Anmerkungen zur Transkription
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Die Überschrift des 1. Kapitels (‚Deutsche Auswanderer im Atlantik‘) fehlt im Original und wurde vom Bearbeiter anhand des Inhaltsverzeichnisses eingefügt. Das Original wurde in einer Frakturschrift gedruckt, in welcher die Großbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ nicht unterscheidbar sind; dementsprechend wurden im Register Begriffe mit diesen Anfangsbuchstaben gemeinsam aufgeführt. In der vorliegenden Ausgabe wurden, den heutigen Gewohnheiten entsprechend, die Begriffe den Anfangsbuchstaben gemäß getrennt angegeben.
Einige Abbildungen wurden zwischen die Absätze verschoben und zum Teil sinngemäß gruppiert, um den Textfluss nicht zu beeinträchtigen.
Passagen in Antiquaschrift werden im vorliegenden Text kursiv dargestellt. Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original gesperrt gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt erscheinen.
Die Übersichtskarte am Anfang sowie die Sonderkarte am Ende des Buches wurden der Übersichtlichkeit halber in vergrößerten Ausschnitten nochmals wiedergegeben.
Das Umschlagbild wurde vom Bearbeiter auf Grundlage des Original-Einbandes geschaffen und in die Public Domain eingebracht. Ein Urheberrecht wird nicht geltend gemacht. Das Bild darf von jedermann unbeschränkt genutzt werden.
COLIN ROSS
MIT 54 ABBILDUNGEN
UND 2 KARTEN
LEIPZIG, F · A · BROCKHAUS
1922
Copyright 1922 by F. A. Brockhaus, Leipzig.
Der Wunsch, Pionierdienste zu leisten, Neuland zu finden, mitzuhelfen, Brot und Lebensmöglichkeiten für die Tausende zu erschließen, denen Krieg und Revolution sie genommen, war die Triebfeder zu dieser Reise. Vielleicht auch ein wenig Müdigkeit und Enttäuschung, daß nach furchtbarer seelischer und körperlicher Aufregung und Anstrengung während vier Kriegsjahren auch die Revolution fast alle Blütenträume welken ließ, die reiner Enthusiasmus nach ihrem Aufflammen von ihr erhofft hatte.
Neue Ufer! Zweimaliger Besuch in den Vereinigten Staaten und in Mexiko in der Vorkriegszeit hatte gelehrt, daß die Neue Welt längst im gleichen Pulsschlag mit der Alten Welt lebte und daß die unbegrenzten Möglichkeiten einer Begrenzung entgegengingen, die auch ohne Teilnahme am Weltkrieg schwere soziale Erschütterungen im Gefolge haben mußte. Aber Südamerika, Brasilien, Argentinien, Chile: mußte nicht hier Neuland in unbegrenzter Ausdehnung sein? Lockte nicht an diesen Ufern ein neuer Tag?
Der erste Eindruck überwältigte. Fülle, Reichtum, Gedeihen, unbegrenzte Möglichkeiten und scheinbare Unberührtheit von all den Problemen, die die Alte Welt[S. 4] zerfleischen. Es war ein Irrtum. Je länger man in diesem Kontinent reist, desto mehr wird man durchdrungen von der Einheit der Menschheit von heute. Gewiß, man kann sich auf eine weltferne Estancia setzen, man kann sich in ein unbekanntes Kordillerennest flüchten, aber das Bibelwort bleibt bestehn: „Und flöhe ich an die äußersten Meere....“
Gewiß, es gibt hier noch unbestellten wertvollen Ackerboden, königreichgroß. Es gibt noch unabgeholzte Wälder von unermeßlichem Wert. Es gibt Mineralschätze in unbegrenzter Menge. Es gibt Möglichkeiten, industrieller, kaufmännischer, selbst künstlerischer und literarischer Art, wie sie die Alte Welt nicht bietet. Sicher kann der Gewandte, der Energische, der Skrupellose raschen Reichtum erwerben. Aber neue Ufer, ein neuer Tag?
