ihre Mutterrechte dahin und ich wurde die Tochter meines Vaters.
Freilich muß ich zur Entschuldigung meiner Mutter sagen, daß ich gleichfalls sie leicht hingegeben habe. Von der ersten Zeit an, wo ich anfing zu denken, gehörte ich schon ganz meinem Vater. In einem Alter, in dem andere Mädchen vielleicht noch mit Puppen spielen, fing ich schon an, eigenes Interesse für seine geistigen Interessen zu haben. So entspann sich eine Seelengemeinschaft zwischen uns, wie sie zwischen Mann und Weib nicht größer sein kann. Tatsächlich fühlte ich auch schon sehr früh, daß ich hier meine Mutter ersetzen sollte und mußte. So bin ich freilich nie Kind gewesen, aber mir ist auch, als ob ich nie alt werden könnte.“
Schon im Aussprechen dieser letzten Worte schien ihr der Doppelsinn derselben zu Bewußtsein zu kommen und mich mit einem halben Lächeln ansehend, sagte sie:
„Ich meine nicht so, als ob ich früh sterben müßte, wiewohl — doch das sind Phrasen — ich will damit nur sagen: Meine stets wachen, geistigen Interessen werden mich vor dem Altwerden schützen.“
Aber plötzlich kam dieser jammervolle Zug wieder in ihr Gesicht. Mit demselben halb weinerlichen Ton begann sie:
„Was nun aber! Mein Gott, was nun! Ich bin ja mit meinem Vater verbunden enger als durch die Fessel einer Ehe. Er wird verbluten, wenn ich mich von ihm reiße.“
Ich war grausam genug, hinzuzufügen:
„Und ich fürchte, Sie selber auch.“
Sie sah mich an mit einem Blick wie ein verwundetes Reh. Erschüttert stürzte ich vor ihr auf die Kniee nieder und ergriff ihre Hand, die sie mir willenlos überließ. Als ich aber, überwältigt von Leidenschaft, sie umarmen wollte, wich sie entschlossen zurück und sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch ertrug:
„Gehen Sie jetzt! Ich kann Ihnen nicht das Recht geben, mich zu berühren.“
So ging ich denn.
In der hierauf folgenden Zeit wurde ich von den widerstreitendsten Empfindungen hin- und hergezerrt. Mir war klar, daß ich derjenige von den Dreien war,[S. 103] von dem allein die Lösung des unerträglichen Zustandes ausgehen konnte. Ich fühlte wohl, wie verwerflich es war, an einem so zarten, innigen Bande zu zerren, wie es diese beiden Menschen verband. Die natürlichen Gefühle, welche die Jugend zur Jugend ziehen, verbanden mich mit Vera. Aber ich hatte zu viel erlebt, zu viel gedacht, um selbst im Stadium höchster Verliebtheit mir nicht darüber klar zu sein, daß diese Gefühle wohl einen Ersatz in ihrem Gegenstande erlaubt hätten von meiner wie von Veras Seite, daß aber die Verbindung, wie sie zwischen ihr und dem Alten bestand, unersetzbarer Natur war. Hundertmal stand ich auf dem Punkte, den Verkehr mit den beiden abzubrechen, aus ihrem Leben zu verschwinden, ebenso unmotiviert, wie ich hineingeraten war, aber ich konnte nicht.
Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß bei diesem allem am meisten der Gedanke mich quälte, ich könnte bei meinem nächsten Besuch überhaupt nicht mehr angenommen werden.
Dieser Gedanke wurde mir schließlich ganz unerträglich. Ich wollte noch einmal hingehen, mich sozusagen als Herr der Situation zeigen, wenigstens vor mir selber, und dann, vielleicht mit besserem Erfolge, wieder den Kampf gegen meine Liebe, oder besser, gegen meine Sinnlichkeit aufnehmen.
Etwa eine Woche, nachdem obiges sich ereignet hatte, fuhr ich wieder zur Villa der beiden hinaus, aber[S. 104] als ich in die Nähe des Hauses kam, wurde ich bei dem Gedanken, vielleicht an der Tür abgewiesen zu werden, so aufgeregt und unsicher, daß ich, ohne einen Versuch gemacht zu haben, wieder nach Hause fuhr.
Schon hieraus hätte ich mir sagen müssen, daß es mehr Eigenliebe als wirkliche Liebe war, die mich peinigte. Aber diese ganze Zeit mit ihrem Hangen und Bangen diente nur dazu, um mich in eine Art von Ingrimm gegen den Alten hineinzuleben. Es kam mir unnatürlich, unerhört vor, daß dieser alte Stamm sich dieses junge Reis aufgepfropft hatte und aus diesem Ingrimm heraus fand ich schließlich den Mut, eines Sonntags wieder an der Tür des Landhauses draußen anzuklopfen.
Zu meinem stillen Erstaunen empfing mich die Dienerin wie immer.
Nachdem ich ein kurzes Weilchen im Salon gewartet hatte, trat Vera ein.
Sie sah so rührend schön aus, daß ich am liebsten vor ihr niedergekniet wäre. Heute weiß ich, daß es die durchsichtige Blässe und Magerkeit ihres Gesichts war, die diesen anbetungswürdigen Eindruck machten. Sie mußte viel gelitten haben in diesen Wochen. Sie begann sofort:
„Wie gut ist es, daß Sie endlich kommen. Ich muß sie durchaus sprechen, mochte Ihnen aber nicht schreiben. Sehen Sie,“ fuhr sie mit einer Art verhaltener Heftigkeit fort, „es ist ja nun einmal so die[S. 105] Sitte, daß der Mann dem Weib die Liebe gesteht. Aber weshalb soll ein Weib, das sich reif dazu fühlt, nicht auch einmal dem Manne die Liebe gestehen! Ich fühle mich reif dazu. Sie wissen ja auch, daß ich Sie liebe. So gestehe ich denn frei: Ich liebe Sie, so daß ich, vorläufig wenigstens, nicht sehe, wie ich ohne Sie leben soll. Aber was das merkwürdige ist: Das Band zu meinem Vater ist dadurch nicht im mindesten gelockert. Ich weiß nicht, wie es möglich ist; ich kann nur sagen: Es ist so. Sie sagen: ‚So wollen wir alle drei zusammenleben.‘ Ich weiß nicht, warum nicht. Ich weiß auch hier nur, es geht nicht. Ein Ganzes läßt sich eben nicht teilen.“
Sie schwieg ein Weilchen und hielt die Lippen fest aufeinander gepreßt. Dann fuhr sie leise fort, während ihre Finger fast gewaltsam die Quaste des Sessels bearbeiteten:
„Sie sagen: ‚Wir sind jung, mein Vater ist alt.‘ Dieser unselige Gedanke ist mir auch gekommen und seitdem bin ich mein eigener Herr nicht mehr. Seit dieser Gedanke in mir geboren wurde, weiß ich, alles ist verloren, für immer verloren. Jeder Genuß, auch der reinste wäre mir vergiftet durch den Gedanken: ‚Du hast auf seinen Tod gewartet, um der Lust folgen zu können.‘ Liebster Freund, so ist es! Es gibt eben Verhältnisse, die mächtiger sind wie wir. Sie werfen uns die Schlinge über den Kopf, und wo wir entfliehen wollen, da schnüren wir uns nur ärger ein. Warum[S. 106] sie da sind? — Ich weiß es nicht und Sie gewiß auch nicht. Genug: sie sind eben da und wir müssen uns fügen. Ich habe mich völlig gefügt. Mein Vater weiß, daß ich ihm verloren bin, und ich weiß, daß ich mir selber verloren bin. Sie glauben nicht, wie müde der Mensch werden kann in kurzer Zeit, wenn das Gehirn Tag und Nacht mahlt wie ein Paar Mühlsteine und nichts zu verarbeiten bekommt als nur Steine und wieder Steine.“
Wie ich dieses alles mit anhören konnte, ohne ihr brennenden Herzens zu Füßen zu stürzen, ihr zu sagen: „Ich will freiwillig zurücktreten, ich kann es!“ das ist mir heute unbegreiflich. Ich schaudere bei dem Gedanken, daß vielleicht lediglich die Eigensucht es gewesen sein könnte, die mich davon abgehalten hat. Wie ein verstockter Sünder blieb ich schweigend sitzen und ließ dieses edle Herz sich ausbluten bis zum letzten Tropfen.
Ich verabschiedete mich nach kurzer Zeit mit dem unbehaglichen Gefühl, die unglücklichste Rolle meines Lebens gespielt zu haben. Es ist, als ob manchmal alles wahre Gefühl, alle Herzlichkeit im Menschen unter Schloß und Riegel gelegt wäre.
Den Alten sah ich an diesem Tage gar nicht.
Die nächsten Tage verlebte ich in einer Art innerer Verdrossenheit, ob aus Unzufriedenheit mit mir selber — ich weiß es nicht.
Nach vier oder fünf Tagen erhielt ich mit der[S. 107] Frühpost einen Brief von Vera. Ich öffnete ihn, zu meiner Schande muß ich gestehen, ahnungslos und las folgendes:
„Lieber Freund! Geliebter! Daß ich entschlossen war, dieses Leben zu verlassen, sagte ich Ihnen indirekt schon bei Ihrem letzten Besuche. Ihre gedrückte Stimmung bewies mir, daß Sie mich verstanden hatten. Erst heute Abend hatte ich Gelegenheit, das Fläschchen, dessen ich dazu bedarf, aus dem Laboratorium meines Vaters zu entwenden. Ich werde es heute beim Schlafengehen nehmen. Deswegen schreibe ich jetzt. Morgen früh wird man mich tot im Bett finden. Ich bitte Sie also, sofort nach Empfang meines Schreibens zu uns zu eilen, um die nötigen Formalitäten vorzunehmen. Ich bitte Sie herzlich um Verzeihung, daß ich Ihnen dieses Opfer abverlange. Aber die Rücksicht auf meinen Vater zwingt mich. Ein fremder Arzt könnte Schwierigkeiten bereiten, vor denen ich für meinen Vater schaudere.
„Lieber Freund, betrüben Sie sich nicht zu sehr. Bemessen Sie auch Ihre Schuld nicht zu hoch. Wie ich Ihnen meine Liebe gestanden habe, so gestehe ich Ihnen auch offen: Es ist nicht diese Liebe, die mich aus dem Leben treibt, es ist das rettungslos und für immer zerstörte Verhältnis zu meinem Vater. Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich weiß, er würde von Herzen gerne gehen, mir zu Liebe. Aber er wagt es nicht, mir zu Liebe. So tue ich es ihm zu Liebe.[S. 108] Es ist der einzige Weg, mich ihm wiederzugeben und für mich so leicht, so beschämend leicht nach allen diesen schrecklichen Lebenstagen. Ich sehe hier niemanden, der eine Schuld hat, niemanden, der ein Verbrechen begangen hat. Das einzige Verbrechen bleibt schließlich — Mensch zu sein.
Leben Sie wohl und erfüllen Sie meine Bitte, wenn Sie je geliebt haben.
Ihre Vera P.“
Von dem Moment, wo ich diesen Brief las, bis zu dem Moment, wo ich vor dem Bette Veras stand, ist alles meinem Gedächtnis entschwunden. Wahrscheinlich ist es auch überhaupt nie darin gewesen. Ich muß wie sinnlos davon gestürzt sein.
Vor dem Bett kniete der Alte.
Bei meinem Eintritt erhob er sich schwerfällig. — Gott und Vater! Alles erdulden, alle Qualen der Hölle leiden, nur nicht noch einmal in die trocknen Höhlen dieses Greises sehen! Wie kann nur ein Mensch dem andern so schrecklich werden!
Mechanisch nahm ich die Formalitäten vor, die mein ärztlicher Beruf in diesem Falle vorschrieb. Der Tod war offenbar schon am Abend eingetreten.
Nachdem ich die haltlos weinende Dienerin mit den nötigen Anweisungen aus dem Hause geschickt hatte, verließ ich das Sterbezimmer in der Meinung, daß der Alte mir folgen und mir einige Angaben machen würde. Bisher war er völlig lautlos geblieben. Aber statt[S. 109] mir zu folgen, ließ er sich schwer wieder am Bette der Toten nieder und ich stand allein im Nebenzimmer.
Mir war, als müßte ich etwas zu dem Alten reden, irgend etwas über die Tote. Aber ich fühlte auch, daß es mir jetzt, wo ich meine Pflicht als Arzt erledigt hatte, ganz unmöglich gewesen wäre, noch einmal auch nur die Tür des Sterbezimmers zu öffnen.
Wenn Schuld überhaupt gebüßt werden kann, so muß ich durch die Qualen dieser totenstillen Stunde, die verfloß bis zur Rückkehr der Dienerin, viel gebüßt haben. Hätte ich dieses alles länger aushalten müssen, ich glaube, ich wäre im Wahnwitz in das Sterbezimmer gedrungen und hätte den Alten gewaltsam von der Leiche gezerrt. Dieses schweigende Stück Leben hinter der geschlossenen Tür! Diese blicklosen Höhlen, die mich anstarrten, wohin ich mich wenden mochte! Schrecklich, schrecklich!
Meinen Beruf habe ich seitdem nicht wieder aufgenommen. Ich habe überhaupt gar nicht an die Möglichkeit gedacht. Sofort nachdem ich zu Hause angekommen war, packte ich das notdürftigste in eine Handtasche zusammen und reiste sofort ab. Ich ging in die Alpen.
Es war damals eine einzige Idee, die mich beständig quälte und mich fast zum Wahnsinn brachte, die Idee: „Es muß doch einen Zweck haben, wenn der Mensch derartiges leidet.“
Manchmal war mir, als ob ich jemanden auf der[S. 110] Straße anhalten, ihn fragen müßte: „Weißt du, warum du leidest, warum du dich freust? Weißt du überhaupt, warum du da bist?“
Denn hat es einen Zweck, daß man derartiges leidet, so muß es doch auch einen Zweck haben, daß man da ist.
Hat es aber einen Zweck, daß man da ist, so muß man doch von einem Gott auf seinen Platz gestellt sein. Ist man von Gott auf seinen Platz gestellt, so müßte man doch auch in ihm stets einen letzten Rückhalt haben.
Aber ich nehme meinen Fall. Ich stelle mir vor, ein Gott sagte: „Dir ist diese deine Sünde vergeben“ oder: „Hinab mit dir in die unterste Hölle! Das edelste Wesen hast du gemordet durch deine Selbstsucht — sei verdammt für immer!“ Das eine wäre so nichtssagend für mich wie das andere. Deswegen bliebe doch alles wie es ist. Im allerletzten Grunde bin ich ja doch mir selber verantwortlich.
Ist aber der Gott gerade da, wo es darauf ankommt, nutzlos, weshalb sich dann mit diesem transzendenten Ballast schleppen? Weshalb schleppen andere sich mit ihm? Weshalb schleppt im Grunde genommen alles sich mit ihm? Denn der Philosoph, der über ein Transzendentes spekuliert, glaubt ja genau so, wie der Kirchengläubige, mag er sein Transzendentes auch mit den geistreichsten und unverfänglichsten Namen benennen.
Monatelang irrte ich ruhelos von einem Ort zum andern. Eines Tages trat ich, es war in München, in eine Buchhandlung. Unter den dort ausliegenden Neuheiten fiel mir zufällig ein Buch über den Buddhismus in die Hände. Er hatte als Leitspruch den Satz:
„Über alle Gabe siegt der Wahrheit Gabe.“
Das zog mich an. Ich kaufte und begann zu lesen.
Irgend ein deutscher Gelehrter sagt von sich, er sähe es als eine Gnade des Schicksals an, daß sein Vater ihm schon als reiferen Knaben Kant’s „Prolegomena“ in die Hand gegeben habe. Ich muß offen gestehen, daß ich diese Gnade nicht recht zu würdigen weiß. Aber ebenso würde wohl jener Gelehrte es nicht verstehen, wenn ich hier sage, daß ich es für eine Gnade des Schicksals ansehe, daß er mir gerade in dieser Zeit dieses Buch in die Hände gab. Ich lernte begreifen, langsam, langsam, in jahrelangem geduldigem Nachdenken, aber ich lernte schließlich, und ich lernte vergeben — mir selber vergeben. Ich begriff, warum ich mir selber vergeben durfte.
Die Dankbarkeit für diese Liebesgabe des Buddha trieb mich, die Spuren dieses Einzigen zu verfolgen. So schiffte ich mich bald darauf nach Indien ein, habe mit eigenen Augen und in stiller Ehrfurcht alles betrachtet, was diesen größten aller Menschen, diesen reinsten, wirklichsten Menschen angeht und bin nun hier in Lanauli geendet. Hier fahre ich bisweilen zu den Felsentempeln von Karli, um die stolze Säulenhalle zu[S. 112] bewundern. Bisweilen fahre ich auch zum gegenüberliegenden Gebirgszug, um die Felsenhöhlen von Bhaja und Bedsa zu besuchen, aus deren kahlen Wänden noch die jugendliche Kraft rücksichtslosen Entsagens spricht, wie sie den ersten Zeiten des Buddhismus eigen war. Meist aber sitze ich unter einem dieser mächtigen alten Bäume, die einzeln in dieser merkwürdigen Landschaft stehen. Und wenn der Monsunwind in den Zweigen rauscht und die Sonne hinter den Bergen im Westen sinkt, dann genieße ich immer wieder das köstlichste aller Gefühle: Dieses gesicherte Ruhegefühl, hervorgegangen aus dem bewußten Loslassen von der Welt und ihren Gütern.
Und das ist die Liebesgabe des Buddha. Mögen viele davon kosten. Denn irgend eine Schuld, die im Begreifen nicht sich selber verzehrte, die gibt es nicht.
rau Lamondt hieß vor ihrer Verheiratung Helene van Hoeven. Sie war in Holland in der Stadt Utrecht geboren. Ihre Großmutter mütterlicherseits aber war eine echte Javanin gewesen, und auch bei Fräulein van Hoeven zeigten sich noch Spuren malayischer Abstammung. Ihre Hautfarbe hatte einen leichten Stich ins Gelbliche und der Oberkiefer war etwas stark entwickelt, was aber nur beim Lachen hervortrat. Im übrigen hatte sie ein angenehmes Gesicht, an dem aber durchaus nichts auffallendes war, ausgenommen etwa die grauen Augen mit ihrem festen, klaren Blick. Aber selbst diese fielen nicht jedem auf, sondern nur solchen, welche fähig waren zu sehen. Und ich bin fest überzeugt, daß die meisten Menschen Fräulein van Hoeven nicht zu denjenigen Personen rechneten, von denen sich erwarten ließ, daß sie später mal eine Lebensgeschichte haben würden.
Als Helene heiratete, war sie noch sehr jung, kaum 18 Jahr. Aber niemand dachte, daß das in diesem Falle viel schaden könnte. Denn sie heiratete jemanden, mit dem sie von Kindheit auf gespielt hatte und mit dem sie auch jetzt fast den ganzen Tag zusammen zubrachte: nämlich den jungen Lamondt. Daß sie sich heirateten, war von jeher selbstverständlich gewesen, also dachte man, käme es auf ein paar Jahre früher oder später nicht an.
Der junge Lamondt war ein seltner Mensch, ansehnlich, klug in seinem Geschäft, bescheiden und von einer ungewöhnlichen Gutherzigkeit.
Da die Familie viele Beziehungen nach Java hatte, so siedelten die beiden gleich nach ihrer Verheiratung nach Batavia über, um dort jenes äußerliche Glück zu suchen, welches die Ergänzung zu ihrem innerlichen Glück bilden sollte.
Ob freilich Frau Lamondt so ganz glücklich war, wie es junge Frauen stets sein sollten, das wußte sie wohl selber nicht. Sie war noch zu jung, und was das schlimmste war, ihr Mann war nur wenig älter wie sie. Sie wußten wohl beide nicht recht, was sie aneinander hatten. Zum vollen, dauernden Glück gehört aber das Bewußtsein vom Wert des Gegenstandes, dem wir unser Glück verdanken. So könnte es wohl sein, daß sie trotz aller gegenseitigen Liebe doch jenes einzige, wahre Glück der Liebe, jene vergeistigte Liebe nicht kennen gelernt hatten.