Fast scheinen sich die Verhältnisse zu verschieben, wie sich im Süden die Sternbilder am Himmel umkehren, und die Alte Welt erscheint als die neue, die Neue die alte. Wer an den politischen und wirtschaftlichen und sozialen Formen hängt, die Krieg und Revolution gewandelt, wird in der Neuen Welt noch alles finden, dem er nachtrauert. In Südamerika gibt es noch herrschende, bevorzugte Klassen, dort gibt es noch den Herrn-im-Hause-Standpunkt und gibt es rücksichtslose Ausbeutung wirtschaftlich Schwacher.
Aber genau wie die politischen Ideen der großen Französischen Revolution einst den Atlantik übersprangen und in Südamerika zum Freiheitskampf und zur Abschüttelung der spanischen Herrschaft führten, genau so dringen jetzt die sozialen Ideen des Abendlands bis in die fernste[S. 5] Pampa und bis in das verborgenste Indianerdorf, trotz aller Absperrungsversuche, trotz aller „leyes de residencia“, trotz aller Bemühungen, „bolschewistische Elemente“ fernzuhalten.
Eine große Gefahr bedroht diesen Kontinent, der so überreich ist an Schätzen, daß jeder einzelne seiner Bewohner ein sorgenloses Leben führen könnte. Wie damals die Abschüttelung des spanischen Jochs unter dem Einfluß der Ideen der Französischen Revolution jahre- und jahrzehntelange Unruhen, Chaos und Anarchie in jenen Ländern zur Folge hatte, die für „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ noch in keiner Weise reif waren, genau so liegt heute die Gefahr vor, daß sich die soziale Entwicklung überschlägt. Es handelt sich zu einem großen Teil um Volkselemente, die weder lesen noch schreiben können, um Indianer und Halbindianer, um wirtschaftlich und sozial unterdrückte Klassen, die bisher in einer Art patriarchalischer Abhängigkeit, ja in halber Leibeigenschaft gehalten wurden. Rationale Momente und Rassengefühle wirken mit.
Eine täglich wachsende, in Ländern natürlichen Überflusses doppelt verbitternd wirkende Teuerung kann den Anstoß geben zu einem plötzlichen Ausbruch sozialer Erschütterungen, die sonst unwahrscheinlich erscheinen mögen. Überall dasselbe: Streik in Argentinien, Streik in Chile, Streik in Bolivien. Auch dieses letztere Land, in dem bisher eine kleine, weiße Herrenschicht fast unumschränkt über die indianische Urbevölkerung herrschte, hat sich vor wenigen Monaten genötigt gesehen, Paßzwang einzuführen, und wenige Tage nach meiner Ankunft in seiner[S. 6] Hauptstadt La Paz brach der Streik der staatlichen Telegraphenbeamten aus.
Wetterleuchten! Vielleicht ist das Unwetter, das Europa durchtobt, hier noch fern, jahrzehntefern. Vielleicht helfen hier der natürliche Reichtum, die geringe Bevölkerungsdichte soziale Probleme überwinden, unter denen das Abendland konvulsivisch zuckt. Vielleicht auch bricht hier der Sturm doppelt furchtbar los. Es gibt Beispiele in Südamerika. Der Boden ist blutgetränkt.
Es ist schwer zu prophezeien, schwer zu raten. Schätze liegen brach. Aber wer sie heben will, darf nicht vergessen, daß er in Länder des Hochkapitalismus kommt. Eigenes Kapital ist das A und das O. Soziale Gesetzgebung, soziale Fürsorge gibt es nicht, oder sie stecken in den Kinderschuhen. Jeder steht allein da und ist nur auf sich selbst angewiesen. Aber auf das Heute kann ein ganz anderes Morgen folgen.
Unweit von La Paz liegt in Tiahuanacu eine uralte Stätte menschlicher Kultur, eine Weltstadt, die nach der Sage vor mehr als zehn Jahrtausenden blühte. Kulturen blühen und vergehen. Aus alten Kontinenten wandeln sich neue, und neue werden alt. Vielen mögen die neuen Ufer die neue Heimat werden, den neuen Tag aber wird nur erleben, wer ihn in seinem Herzen bereitet.
Berlin, März 1922.
Colin Roß.
Seite
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Vorwort | ||
Über den Atlantik. | ||
1.
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Deutsche Auswanderer im Atlantik | |
2.
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Längs der Küste Brasiliens | |
3.
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Das unbekannte gelobte Land | |
Argentinien. | ||
4.
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Die Stadt am La Plata | |
5.
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Einwanderung nach Argentinien | |
6.
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Die Landfrage | |
7.
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Die großen Estancien | |
8.
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Sigue Vaca! | |
9.
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Deutsche Kolonien in Santa Fé | |
10.
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Heißes Land | |
11.
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Gespräch über Deutschland mit dem Präsidenten der Argentinischen Republik | |
12.
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Nach Patagonien | |
13.
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Die Metropole des Südens | |
14.
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Deutsche Seeleute in Südamerika | |
15.
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Die Insel im Rio Negro | |
16.
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Zwischenspiel | |
17.
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Das Land der Kanäle | |
[S. 8]
18.
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Ritt durch Neuquen | |
19.
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Zukunftsland | |
20.
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Deutsche Siedler in argentinischer Wildnis | |
21.
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Auf dem Cayuncohochland | |
Chile. | ||
22.
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Über die Kordillere | |
23.
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Das Paradies am Pazifik | |
24.
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Chilenische Präsidentenwahl | |
25.
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Chiles deutscher Süden | |
26.
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Llanquihue und Magallanes | |
27.
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Copihue | |
28.
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Längs der Küste nach Nordchile | |
29.
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Die Salpeterstadt | |
30.
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La Pampa Salitrera | |
31.
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Oficina | |
32.
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Pampinos | |
33.
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Unter Vulkanen | |
Bolivien. | ||
34.
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Das Land Bolivars | |
35.
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Markt in La Paz | |
36.
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Gebirgsreise in Bolivien | |
37.
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An einem Tag aus Nordland in die Tropen | |
38.
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Was die Yungas erzeugen | |
39.
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Eine Yungasfinca | |
40.
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Der Gastfreund | |
41.
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Auf einer Zuckerrohrplantage | |
42.
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Weg im Fluß | |
43.
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Die Seele des Indio | |
44.
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Indianerwallfahrt | |
[S. 9]
45.
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Indianeraufstand | |
46.
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Der amerikanische Himalaja | |
47.
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Mazamorra | |
Uruguay. | ||
48.
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Karneval in Montevideo | |
49.
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Quer durch Uruguay | |
Brasilien. | ||
50.
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Abend in Santa Anna | |
51.
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Deutschbrasilianer | |
52.
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Kolonisten und Kolonien in Rio Grande | |
53.
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Kolonisten im Urwald | |
54.
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Schirachs Erfolg | |
55.
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Brasilianische Landgesellschaften | |
56.
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Fahrt auf dem Iguassu | |
57.
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Auf brasilianischer Bundeskolonie | |
58.
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Kaffeefazendas | |
59.
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Die Großstadt der Tropen | |
60.
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Die Blumeninsel | |
Register |
Abbildungen.