In Batavia bewohnten sie ein geräumiges Haus außerhalb der Stadt und hatten mehrere Diener, wie alle dortigen Europäer. Verkehr mit der Gesellschaft hatten sie wenig. Lamondt brachte fast den ganzen Tag in seinem Kontor in der Stadt zu, und so lebte die junge Frau in völliger Einsamkeit sich selbst überlassen.
Das wäre in Europa nicht so schlimm gewesen, weil hier die Arbeiten in der Häuslichkeit den Einfluß der Einsamkeit aufheben oder doch schwächen. In Indien aber fällt dieser Faktor fort. Die Dienerschaft macht hier alles, und die Hausfrau widmet den Tag der Hauptsache nach dem Nichtstun; denn das Bewegen des Schaukelstuhls kann man kaum eine Tätigkeit nennen.
Nun war es freilich der jungen Frau Lamondt nicht gegeben, in dieser, gerade in Holländisch-Indien so beliebten Weise ihre Tage zuzubringen. Sie begann nach Beschäftigung zu suchen, und da das Haus nichts bot, so stieß sie auf diejenige Beschäftigung, auf die sie auch in Europa, nur etwas später, gestoßen wäre, weil ihre Natur es forderte: die Beschäftigung mit sich selbst, das Nachdenken über sich selbst. Mit einem Wort: Sie begann zu philosophieren.
Es ist aber ein großer Unterschied, ob jemand mit 18 oder mit 25 oder gar mit 40 Jahren anfängt zu philosophieren. Die Anlage zur Nachdenklichkeit war Frau Lamondt angeboren. Diese Anlage wäre überall zum Durchbruch gekommen, aber in Europa wahrscheinlich erst auf Grund der Lebens-Erfahrungen, das[S. 116] heißt der Püffe und Enttäuschungen, die wir hienieden zu kosten bekommen. Jetzt, in Indien in dieser Einsamkeit wurde diese glücklich-unglückselige Anlage gleichsam künstlich, wie in einem Treibhause zur Reife gebracht. Es fehlte hier der reale Hintergrund, der den Resultaten ihres Philosophierens als natürlicher Maßstab dienen konnte.
Außerdem wollte es der Zufall, daß sie den Philosophien in die Hände fiel, die eine fortschreitende Hebung, Vervollkommnung des Menschengeschlechtes lehren und die Verpflichtung jedes Einzelnen, an dieser Hebung mitzuarbeiten.
Diese Theorie wirkt auf gewisse Gemüter wie der Weingeist auf das Gehirn. Auch Frau Lamondt wurde berauscht und in diesem schillernden Gespinst klangvoller Hypothesen und hochgeistiger Argumente gefangen genommen. Sie hatte irgendwo Beethovens stolze Worte gelesen: „Höheres gibt es nichts, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern und von hier aus die Strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht verbreiten.“ Das tönte ihr im Ohr wie der Klang einer silbernen Glocke.
Eines Tags begann sie, ihrem Manne gegenüber diese Gedanken zu entwickeln. Der lachte sie gutmütig aus. „Laß Du die Welt nur, wie sie ist. Man beißt sich bei so was nur die Zähne aus, und es bleibt doch alles beim Alten.“
Sie erwiderte hitzig: „Wenn jeder so denken wollte[S. 117] wie Du, so würde die Welt wohl in einem kläglichen Zustand sein.“
„Das weiß ich nicht, Tutti. Mir gefällt sie so ganz gut wie sie ist, und für die Zeit, in der wir drauf sind, reicht’s schon aus.“
Er küßte die junge Frau herzlich. Es war Zeit, ins Kontor zu gehen. Im Hinausgehen rief er ihr scherzend zurück: „Ich will vor allem mal die Lamondt’sche Welt verbessern. Wie die große dabei fährt, das kümmert uns gar nichts. Hörst Du, Tutti, gar nichts!“ wiederholte er übermütig. Er warf ihr eine Kußhand zu und stieg in sein Wägelchen.
Frau Lamondt versuchte es noch öfter, ihren Mann für diese Fragen zu interessieren, aber stets mit dem gleichen Erfolg. So fing sie an, bei solchen Gelegenheiten sich ernsthaft über ihn zu ärgern. Sie übersah ganz oder wußte es wohl nicht, daß er tatsächlich seine Pflicht erfüllte und nach allen Seiten hin gutes tat, so weit es an seinem Platz nur möglich war. Sie übersah, daß auch das idealste Streben in keinem Fall mehr tun kann. Sie begann auf ihren Mann herab zu sehen seiner prosaischen Ansichten wegen.
Auch unter den wenigen, mit denen sie hier verkehrte, war niemand, der Verständnis für ihren Gedankengang gehabt hätte. Sie begann bei diesem und jenem zu fühlen. Denn erhabene Gedanken, die noch nicht zur Tat umgesetzt sind, drängen zur Mitteilung durch das Wort. Sie verlieren hierdurch zwar an[S. 118] Kraft, gewinnen aber an Verdaulichkeit. Was sie an Nähreinheiten einbüßen, wird aufgewogen durch die größere Assimilierbarkeit des Restes, eine Eigenheit, von der nicht nur der Beschenkte, sondern auch der Geber profitiert.
Aber überall fand Frau Lamondt Abweisung. Als sie endlich einsah, daß es besser sei, gar nicht über solche Dinge zu sprechen oder doch nur notgedrungen, war sie bereits der Gesellschaft ein wenig zum Gespött geworden. Sie merkte es und zog sich von da an nur noch mehr in sich zurück und in ihre Phantasie-Welt, die dadurch immer mehr Macht über sie gewann.
Lamondt selber war zu harmlos, als daß er dieser Geistesrichtung seiner Frau irgend welche Bedeutung beigemessen hätte. Der Gedanke, daß eine Entfremdung zwischen ihnen eintreten könne, wäre ihm etwas unfaßbares gewesen. Seinem Gefühl nach gehörten sie beide zusammen von jeher und für immer.
Nach zweijähriger Ehe beschenkte Frau Lamondt ihren Mann mit einem Töchterchen. Lamondt’s Glück war grenzenlos. Dieses Ereignis brachte eine tiefe Änderung in den Verhältnissen zustande. Beide liebten ihr Kind abgöttisch und sich gegenseitig in dem Kinde mit jener stillen, sanften Liebe, die dem gleichmäßig-milden Licht der Planeten zu vergleichen ist, während jene erste Liebe dem scharfen Funkeln der Fixsterne gleicht.
Die nachfolgenden Jahre waren die sonnigsten im Leben der Frau Lamondt. Denn ein nachdenklicher[S. 119] Mensch hat nicht viel Sonne, weil er fast ständig unter der Wolke seines eigenen Denkens wandelt. Ihre hochragenden philosophischen Ideen hatten sich gewissermaßen auf das Kind niedergeschlagen und dort Form angenommen. All ihr Können, all ihr Wissen, all ihre Sorgfalt wollte sie auf das Kind konzentrieren und dasselbe in geistiger wie leiblicher Beziehung zur denkbar höchsten Entwickelung bringen. Manchmal verirrten sich ihre Gedanken so weit in die Zukunft, daß sie sich mit ihrer Tochter vereint wirken sah zum Besten der Menschheit, zu ihrer Veredelung, Hebung.
So mochten vier Jahre vergangen sein, da bekam Herr Lamondt eines Tags Besuch von einem Freunde aus Holland. Es war ein Herr Savade, ein Marine-Offizier, dessen Schiff für einen Tag Batavia anlief.
Er suchte Lamondt in seinem Kontor in der Stadt auf. Der freute sich kindisch. Aber nachdem er ihn umarmt und geküßt und das nötigste gefragt hatte, sagte er:
„Weißt Du, heute ist Posttag. Dieses hier (er zeigte auf einen Stoß Briefe) muß fort. So kann ich hier nichts mit Dir anfangen. Geh’ zu meiner Frau raus und vertreib der die Zeit. Sie wird sich freuen. Und ein Mädel haben wir auch.“ Sein Auge glänzte. „Nun, ich sage nichts weiter. Du wirft ja sehen.“
Savade lächelte. Lamondt umarmte ihn noch einmal. „So bald ich irgend kann, komm’ ich auch: In einer Stunde ist Postschluß“ rief er dem Davonfahrenden nach.
Savade kannte Frau Lamondt nicht. Er hatte Lamondt während dessen Lehrjahren in Rotterdam kennen gelernt. Lamondt hatte aber viel von seiner Zukünftigen gesprochen und ihm ihr Bild gezeigt; denn sie waren wahre Freunde geworden, trotzdem Savade wohl an zehn Jahre älter war als Lamondt.
In der Villa Lamondt’s angekommen, mußte Savade einige Zeit im Empfangszimmer warten. Es war noch etwas früh am Vormittag. Aus langer Weile musterte er die kleine Bibliothek, die in einem Schränkchen in der Ecke stand. Zu seinem Erstaunen fand er hier eine Reihe philosophischer Bücher. „Potz tausend“, dachte er, „hat sich Lamondt in Java das Philosophieren angewöhnt! Er hatte doch in Rotterdam, weiß Gott! keine philosophische Ader.“ Er lachte leise. „Oder sollte vielleicht die Frau — das wäre ja ganz etwas seltenes.“ Erwartungsvoll blickte er nach der Tür, in der Frau Lamondt vermutlich erscheinen mußte.
Gerade in diesem Moment trat sie ein. Sie trug ein langes, faltiges Musselin-Kleid von weißer Farbe, das mit einem gelben Seidengürtel zusammen gehalten wurde. Die Füße waren einheimischer Sitte gemäß mit Sandalen bekleidet. Der javanische Sarong, den viele holländische Damen bis zum Mittag tragen, sagte ihrem Geschmack nicht zu.
Frau Lamondt kannte Savade ebenso, wie er sie kannte, das heißt aus den Erzählungen Lamondts.
Als die gegenseitige Begrüßung vorüber war, begann Savade direkt:
„Ich sehe mit Erstaunen diese Kollektion philosophischer Autoren —“.
Er hielt erwartungsvoll einen Augenblick inne.
„Es sind meine Bücher.“
„O!“
Er konnte das Erstaunen nicht ganz verbergen. Sie sah noch so kindlich aus.
„So schwere Lektüre“, meinte er.
Sie glaubt ein wenig Spott aus diesen Worten zu hören. Etwas abweisend erwiderte sie:
„Der Mensch ist nicht dazu da, um sich das Leben möglichst leicht zu machen.“
Er sah sie aufmerksam an. Einlenkend begann er wieder:
„Verstehen Sie mich nicht falsch, gnädige Frau. Ich verehre die Philosophie als das Höchste auf der Welt und schätze jeden hoch, der sie hochschätzt.“
Freudig blickte sie zu ihm auf. „Wirklich, lieben Sie die Philosophie?“
„Ich liebe sie, so lange ich denken kann. Ich könnte nicht leben ohne Philosophie. Philosophie repräsentiert mir den menschlichen Verstand in seiner edelsten, reinsten und dabei naturgemäßesten Form, naturgemäß, weil es Funktion des Verstandes ist, von außen nach innen, das heißt auf sich selbst zu, in sich selbst hinein zu gehen. Und das nennt man eben Philosophieren.“
„O, wie selten man diese Liebe findet!“
„Ja, wirklich, wie selten! Ich habe mit Lamondt oft darüber disputiert, aber er wollte nie etwas von Philosophie wissen.“
Die junge Frau seufzte etwas.
„Aber,“ fuhr Savade heiter fort, „vielleicht ist Philosophie für einen Ehemann just nicht so notwendig. Ich dächte, wirklich zur Leibes Nahrung und Notdurft gehört sie nur bei solchen, die entschlossen sind, allein durch’s Leben zu gehen. Ihnen muß sie jene Stütze ersetzen, die in der Ehe einer dem andern liefert. Sie muß der Einsamkeit ihren Stachel nehmen und muß lehren, den Gedanken an einsames Sterben nicht zu fürchten.“
„Meinen Sie nicht, daß sie noch höhere Zwecke zu erfüllen hat?“
„O, das ist nur die uns zugewandte, beschränkte Seite. Aber da ist noch jene andere, uns abgewandte, auf die ganze Menschheit zugewandte Seite.“
Er brach ab und trat wieder zu dem Bücherschränkchen. Er nahm einzelne Bände heraus und betrachtete sie fast zärtlich.
„Kant, Fichte, Schelling. Gerade meine Lieblinge. Und hier sogar der göttliche Plato.“
„Haben Sie den auch gelesen?“ fragte Frau Lamondt eifrig.
„Ich habe die Morgenstunden eines ganzen Jahres auf diese Lektüre verwandt. Es war eine erhebende Zeit.“
„Segelten Sie auch auf der hohen See des Schönen?“
Er nickte ihr freundlich, fast vertraulich zu, ohne zu antworten. Diese Stelle aus dem „Gastmahl“ hatte ihm auch stets besonders gefallen.
„Ich sehe mit Vergnügen, daß der Pessimismus hier nicht vertreten ist.“
„Nein,“ antwortete sie schnell, „der Pessimismus hat hier keinen Platz. Ich glaube an die Menschheit und an ihre Ideale als an mein Evangelium. Ich kenne kein höheres Evangelium.“
„Ja, was wäre das Leben ohne diese höchsten Ziele, ohne diese Ideale. Sie sind das menschlichem Verstand faßbar gewordene Göttliche in uns, wenn wir die Höhe dieser Ideale fühlen.“
Ein merkwürdiges Leben begann in den Augen der Frau ihm gegenüber aufzuleuchten. Er sah es und dachte: „Sie ist der Philosophie wahrhaft ergeben. Wie selten!“ Er wußte, daß die meisten, Männer wie Frauen, mit der Philosophie nur kokettieren.
In dem trat Lamondt ein.
Er war nie schlechter Laune, aber heute war er offenbar besonders heiter. Er drückte dem Freunde noch mal die Hand. „Willkommen in meinem neuen Heim,“ sagte er treuherzig. „Wenn Du wüßtest, wie viel Glück unter diesem Dach wohnt.“ Es schien ihn etwas wie Rührung übermannen zu wollen und schnell in einen burschikosen Ton überschnellend rief er aus:
„Savade, alter Junggeselle! Warum heiratest Du nicht!“ Damit trat er auf sein Weib zu und küßte sie. Plötzlich sah er sie genauer an!
„Na nu, Tutti, Du hast ja heute mal ordentlich Farbe. Woher kommt denn das?“
Wie geärgert wandte sie sich etwas zur Seite.
Savade antwortete statt ihrer: „Wir haben uns über Philosophie unterhalten, etwas lebhaft.“
Lamondt lachte lustig. „O, nun wird mir alles klar! Also immer noch das alte Steckenpferd.“
„Lamondt,“ fiel Savade mit künstlicher Ernsthaftigkeit ein, „versündige Dich nicht an der heiligen Philosophie.“
„O, ich weiß! Du gehörst ja auch mit zur Gilde. Nun, schon gut, alter Freund. Im übrigen sehe ich, ist das Essen fertig. Aber,“ unterbrach er sich schnell, „hast Du denn schon unser Mädchen gesehen?“
Savade verneinte.
Lamondt sah lachend seine Frau an: „Vor Philosophieren keine Zeit gehabt.“
Er klatschte in die Hände, und nach einem Weilchen trat die Wärterin ein, das Kind an der Hand führend. Lamondt nahm die Kleine in die Arme und herzte sie, als ob er einen langen Durst stillen müßte. Jubelnd schwenkte er sie hin und her und hielt sie dem Gast dicht vor’s Gesicht. „Da, sieh’ mal Du! Ist das noch nichts?!“
Savade versuchte zu schäkern, aber das Kind wandte sich ab. „Sie ist etwas scheu“ sagte Frau Lamondt entschuldigend.
Nachdem man sich zu Tisch gesetzt hatte, begann Lamondt:
„Wundere Dich nicht über unseren einfachen Tisch. Es geschieht auf Wunsch meiner Frau. Und ich füge mich, wie immer.“ Er klopfte ihr kosend auf die Hand, „Du mußt wissen, sie hieß schon als Mädchen unter ihren Gespielinnen der spartanische Jüngling.“
„Ich freue mich schon auf die schwarze Suppe,“ rief Savade lustig.
„Nun, so schlimm kommt es nicht. Aber Du wirst ja sehen.“
„Was können Sie zu Ihrer Verteidigung vorbringen, gnädige Frau?“
Frau Lamondt erwiderte lächelnd:
„Zweierlei kann ich vorbringen. Erstens liebe ich diese holländische Manier nicht, bei einer Mahlzeit, die man mit dem harmlosen Wort ‚Reistafel‘ bezeichnet, Eier-, Fleisch- und Fisch-Speisen schwersten Kalibers auf einander zu häufen, so daß man schließlich nicht mehr von ‚Reistafel‘, sondern nur noch von ‚Fleischtafel‘ reden kann. Zweitens halte ich Essen für ein notwendiges Übel, für eine Last. Und welcher verständige Mensch sucht nicht das Vergnügen. Ich denke aber, am leichtesten ist das Vergnügen zu vermehren durch Verminderung unser Lasten und Unannehmlichkeiten.“
„Sie wären der Freundschaft Epikurs wert, gnädige Frau.“
„Und Sie, mein Herr, fürchte ich, wären ihrer nicht wert, weil Sie schmeicheln.“
„Nicht doch, gnädige Frau! Was schmeichelhaft ist, muß nicht immer Schmeichelei sein. Ihre Worte enthalten tatsächlich die Quintessenz der epikuräischen Philosophie. Dieser seltene Mann machte es sich zur Lebensaufgabe, der Lust nachzustreben, aber dadurch, daß er sich von der Last aller unnötigen Bedürfnisse befreite. Der Lust wegen lebte er von Brot und Wasser. Und wenn er etwas Käse dazu tat, so nannte er das „Ein sich gütlich tun.“ Aber das war jene Lust, die mit der unsrigen nur im Namen zusammenfällt.“
„Um Gottes willen, Savade, sei still!“ fiel Lamondt mit komischem Entsetzen ein. „Wenn ich von jetzt ab Brot und Wasser bekomme und nur an Sonn- und Feiertagen etwas Käse dazu, so weißt Du, wer schuld ist.“
Alle lachten.
„Wie schmeckt Dir das?“ fragte Lamondt, auf die gebratenen Eierpflanzen zeigend, die so appetitlich aussahen und so prächtig dufteten.
„Vorzüglich! Es könnte den Appetit auf Fleisch benehmen.“
„Nicht wahr!“ fiel Frau Lamondt eifrig ein. „Das ist gerade das, was ich immer sage, und Lamondt glaubt es nicht.“
„Liebste Tutti, was habe ich davon, wenn es riecht wie Fleisch, aber kein Fleisch ist. Hast Du schon je von einem gehört, der sich vom Bratenduft genährt[S. 127] hat? Aber Du brauchst nicht zu denken, Freund, daß ich mich über unsere Küche beklage. Sie ist tatsächlich bekömmlich, und wir finden jederzeit Leute, die fähig sind, ihr vorzustehen.“
Nach den Eierpflanzen kam der Reis, locker und weiß, in hochgehäufter Schüssel. Dazu der Brotfrucht-Kurry. Den Nachtisch machten die Früchte: Bananen, Mangos und Mangustinen, jene köstlichste Tropenfrucht, die das Auge und den Gaumen in gleicher Weise entzückt.
„Das schmeckt wie parfümierter Schnee“, meinte Savade, während er sorgsam die schneeweiße Frucht aus ihrer purpurnen Schale nahm.
„Ja, es ist eine herrliche Frucht. Und doch geht mir ein ganz feiner Mango über die Mangostine.“
„Java ist ein gesegnetes Land,“ fiel Frau Lamondt ein. „Es ist das Paradies der Vegetarier. Es ist so leicht hier, naturgemäß zu leben.“
„Ja, für einen, der kein Kaffee-Geschäft hat,“ meinte Lamondt und begann von seinen Sorgen und Lasten zu erzählen.
Nach beendeter Reistafel empfahl sich Savade, um am Abend zum Diner wieder zu erscheinen. Am nächsten Morgen früh lief sein Schiff weiter nach Samarang, Surabaya und dann in die Molukken-See. Batavia wurde nicht wieder angelaufen. So galt es, die kurze Zeit des Beisammenseins auszunutzen.
Er fuhr mit der Bahn zurück zum Tandjong Priok, um auf seinem Schiff Toilette für den Abend zu[S. 128] machen. Nach Batavia zurückgekehrt hielt er nach einer Gärtnerei Umschau, um den üblichen Blumenstrauß für die Dame des Hauses zu erwerben. Das war aber in Batavia leichter gesagt als getan, weil hier jeder seinen Privat-Garten besitzt. Endlich wies man ihn in die Chinesenstadt. Sein Riksha-Kuli wußte hier Bescheid. Er setzte ihn in einer Straße ab, in der einige Chinesen-Weiber dürftige Sträußchen feil hielten. Für ein Paar Cent erstand er eines, froh überhaupt etwas bekommen zu haben.
Als er gerade mit dem Handel beschäftigt war, bat ihn ein grauhaariger Chinese, ein Krüppel, um eine Gabe, indem er sich schweigend in ehrfurchtsvoller Weise verneigte. Savade aber sah über ihn hinweg, nur in seinen Kauf interessiert. Es war sonst nicht seine Art, einen Bettler vergeblich bitten zu lassen. Erst als er schon wieder ein Weilchen in seiner Riksha saß, kam ihm plötzlich dieser bescheidene Alte wieder vor Augen. Er erschrak innerlich. „So habe ich für diesen stillen Bettler nicht eine Kupfermünze übrig gehabt“ sagte er mißbilligend zu sich selber. Er behielt ein unbehagliches Gefühl, bis er an Lamondt’s Villa anlangte.
Nach dem Diner, als sie draußen in den bequemen indischen Langstühlen saßen, kam das Gespräch wie von selber wieder auf die Philosophie. Denn Philosophie, entgegen anderen Wissenschaften, faßt den ganzen Menschen, und jede Regung ist bei einem solchen nichts als eine Anregung zum Philosophieren. Wahre Philosophie ist[S. 129] wie die Natur. Sie erlaubt von jedem Punkt aus den Eintritt.
So standen Frau Lamondt und ihr Gast bald mitten in diesem Thema, ohne zu wissen, wie sie hineingeraten waren. Man merkte, diese beiden waren sich gegenseitig wie Stahl und Feuerstein. Einer schlug Funken aus dem andern.
Der jungen Frau war, als ob eine geistige Spannkraft, die seit Jahren in ihr angehäuft lag, sich nun wie in Blitzschlägen entlüde. Sie hatte vielleicht nie im Leben ein Gefühl so völliger Befriedigung gehabt. Sie hatte die Empfindung einer wunderbaren Erhabenheit, von der sie nicht wußte, ob sie in ihr ruhte, oder als etwas von außen kommendes sie umwehte. Sie erschrak förmlich, als Savade sagte: „Es ist aber schon so spät. Wir müssen abbrechen.“
Lamondt, der inzwischen verschiedene Zigarren geraucht und sich meist schweigend verhalten hatte, meinte:
„Ich glaube auch, es ist Zeit, daß Ihr in dieser Tonart aufhört. Im übrigen ist es schändlich, daß Du nicht mal eine Nacht in meinem Hause bleiben kannst.“
„Es geht nicht, Lamondt. Unser Schiff dampft um 4 Uhr früh ab. Wie soll ich da zum Hafen hinunter kommen.“
Es wurde abgemacht, daß Savade einen Punkt, der wegen der vorgerückten Stunde nicht mehr erörtert werden konnte, in einem Brief an Frau Lamondt auseinandersetzen sollte.
Lamondt meinte: „Daran tust Du recht, daß Du meiner Frau schreiben willst. Sie lebt so wie so zu einsam und kann mit der Gesellschaft hier nicht recht fertig werden.“
„Das glaube ich“ antwortete Savade.
Frau Lamondt hörte den eigenen Nachdruck, der auf den Worten lag. Sie errötete vor Freude und Stolz. „Er versteht mich“ dachte sie. „Endlich einer.“
Man verabschiedete sich mit vieler Herzlichkeit, und Savade schritt schnell dem Garten-Ausgang zu, welcher auf der der Veranda gegenüber liegenden Seite des Hauses sich befand.
Er war kaum ein Weilchen fort, als er plötzlich vor der Veranda wieder auftauchte. Lebhaft rief er hinauf:
„Ich habe ja ganz vergessen, Euch zu sagen, daß Ihr, wenn Ihr nach Europa fahrt, ja nicht vergeßt, mich in meinem Winkel zu besuchen.“
Auf der ganzen Nachhause-Fahrt hatte er ein eigenartiges Bild vor Augen. In dem Moment, als er vor die Veranda getreten war, hatten beide Lamondt’s schweigend dagesessen, die Frau mit ihren Fingern das Glas umspannend, in dem seine simplen Blumen standen. Dabei hatte sie das Gesicht etwas tief darüber gebeugt gehalten, gleichsam, als ob sie daran röche.
Frau Lamondt war sehr ungeduldig auf den versprochenen Brief von Savade. Sie sagte ihrem Manne aber nichts davon. Er schien sowohl den versprochenen Brief als auch den Besuch selber vergessen zu haben.
Endlich, nach etwa zwei Monaten kam ein Brief aus Surinam datiert.
Es war Frau Lamondt, als ob sie einen volleren Genuß von der Lektüre haben würde, wenn sie vorher ihrem Manne mitgeteilt hätte, daß sie einen Brief von Savade erhalten habe. So ging sie hinaus in den Garten, wo Lamondt gerade mit seinem Töchterchen Blindekuh spielte. Er hatte die Augen mit dem Taschentuch verbunden und tappte auf dem Rasen umher.
„Du bist gewiß wieder vom Rasenplatz runtergegangen, Dora, ich finde Dich ja nirgends.“
Er hörte ein leises Sprechen und stürzte darauf los. Beim Zufassen erwischte er einen Kleiderzipfel. „Endlich!“ rief er aus.
„Das ist ja Mama!“ rief die Kleine hinter ihm und lachte ausgelassen.
„Ja, laß nur los. Ich bin’s,“ sagte Frau Lamondt. „Ich wollte Dir gerade sagen, daß ich einen Brief von Savade bekommen habe, aber Du bist ja zu beschäftigt.“
„Du! von Savade?“ sagte Lamondt verwundert. „Was will er denn von Dir?“
„Mein Gott, wie vergeßlich Du bist. Weißt Du denn nicht mehr, daß er versprochen hatte, mir zu schreiben?“
„Ach ja, über eure Sachen. Entschuldige, Tutti, das hatte ich total vergessen.“
Er hatte noch das Tuch vor Augen und sah in diesem Moment nicht gerade sehr bedeutend aus, der[S. 132] gute Lamondt. Aber seiner Frau fiel das nicht auf. Es war ihr recht, daß sie ihm nicht in die Augen zu sehen brauchte.
„Papa, Du suchst ja gar nicht“ rief jetzt die Kleine mahnend.
„Ich komme schon, mein Kind.“
Etwas hastig ging er einige Schritte vorwärts und stolperte dabei gegen einen Baum. Die Kleine kreischte vor Vergnügen.
„Nicht so wild, Dora!“ mahnte die Mutter und verschwand dann wieder im Haus. Hier setzte sie sich in einen bequemen Stuhl und begann zu lesen.
Savade hatte versprochen, ihr über den Gottbegriff des Spinoza zu schreiben. Spinoza war ihr bisher fremd geblieben. Aber die kahle Erhabenheit dieser Gedanken regte sie jetzt mächtig an. Savade hatte einen klaren, geistreichen Stil, und sie glaubte alles mit einem Schlag zu verstehen. Nichtsdestoweniger las sie den Brief mehrere Mal.
Noch am selben Tage bestellte sie bei dem Buchhändler das Original.
Beim Abendessen begann Lamondt plötzlich:
„Eh’ ich’s wieder vergesse — was schreibt denn eigentlich Savade?“
„Nur über philosophische Sachen.“
Lamondt lächelte. „Einen ganzen Brief voll Philosophie.“
„Er schreibt über Spinoza.“
„Spinoza — Spinoza — war das nicht der, der mit Vorliebe den Fliegen die Beine ausriß?“
„Was redest Du da! Man erzählt, daß er, wenn er sein geistiges Tagewerk vollendet, zu seiner Erheiterung Fliegen in Spinngewebe warf und dem Kampf der Fliege mit der Spinne zusah.“
„Also jedenfalls Tierquälerei. Ich würde gegen solche Leute immer etwas voreingenommen sein.“
„Solche Geister darf man nicht mit dem vulgären Maßstab messen. Spinoza hat einen der erhabensten, reinsten Gottbegriffe geschaffen.“
„Was hat er gemacht?“ fragte Lamondt voll ungeheuchelten Staunens. „Ich denke, der liebe Gott ist ein einiger, mit dem wir weiter nichts machen können als einfältig an ihn glauben. Wie kann ein Mensch einen Gottbegriff schaffen? Eben so gut könnte er ja auch eine neue Welt schaffen.“
„Was Du da sagst, paßt für die Gläubigen im kirchlichen Sinn. Die philosophisch Denkenden schaffen sich selber ihren Gottbegriff, in dem sie Genüge und Ruhe finden.“
„Woher wissen sie denn aber, daß das, was sie da in ihrem Gehirn zurecht gebraut haben, das richtige ist?“
„Woher weißt Du, daß der Gott, an den Du glaubst, der richtige ist?“
Lamondt sah seine Frau einen Augenblick ratlos an, dann sagte er fast trotzig:
„Ich will ja gar nichts wissen. Ich glaube eben an ihn.“
„So gehörst Du zu den Glücklichen, die glauben können. Aber bedenke die unzähligen Unglücklichen, die nicht glauben können und doch zu innerer Ruhe kommen wollen. Bedenke ihr Suchen, ihre Kämpfe.“
Lamondt warf einen fast scheuen Blick auf sein Weib. Sie kam ihm so fremd vor. Ihm wurde unbehaglich. Er versuchte umzuschwenken. Mit etwas erzwungener Lustigkeit sagte er:
„Also Du bist auch dabei, Dir selber Deinen Gottbegriff zu machen. Tutti, Tutti, wenns man glückt.“
„Das habe ich nicht gesagt. Im übrigen ist der Gegenstand schlecht geeignet zum Scherzen,“ erwiderte sie kühl.
„Du hast recht, sehr schlecht geeignet.“ Seine Stimme klang so bestimmt, daß jetzt die Reihe des Sichverwunderns an Frau Lamondt war.
Die Sache war damit eigentlich erledigt, aber sie mußte noch etwas vorbringen, was sie durchaus heute noch vom Herzen haben wollte. Es entstand eine Pause. Sie fühlte, ihr Vorhaben würde um so schwerer auszuführen sein, je länger sie die Pause werden ließe. So faßte sie sich ein Herz und sprang in die gähnende Lücke.
„Ich wollte Dir noch sagen,“ begann sie, und ihre Stimme klang infolge der innerlichen Anstrengung etwas gereizt, „daß ich Savades Brief natürlich beantworten muß. Er wird wahrscheinlich darauf wieder antworten.[S. 135] Dadurch könnte ein Briefwechsel zustande kommen. Hättest Du etwas dagegen einzuwenden?“
Lamondt sah sie wieder ganz erstaunt an. Dann begann er lustig zu lachen.
„Heute Abend,“ rief er, „verstehe ich Dich aber auch gar nicht. Was soll ich dagegen haben, wenn Du mit Freund Savade im Briefwechsel stehst. Habe ich überhaupt jemals etwas gegen das einzuwenden gehabt, was Du vorhattest?“ Er umfaßte sie liebkosend und streichelte ihr die Backen. „Ich bin ja von jeher Dein gehorsamer Haussklave gewesen.“
Sie konnte nicht anders als ihn anlächeln. In der Tat, ein Widerspruch ihres Mannes wäre etwas völlig unerhörtes gewesen. Sie ärgerte sich jetzt über sich selber, daß sie diese offizielle Anfrage gestellt hatte. Es kam ihr ganz lächerlich vor. Wie unnötig wichtig hatte sie diese ganze Sache dadurch gemacht.
Lamondt fuhr fort: „Werde nur nicht zu gelehrt, Tutti. Ich will ja gar keine gelehrte Frau. Im übrigen ist er der beste Kerl von der ganzen Welt. Ich kenne keinen besseren. Vergiß nur nie, ihn zu grüßen, wenn Du an ihn schreibst.“
Um etwas zu erwidern, sagte Frau Lamondt: „Sein Brief ist aus Surinam datiert.“
„O weh! Das ist ein böses Nest; etwa so wie Batavia vor 50 Jahren. Daß er sich da nur kein Fieber holt. Schreib’ ihm nur, wenn es mal irgend wie hapert, so ist ein Gläschen Genèvre immer das[S. 136] beste.“ Auf das Zigarren-Schränkchen zuschreitend und sich eine Zigarre anzündend fuhr er fort:
„Die Hauptsache ist nur, daß es beizeiten genommen wird.“ Und nachdem er es sich im Langstuhl bequem gemacht und einige Dampfwolken mit Aufmerksamkeit von sich geblasen hatte, begann er eine Geschichte zu erzählen von einem Bekannten, welchem nach seiner und aller anderen Ansicht ein Gläschen Genèvre zur rechten Zeit genommen das Leben gerettet hatte.
Zwischen Savade und Frau Lamondt entwickelte sich ein nicht häufiger aber sehr regelmäßiger Briefwechsel. Der Gegenstand desselben waren nur philosophische Themata. Alle Bemerkungen über persönliche Verhältnisse wurden beiderseits so völlig vermieden, daß der Unbefangene fast etwas Absichtliches darin hätte finden können.
In Frau Lamondts Briefen trat immer ein und dasselbe Thema zutage: Die Hingabe an die Menschheit und an ihre Ideale, das Arbeiten an der Hebung der Menschheit zu immer stolzerer, sonnenhafterer Höhe. Das erschien ihr als die einzige aller Aufgaben dieser Welt, bei der schon im Streben allein der Erfolg liegt, Erfolg mit all seiner beglückenden Macht.
Sie liebkoste dieses Thema und ging dabei mit einem ihr selber vielleicht unbewußten Raffinement zu Werke. Um Überdruß zu vermeiden, ließ sie es bald in schweren gesammelten Baßschlägen auftreten, bald in[S. 137] eleganten Diskant-Figuren, die in graziöser Weise sich auflösten und wieder zur Form vereinigten. Eine solche Meisterin war sie in Darstellung ihres Gedankens, daß Savade immer wieder erstaunte, wenn er ihre scheinbaren Abschweifungen plötzlich wie durch einen Coup zum Thema verdichtet vor sich stehen sah. Er selber gehörte zu jenen glücklichen Naturen, die instinktiv das Maßhalten, das Wandeln auf der richtigen Mitte als das der menschlichen Natur notwendigste erkennen. Er stimmte in seinen Ansichten mit denen Frau Lamondt’s überein. Ihre Ideale waren auch die seinigen. Aber er fühlte das Zuviel auf Frau Lamondt’s Seite und versuchte unwillkürlich dieses Plus auf ihrer Seite durch ein entsprechendes Minus auf seiner Seite auszugleichen.
Bald derber, bald zarter deutete er an, daß trotz aller idealen Pflichten, die uns an die Menschheit ketten, doch unsere erste und Hauptpflicht die ist, für unsere eigene Besserung, für unser eigenes Heil, für unsere eigene Ruhe zu sorgen. Leise gab er ihr zu bedenken, ob dieses Vergafftsein in die Menschheits-Ideale nicht oft ein Vergafftsein in sich selber sein könnte, nichts als eine Form der Eigenliebe in besonders bauschiger und eleganter Enveloppe, eine Eigenliebe in Balltoilette. „Wenn einer,“ schrieb er, „der selber schmutzig ist, einen anderen schmücken will, so wird er bösen Erfolg haben. Wer das will, der muß im Groben, Gemeinen bleiben, wie die Scheuerfrauen, für die es nichts ausmacht,[S. 138] wenn sie ihre Arbeit in schmutzigem Habit verrichten. Aber sie gehören auch nur in die Küche und auf die Treppen. Der Anständige, der in sein bestes Zimmer treten will, legt vorher schmutzige Stiefel und Kleider ab; andernfalls macht er sein Staatszimmer zum Vorraum. Ich glaube nicht, daß es eine herrlichere Behausung gibt als jenen Tempel, den die großen Geister aller Zeiten errichtet haben. Sollten wir nicht rein sein bis ins Innerste, ehe wir in diesen Tempel einzutreten wagen, um ihn zu schmücken und auszubauen?“
Als Frau Lamondt in einem ihrer Briefe über die Schwierigkeit und Hoffnungslosigkeit der Arbeit am eigenen „Ich“ klagte, antwortete er folgendes:
„Freilich ist das eigene ‚Ich‘ jenes wunderliche Ding, mit dem sich abzugeben der eine überhaupt nicht für der Mühe wert hält, und mit dem der andere nie fertig wird. Von dem ersteren sagen wir mit Dante: Guarda e passa! ‚Schau und geh’ vorüber überall!‘ Für den letzteren kommt alles auf die Art des Vorgehens an. Wer das ‚Ich‘ täppisch greifen will, dem entgleitet es wie einem, der Wasser in der hohlen Hand zusammenpressen will. Das ‚Ich‘ kann nicht begriffen werden, es kann nur angeschaut werden. Aber auch das Schauen muß verstanden werden.“
Und weiter hieß es: „Es ist freilich wahr, das ‚Ich‘ ist das Rätsel aller Rätsel, das Wunder aller Wunder, und hier einen Zweifel lösen, heißt hier nur, ihn in zwei neue zerspalten. Aber was sollen wir hieraus[S. 139] für Lehren ziehen? — Erstens, daß wir keinen Augenblick säumen dürfen und uns vor allem an die Beschäftigung mit diesem Ich machen müssen, eben wegen der Schwierigkeit der Sache einerseits und ihrer einzigen Wichtigkeit anderseits. Wir dürfen hier nie sagen: ‚Was hat diese Arbeit für Zweck? Das mühsam Errungene wird in neuen Zweifeln verloren gehen.‘ Hier ist ja auch der Verlust Fortschritt. Wird jemand sagen: ‚Was hat es für Zweck, mich jetzt zu sättigen? Zum Abend werde ich doch hungrig sein.‘ Das Hungrig-Werden ist ja hier Fortschritt, ist Gelingen. Diese Einsicht sollte uns hindern, uns zu früh über unser eigenes ‚Ich‘ hinwegsehen zu lassen auf das ‚Ich‘ des Nebenmenschen hin. Wir wollen auch nicht vergessen, daß wir, um zu anderen zu kommen, die Straße passieren müssen, und daß es wohl sein könnte, daß wir bestaubt und beschmutzt von unseren Liebeswerken zu uns selbst zurückkehren.“
„Zweitens aber sollen wir daraus die Lehre ziehen, uns nicht so tief in unserem eigenen Ich zu verlieren, daß wir garnichts anderes mehr neben diesem ‚Ich‘ sehen, oder daß es uns schließlich gar den Verstand verwirrt. Wenn irgend wo, so heißt es hier, der gefühlten Unendlichkeit gegenüber: Maßhalten. Wir wollen uns doch gewöhnen, die Tatsache des Ewigen, des Göttlichen, Unfaßbaren in uns mit Maß zu tragen, wie es eben eines so kostbaren Inhaltes würdig ist. Wir wollen doch endlich aufhören, in törichter und[S. 140] barbarischer Weise zu versuchen, dieses Ewige, Göttliche, Unfaßbare in uns ans Tageslicht zu zerren, wie einer, der seine eigenen Eingeweide herauszerren will. Er mordet nur sich selbst.“
„So wollen wir es dem Lebens-Rätsel, dem Ich-Rätsel gegenüber machen, nicht wie der Schüler, der, an der Bewältigung seiner Aufgabe verzweifelnd, das Buch in die Ecke wirft, sondern wir wollen es machen wie der Verständige, der das seinen Kräften entsprechende Teil gelesen hat und nun ruhig das Buch schließt und sich sagt: ‚Es ist genug für heute.‘ Denn das ist auch ein Ende, zu wissen, daß man nicht am Ende ist und doch gefaßt und zufrieden bleiben. Und ich fürchte sogar, dieses ist das letzte Ende, das uns beschieden ist.“ So spricht der Verständige, Denkende, solange er nicht vom Buddha belehrt worden ist oder sich von ihm hat belehren lassen.