Seite
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La Paz, mit dem Illimani im Hintergrund | |
Siedlung in Patagonien | |
Lehmrancho | |
Patagonische Landschaft | |
Ansiedlerfrau | |
Wappen von Argentinien | |
Das Tal des Rio Cayunco | |
Inkasee | |
[S. 10] Plaza de la Independencia in Santiago | |
Bergarbeiterheim | |
Salpeteroficina | |
Am Fuße des Vulkans Ollague | |
Bergarbeiterhütten in der Kordillere | |
Arbeit in der Mine | |
Freundliche Marktweiber | |
Lamaherde | |
Ein Säugling zu Pferd | |
In einer bolivianischen Posada | |
Hörige Indianerinnen im Cocal | |
Weg im Fluß | |
Prähistorische Mumien vom Andenhochland | |
Bolivianischer Friedhof | |
Wappen von Chile | |
Allerseelen auf dem Friedhof | |
Indianische Wasserträgerin | |
Musikanten in Copacabana | |
Indianertanz | |
Copacabana am Titicacasee | |
Kirche auf dem Ruinenfeld von Tiahuanacu | |
Die heilige Jungfrau vom See in Copacabana | |
Ein frischer Trunk | |
Bepackter Hochlandsesel | |
Wappen von Bolivien | |
Indianerprozession in Copacabana. Nach einer von Jakob v. Tschudi veröffentlichten Zeichnung eines Indianers | |
Eingeborene vom Rio Beni | |
Indianerin am Webstuhl | |
Millunisee mit Huaina Potosi | |
Gipfelgrat des Huaina Potosi | |
Am Fuße der Eiswand des Huaina Potosi | |
[S. 11] Westwand des Illampu | |
Indianerdorf in der Puna | |
Nordostflanke des Illimani | |
Bergwerk in der bolivianischen Kordillere | |
Mazamorra | |
Der Morro bei Arica | |
Südbrasilianische Kolonisten | |
Wappen von Uruguay | |
Wappen von Brasilien | |
Deutsche Siedlung in Brasilien | |
Maispflanzung | |
Die ersten Anfänge einer Siedlung | |
Bai von Rio de Janeiro, vom Gipfel des Corcovado aus | |
Auf dem Marsch durch den Urwald | |
Blumeninsel bei Rio de Janeiro | |
Übersichtskarte von Südamerika | |
Sonderkarte |
Umschlag und Einbanddecke sind von Maler Kurt Eduard Beck in Leipzig nach Motiven gezeichnet, die aus dem von Professor Dr. Posnansky geleiteten Museum in La Paz stammen. Die Figur in der Mitte des Umschlags ist Pachaimama, die Mondmutter. Die Figur auf dem Einband ist dem uralten monolithischen Sonnentor von Tiahuanacu entnommen.
*
An Bord S. S. Frisia in Höhe von St. Pauls Rock.
Ohne die Flügel zu rühren, einem Kampfeindecker gleich, zog der erste landkündende Albatros seine Kreise über dem Schiff. Dann stachen schwarze Zacken aus dem horizontweiten Blau: St. Pauls Rock. Seit Tagen, seit wir die Kapverdischen Inseln passiert, das erste Land. Land? Ein Fels, eine Felsnadel! Mitten im Ozean steigt sie senkrecht aus kilometertiefer See.
Schnurgerade hält der Dampfer auf die Nadel zu, als wolle er sie rammen. Im letzten Augenblick biegt er fast im rechten Winkel ab. Eine Rakete steigt zischend hoch, gleichzeitig heult die Dampfsirene. Schwärme von Wasservögeln schwirren auf.
An der Reling drängen sich die Fahrgäste. Einer erzählt: „Dutzende von Schiffen stranden jedes Jahr an dem Fels.“ Ein anderer: „Bei den Möwen haust ein alter Mann mit seiner Tochter.“
Wer bereits mehr als vierzehn Tage auf menschenüberladenem Schiff fahren mußte, dem erscheint solch Los fast beneidenswert. Drangvolle Enge in allen Klassen,[S. 16] das letzte Plätzchen besetzt. Gute Konjunktur für den Holländischen Lloyd. Unten im Zwischendeck aber stauen sich Männer, Frauen und Kinder, fast Leib an Leib. Wie in einen Ameisenhaufen sieht man vom Kajütsdeck hinunter. Blonde Köpfe, deutsche Gesichter, deutsche Laute. Das rückwärtige Zwischendeck ist fast ganz von Deutschen besetzt. Mancher ist darunter, der vor dem Krieg erster Klasse fuhr. Heute fahren in der ersten Klasse neben den Ausländern fast nur solche Deutsche, die ein Auslandsguthaben von dem Jammer der deutschen Valuta unabhängig macht. Ja, wir sind arm geworden.