Aber dieses Gegenarbeiten Savades gegen Frau Lamondts Überschwenglichkeit war für beide nur wie jene künstlichen Dissonanzen, die nur dazu da sind, die Schönheit der Harmonie um so süßer zu machen und um so stärker hervortreten zu lassen. Beiden war ihr Briefwechsel ein unbeschreiblicher und erhabener Genuß geworden. Denn kein Genuß dieser Welt gleicht der Wonne, die wir empfinden, wenn die Gedanken unseres Herzens in einem anderen Herzen wiederklingen. Das ist der höchste Genuß, denn es ist der reinste. Das ist der reinste Genuß, denn er verlangt keine Berührung.
Ob in den nächsten Jahren sich allmähliche Änderungen im Denken der jungen Frau vollzogen — ob das, wovon jetzt gesprochen werden soll, das Resultat eines plötzlichen Entschlusses war — ob Savades Briefe irgend einen (natürlich unbeabsichtigten) Einfluß auf diesen Entschluß hatten, wird sich mit Bestimmtheit wohl nie feststellen lassen. Tatsache ist, daß Frau Lamondt eines Morgens, etwa drei Jahre nach der oben geschilderten Zeit jenes Besuchs zu ihrem Gatten sagte: „Ich muß Dich in einer ernsthaften Angelegenheit sprechen.“
Lamondt hatte an jenem Tage wenig Zeit, aber er war doch zu erstaunt über die Worte und den Ton seiner Frau, als daß er nicht alles andere vergessen hätte.
„Was gibt es denn, Tutti?“ fragte er teilnehmend.
„Lamondt, was ich Dir jetzt sage, wird Dich sehr überraschen und sehr betrüben. Aber so wahr ich hier stehe, ich kann nicht anders handeln, als ich handeln will. Ich bin es dem, was in meiner Seele keimt und zum Licht drängt, schuldig. Lamondt, die Qual wird durch Umgehen nur größer für uns beide. So sage ich es Dir denn direkt heraus: Ich kann nicht länger Dein Weib sein. Ich muß meinen Weg allein gehen. Versteh’ mich recht: Ich will mich von Dir scheiden lassen. Die Ehe ist nicht das richtige für mich.“
Totenbleich starrte Lamondt sein Weib an. Die Worte erstarben ihm. Er brachte nichts heraus als „Helene!“ Er kannte den Charakter seines Weibes.[S. 142] Er wußte, daß es kein Mittel gäbe, sie von einem einmal gefaßten Entschluß wieder abzubringen.
Frau Lamondt fuhr fort:
„Ich muß Dir alles sagen. Ich kann nicht allein gehen. Das Kind muß bei mir bleiben.“
Lamondt schien kaum hierauf zu hören. Totenblaß saß er immer noch da. Es trat ein bleiernes Schweigen ein. Die junge Frau stand da, den Blick zu Boden gesenkt, die Lippen fest aufeinander gepreßt, wie einer, der auf den Angriff wartet und den Rückschlag gibt, noch ehe er den Schlag erhalten hat.
Endlich begann Lamondt:
„Aber muß denn das sein?“
Heftig erwiderte sie: „Frage nicht. Es muß sein. Ich kann nicht anders. Versuche nicht mich von meinem Entschluß abzubringen. Es wäre vergebliche Mühe.“ In sanfterem, fast bittenden Tone fuhr sie fort:
„Wollen wir nicht alles im Guten ordnen. Es erleichtert uns beiden das Ganze so sehr. Du mußt ja selber einsehen, daß jetzt, wo einmal das entscheidende Wort gesprochen ist, jeder Tag des Zusammenlebens zur Qual wird.“
Wie in stiller Verzweiflung fuhr sich Lamondt an den Kopf. „Mein Gott, mein Gott, was soll das nur geben.“ Der kalte Schweiß rann ihm über die Stirn. Mechanisch wischte er mit der Hand darüber hin.
„Lamondt, denkst Du, meine Qualen sind geringer wie Deine? Was geschieht, geschieht für mich so un[S. 143]abänderlich wie für Dich. Auch ich muß mich fügen und im ruhigen Hinschauen auf die Unabänderlichkeit des Schicksals Trost suchen.“ Dann plötzlich abbrechend begann sie:
„Du fährst jetzt in die Stadt?“
Lamondt nickte stumm.
„So fahre ich mit Dir. Ich will sofort zum Rechtsanwalt und dort das Nötige einleiten.“
Lamondt war wie im Traum. Schweigend saßen sie nebeneinander im Wagen. Vor dem Hause des Rechtsanwalt Kraye setzte er seine Frau ab und begab sich ins Kontor.
Nach einigen Stunden kam ein Bote, der ihn zu eben diesem Rechtsanwalt hinbat. Willenlos folgte er. Es wurden einige Schriftstücke aufgesetzt, die beide unterschreiben mußten, und der Rechtsanwalt stellte in Aussicht, daß schon in wenigen Tagen die Angelegenheit soweit erledigt sein könnte, daß Frau Lamondts Anwesenheit nicht mehr erforderlich sein würde. „Die Einstimmigkeit auf beiden Seiten, besonders auch hinsichtlich des Kindes erleichtert alles sehr“ schloß er seinen Vortrag.
Tatsächlich wickelte sich alles so glatt ab, daß Frau Lamondt schon für den nächsten nach Europa abgehenden Dampfer einen Platz belegen konnte.
Endlich war der Tag der Abreise da, der diesem qualvollen Leben zu Hause ein Ende machte. Frau Lamondt hatte ihren Mann gebeten, dem Kinde, das[S. 144] jetzt etwa sieben Jahr alt war, nichts von der Wahrheit zu sagen, um nicht die Trennung zu erschweren. Der Gutmütige hatte auch hierin eingewilligt. Es war der Kleinen gesagt worden, daß sie verreisten, um die Großmama in Holland zu besuchen. Die Freude darüber war groß, und Lamondt mußte blutenden Herzens manche neugierige Frage beantworten.
Auf dem Schiffe standen die drei im äußersten Winkel, um nicht den Blicken etwaiger Bekannter ausgesetzt zu sein. Beide Eltern waren stumm, außer wenn sie auf die Fragen des Kindes antworten mußten.
Plötzlich begann die Kleine: „Papa, hörst Du, vergiß mir ja nicht Papchen.“ Sie meinte den grauen Papagei. „Das Futter gibt ihm die alte Sarah. Aber den Zucker, weißt Du, den mußt Du ihm geben und dabei mußt Du ihm immer das Wort „Dora“ vorsprechen; aber so wie ich, Papa. Hör’ mal!“ Dabei stellte sie sich wichtig vor Lamondt auf und rief mit Kinderstimme zweimal „Dora!“ „Siehst Du so. Es ist ganz leicht. Mach’ es auch mal, Papa, damit ich sehe, daß Du es recht machst. Schnell doch, Papa!“
Da brach dem gequälten Manne das Herz. Heftig schloß er sein Kind in die Arme und brach in haltloses Schluchzen aus. Dabei streichelte und küßte er das zarte Gesichtchen unaufhörlich, so daß das Kind ganz verdutzt zum Vater hoch sah.
„Mein süßer Liebling, mein wonniges Kind“ begann er endlich. „O Gott und Vater! Muß denn das alles gelitten werden!“
Das Kind wurde unruhig. „Papa, wein’ doch nicht so,“ sagte sie liebkosend. „Ich schreibe Dir alle Tage einen Brief.“ Als der Vater aber immer weiter weinte, wandte sie das Köpfchen zur Mutter hin: „Mama, weshalb weint Papa denn so?“
Frau Lamondt aber stand, die Hand fest auf das Geländer gelegt, die Zähne in die Unterlippe grabend und erwiderte kein Wort. In diesem Moment zum ersten Mal tauchte der furchtbare Gedanke in ihr auf: „Gehe ich auch den rechten Weg? Weh’ mir, wenn ich falsch gehe.“
Als das Kind auch von der Mutter keine Antwort bekam, begann es leise zu weinen. Einmal noch preßte Lamondt sein Kleinod an sich, als ob er ihr den Atem auspressen wollte, dann drehte er sich schnell um und ohne sein Weib zu berühren, ja ohne sie nur zu sehen, verließ er das Schiff und verschwand in der Menge der Zuschauer am Quai. Nicht einen Blick mehr warf er zum Schiff zurück.
Je näher Frau Lamondt Hollands Küsten kam, um so schwerer wurde ihr Herz. Sie wußte, daß sie daheim, ihrer Mutter gegenüber, einen schweren Stand haben würde; denn sie kannte nur zu gut die Hochachtung und Liebe, die letztere für Lamondt hegte. In Neapel hatte sie einen während der Überfahrt geschriebenen ausführlichen Brief zur Post gegeben, der mehrere Tage vor ihr zu Hause ankommen mußte und[S. 146] der ihren Standpunkt in möglichst schlichter Weise klar legte.
Auf dem Bahnhof in Utrecht wurde sie von niemand erwartet. Zu Hause angelangt empfing ihre Mutter sie mit den Worten:
„O Du unglückliches Kind! Was hast Du getan?“
„Mutter,“ erwiderte Helene, „ist es denn solch ein großes Verbrechen, wenn ein Mensch dem Höheren in sich folgt?“
„Das höchste für eine Mutter liegt innerhalb ihrer Familie“ antwortete die alte Dame streng.
Helene hatte sich unterwegs wohl hundertmal auf’s bestimmteste vorgenommen, allen Äußerungen ihrer Mutter die höchste Sanftmut und Geduld entgegen zu setzen, aber gleich diese erste Probe mißlang. Ihr Charakter war zu ungebändigt. Sie erwiderte trotzig:
„Das weiß ich nicht, Mutter.“
„So wirst Du es wohl noch lernen müssen, mein Kind.“
„Mutter, wenn da etwas ist, was ich noch lernen muß, so bin ich bereit dazu.“
Trotzig wie immer, dachte die Mutter und wandte sich liebkosend der Kleinen zu, die sofort ein eifriges Gespräch begann.
Beide Frauen waren sich im Charakter gleich. Das Beharren auf einer vorgefaßten Meinung, das sich Hineinbohren in seine eigene Meinung war der Mutter wie der Tochter eigentümlich. Frau van Hoeven sah[S. 147] mit Empörung auf die Tat ihrer Tochter, und die letztere hatte nicht die Fähigkeit, durch Nachgeben und Sanftmut ihre Mutter milder zu stimmen und schließlich auf ihre Seite zu ziehen. So begann ein trauriges Nebeneinanderleben, eine Fortsetzung der letzten Zeit in Batavia. Auch jede Ablenkung in Form äußerer Geselligkeit fehlte. Alle Bekannte und Verwandte in Utrecht ergriffen Lamondts Partei, der ihnen als Ehrenmann und als Muster eines Ehemanns bekannt war. So mied man es, mit der jungen Frau zusammen zu treffen, und wenn es doch geschah, so ging es nie ohne absichtliche oder unabsichtliche Stiche ab. Ja, es kam schließlich so weit, daß es Helenen unangenehm wurde, bei Tage in die Stadt zu gehen. Sie zog es vor, abends zu promenieren. Mit Recht konnte sie bald von sich sagen: „Ich bin hier die Verfehmte.“
Natürlich suchte sie immer wieder Trost in ihren Idealen. Aber es war, als ob die Gedanken, in denen sie in Java ganz naturgemäß wie in ihrem Element gelebt hatte, plötzlich vertauscht wären. Ihr war, als ob sie aus reeller Münze plötzlich zu wertlosen Schaugroschen geworden wären. Alle diese schönen Begriffe, die sie damals entzückt und ihr Denken genährt hatten, waren jetzt leere Namen geworden ohne Saft und Kraft. Nur eine Art von Pietät hielt sie zurück, diese Schemen für immer bei Seite zu werfen.
Jene Frage, die sich ihr beim Abschied so grell aufgedrängt hatte: Gehe ich den richtigen Weg? — kehrte[S. 148] immer häufiger wieder, immer drohender, beschäftigte sie tags und quälte sie nachts. Sie geriet schließlich in einen Zustand äußerer und innerer Verlassenheit, so daß sie sich niemanden auf der Welt unglücklicher denken konnte als sich selber. Ihr war als ob sie ständig unter einer schwarzen Wolke wandelte, das Sonnenlicht vor und hinter sich, aber sie selber von jedem erhellenden und wärmenden Strahl ausgeschlossen.
Dazu kam eine andere Sache, die ihre Traurigkeit vermehrte. Sie hatte während dieser ganzen Jahre in regelmäßigen Zwischenräumen Savades Briefe erhalten. In Java waren dieselben ihre höchste Freude gewesen, hier wären sie ihr höchster Trost gewesen. Aber dieselben blieben aus. Gleich nach ihrem Eintreffen in der Heimat hatte sie ihm (er war in einem Städtchen an der Küste stationiert) folgenden Brief geschrieben:
„Ich halte mich für verpflichtet, allen meinen Freunden das mitzuteilen, was ich eben im Begriff bin Ihnen mitzuteilen, weil ich Sie auch unter meine Freunde rechne. Ich habe mich von Herrn Lamondt trennen lassen und wohne wieder im Hause meiner Mutter“.
In ihren Briefen an Savade hatte sie nie auch nur eine Andeutung von ihrem Vorhaben fallen lassen. Und so wäre es nicht unwahrscheinlich, daß es sich bei ihrem Entschluß um etwas Plötzliches gehandelt habe, um eine jener uns Menschen so gefährlichen Klarheiten und Fernsichten, die meist für den Verstand nichts anderes sind als die Fata Morgana für das Auge.
Es war wohl ein Jahr her, daß sie diesen Brief geschrieben hatte. Eine Antwort war bis jetzt nicht erfolgt. Sie dachte bitter: „Wer nicht hat, dem wird auch genommen das was er hat.“ Sie bedachte nicht, daß sie ja ihr Kind behalten habe.
Eines Mittags wurde ihr auf ihr Zimmer, wo sie sich meist allein oder zusammen mit der Kleinen aufhielt, eine Visitenkarte überbracht. Sie laß: Louis Savade.
Nie hat Frau Lamondt später diesen merkwürdigen Augenblick vergessen. Ihr war, als ob plötzlich der Schleier, der uns umgibt, zerrisse und sie durch den Riß in die Zukunft blicke. Der Gedanke, auf den ihr geistiges Auge hier traf, jagte ihr erst das Blut ins Gesicht und trieb es dann jäh zum Herzen zurück, so daß sie vor zitternder Schwäche sich auf einen Stuhl niederlassen mußte. Noch einige Mal wechselten schnell jähe Röte und tiefe Blässe. Endlich war die Blutwelle so weit beruhigt, daß sie es wagen konnte, in den Salon hinunter zu gehen.
Beim Verlassen ihres Zimmers trat sie unwillkürlich vor den Spiegel. Aber mit schnellem Ruck wandte sie sich um, ohne hineingesehen zu haben.
Savade trat ihr, wie auch damals in Java, mit jener vorsichtigen Höflichkeit entgegen, die er jedem zeigte. Sie mußte sich zwingen, ihn wenigstens für einen Augenblick frei anzusehen, aber sofort senkte sich ihr Blick wieder, und nach der ersten Begrüßung entstand eine Pause. Es war der jungen Frau unmöglich,[S. 150] jetzt solche banalen Fragen zu tun wie: „Aber wie kommen Sie denn hierher?“ oder: „Sind Sie in Geschäften hier?“ usw. Oben hatte sie mit blitzähnlicher Klarheit den Zweck seines Kommens erkannt. Als er ihr jetzt aber mit dieser formellen Höflichkeit entgegen trat, da war ihr, als ob alles verloren sei und ihr Leben für ewig in um so tiefere Nacht und Dunkel tauche.
Endlich begann Savade, um dem Schweigen ein Ende zu machen:
„Was ist alles geschehen, seit wir uns nicht gesehen haben.“
„O Gott, ja“, erwiderte sie traurig.
Er sah sie prüfend an. Auch jemand, der weniger Menschenkenner war als er, mußte die Last von Leiden sehen, die auf diesem blassen Gesicht lagerte. Da ihre Augen durch die Lider verdeckt wurden, so war ihr Gesicht ganz stilles Dulden.
Ihm wurde das Herz warm. Er begann wieder:
„Sie taten mir die Ehre an, mich Ihren Freund zu nennen. Ich fuße hierauf, um eine Frage zu tun, die zu unterdrücken mir unmöglich ist. Weshalb ist das alles geschehen?“
„Weil es geschehen mußte.“ Sie ließ den Blick gesenkt.
„Und weshalb mußte das geschehen?“
„Weil ich wahr sein wollte, den richtigen Weg gehen wollte, meinen Weg.“
Sie sah entschlossen zu ihm hoch.
Nachdenklich erwiderte er:
„Sie gehen jetzt diesen Weg. Glauben Sie immer noch, daß es der richtige ist?“
Fast argwöhnisch sah sie ihn an: „Sind Sie auch gekommen, um mich zu quälen wie die anderen?“
Er wollte sie unterbrechen. Sie kam ihm zuvor.
„Ach, verzeihen Sie mir Armen, Überreizten! Ich weiß ja, daß Sie der einzige sind, der Verständnis für mein Tun hat. O, sicher, Sie werden nicht nach der Schablone urteilen. Sie werden die nicht ungehört verdammen, die der Ansicht ist, daß die Frau nicht die Verpflichtung habe, in der Ehe nicht allein ihren Körper, sondern auch ihren Geist, ihre Seele, ihr Höchstes hinzuopfern. Die Ehe mag ein geheiligtes Institut sein, aber das Göttliche in uns ist heiliger. Es ist eine Sünde wider den heiligen Geist, es durch die Ehe zertreten zu lassen.“
Sie sah ihn an, als ob sie eine Antwort erwarte. Da er aber sinnend vor sich hinblickte, so fuhr sie fort:
„So will ich Ihnen denn auf Ihre Frage wahrheitsgemäß antworten: Ich kann nicht leugnen, daß ich zur Zeit in einer Periode geistigen Elends mich befinde. Alles was ich die Jahre vorher klar und bestimmt sah, das ist jetzt dunkel, konfuse, zweideutig geworden. Aber ich weiß auch so bestimmt als ich hier vor Ihnen stehe, daß alle diese dunklen Wolken sich zerstreuen werden, so bald die innere Ruhe, die[S. 152] Ruhe des Denkens wieder in mich zurückgekehrt sein wird. Klar wie der Tag sehe ich die Zeit vor mir, in der meine Ideale wieder in ihrem alten Glanz leuchten und wärmen werden.“
„So sind Sie entschlossen, diesen Ihren Weg weiter fort zu gehen?“
Es lag über seinem Sprechen wie ein Schleier, der einen bestimmten Affekt nicht durchblicken ließ.
Ohne Überlegung erwiderte sie: „Ja, ich will es.“
Ihre Augen leuchteten. Ihr Atem ging schnell. Kerzengrade stand sie vor ihm, so daß sie größer aussah, als sie in Wirklichkeit war.
Voll unverhohlener Bewunderung blickte er sie an. „Wie bewundere ich Sie! Sie sind Männern ein Vorbild.“
Es war, als ob er noch etwas sagen wollte, aber der Faden schien abgerissen. Einen Moment schwiegen beide. In der Leere dieses Schweigens saugten sich beider Herzen aneinander. Aber das vermittelnde Wort versagte, der seelische Kontakt zerfiel.
„Ich bin nur für wenige Stunden in Utrecht. Es wird Zeit, daß ich mich empfehle.“
Er erhob sich, um Abschied zu nehmen. Die junge Frau überkam es in diesem Augenblick wie eine unbeschreibliche Angst. Ihr war es, als ob sie etwas für ewig und unwiderbringlich verlöre, wenn sie ihn jetzt so gehen ließe. Sie wußte kaum, was sie tat. Fast flehend trat sie vor ihn:
„O, bleiben Sie doch noch, nur ein paar Minuten! Diese Zeit, in der ich jetzt mit ihnen geredet habe, ist die einzige frohe Viertelstunde, die ich genoß, seit ich die Schwelle dieses Hauses überschritten habe. O, wenn Sie wüßten, was das heißt, als eine Verfehmte leben. Wenn Sie wüßten, was das heißt, wenn man das Tageslicht meiden muß, weil man in aller Augen immer nur die Anklage liest. Aber das ist die Brutalität unserer Nächsten. Über ein schwaches Weib fällt alles erbarmungslos her. Sie ist ja dazu geboren, in der Deichsel zusammen zu brechen, und wehe ihr, wenn sie eigenmächtig an ihrem Schicksal modelt. Wenn der Mann, höheren Idealen folgend, sein Weib verläßt, so wird er bewundert und womöglich der Löwe der Gesellschaft. Ein armseliges Weib, das nichts will, als in Ruhe leben, wird nach Indianer-Manier langsam zu Tode gequält. O, mein Gott, mein Gott! Was habe ich in dieser Zeit gelitten!“ Ihre Lippen zuckten, und sie schlug die Hände vor’s Gesicht, um die Tränen zu verbergen, die langsam ihre Augen füllten.
Savade stand wortlos. Er fühlte unendliches Mitleid und unendliche Liebe. Ihm war, als ob dieses Menschenwesen vor ihm geschaffen sei, ihm, gerade ihm die Noblesse ihrer Gedanken, die Eigenart ihres Empfindens zu enthüllen. Ihm war, als ob er, nur er allein der Strahl sei, dem diese Blume sich öffnen könne.
Er näherte sein Gesicht dicht dem ihrigen. „O, weinen Sie nicht,“ bat er leise und zärtlich. „O bitte,[S. 154] weinen Sie nicht. Es zerreißt das Herz, jemanden leiden zu sehen, den man so liebt, wie ich Sie liebe. Es würde mir Seligkeit sein, Sie zu schützen, Sie mit aller der Sorgfalt zu umgeben, die Ihre Natur erfordert. Haben Sie genug Vertrauen zu mir, um sich meiner Führung für Ihr künftiges Leben anzuvertrauen? — Geliebte!“
Er versuchte sanft, ihre Hände vom Gesicht herabzuziehen. Da lag sie an seiner Brust, leise weinend wie ein geängstigtes Kind am Halse der Mutter. Er streichelte ihr das Haar und flüsterte zärtliche Koseworte. Was war nur aus der eigenwilligen Frau Lamondt geworden.
Plötzlich bog sie sich zurück und sah ihn an. „Denkst Du auch an Lamondt?“
„Ja, ich denke an ihn, Helene. Unsere Ehe baut sich auf den Trümmern seines Glückes auf. So wollen wir jetzt den heiligen Schwur tun, unsere Ehe und unser Leben so zu führen, daß wir in Zeiten der Trübsal und in Zeiten der Freude ruhigen Gewissens an Lamondt und sein vom Schicksal zerstörtes Glück denken können.“
Stolz, selig blickte sie zu ihm hoch. „O, wie viel Glück doch in einem Augenblicke leben kann,“ sagte sie leise.
„Und wie viel Unglück. Wir, Helene, dürfen selbst an einem Tage wie dem heutigen das nicht vergessen.“
Sie nickte.
„Aber jetzt meine Mutter.“ Hastig schritt sie zur Klingel, dem auf das Geläute hin erscheinenden Mädchen trug sie auf, Frau van Hoeven in den Salon zu bitten.
Schon nach wenigen Minuten erschien die alte Dame.
Helene warf sich stürmisch an ihre Brust.
„Aber Helene, was ist denn?“ fragte die Mutter. Sie war keine Freundin übertriebener Gefühlsäußerungen. In ihr war noch das javanische Blut lebendig, und die erste Vorschrift javanischer Etikette ist strenge Förmlichkeit.
„O Mutter, von heut ab beginnt mein wahres Lebensglück. Wir bitten um Deinen Segen.“
Die Alte stand ratlos. Da trat Savade vor und begann:
„Gnädige Frau, ich habe um die Hand Ihrer Tochter angehalten und soeben das Ja-Wort bekommen. Helene und ich bitten um Ihren Segen.“
„Mein Herr,“ begann Frau van Hoeven, „ich bin zu überrascht, um etwas Schickliches vorbringen zu können. Die bisherige Handlungsweise meiner Tochter kann ich nicht billigen; die augenblickliche verstehe ich noch nicht recht. Aber ich weiß, daß sie das Beste will und ich sehe, daß Sie ein Ehrenmann sind. So gebe ich denn Euch beiden so viel Segen, wie eine Mutter nur geben kann.“
Sie küßte Helene zärtlich. Savade trat hinzu und küßte ehrfurchtsvoll ihre Hand.
In diesem Moment trat die kleine Dora ein. Scheu blieb sie an der Tür stehen.
„Komm, Dora, komm mein Kind,“ rief ihr die Mutter zu. „Ich will Dir etwas erzählen.“ Sie küßte die Kleine heftig und führte sie zu Savade. „Dieses ist Herr Savade. Gib ihm einen Kuß, mein Kind.“
„Weshalb denn, Mama?“
„Weil ich Dich darum bitte, mein Kind.“
Die Kleine zögerte immer noch. Da beugte sich die Mutter tief über sie, daß ihr das Blut in die Wangen stieg, und flüsterte ihr etwas in’s Ohr. Trotzig wandte sich das Kind ab. „Ich habe meinen Papa. Ich will keinen anderen Papa.“
„Aber Dora!“ rief Frau Lamondt etwas heftig.
„Laß das Kind, Helene,“ fiel Savade ein. „Wir werden später gute Freunde werden.“
Am Abend reiste er ab. In schmerzhafter Seligkeit hing Helene an seinem Hals.
„Wie dunkel wird es jetzt wieder werden.“
„Aber Helene, mein braver Philosoph.“
„Du hast Recht. Wir haben Licht in uns. Überdies leuchtet ja jetzt ein Licht vor mir heller wie die Sonne.“
Er drückte sie zärtlich an sich. Helene fühlte eine Seligkeit, von deren Existenz sie bisher nichts geahnt hatte.
Schon nach wenigen Tagen schrieb Savade folgenden Brief an Lamondt:
„Mein guter Lamondt, liebster Freund!
Es hat sich etwas ereignet, von dem ich wohl möchte, daß Du es von niemand anderem eher hörst[S. 157] als von mir. Nachdem ich so angefangen habe, ist es mir unmöglich, weitere Vorreden und Umschweife zu machen. Ich muß es Dir direkt sagen: Am Xten dieses Monats habe ich mich mit Helene verlobt, und wenn Du diese Zeilen erhältst, so sind wir vielleicht schon Mann und Weib.
Wir sind übereingekommen, jene geistigen Ziele, die doch das Höchste sind, dem der Mensch hienieden leben kann, gemeinschaftlich zu verfolgen.
Ein Gedanke ist mir fürchterlich. Mir ist, als ob ich unsere Freundschaft beschmutze, wenn ich darüber rede. Mir ist aber auch, als ob ich unsere Freundschaft beschmutze, wenn ich darüber schweige. Lamondt, Du glaubst doch nicht, daß die Scheidung Deiner Frau von Dir etwas mit diesem Ereignis zu tun hat! O Gott, ich drücke mich so plump aus, aber wie soll ich anders reden, um deutlich zu sein.
Ich hatte das ganze Jahr nichts von Helene gehört. Unsere Verlobung kam ganz überraschend. Das heißt, ich will ganz ehrlich sein. Schon lange war ich von den widerstreitendsten Empfindungen gepeinigt worden. Ich fuhr nach Utrecht, ich wußte selber nicht, warum. Es hätte wohl sein können, daß ich statt des Ja-Wortes mit einem neuen Schlips oder einem Satz Hemdknöpfe nach Hause zurückgekehrt wäre. So völlig unentschlossen war ich.
Aber fällt mir eben ein, hier mußt Du fragen: ‚Mein lieber Savade, weshalb bist Du denn überhaupt[S. 158] auf den Gedanken gekommen, nach Utrecht zu reisen? Schlipse und Hemdenknöpfe konntest Du auch in Deinem Krähwinkel kaufen.‘ — Weil ich in widerstreitenden Empfindungen lebte. — ‚Und weshalb lebtest Du in widerstreitenden Empfindungen?‘ Usw. rückwärts. — Lamondt, so wahr ich dereinst hoffe, ein ruhiges Sterben zu haben, diesen Gedanken verfolge ich mit solcher Gründlichkeit heute zum ersten Mal. Und jetzt erst, in diesem Augenblick erkenne ich, daß der Grund meiner Liebe zu Helenen vielleicht schon an jenem Tage gelegt ist, an dem ich Euch in Batavia besuchte. Ich sage ‚vielleicht‘; denn ich kann es Dir mit heiligstem Eide beschwören: Ich weiß es selber nicht. Ich weiß nur, daß ich furchtbar erschrocken war, als ich von Helene die Nachricht ihrer Scheidung von Dir erhielt.
Aber man muß gerecht sein, auch gegen sich selbst und nicht nur Gefühle, sondern auch Tatsachen erzählen. So kann ich Dir sagen, daß in dem Briefwechsel jener Jahre nicht ein Wort, nicht eine Wendung sich befindet, die nicht vor der strengsten Kritik standhalten würde. Aber geht mir selber auch jene Gedanken-Unschuld ab, so kann ich, Gott sei Dank, für Helene garantieren. Noch als ich sie sprach, war sie fest entschlossen, ihren Weg allein zu wandern. Die Entscheidung kam, als ich schon sozusagen die Tür in der Hand hatte. Es war der reine Zufall, Lamondt, für mich ein unerhörter Glückszufall.
Das wollte ich Dir mitteilen. Lieber, guter, treuer[S. 159] Lamondt, was ist das Leben doch für ein elendes Ding. Nicht einmal drei Leute, die alle drei das Beste wollen, können in reinem Glück zusammen leben. Was mich am meisten schmerzt, ist, daß ich Dich nicht einmal trösten kann. Aber glaube mir, Lamondt, auch in der Hochflut meiner Seligkeit vergesse ich nicht, daß das Glück rollt.
Dein treuer Savade.“
Nach etwa neun Wochen empfing Savade hierauf eine Antwort, die an ihrem Ort Platz finden wird.
Helenes und Savades Verlobungszeit war nur kurz. Schon etwa vier Wochen nach der Verlobung fand die Hochzeit statt. Alles ward aufs einfachste und in der Stille hergerichtet.
Die Trauung war auf die Mittagszeit festgesetzt.
Es waren nur noch wenige Stunden bis dahin. Plötzlich sagte Helene zu Savade, mit dem zusammen sie eben etwas anordnete:
„Ich habe Dora so lange nicht gesehen. Wo mag sie nur stecken?“
Die eben eintretende Mutter hatte gleichfalls nichts gesehen. Schnell sprang Helene hinauf in das Schlafzimmer. Das Kind war auch dort nicht. Hut und Mäntelchen fehlten. Erst wurde das ganze Haus und der Garten durchsucht. Dann ging es auf die Straße. Von dem Kinde nirgends eine Spur.
Alles war sprachlos vor Schreck. Die Kleine hatte noch nie allein das Haus verlassen. Savade allein behielt so viel Besinnung, daß er die Anordnungen treffen konnte, wie sie in solchem Fall zu treffen nötig sind.
Wie ein gehetztes Wild jagte Helene in den Straßen hin und her. Nach etwa einer Stunde kam sie matt zum Umsinken nach Hause. Vom Kinde nichts gefunden. Der Prediger wartete bereits. Dem Wahnsinn nahe stürmte sie wieder hinaus. In einer Straße kreuzte sie das Bahngeleise. Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke. Sie nahm einen Wagen und fuhr zum Bahnhof. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Außen am Gebäude, in einer Ecke stand ihr Kind, weinend vor Angst; denn einige Straßenjungen standen vor ihr und versuchten Späße mit ihr zu treiben.
Sobald sie ihre Mutter erblickte, lief sie jubelnd auf dieselbe zu. „O Mama! Da ist meine Mama!“
Helene erwiderte keinen Ton. Fest ergriff sie die Hand des Kindes und stieg mit ihr in den Wagen. Auch hier sprach sie kein Wort, sondern starrte nur gerade vor sich hin. Das Kind kauerte ängstlich in einer Ecke.
Zu Hause angelangt, begab sie sich mit der Kleinen in ihr Schlafzimmer.
Erst nachdem sie ihr und sich selber die Sachen abgenommen hatte, begann sie in möglichst ruhigem und sanftem Ton:
„Mein Kind, was wolltest Du da am Bahnhof?“
Einen Augenblick zögerte die Kleine, dann sagte sie trotzig:
„Ich wollte zu Papa fahren.“
„Dora, hast Du mich denn gar nicht mehr lieb? Weißt Du denn nicht, wie lieb Dich Deine Mutter hat? Willst Du Deine Mutter töten vor Kummer?“
Das Kind begann zu weinen. „Du hast auch gesagt, daß wir Großmama besuchen und dann zu Papa zurückfahren. Das ist aber nicht wahr.“
Ein andermal wäre Helene von diesem Vorwurf des Kindes vielleicht getroffen worden. Heute genügte dieser Tropfen, um den Becher zum Überlaufen zu bringen. Heftig schlug sie das Kind auf den Mund.
„So bestraft man Kinder, die einen ungezogenen Mund haben.“
Die Kleine stand wie erstarrt. Es war der erste Schlag, den sie in ihrem Leben erhalten hatte. Sie wollte schreien, aber die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. Die Augen erweiterten sich unnatürlich. Die Finger begannen zu zucken, und plötzlich lag sie auf dem Boden in den schrecklichsten Krämpfen.
Helene kreischte laut auf. Savade, der soeben auch von der Suche zurückgekehrt war, und Frau van Hoeven stürzten herein. Savade jagte sofort zum Arzt. Der kam. „Kinderkrämpfe“ meinte er. „Sie wird sich den Magen überladen haben. Vielleicht zu viel Kuchen?“
Man gab ihm die nötigen Anhaltspunkte. „So, so! So liegt es.“ Sein Gesicht wurde ernster. Er ließ das Nötige aus der Apotheke holen. „Ich muß Sie freilich darauf aufmerksam machen, daß jeder der[S. 162]artige Krampfanfall eine Lebensgefahr an sich ist, ganz abgesehen davon, daß Gehirnentzündung nachfolgen kann.“
Geisterbleich starrte Helene den Sprecher an. Savade hätte ihn am liebsten für seine trostreichen Worte geohrfeigt. „Die Hallunken!“ dachte er. „Nur um sich sicher zu stellen und um ihr Verdienst um so höher zu heben, lassen sie die Angehörigen den Tod ihrer Lieben dreimal kosten.“
Bald nach Anwendung der Mittel trat Ruhe ein, so daß der Arzt sich entfernen konnte. Aber wohl eine Stunde noch kniete Helene am Bettchen des Kindes unbekümmert um die Hochzeit und den wartenden Prediger.
Da endlich trat ruhiger Schlaf ein. Sie ging hinunter, um sich festlich anzukleiden. Savade raunte ihr zu:
„Ist es nicht besser, bis morgen zu verschieben? Gäste sind ja nicht da.“
„Nein!“ erwiderte sie rauh. „Das ist mein Hochzeitstag.“
„Unser Hochzeitstag, Helene.“
Sie fiel ihm weinend um den Hals.
Er fuhr fort: „Wie sollen wir rein werden, wenn wir nicht geläutert werden. Jedes Ding, mag es noch so böse sein, können wir doch immer so auffangen, daß es zum Vorteil für uns ausschlägt. Auf das Auffangen kommt es an, Helene, auf das Auffangen. Ich fürchte, Du hast den Streich nicht mit geradem Denken aufgefangen.“
Sein Ton war fast scherzhaft geworden. Durch Tränen lächelnd sah sie hoch. Der innere Friede war wieder hergestellt.
Unmittelbar nach der Hochzeit begab sich die junge Familie nach ihrem neuen Wohnort K., jenem Küstenstädtchen, in welchem Savade stationiert war.
Hier begann nun für Helene eine Zeit jener bewußten Glückseligkeit, deren Wert nur der bemessen kann, der selber um sie geworben hat. Denn diese Art der Glückseligkeit muß durch Denken erworben werden.
Das einzige, was einen Schatten auf die Sonne ihres Glückes warf, war das Verhältnis zu ihrem Töchterchen. Seit jenem Tage war das Kind ein anderes geworden. Zu ihrem namenlosen Schmerz merkte Helene, daß sie jenes rückhaltlose Vertrauen ihres Kindes, jenes Vertrauen, ohne welches vollkommene Liebe nicht denkbar ist, verloren habe. Dieses Bewußtsein erfüllte sie immer wieder mit brennender Qual. Das verlorene Terrain mußte wiedergewonnen werden. Sie begann um die Liebe ihres Kindes zu buhlen. Sie machte dasselbe dadurch freilich nur trotziger und unzugänglicher. Aber sie ertrug alle Rücksichtslosigkeiten mit Engelsgeduld. Ihr Mann sagte öfter: „Du wirst das Kind ganz verziehen.“ Aber sie lächelte nur.
Etwa sechs Wochen nach ihrer Hochzeit traf Lamondts Antwort an Savade ein. Dieselbe lautete:
„Mein lieber Freund!
Ich will nur gleich vorausschicken, daß die Heirat an unserer Freundschaft sicherlich nichts ändern soll, soweit es an mir liegt. Du hast das Recht, Dir Deine Frau nach Belieben zu suchen. Daß Du gerade die gefaßt hast, die sich von mir hat scheiden lassen, dafür können wir beide nichts. So viel davon.
Savade, wenn Du mir geschrieben hättest, daß in Holland der Himmel eingestürzt sei, und die heruntergefallenen Engel liefen in den Straßen umher und bettelten um Brot, so würde ich nicht so erstaunt gewesen sein als über die Heirat dieser Frau. Also das waren die hohen Ideale, die sie von meiner Seite und aus meiner Häuslichkeit trieben. Darum mußte mein kleines Paradies zertreten werden. Einen anderen Mann wollte sie haben. Freilich, jetzt verstehe ich, warum es durchaus ohne mich sein mußte. Mir ist als ob all meine Gutmütigkeit, meine Geduld, meine Menschenliebe für immer dahin sind. Ich erschrecke vor mir selber und hasse die Frau, die das in mir zustande gebracht hat. Ich weiß, ich speie Gift auf Dich, wenn ich Gift auf diese Frau speie. Aber soll ich ewig als der gutmütige Schwächling dahinschleichen, der sich geehrt fühlt, wenn andere über seinen Rücken hinschreiten! Nein! Wie ich ist noch kein Mann beleidigt worden. Savade! wenn einer Liebe geübt hat, ich war’s. O Gott im Himmel! mein Herzblut hätt’ ich jederzeit für diese Frau hingegeben und hätte nichts Großes daraus gemacht. Und das alles wird[S. 165] leichtsinniger, nein ruchloser Weise mit Füßen getreten. Und ich Narr lasse mich von ihren hochtrabenden Phrasen betören. Aber es ist ja alles so klar und einfach: Sie ging von mir weg, weil sie Dich wollte. Sie kam nach Holland, um Jagd auf Dich zu machen. Hier spannte sie ihr Netz auf und wartete Monat für Monat, bis Du Dich darin fangen würdest. Du schreibst: ‚Für H. kann ich garantieren. Noch als ich mit ihr sprach, war sie fest entschlossen, ihren Weg allein zu gehen.‘ Guter Savade, es kommt mir plötzlich vor, als ob ich der Alte, Gewiegte bin und Du der verliebte Jüngling. Als Du ins Haus tratest, war Dein Schicksal schon besiegelt. Glaub’ mir, sie war entschlossen, Dich nur als Bräutigam wieder hinauszulassen.