Immer wieder kommen mir die alten Verse in den Sinn. Das Rad der Weltgeschichte ist zurückgedreht. Wir exportieren wieder Menschen. Man könnte meinen, in die vierziger und fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückversetzt zu sein, in denen der breite Strom deutscher Auswanderer über den Ozean zog, um mit seinem Blut und Schweiß fremde Kulturen zu düngen.
Die Möwen bleiben zurück. Langsam verdämmert der einsame Fels. Entschlossene, sehnsüchtige, zukunftsbange Blicke hängen daran. Manch einer wird in der Woge fremden Volkstums, dessen Art und Sprache er nicht kennt, einsam sein, wie der imaginäre Alte auf dem Riff. All die ehemaligen Offiziere und Seeleute, all die wurzellos gewordene Intelligenz, sie sollen jetzt mit ihren körperliche Arbeit ungewohnten Händen die Konkurrenz mit den auf primitiver Kulturstufe stehenden italienischen und spanischen Auswanderern und Saisonarbeitern aufnehmen.
Die alten, erfahrenen Argentinier und Brasilianer, die jetzt in ihre überseeische Heimat zurückkehren, schütteln den Kopf: „Wer durchhält, mag vorankommen, aber neunzig Prozent von dem, was jetzt hinüberfährt, geht zugrunde.“
Die auf das fremde Land, als auf die letzte Karte, alles gesetzt haben, lassen sich nicht irremachen. „So schlecht wird es nicht sein; zum mindesten: wir werden unter den restlichen zehn Prozent sein.“
Sie lassen sich nicht unterkriegen. Heute schon gar nicht. Heute geht’s über den Äquator. Taufe gibt es nicht mehr. Sie paßt auch nicht mehr in unsere Zeiten. Und dann, die zahllosen fremden Nationen, die auf dem Schiff fahren! Die Gelegenheit zu Reibungen wäre zu groß. Aber seine eigene Feier läßt sich das Zwischendeck nicht nehmen.
Die scharfe Linie, die Meer und Himmel schied, ist verschwunden. Das Auge sieht in eine einzige, fast greifbare Finsternis. Nur die weißen Schaumkronen, die der Bug des Schiffes aufreißt, leuchten in gespenstiger Blässe über den schwarzen Wellen.
Aus dem Zwischendeck tönen Geigen und Mandolinen. Unter dem Sonnensegel brütet noch die Hitze des Tages. Um die kleine, improvisierte Bühne ist eine Reihe Liegestühle aufgestellt: die vornehmen Parkettplätze. Dahinter sieht man in dem ungewissen Licht der wenigen elektrischen Lampen nur eine ununterscheidbare Menge von Köpfen. Ein groteskes Bild.