Savade, daß diese Frau meine Einfalt beherrschte, das verstehe ich, aber daß sie meine natürlichen Instinkte, meine Vaterliebe so ganz betäuben konnte, das verstehe ich heute nicht mehr. Ich verstehe nicht mehr, wie es möglich war, daß ich mich dazu entschließen konnte, dieser Frau in rechtskräftiger Form mein Kind für immer zu überlassen. Das kommt mir heute vor wie das Machwerk schwarzer Zauberei. Ach, wenn Du die Tränen kenntest, die ich zwischen meinen toten Wänden verweint habe! Und ich sagte mir immer: Es ist mein Schicksal. Ich soll ein einsamer Mann sein. — Aber weshalb denn? Weshalb denn, frag’ ich! Wenn mein Weib sich einen anderen Mann nimmt, weshalb soll ich denn auch noch die Zeche bezahlen?
Verzeih mir, daß ich so rede. Ich hätte noch warten müssen, ehe ich antworte. Aber das konnte ich nicht wegen des Kindes, und zur Zeit ist es mir unmöglich, anders zu schreiben.
Um also zum Schluß zu kommen: Dein Gerechtigkeitssinn wird Dir auch sagen, daß das Kind mir gehört; denn nicht ich bin schuld an der Lösung unserer Ehe. So bitte ich Dich herzlich, dahin zu wirken, daß alles in Güte abgetan wird. Ich kann auf mein Kind in keinem Fall verzichten, und ich würde alle Mittel anwenden, es wieder in meinen Besitz zu bringen, falls es mir verweigert wird.
In alter Freundschaft
Dein Lamondt.“
Als Savade diesen Brief fertig gelesen hatte, blieb er lange sinnend sitzen. Er hatte ein unbehagliches Gefühl. Unwillkürlich ließ er jenen Tag in Utrecht, an dem er sich mit Helene verlobt hatte, an seinem Geist vorüberziehen. Mit peinlicher Genauigkeit suchte er sich jedes einzelne Moment wieder ins Leben zu rufen. Schließlich schüttelte er energisch den Kopf wie einer, der etwas von sich abschütteln will und begab sich in das Zimmer seiner Frau.
„Soeben ist ein Brief von Lamondt angekommen“ begann er.
„Was schreibt er denn?“ fragte Helene lebhaft. Sie erwartete als selbstverständlich, daß ihr Mann ihr den Brief zum Lesen geben würde. Aber er las ihr nur den Abschnitt vor, der sich auf das Kind bezog.
Helene antwortete, als er fertig war, keinen Ton, sondern sah Savade nur mit ihren klaren Augen an. Er fühlte, sie wartete auf den Brief. Er fühlte, was auf dem Spiel stand. Aber der Pfeil, den Lamondt abgeschossen, war haften geblieben. Sein Herz war nicht rein genug, um seinem Weibe sagen zu können: „Hier ist der Brief. Ich glaube an Dich.“
Etwas zögernd begann er:
„Wie denkst Du darüber?“
Sie antwortete immer noch nicht.
„Ich denke, daß Lamondt in seiner Einsamkeit einiges Anrecht auf das Kind hat“ fuhr er unsicher fort.
„Meinst Du? Nun, so sage ich Dir, daß das Kind meine Zukunft ist; daß an ihm mein Alles hängt. Das Kind bin ich. Das Kind hingeben, ist eben so gut, als mich selber wieder Lamondt hingeben.“
Sie hatte in völliger Ruhe begonnen. Beim Sprechen wurde sie lebhafter. „Lamondt hat aus freiem Willen, nach reiflicher Überlegung mir das Kind zusprechen lassen. Weshalb? — Weil er einsah, daß ein Kind näher zur Mutter gehört als zum Vater. Nur Mütter, die sich etwas haben zu schulden kommen lassen, müssen ihre Kinder fahren lassen. Aber Lamondt wußte, daß ich makellos gelebt habe und makellos leben werde. Darum ließ er mir das Kind. Ist er jetzt anderer Ansicht geworden, so muß ich mich dagegen wehren.“
Es lag etwas wie Erhabenheit über ihr, als sie dieses sprach. Savade fühlte sich beschämt. Wieder[S. 168] drängte es ihn, den Brief zu geben, aber er hatte die Kraft nicht.
„So werden wir einen Prozeß haben“, sagte er.
„Nun gut, so werden wir einen Prozeß haben. Es gibt schlimmere Dinge als einen Prozeß.“
„So werde ich Lamondt in diesem Sinne antworten.“
Einen Augenblick noch standen sie sich stumm gegenüber, dann wandte sich Savade langsam und ging in sein Arbeitszimmer zurück. Traurig blickte ihm Helene nach. Jene bewußte Glückseligkeit ihrer Ehe hatte mit diesem Tag ihr Ende erreicht.
Der Prozeß zog sich fast ein Jahr hin. Es war eine böse Zeit für die beiden. Helene reiste oft nach Utrecht, um ihre Sache mit dem Rechtsanwalt persönlich zu besprechen. Oft blieb sie tagelang dort, und Savade hauste allein. Das Ergebnis war schließlich dieses, daß das Kind Lamondt zugesprochen wurde.
Savade erwartete sein Weib in Verzweiflung zu sehen. Aber nichts von dem. Sie schien völlig gefaßt. „Ich bin von der Gerechtigkeit meiner Sache so ganz überzeugt, daß ich weiß, ich muß Recht behalten.“ Sie war entschlossen, weiter zu prozessieren. Dem Kinde widmete sie sich nach wie vor mit aller denkbaren Liebe und Sorgfalt. Sie wußte, daß Lamondt, der telegraphisch von seinem Rechtsanwalt benachrichtigt war, sofort eine Vertrauensperson abgeschickt hatte, die das Kind abholen sollte. Die Zeit des Eintreffens derselben[S. 169] war bis auf wenige Tage herangerückt, da begann Helene eines Abends beim Schlafengehen:
„Möchtest Du wohl Deinen Papa in Java wieder besuchen, mein Liebling?“
Stürmisch warf sich das Kind der Mutter an die Brust. „Wirklich, Mama, darf ich?“
„Ja, mein Kind. Übermorgen wird jemand kommen, der Dich hinbringt.“
„O nein, Mama, Du mußt mitkommen; ach bitte, bitte, gute Mama!“
Sie begann zu schmeicheln mit jener Herzlichkeit, die Frau Savade so lange vermißt hatte und deren Duft sie jetzt einsog wie der Durstende die Luft, aus der er das Wasser in der Ferne wittert.
„Ich kann nicht, mein Kind,“ sagte sie leise.
„Aber warum denn nicht, Mama? Es war doch so schön in Java.“
Sie hängte sich der Mutter schmeichelnd um den Hals. Die sah vor sich nieder. Wieder kam wie etwas Kaltes, Unheimliches diese Frage: „Gehe ich den richtigen Weg?“ Ja, sie ertappte sich sogar bei dem Gedanken: „Wie bequem und ruhig hätte ich mein Leben an Lamondts Seite führen können.“ Aber mit einem Schlag wurde dieser Gedanke verjagt wie der Hund, der aus der Kammer des Nachbarn ein Stück Fleisch holen will.
Sie bettete das Kind und erzählte noch lange mit ihm von Java, den schönen Bäumen, den süßen Früchten, den bunten Vögeln.
„Weißt Du, Mama, ich bin so neugierig, was Papchen macht. Ob Papa ihm wohl alle Tage ‚Dora‘ vorgesprochen hat?“
„Ich weiß nicht, mein Kind.“
„O, ich glaube sicher, Papa hat es getan. Papa ist ja so gut.“
„Aber jetzt schlaf’ nur, mein Kind. Es ist Zeit.“
Der Tag des Abschieds kam. Helene hatte es sich nicht nehmen lassen, das Kind bis nach Antwerpen zu begleiten, um es selber auf dem Schiffe unterbringen zu können. Auf der Fahrt gab sie der alten Dame, die Lamondt geschickt hatte, noch eine Menge Ratschläge und Anweisungen bezüglich der Lebensart der Kleinen. Man merkte ihr eine außergewöhnliche Erregung nicht an.
Jetzt kamen die letzten Stunden. Die Kleine zerfloß in Tränen. Immer wieder warf sie sich ihrer Mutter um den Hals. Immer wieder schmeichelte sie: „Komm’ doch mit, Mama!“ Ihr Kinderherz ahnte schon das Trennungsweh.
Auch Helene weinte still. Aber ihr Gesicht war durch die Tränen hindurch wie von einer inneren Heiterkeit verklärt. Ihr war wie einer, die auf dunkler, sturmumtoster Klippe steht und fern in ein Tal voll Friede und Abendsonne blickt. — Ihr Kind! Ihr war bei dem Namen, als ob sie einen großen Glanz vor sich sähe, von dem nach allen Seiten leuchtende Strahlen ausgingen. Das war doch der Kern ihrer Welt. Hier lag die Lösung ihres Lebensproblems. Jetzt gab sie[S. 171] ihr Kleinod dahin, aber einst sollte der Tag kommen, an dem das Kind sich freiwillig entscheiden würde, bei ihr, der Mutter, zu bleiben.
Mit Doras Abreise schien auch Helenens Ruhe dahin zu sein. Sie war beständig in gereizter oder gedrückter Stimmung. Und das steigerte sich, je weiter dieser zweite Prozeß vorrückte, der sich vor der obersten Instanz des Landes abspielte. Jene wunderbare Seelengemeinschaft, in der sie mit ihrem Manne in den ersten Wochen ihrer Ehe gelebt hatte, war ganz dahin. Jenes Hochsteigen aus dem Dunst der Alltäglichkeit, jenes Weilen hoch oben in erhabenen Regionen, jene unvergleichliche Wonne des gemeinsamen Genießens solcher erhabenen Augenblicke — das alles war dahin, sei es, daß Lamondt’s Brief immer noch wirkte, sei es, daß die Wirken des Prozesses alles geistige Leben zerstörten.
Hinzu kam, daß bei diesem Prozeß eine Hauptrolle die Frage spielte, ob Helene durch die Bekanntschaft mit Savade bewogen worden sei, ihre Ehe mit Lamondt zu lösen. Es war ihr fürchterlich, sich hierüber Fremden gegenüber äußern zu müssen. Sogar ihr Briefwechsel mit Savade wurde einer Durchsicht unterzogen. Helene unterwarf sich allem aus Liebe zu dem Kinde und im Bewußtsein ihrer Unschuld. Aber jene hohen, idealen Gedanken erschienen ihr dadurch beschmutzt, von den Fingern anderer Leute begriffen. So vermied sie es jetzt, sich mit ihrem Manne auf solche Gegenstände ein[S. 172]zulassen. Sie war wie jene noblen Tiere, die zu ihrer Beute nicht mehr zurückkehren, wenn sie merken, daß niederes Wild daran genagt hat.
Nun ist keine Qual der Welt ganz groß, so lange der Mensch schlafen kann. Aber dieser höchste Trost eines gequälten Herzens ging Helenen jetzt auch verloren. Nächte lang wälzte sie sich ruhelos auf ihrem Lager und entschlummerte sie endlich, so warteten gleich Wegelagerern schwere Träume auf sie, um sie zu ängstigen.
Eines Nachts träumte sie, daß sie in ihrem Haus in Batavia wäre. Lamondt, als Blindekuh verkleidet, tappte auf dem Rasen umher. Sie selber und Savade standen sich umschlungen haltend vor ihm, lachten über ihn und küßten sich. „Das ist nicht wahr!“ schrie sie laut im Schlaf, so laut, daß sie selber davon erwachte. Sie hörte noch das „wahr“, wie von einer fremden Stimme ihr zugeschrien.
Auch ihr Mann erwachte davon.
„Was ist denn, Helene?“ fragte er erschrocken.
„O, ich habe nur geträumt.“
„Mit Deinen Träumen, das ist ja förmlich krankhaft geworden.“ Er hatte einen anstrengenden Tag gehabt und sich nicht ganz wohl zu Bett gelegt. Bei dem Schrei seiner Frau war er mit einem Nervenschreck aufgewacht. Etwas ungeduldig fuhr er fort:
„Ich verstehe nicht, wie Du so wenig geistige Hilfsquellen in Dir selber findest, daß Du in allen diesen Situationen nicht besser Herr Deiner selbst bleibst.“
„O, ein wundervoller Trost!“ Ein Weilchen lag sie regungslos, dann richtete sie sich im Bett auf, daß ihr die Haare ins Gesicht flogen.
„Mein Gott im Himmel, was für ein Leben! Wer erbarmt sich! Ist denn dieses Leben überhaupt noch einen Tag zu ertragen!“ Sie griff sich mit der Faust in die Haare und begann leise zu stöhnen. In der Dunkelheit konnte man sie für eine Schwerkranke halten.
Savade wartete ein Weilchen, dann begann er wieder:
„Helene, mein Ton mag vielleicht nicht der richtige gewesen sein, aber ich frage Dich noch mal: Was haben Leute wie wir, die ihr Leben mit Bewußtsein zu leben versuchen, für Trost? Die anderen helfen sich mit Selbsttäuschungen von Tag zu Tag hin. Was bleibt uns aber anderes, als die Dinge mit ruhigem Mut anzuschauen und in verständigem Sichfügen Trost zu finden?“
„O gewiß, gewiß! Das sind schöne Worte, aber sie gelten nur bis zu einer gewissen Grenze des Unglücks. Wird diese überschritten, so ist nichts mehr mit Denken einzuhemmen. Ich wenigstens kann es nicht. Denn es kommt alles darauf an, wie das Leiden aufgefangen wird.“ Sie benutzte dieselben Worte, mit denen er sie am Hochzeitstage getröstet hatte. „Wenn Du wüßtest, wie mein Herz jeden leisesten Stich auffängt. O, ich bin wie — nun gut! nun gut! Da giebt es freilich andere Leute, Leute wie diesern Herrn Lamondt. Die essen[S. 174] gut und schlafen gut und lassen Gott einen guten Mann sein. Außerdem sind sie noch tadellose Familienväter und vollkommene Ehrenmänner; freilich so lange alles gut geht. Wenn aber die Zeiten der Trübsal kommen, was tut dieser wackere Lamondt? — Er schießt mit vergifteten Pfeilen wie die Wilden in Sumatra. Er fragt sich nicht: ‚Ist es gerecht, so zu handeln? Sind meine Anklagen wahr?‘ Nein! Wie ein Barbar vergiftet er ein Familienglück, weil er es nicht mit genießen kann. Ach, hättest Du doch den Brief gegeben. Alles ist dahin, zerknickt, zertreten, seit diesem Brief. Sechs Wochen nur sind wir Mann und Weib gewesen. Ach, als Du damals aus meinem Zimmer gingst — mein Herz blutet seit diesem Tage. Freilich Lamondt ist und bleibt ein Ehrenmann, aber Schmach und Schande auf sein Weib. O, es ist eine wunderbare Gerechtigkeit in der Welt.“ Jetzt freilich macht jeder ein ernsthaftes Gesicht: „Bedenken Sie, daß Sie vor Gott dem Allmächtigen und Allwissenden reden. Hat die Bekanntschaft mit Herrn Savade nicht doch auf die Scheidung von Herrn Lamondt einen Einfluß geübt?“ Sie äffte den Richterton nach. „Als ich aber damals mit Lamondt vor den Altar trat, da sagte niemand zu mir: ‚Bedenke, daß Du vor Gott dem Allmächtigen stehst. Bist Du dir klar darüber, daß dieser Lamondt der rechte für Dich ist?‘ Und wenn man mich gefragt hätte, ich hätte sagen müssen: ‚Ich weiß es nicht.‘ Denn ich war ja ein Kind. Und als ich verständig wurde, und mein[S. 175] Verstand seine Forderungen stellte, da gab mir Lamondt Steine statt Brot. Um dem geistigen Hungertode zu entgehen, ging ich davon.“
Sie schwieg erschöpft. Die letzten Sätze hatte sie vor übermäßiger Erregung fast schreiend hinausgestoßen.
„Helene,“ begann jetzt ihr Mann und griff sacht mit seiner Hand nach ihrem Bett hinüber, um ihre Hand zu suchen, „hör’ mich jetzt an. Ich bin schuldig, ich weiß es und bin bereit, meine Schuld gut zu machen.“
Hastig fiel sie ein: „O, laß jetzt nur, laß nur! Jetzt hat nur eines für mich Wert: Wie ich vor meinem Kinde bestehen werde.“
Verletzt schwieg Savade still. So verdarb sich Helene abermals ihr Lebensglück.
Einige Zeit nach diesem Vorfall besuchte eine berühmte deutsche Kapelle auf ihrem Wege nach Ostende auch Utrecht und gab hier ein Konzert. Die beiden waren in Sachen des Prozesses gerade in der Stadt und besuchten das Konzert. Helene hatte seit ihrer Übersiedelung nach Java fast keine Musik mehr gehört und vorher nicht sehr viel. Die ersten Nummern des Programmes ließen sie kalt. Die letzte Nummer des ersten Teiles war Beethovens Es-dur-Konzert.
Sie erwachte wie aus einem Schlaf bei den gewaltigen Schlägen, mit denen dieses kolossalste aller Konzerte einsetzt. Weit geöffneten Auges starrte sie[S. 176] auf Orchester und Solisten. Ihr Staunen wuchs, als jetzt das Thema einsetzte, ganz Mark, ganz unwiderstehlicher Entschluß. Sie hatte das Gefühl, als ob hier etwas Übermenschliches an den Pfeilern der Welt rüttelte, seine ungeheure Kraft bis zum Äußersten anspannte in diesem vergeblichen Kampf. Sie wurde mitgerissen wie in einem Wirbelwind. Ihre Augen glänzten. Sie atmete stürmisch. Bei jenen gewaltsamen, lang anhaltenden Fortes spannte sie unwillkürlich die Muskeln. Das waren die Höhepunkte dieses Titanenkampfes. Sie atmete erleichtert auf, wenn sie aus dem Tosen des Unwetters in eine jener Windstillen geriet, die mit ihrer bezaubernden Lieblichkeit das Herz des Hörers gefangen nehmen. Sie war fast ermattet, als der erste Satz beendet war, als dieses gewaltige „Ich will“ in mächtigen, geordneten Schlußakkorden sich gleichsam freiwillig zur Ruhe begeben hatte.
Und jetzt dieses himmlische Adagio. Als ob die Engel aus der Höhe das Heilig! Heilig! riefen. Sie schloß die Augen. Sie merkte gar nicht die Tränen, die langsam über ihre Wangen rollten. Ihr war, als ob sie ihre Körperlichkeit nicht mehr fühlte. Von einer inneren Seligkeit wurde sie überwältigt, gleichsam hochgehoben. „Wie kann Musik nur so rein sein“ dachte sie. „Muß hier nicht jeder Wunsch ersterben. Können solche göttliche Harmonien nicht nur einem solchen entquellen, der selber wunschlos ist, der entsagt hat?“ Plötzlich durchzuckte es sie wie ein Licht. „Ist Entsagen nicht vielleicht das Höchste?“
Jetzt setzte resolut der dritte Satz ein, um sich schnell zu jener Anmut und Heiterkeit aufzuschwingen, die nicht von dieser Welt sind. „So mag wohl einer jauchzen,“ dachte Helene, „der allem Wünschen entsagt hat.“ Wieder war ihr, als ob sie sich gleichsam aus ihrer Körperlichkeit hochhebe. Sie verharrte in einem Zustand von Verzückung, bis sie mit den letzten Schlägen des Orchesters schwer aus ihrer Sonnenhöhe herabstürzte. Armer Ikarus oder glücklicher Ikarus?
Hastig erhob sie sich. „Wir wollen gehen,“ sagte sie zu ihrem Mann.
„Es ist ja erst der erste Teil zu Ende.“
„Ich muß gehen.“
Der hatte die Tränen im Auge seines Weibes gesehen. Er verstand.
Zu Hause angelangt, sagte er plötzlich:
„Fast hätte ich es wieder vergessen. Ich wollte es Dir vor dem Konzert schon geben. Ich habe heute ein Buch bekommen, das Dich auch interessieren wird. Es geht freilich nach einer ganz anderen Richtung als der, die wir bisher verfolgt haben. Aber ich kann mir wohl denken, daß es imstande ist, manche Leere zu füllen und manch unruhiges Herz ruhig zu machen. Es lehrt die Seligkeit im Entsagen finden.“
Helene hatte anfangs gleichgültig zugehört. Bei dem Wort „Entsagen“ merkte sie auf. Nie in ihrem Leben hatte dieses Wort, dieser Gedanke als etwas sie Betreffendes ihren Weg gekreuzt und heute stellte er[S. 178] sich ihr zweimal entgegen. Wie eigentümlich! Neugierig blickte sie auf das Büchelchen, das ihr Mann ihr hinhielt. „Der Buddhismus“ las sie. Es kam ihr vor wie eine geheimnisvolle Botschaft von einer ihr unbekannten Seite her. „Hier heißt es umdenken,“ fuhr Savade fort. „Von all den Idealen, in denen wir bisher gelebt haben, bleibt hier auch nicht ein Stein auf dem andern. Alles stürzt hier. Aber es ist mein Weg nicht.“ Damit gab er seiner Frau das Buch in die Hand. Sie nahm es an sich, fest entschlossen, es durchzuarbeiten, sobald die geeignete Zeit sich dazu böte.
Der Prozeß hatte jetzt schon weit ins zweite Jahr hinein gedauert. Endlich erfolgte das Urteil. Der oberste Gerichtshof stieß die in erster Instanz erzielte Entscheidung um, und Helene kam endgültig in den Besitz ihres Töchterchens. In der Nacht nach diesem Tage hatte sie zum ersten Mal seit vielen Monaten einen sanften Schlaf.
Savade hatte jetzt aufs neue Gelegenheit, sich über sein Weib zu wundern. Sie selber wollte nach Java gehen und ihr Kind holen. Aber sie schien sich gar nicht übereilen zu wollen. Sie müsse erst ihre Reisevorbereitungen treffen, meinte sie. So gingen volle zwei Monate darüber hin, ehe sie sich in Antwerpen einschiffte. Vor ihrer Abreise teilte sie ihrem Mann ihren Entschluß mit, das Kind nicht mit Gewalt von Lamondt fortzureißen, sondern ihr den freien Willen zu[S. 179] lassen, ob sie mit ihrer Mutter gehen wolle oder nicht. „Wie brav, Helene, wie brav!“ rief Savade und umarmte sie mit jugendlicher Zärtlichkeit. „Will’s Gott, Helene, so haben wir ein frohes Wiedersehen und alles wird gut.“
„Ja, will’s Gott!“
Unbegreiflicherweise hatte sich ihrer die feste Idee bemächtigt, ihr Kind würde, reifer geworden, freiwillig die Seite der Mutter wählen.
Die Fahrt um die spanische Küste und im Mittelmeer war stürmisch. Sie hatte viel unter Seekrankheit zu leiden. Es war im Januar, als sie diese Reise antrat. Mit dem Eintritt ins Rote Meer aber begann eine köstliche Zeit. Die Milde der Luft, die Pracht der Sonnenauf- und -untergänge entzückten immer wieder aufs neue. Sie befand sich damals in einem Zustand innerer Ruhe, über den sie sich selber wunderte. Oft fragte sie sich: „Wie ist es nur möglich, daß ich alle diese Schönheiten genießen kann?“
In der Äquinoktial-Zone saß sie meist die halben Nächte allein auf dem Vorderteil des Schiffes, ließ sich von diesem lauen, starken Wind durchwehen und sah still auf die Wunder unter sich und über sich, das immer wechselnde Meeresleuchten und die stille Pracht des gestirnten Himmels. Völlig majestätisch waren diese Nächte, wenn jene mächtigen, am Horizont lagernden Gewitterballen sich schweigend ihre Grüße herüber und hinüber sandten.
Was Helene damals gedacht hat, wußte sie wohl selber nicht. Wahrscheinlich genoß sie nur die Seligkeit der Ruhe.
Um diese Zeit war es auch, daß ihr jenes Buch wieder einfiel, das ihr Mann ihr an jenem Abend nach der Musik gegeben hatte. Sie fing jetzt an, darin zu studieren und zwar in jener glücklichen Gemütsverfassung, die es ihr ermöglichte, den neuen Gedankenreihen vorurteilslos zu folgen.
So begann sie denn, sich in jene erhabene Lehre vom Leiden der Welt zu versenken. Ihr war, als ob bei jenem ehernen Satz „Alles Leben ist Leiden“ eine Saite in der tiefsten Tiefe ihres Herzens mitschwinge. Ihr Verstand erlaubte es ihr wohl, jener tiefen Lehre vom „Werden“ zu folgen, die alles, auch die eigene Körperlichkeit zu einem Wechselnden, ewig Entstehenden, ewig Vergehenden macht, zu einem Ding gleich der flackernden Flamme. Ja sie war imstande, ohne Empörung jene vom Buddha gelehrte Radikal-Kur zu prüfen und über das Ungeheuerliche derselben nachzudenken. „Alles aufgeben, allem entsagen ist freilich fürchterlich“ dachte sie. „Der Satz ‚Wer nichts Liebes hat, der hat auch nichts Leides‘ mag wohl dem Neuling empörend klingen. Aber heißt das schließlich nicht den Menschen menschlich nehmen, als Mensch dem Menschen menschlich raten? Könnte es nicht sein, daß lediglich im Meiden, im bedingungslosen Entsagen Sicherheit für den Menschen liegt?“ Sie dachte an jenen Musik[S. 181]abend. War ihr damals nicht das Entsagen als etwas Erhabenes, Königliches erschienen? Sie erkannte wohl, daß die Größe und Noblesse der buddhistischen Lehre darin ruhe, daß man auf Grund von Vernunftschlüssen allem, selbst seinem eigenen „Ich“ zu entsage wage, um jener gesicherten, ewigen Ruhe willen, wie sie notgedrungen folgen muß, wenn alles Wünschen und Wollen für immer ausgelöscht sind. Sie erkannte klar, daß dem eigenen „Ich“ nur entsagt werden könne, wenn nichts Ewiges, Göttliches anerkannt werde, wenn alles im Joche der Notwendigkeit liefe ohne Anfang, ohne Ende, ohne Fortschritt. War das aber richtig, wo hinaus ging es dann mit jenen Idealen, deren Dienst sie ihr bisheriges Leben gewidmet hatte? Waren sie nicht gerade das Unwandelbare, das Ewige in der Flucht der Dinge; das was sich mit fortschreitender Entwickelung der Menschheit immer klarer, immer schöner zeigte? Mit einem Wort: Waren sie nicht der Ausfluß des Göttlichen?
Ruhig, ohne Gedankenqual wog sie beide Möglichkeiten auf ihre innere Wahrscheinlichkeit hin ab. Was für Beweise gab es eigentlich für die Existenz jener Menschheits-Ideale? Waren sie nicht schließlich auch nur bedingt, Produkte unseres Gehirns und als solche hin- und herschwankend mit der Tätigkeit dieses Gehirns, gleich Schatten, die mit der Beleuchtung schwanken. Wie anders hatte sie vor Jahren auf diese Ideale geblickt, als jetzt. Wie war das aber möglich, wenn es[S. 182] sich um etwas wahrhaft Göttliches handelte? Sie hielt innerlich Umschau. Sie sah nirgends einen Halt, nirgends eine Sicherheit. Der wahre Glaube war nie in ihr gewesen. „So wäre ich vielleicht Irrlichtern gefolgt, Phantomen, und das Wahrhafte, die Sicherheit läge allein im Entsagen? Wie sicher muß derjenige leben, der allem entsagt hat!“ Es überkam sie plötzlich wie Klarheit, daß eine Frau, die aus dem Schutz ihrer Familie heraustritt, nur den Weg der Sicherheit, das heißt des Entsagens gehen dürfe. Ihr war, als ob sie den Grund für die Wirrnisse ihres Lebens erkenne, weil sie vorwärts gegangen wäre, zugegriffen hätte. „Ich bin schon weit auf dieser Bahn vorgegangen,“ dachte sie. „Wie wäre denn jetzt noch Abhilfe zu schaffen? — Dadurch, daß ich allem entsage, auch meinem Kinde; daß ich stehenden Fußes zurückkehre, von wo ich gekommen bin und ein Leben der Wunschlosigkeit beginne.“ Sie nickte still. „Das wäre wohl für alle das Beste, auch für Savade. Wie einfach sich alles gibt, wenn man den Mut hat zu entsagen. Ja, wenn —.“
In Batavia angekommen mietete sie sich in einem jener Hotels in der Nähe des Königsplatzes ein. Sie hatte von ihrem Zimmer die gewaltige Aussicht auf die Bergriesen der Preanger Landschaft. Auch von ihrem Zimmer in Lamondts Haus hatte sie diese Aussicht gehabt.
Sie saß den ganzen Tag in einer Art Unent[S. 183]schlossenheit. Zum Abend endlich nahm sie einen Wagen und fuhr hinaus zu ihrem früheren Hause. Sie ließ in weitem Bogen um dasselbe herumfahren, aber sie konnte doch gut Lamondt erkennen, der Arm in Arm mit Dora im Garten spazieren ging. Sie fühlte einen wehen Schmerz am Herzen, aber sie konnte sich nicht enthalten, wieder und wieder hinzusehen. Sie staunte, wie sehr Dora sich in diesen zwei Jahren entwickelt hatte. Sie sah aus der Ferne fast wie eine Dame aus.
In ihr Hotel zurückgekehrt, setzte sie sich an den Schreibtisch. Sie schien immer noch unentschlossen. Endlich brachte sie folgenden Brief zu Papier:
„Mein Herr!
Sie wissen, daß der oberste Gerichtshof mir endgültig das Recht auf unsere Tochter zugesprochen hat. Ich bin heute hier angelangt, um meine Rechte, wenigstens in gewissem Sinne, geltend zu machen. Denn da ich meine Tochter wahrhaft liebe und ihr Glück höher stelle als das meinige, so bin ich entschlossen, ihr die freie Wahl zu lassen, ob sie es vorzieht, mit ihrer Mutter zu gehen, oder bei Ihnen zu bleiben. Ich bitte Sie, zu diesem Zweck das Kind morgen nachmittag gegen 4 Uhr in dieses Hotel zu schicken, damit ich sie fragen kann. Denn deswegen bin ich selber von Holland hergekommen und das ist das Einzige, was ich mir ausbedinge. Ich hoffe, daß Sie mit ebenso ehrlichen Waffen kämpfen, als ich es zu tun entschlossen bin.
Helene Savade.“
Noch nie in ihrem Leben war Helene so sehr in Verlegenheit gewesen, womit sie ihre Zeit hinbringen solle, als am folgenden Tage. Nach der Reistafel, die um 1 Uhr gehalten wird, legte sie sich etwas nieder. Gegen 3 Uhr hielt es sie nicht länger. Sie kleidete sich an und machte trotz der ungewöhnlichen Zeit einen Spaziergang. Vielleicht traf sie bei ihrer Rückkehr ihr Kind schon bei sich an.
Als sie wieder am Hotel ankam, sah sie tatsächlich einen Wagen im Hof stehen, der ihr der Lamondts zu sein schien. Klopfenden Herzens schritt sie schnell ihrem Zimmer zu. Sie fühlte, in der Ruhe hätte sie dieses alles gar nicht aushalten können. Das energische Sichbewegen gab ihr Kraft.
Im Vorzimmer saß die Dienerin, die mit ihrer Tochter gekommen war. Helene schritt schnell vorbei ohne abzulegen. Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer und flog ihrem Kinde entgegen. Aber ihr geschärfter Instinkt ließ sie schon aus der Umarmung Doras eine Unsicherheit herausfühlen. Schon in diesem Moment witterte ihr ahnendes Mutterherz, welche Antwort sie auf ihre große Frage erhalten würde. Aber sie konnte dieses nicht gleich mit dem Verstande erfassen, sich klar machen. Es stand wie etwas Ungeheures, Unbestimmtes vor ihr, an dem sie nicht hoch blicken konnte, das sie noch nichts anging.
So begann sie, nachdem die Liebkosungen und die einleitenden Fragen abgetan waren, in völliger Ruhe:
„Dora, mein Liebling, Dein Vater hat Dir gesagt, weshalb Du hast hierher kommen müssen.“
„Ja, Mama.“
Helene hatte den Arm um die Taille ihres Kindes geschlungen und sah liebreich in das zarte Gesicht mit den dunklen Augen. Es waren Lamondts Augen. Sie fühlte, daß in diesem jugendlichen Herzen kein Zug zu ihr, der Mutter hin bestand. Sie fühlte das Steife, Unnachgiebige der jungen Glieder. Sie fuhr fort:
„Hast Du schon Deinen Entschluß gefaßt, mein Kind? Willst Du lieber mit Deiner Mutter gehen, oder lieber bei Deinem Vater bleiben?“
Weinend erwiderte Dora:
„Ach, Mama, wenn wir doch alle drei zusammen bleiben könnten.“
„Du weißt ja, mein Kind,“ sagte Helene sanft, „daß das nicht möglich ist. Geliebtes Kind,“ fuhr sie nach kurzem Schweigen mit etwas zitternder Stimme fort, „ich will Dich nicht quälen. Ich weiß. Ich sehe. Aber um eines bitte ich Dich herzlich, mein Kind: Sag mir, weshalb Du Dich entschlossen hast, Deine Mutter zu verlassen?“
Und in der vollen, unbarmherzigen Aufrichtigkeit des Kindes erwiderte Dora:
„Weil Du Dir einen neuen Papa genommen hast. Papa hat sich keine neue Mama genommen.“
Wie in sich zusammengesunken stand Helene regungslos. Einen Augenblick schien es, als ob sie den[S. 186] Mund öffnen, auf die Worte ihres Kindes reagieren wollte. Dann drehte sie sich langsam um und verließ lautlos, wie in Gedanken das Zimmer.
Geängstigt blickte ihr Dora nach, aber sie rief nicht, sondern ließ ihre Mutter gehen. Sie wußte nicht, wohin dieselbe wollte, und wartete daher auf ihre Rückkehr, um Abschied zu nehmen. So saß sie wohl an zwei Stunden. Die javanische Dienerin im Vorzimmer schlief längst den Schlaf des Gerechten. Jetzt ging die Sonne unter. Es wurde dunkel. In ihrer Angst begann Dora zu weinen. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Denn daß sie ihre Mutter nie wiedersehen würde, wenn sie sie jetzt nicht noch einmal sähe, war ihr klar. Plötzlich ertönten laute Schritte draußen und Lamondt riß heftig die Tür auf. Mit einem „O, mein Kind!“ schloß er seine Tochter fest in die Arme. Es lag in diesen Worten die ganze Welt von Angst und Qual, die er in diesen Stunden um sein verloren geglaubtes Kleinod ausgestanden hatte.
Während dessen war Frau Savade aus den Pforten des Hotels hinausgewandert. Es lag wie ein Nebel auf der Welt, auf ihr, auf ihrem Denken. Nur durch diesen Nebel hindurch fühlte sie gleichsam wellenweise das ungeheure Weh, das sie soeben betroffen hatte.
Nachdem sie einige Zeit planlos das Europäer-Viertel durchwandert hatte, geriet sie in die javanische Vorstadt, wo diese zierlichen, sauberen Bambushäuschen aus Kokos, Areka und Bananen hervorlugen, Bilder des Friedens und der Anspruchslosigkeit.
Vor einer dieser Hütten blieb Frau Savade wie in Gedanken stehen. Die Türen des kleinen Hauses standen weit offen. Niemand war darin, auch niemand in der Nähe zu sehen, nur ein kleines Ding, das noch auf allen Vieren herumkroch, saß im Garten dicht am Rande des denselben durchfließenden Kanales.
Helene konstatierte dieses alles, als ob sie selber dabei interessiert wäre. Sie wunderte sich nicht einmal, daß sie jetzt in ihrem Schmerz Interesse für derartiges habe. Sie wurde immer nachdenklicher. „Auch dieses kleine Wurm,“ dachte sie, „hat eine Mutter. Auch diese Mutter wird ihr Kind lieben, wie eben Mütter ihre Kinder lieben, und doch macht ihr der Gedanke an das einsame Kind und den Kanal, in dem es jeden Augenblick ertrinken kann, sicher keine unruhige Minute. Mich aber würden diese Gedanken Tag und Nacht jagen und mich keinen Augenblick zur Ruhe kommen lassen. Mein Gott, sind denn alle diese Erlebnisse, diese Quälereien, diese Freuden nicht schließlich erst durch uns selbst geschaffen? Schließlich geht doch der Lebensfaden von uns allen nur geradehin von Geburt zum Tode. Und was alles machen wir daraus! — So will ich denn alles fahren lassen und mich in mich selber zurückziehen. Wenn ich mein Kind in Wahrheit liebe, was macht’s dann aus, ob es an der Seite des Vaters oder der Mutter gedeiht.“
Bei diesem Gedanken schien ihr Geist wieder in die Wirklichkeit zurückzuschnellen. „O!“ stöhnte sie leise.[S. 188] Jetzt erst fühlte sie klar und ungemildert die Größe des Schmerzes, den sie vorhin erlebt hatte. Den Kopf tief zur Erde gesenkt schritt sie vorwärts.
Mit der inneren Klarheit kam aber auch die Frage: Was nun tun? — Zu ihrem Manne zurückkehren? In seiner Liebe, seinem Vertrauen Ersatz für die verlorene Kindesliebe suchen? — Sie lächelte bitter. Sie dachte an Lamondts Brief. — Warten und nach einigen Jahren an ihr Kind noch mal die gleiche Frage richten? — Sie lächelte wieder. Diesmal hatte sie eine klare Antwort bekommen. Wenn dann auch die Erwachsene aus Pflichtgefühl mit ihr ging, vielleicht auch aus Mitleid, was hatte sie davon. Sie wollte Sicherheit, Wahrheit. Einen Augenblick durchzuckte sie auch der Gedanke: „Weshalb habe ich mein Kind damals hingegeben. Ich konnte nicht hoffen, es je wieder zu bekommen. Ich hätte bis zum letzten Atemzug wie eine Löwin darum kämpfen sollen.“ Aber gleich dachte sie: „Was sollte mir das Halbe. Ich wollte ja das Ganze. Ich wollte ein Kind, das mich in Wahrheit liebt. Ich wollte sicher sein, daß sie mich in Wahrheit liebt. Und jetzt! Und jetzt! Was ist jetzt sicher? Was ist jetzt wahr?“
Wie suchend ließ sie ihre Augen umherschweifen. Eine entsetzliche Angst überkam sie. Unwillkürlich schlug sie die Hände ineinander und weinerlich, fast wie ein Kind, begann sie:
„O Gott im Himmel! Ich weiß ja nicht, ob ich[S. 189] richtig bete, aber ich muß jetzt zu dir beten, ich muß ja! O hab’ doch Erbarmen mit mir Armseligen. Ich kann nicht mehr. Ich bin so müde. Gib mir doch nur ein wenig Ruhe.“ Sie legte den Kopf an einen Baumstamm und begann bitterlich zu weinen.
Als sie das Gesicht hob, traf ihr Auge gerade den nackten Sonnenball, der wie eine blutrote Kugel, von lodernden Wolkenfetzen umgeben auf der Erde stand. Er erschien ihr wie etwas Tröstendes und zugleich Drohendes. Starr blickte sie hinein. Plötzlich sagte sie: „In der Nähe von Utrecht liegt das Kloster zum Heiligen Herz. Die Ordnung ist streng, die Lage entzückend. Dort wird Ruhe sein.“
Sie ging schnell vorwärts, wie einer, der durch einen Entschluß gefaßter geworden ist.
In diesen Gegenden folgt die Dunkelheit fast unmittelbar dem versinkenden Sonnenball. Ehe sie zurück in das europäische Viertel kam, war es bereits ganz Nacht. Eben ging sie an einem javanischen Bambushäuschen vorbei. Gleich einem Kasten war es rings verschlossen. Nur durch einen Spalt in der Tür fiel ein Lichtschein. Aus dem Inneren aber tönten die Klänge des Gamelang, melancholisch, geheimnisvoll. Kein anderer Laut regte sich innen. Es war, als ob die ganze Hütte zu Musik geworden, ins Tönen geraten sei.
Helene blieb lauschend stehen. Sie hatte den Gamelang immer so gern gehört. Seine monotone[S. 190] Musik hatte etwas Beruhigendes. „Da sitzen sie jetzt,“ dachte sie, „und lauschen regungslos diesen Klängen. O, sie sind wie die Könige. Ein wunschloses Herz ist ein großes Ding.“ Lange stand sie in Gedanken. Endlich sagte sie leise: „Es ist so! Ich bin falsch gegangen.“
Auf der Brücke, die über den großen Kanal führt, blieb sie wieder stehen. Ihr Auge traf drüben eine Villa, in deren hell erleuchteten Räumen Leute sich bewegten. In diesem Moment fiel wieder ein Gedanke an Lamondts Villa und an ihr Kind in ihr Herz wie der Sonnenstrahl in das unbedeckte Auge. Sie zuckte körperlich zusammen. Ein Gefühl jener großen Öde überkam sie, die ein Mensch nicht ertragen kann. Heimlich, kühl kroch der Gedanke hoch: „Ich kann ja gar nicht mehr leben.“ Sie lehnte sich mit beiden Ellenbogen auf das Geländer, wie einer, der in Ruhe über etwas nachdenken will. Nach einiger Zeit bemerkte sie, daß sie das Wasser unter sich fixiere, das in der Dunkelheit als gleichmäßig schwarze Fläche dalag. Matt bis ins innerste Herz hinein dachte sie: „Der Weg bis zum Kloster zum Heiligen Herz ist weit. Sollte nicht da unten auch schon Sicherheit sein für mich? Aber was dann mit meiner Tochter? Wird sie nicht denken, sobald sie anfängt zu denken, daß ich in Verzweiflung fortgegangen bin? Wird sie nicht grübeln? Wird sie nicht über mein Schicksal jammern? Wird Lamondt dieses Grübeln nicht fühlen? Wird mein Tod nicht abermals ein Glück zerstören?“ Heftig schlug sie sich auf den Mund: „Schäm’ dich, Heuchlerin!“
Das verlöschende Feuer ihrer Energie flackerte noch einmal hoch auf. Es überkam sie wie eine machtvolle Sucht, vor sich selber die Probe auf die Wahrheit ihrer Gefühle abzulegen. Mit kräftigem Ruck schwang sie sich auf die breite Brüstung. Oben kam ihr der Gedanke: „Werde ich nicht sofort wieder hochtauchen?“ Das Wasser war ihr Element. Sie lächelte fast. „Die Probe aufs Exempel!“ sagte sie leise. Ihre Augen glänzten. Sie war ganz Leben. Mit der rechten Hand raffte sie fest die Kleider zusammen, so daß sie sich eng um die Füße schnürten. Mit der Linken fuhr sie tief in den Busen. So stürzte sie kopfüber hinab. Es war nicht jener schwere, plumpe Fall, sondern man meinte zu hören, wie der Körper den Wasserspiegel durchschnitt.
Als am nächsten Morgen die Leiche unterhalb antrieb, hielt die rechte Hand noch krampfhaft die Kleider umklammert. Die Nägel der Linken aber hatten sich so tief in die rechte Brust gegraben, daß sie nur mit Mühe zu lösen waren.
So starb Helene van Hoeven, weil sie die Wahrheit falsch gesucht hatte. Denn wer die Wahrheit im Bejahen, im Verlangen, im Zugreifen sucht, der sucht sie falsch. Wer sie aber so sucht, der gleicht dem Menschen, der das Messer bei der Schneide faßt: er verletzt nur sich selber.
iese Geschichte heißt auch „das Stundenglas“. Denn wie dieses mit der Breite einsetzt und die Spitze in der Mitte hat, so pflegten die Alten, wenn sie der Jugend diese Geschichte erzählten, mit der Breite einzusetzen und zum Anfang zuzuspitzen; und zwar so:
„So war nun die junge Königstochter des blinden alten Rishi Valmika Frau und lebte mit ihm in seiner Klause.“
Wenn dann die Jungen fragten: „Wie kam denn das?“ so antworteten sie:
„Weil sonst der alte Rishi die ganze Familie mit seinem Fluch getroffen hätte, zu Asche verbrannt.“
„Und wie kam das?“
„Weil die junge Prinzessin ihm die Augen ausgestochen hatte.“
„Und wie kam das?“
„Weil sie sie für glänzende Kiesel gehalten hatte.“
„Und wie kam das?“
„Weil sie so tief im Ameisenhaufen steckten.“
„Und wie kam das?“
„Weil die Ameisen einen Haufen über Valmika erbaut hatten.“
„Und wie kam das?“
„Weil er so lange regungslos in Selbstversenkung gesessen hatte.“
„Und wie kam das?“
„Weil er ein gewaltig großer Rishi war, ein mächtiger Rishi.“
Und wenn die Alten nun so bei der Spitze angekommen waren und die Jungen noch staunten, wie jemand ein so mächtiger Rishi werden könne, daß er mühelos ein ganzes Königshaus verfluchen könne, fuhren jene dann weiter fort:
Die Prinzessin lebte nun mit dem alten blinden Rishi Valmika mitten in einem großen Walde in einer Hütte; die unter einem gewaltigen Feigenbaume stand und bei der eine kleine, krystallklare Quelle vorbeifloß. Ging man aber mit dieser Quelle ein Stück mit, so wurde sie größer und größer und schließlich zu einem Wasserfall, unter dem der blinde Alte und sein junges Weib täglich badeten.
Frühmorgens, noch ehe die Sonne aufgegangen war, lernte die Königstochter vom Alten die Mantras[S. 194] dann ging sie in den Wald, um Wurzeln und Kräuter zu suchen, dann besorgte sie alle Arbeit im Hause und abends ging sie mit ihm zum Bade.
Eines Tages nun, als sie ihm die dürren, welken Glieder wusch, regte sich inniges Mitleid in ihr, und sie dachte:
„Ich will Indra bitten, daß er ihm die Jugend der Glieder und das Licht der Augen wiedergibt.“
Weil aber da, wo sich wirkliches Mitleid regt, Götter die Bitten erfüllen, so erfüllte Indra ihre Bitte und überall, wo sie ihn mit ihren Händen wusch, da wurde der Alte jung und voll und als sie ihm zuletzt die Augen wusch, da wurde er wieder sehend und beide standen und sahen einander an. Weil er aber ein großer Rishi war, so dachte er: „Es ist ein Weib; ich will mich nicht betören lassen“ und wendete sich ab.
Nun war aber die Königstochter gewohnt, gleich nach dem Alten zu baden. So stieg sie auch heute, nach ihrer Glaubenstat, in schicklicher Weise ins Bad.
Als Valmika aber hörte, daß sein Weib im Bade war, da überkam ihn die Neugierde. Verstohlen blickte er hin und sah die jungen Glieder und verfiel auf der Stelle in Liebe. Denn auch ein Rishi, wahrt er seine Sinne nicht, kann wohl in Liebe fallen.
Da er nun jung, sehend und verliebt geworden war, so ließ Valmika durch seine alte Rishi-Kraft die kleine Hütte aus Baumrinde, in der er bisher mit seinem Weibe gelebt hatte, verschwinden und an deren[S. 195] Stelle einen schönen Palast entstehen, in dem es von Dienern und Dienerinnen wimmelte und in dem Tag und Nacht Geigen und Flöten und zahllose andere Wohllaute tönten.
Hierbei aber hatte er jenen mächtigen alten Feigenbaum, unter welchem die kleine Hütte stand, gleichfalls vom Erdboden weggezaubert.
Als nun die Gottheit dieses Baumes, ihrer Behausung beraubt, nackt und hungrig, jammernd und wehklagend im Walde umherirrte, fragten die anderen Gottheiten nach dem Grunde ihres Schmerzes.
Als sie nun erzählt hatte, daß der Rishi Valmika, weil er sich in sein Weib, die junge Königstochter verliebt hätte, sie heimlos gemacht habe, da empfanden zwei Dämoninnen Mitleid mit der Gottheit dieses Feigenbaums und sagten: „Wir wollen Dir helfen, daß die ganze Herrlichkeit wieder dahinschwindet, so schnell wie sie gekommen ist.“
Von dem Tage ab lauerten sie auf Valmikas Weib, ob sie etwas an ihr fänden. Denn sie war vollkommen keusch und züchtig, weswegen es eben geschehen konnte, daß sie wahres Mitleid empfand; weswegen es eben geschehen konnte, daß Indra das Gebet für ihren Gemahl erhörte.
Als sie nun eines Tages ihr Bild im Wasser sah, dachte sie:
„Wie schön muß ich sein, daß ein so großer Rishi wie Valmika, alles vergißt und in Liebe an mir hängt.“
Sofort freilich kam ihr die Reue und die Furcht vor diesem schlechten Gedanken und sie versuchte, ihn schleunigst zu verneinen. Aber eine der beiden Dämoninnen, welche der Gottheit jenes Feigenbaumes ihre Hilfe versprochen hatte, hatte bereits die Rauhigkeit, welche sich mit diesem schlechten Gedanken am Herzen der jungen Königstochter gebildet hatte, benutzt, um ihre Krallen einzuschlagen. So kam es, daß sie, anstatt diesen schlechten Gedanken zu verneinen, ihn noch einmal bejahte. Und sofort krallte sich die andere Dämonin gleichfalls ein.
Weil sie nun damit Macht über sie bekommen hatten, gesellten sie sich zu ihr in Gestalt ihrer beiden Kammerfrauen, stiegen mit ihr ins Bad und kamen beide genau in der gleichen Gestalt wie die junge Königstochter heraus.
Als nun Valmika wie immer sein Weib nach dem Bade erwartete, trat sie ihm dreifach entgegen und jede der drei herzte und küßte ihn ebenso feurig, ebenso innig, ebenso ehrlich wie die beiden anderen.
Da merkte Valmika, daß er von Dämoninnen überlistet war und wollte sie durch seinen Zauberspruch zu Asche brennen, um so wieder zu seiner geliebten Gemahlin zu gelangen.
Als er aber seinen Spruch sprach, dem sonst nichts auf Erden widerstand, blieb alles unversehrt, ja die drei machten es nur noch ärger, indem jede von ihnen ihn unter den zärtlichsten Liebkosungen aufs inständigste bat, nur sie allein als sein echtes Weib anzusehen.
Als nun Valmika sah, daß er seine Rishi-Macht verloren habe und durch die Verdreifachung seines Glückes um all sein Glück gekommen sei, begann er bitterlich zu weinen und betete in seiner Not zu Indra, ihm zu helfen.
Da man nun zu jemandem, dem man einmal eine Wohltat erwiesen hat, immer Zuneigung hat, so war Indra wohl bereit, ihm beizustehen. „Aber,“ sagte er, „es gibt hier nur eine Hilfe: Daß Du mit Deinem Spruch jene beiden zu Asche brennst, das kannst Du nur, wenn Du Deine Rishi-Kraft wiederbekommst. Da Du sie aber durch die Liebe verloren hast, so kann ich sie Dir nicht wiedergeben; denn die Liebe steht auch über mir, dem Gott. So gibt es nur eine Hilfe für Dich: daß Du Deiner Liebe völlig entsagst. Dann wirst Du Deine alte Kraft wieder bekommen und jene beiden Dämoninnen durch Deinen Spruch zu Asche brennen. Daß Du aber Deiner Liebe völlig und für immer entsagt hast, dafür gibt es nur ein Zeichen: nämlich daß Dein Spruch wieder wirkt.“
Als Gott Indra ihm diesen Bescheid gegeben, wurde Valmika wohlgemut. Er dachte: „Hab’ ich nur erst jene beiden Unholdinnen verascht, die Liebe zu meinem Weib soll dann schon wiederkommen.“
So ging er in eine leere Klause, setzte sich kreuzbeinig zur Erde, schlug das Auge nach innen, die Hände ineinander und versuchte, alle Liebesgedanken für sein Weib, die in seinem Herzen lebten, im Denken auszutreiben.
So saß er Stunde für Stunde, Tag für Tag, ohne daß ein Erfolg sich zeigte.
In seiner Not betete er wieder zu Indra.
Der ließ sich noch einmal erbitten, und da Götter die gleiche Kraft haben wie gute Menschen — denn sie sind ja vor Zeiten gute Menschen gewesen —: die Kraft, in den Herzen anderer die Gedanken zu lesen, so sprach er zu dem betrübten Valmika:
„Freund, Dein Entsagen ist ja gar kein Entsagen. Du entsagst, um danach mehr zu gewinnen. Soll Deine alte Kraft wiederkommen, so mußt Du wirklich ehrlich, für immer entsagen.“
Da meinte Valmika traurig:
„Erhabener, was soll mir dann noch meine Rishi-Kraft?“
Indra aber erwiderte lachend:
„Freund, ich weiß es nicht. Da mußt Du einen anderen fragen.“
Und verschwand.
Da dachte Valmika:
„Kann ich mein Weib befreien, so kann ich sie nicht mehr lieben. Kann ich sie nicht befreien, so kann ich sie auch nicht lieben; denn ich kenne sie ja nicht. So wäre es am besten, ich risse diese Liebe ernsthaft aus meinem Herzen um meinetwillen.“
So ging er wieder mit Macht ans Meditieren. Aber immer, wenn er nahe am Ziel war, zerstörte ihm der Gedanke „Hab’ ich erst meinen Spruch und sind jene beiden verascht, wie will ich mein Weib umarmen!“ alles.
So saß er Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat in einem beständigen Hängen zwischen Lieben und Entsagen. Und weil er so unbeweglich saß, so begannen die Ameisen wieder über ihm zu bauen. Und heute sitzt Valmika wieder in seinem Ameisenhaufen so tief wie damals, als die Prinzessin ihm die Augen ausstach, weil sie sie in der Tiefe für glänzende Kiesel hielt.
Wenn die Alten so weit erzählt haben und die Jungen voll Neugierde fragen:
„Wird er denn immer so hängen?“ so antworten die Alten:
„Entsagt er wirklich, dann nicht; entsagt er nicht wirklich, dann ja.“
Sind aber die Frager schon verständiger, so fügen die Alten wohl etwas über das Buddha-Wort hinzu:
„Ist dieses, wird jenes; ist dieses nicht, wird jenes nicht.“
„Oder aber sie fügen etwas hinzu über das Unbefriedigende aller Lust und über den Segen des Entsagens. Aber, fügen sie meist hinzu, Entsagen ist hier eben Entsagen. Einem Weib entsagen, um es zu gewinnen, das ist kein Entsagen, und der Welt entsagen, um ewiges Leben zu gewinnen, das ist kein Entsagen. Darum übt Euch im Entsagen, dieser Welt wie jener Welt. Denkt wohl an das Wort des großen Lehrers: ‚Elend ist Sterben bei dem, in dem Verlangen ist.‘“
Das ist die Geschichte von Valmikas Hängen.
n Benares, nicht fern vom Gangesufer, saß eine Schar junger Brahmanen mit den Vorbereitungen zu einem großen Opfer beschäftigt. Zu diesem Zwecke hatten sie einen Kreis von Kuhdung um sich gezogen, den nichts Fremdes überschreiten durfte, sollte das ganze Opfer nicht vergeblich sein.
Als nun alles, nach langen Mühen, nach langem Warten der Vollendung sich näherte, als die ersten Zeichen sich einstellten, da geschah es eines Tages, daß nicht gar fern von ihnen der Diener eines weißen Sahib, eines Christen, mit einem Ball spielte. Und von ungefähr geschah es, daß der Ball in den heiligen Kreis jener jungen Brahmanen hineinflog, just als sie meinten, zur „Einigung“ zu kommen. Denn das ist es ja, warum überall geopfert wird: Um zu einer Einigung mit dem Göttlichen zu kommen.
Als jene nun durch diesen Zufall um ihre Sehnsucht und ihre Hoffnungen betrogen waren, stürzten sie wild auf den Diener jenes weißen Sahib, des Christen, los und würden ihn auf der Stelle getötet haben, wenn nicht auf sein Geschrei der Sahib selber herbeigeeilt wäre.
Als der nun jene jungen Brahmanen fragte, warum sie seinen Diener so übel behandelten, antworteten sie:
„Wir waren nach langen Opfermühen gerade im Begriff, zur Einigung mit der höchsten Weltseele zu kommen, da flog der Ball Deines Dieners in unseren heiligen Kreis und hat uns alles verdorben. Darum wollen wir diesen Menschen töten, eben wegen seiner Missetat.“
Da sagte der Sahib:
„Wißt Ihr denn, ob er es böswillig getan hat?“
„Das wissen wir freilich nicht. Trotzdem aber soll er sterben; denn er hat unsere Seelen geschädigt, und was soll es da für eine andere Strafe geben als den Tod?“
„Wißt Ihr nicht, daß das erste Gebot jeder Religion Mitleid ist?“
„Das erste Gebot jeder Religion ist Wahrheit gegen sich selber. Und die üben wir, wenn wir jenen töten. Im übrigen, wie kannst Du von Mitleid reden? Denn hat nicht Deine Religion mitleidlos verbrannt, was sich ihr widersetzte?“
„Wo es uns selber betrifft, da üben wir Mitleid. Wo aber Gott beleidigt wird, da strafen wir erbarmungslos.“
„Ebenso üben wir Mitleid, wo es uns selber betrifft. Wo aber unsere Seelen geschädigt werden, da strafen wir erbarmungslos.“
Indem jener weiße Sahib und jene jungen Brahmanen so miteinander stritten, kam ein buddhistischer Mönch des Wegs daher. Den beschlossen sie als Schiedsrichter zu wählen.
Als nun jede der beiden Parteien ihn den Streitfall vorgetragen hatte, sagte er zu den jungen Brahmanen:
„Kennt Ihr denn jene Weltseele, um derenwillen Ihr andere Wesen schädigen wollt?“
„Nein, wir selber kennen sie nicht, aber die Rishis lehren es und sie wissen mehr als wir.“
Darauf wandte sich der Mönch an den weißen Sahib, den Christen:
„Kennst Du jenen Gott, um dessenwillen Ihr andere Wesen schädigt?“
„Nein, ich selber kenne ihn nicht, aber es gibt Gott-erleuchtete Männer, die von ihm reden und schreiben.“
Auf diese Antworten hin verharrte der Mönch ein Weilchen schweigend. Dann zu den Brahmanen:
„Solange Ihr das nicht kennt, an dem Ihr geschädigt zu sein vermeint, habt Ihr kein Recht, diesen Menschen zu töten.“
Und zu dem Sahib:
„Solange Du den Gott, dessen Hoheit Ihr Christen durch Scheiterhaufen retten wollt, nicht kennst, hast Du kein Recht, Deinen Diener zu schützen. Denn diese Brahmanen tun nichts als was Ihr Christen stets getan habt und stets tun würdet, falls Ihr die Macht dazu hättet.“
Und zu beiden:
„So laßt einstweilen die Sache in der Schwebe, solange bis Ihr beide das kennt, warum Ihr streitet. Habt Ihr es aber erkannt, so kommt wieder zu mir, und ich will Euren Fall schlichten.“
Verlag von Walter Markgraf, Breslau VIII.
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Erster Aufsatz: Was ist Weltanschauung und ist sie notwendig? — Zweiter Aufsatz: Glaube und Weltanschauung. — Dritter Aufsatz: Wissenschaft und Weltanschauung. — Vierter Aufsatz: Zur Einführung in die Gedankenwelt des Buddha Gotama. — Fünfter Aufsatz: Der Buddhismus als Weltanschauung. — Sechster Aufsatz: Der Buddhismus als Arbeitshypothese. — Siebenter Aufsatz: Der Buddhismus und das Problem der Physik. — Achter Aufsatz: Der Buddhismus und das Problem der Physiologie. — Neunter Aufsatz: Der Buddhismus und Problem der Biologie. — Zehnter Aufsatz: Der Buddhismus und das Problem der Kosmologie. — Elfter Aufsatz: Der Buddhismus und das Problem des Denkens. — Abschluß.
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