Ein Wiener Vorstadtsänger macht den Conférencier. Ein U-Bootkommandant hält die Äquatorrede. Dann wechseln Vorträge, Kuplets und Mimik. Und unermüdlich[S. 18] fiedelt die ad hoc zusammengestellte Kapelle. Ohne Proben, ohne Noten spielt sie, was Conférencier und Vortragende verlangen. Ein ungarischer Zigeuner macht den Kapellmeister. Die brennende Zigarre kommt ihm nicht aus dem Munde, während er mit Verve den Bogen führt und mit dem ganzen Körper den Takt angibt. Neben ihm geigen brav und ernst die eben erst aus dem Kadettenkorps ausgetretenen Söhne der adligen Offizierswitwe, die in Deutschland Hab und Gut verkaufte, um in Paraguay für sich und ihre Jungen eine neue Existenz zu suchen. „Was soll ich anders tun,“ meint sie, „seit Jahrhunderten gab es in meiner und meines Mannes Familie nur Offiziere.“
Ein neuer Redner ist auf das Podium getreten. Das Lachen und Scherzen ist verstummt. In lautlose Stille fallen die Worte: „Wir wollen die Heimat im Herzen tragen, immer und immer.“ Dann fiedeln die Geigen: „Muß i denn, muß i denn...“ und „In der Heimat, in der Heimat...“ Eine Saite reißt und gibt wehen Klang.
Auf dem Achterdeck ist Ball der Kajütspassagiere. Vorn im Schatten des Windsegels stellen die fünf französischen Kokotten bei Sekt plastische Gruppen mit ein paar internationalen Schiebergestalten, die zwischen Argentinien und Deutschland hin- und herfahren wie unsere kleinen deutschen Schieber zwischen Köln und Berlin. Die andere Seite des Tanzplatzes säumen die Portugiesen und Spanier, dann kommen die Deutschen, und ganz hinten am Heck sitzen steif und aufrecht, gleich Vögeln auf einer Stange, vier belgische Schwestern; ihnen gegenüber lehnt unbeweglich an der Reling die schlanke Asketengestalt eines portugiesischen Priesters.
Dazwischen wird getanzt: Tango, Onestep, Foxtrott. „Lulu, Lulu!“ tönt es von den Sekttischen, und Lulu tanzt. Das seidendünne, meergrüne Fähnchen reicht knapp bis zum Knie. Weiß leuchten die nackten Arme und florbestrumpften Beine.
Ich pendle zwischen der höllischen und himmlischen Seite hin und her. Wie die hochzischende Rakete anzeigt, daß wir die Linie passieren, plaudere ich gerade mit den Schwestern. „Ein doppeltes Fest“, meint die Blasse, Sanfte.... „Wieso?“ — „Nun, Äquatorüberschreitung und Jahrestag des Waffenstillstandes.“ — „Den feiern wir nicht.“ Ein Abgrund tut sich auf zwischen mir und den sanften Schwestern. Brüsk wende ich mich ab.
Richtig, heut ist der elfte. Ein Jahr liegt das zurück. Nein, ein Jahrhundert, eine unmeßbare Zeit! Wie mag es in Deutschland aussehen? Wie ist dort der Neunte verlaufen? Keine Nachricht dringt zu uns. Die englischen Funksprüche wissen nur von Fußballwettspielen zu erzählen, von dem Besuch des spanischen Königs in England und des Prinzen von Wales in Kanada, von dem Flug des Basutohäuptlings über die City, aber nichts von Deutschland, höchstens daß der hohe Rat der Alliierten beschlossen, daß wir die bei Scapa Flow versenkten Schiffe ersetzen sollen.
Noch immer tanzt Lulu. Die Treppe herauf schiebt sich die Fettmasse des Levantiners, der sich immer im Zwischendeck herumtreibt und wie ein Mädchenhändler aussieht. Plötzlich bricht der Tanz ab. Die Paare drängen an die Reling. Lulu gleitet und fällt dem Levantiner in die Arme. Am Horizont loht eine Flamme auf. Ein Leucht[S. 20]zeichen? Ein brennendes Schiff? Erst langsam erkennt man. Es ist der Mond. Wie Blut und Feuer hebt sich seine volle Scheibe über die schwarze See.
Der Tanz geht weiter. Die Stewards bringen neuen Sekt. Abgerissene Strophen wehen über Deck. Worte in allen Sprachen: „Dis donc, quand... Zweihundert Prozent... terenos... I bet you...“ Nur das Zwischendeck ist leer und still. Die Schiffsordnung hat alle unter Deck gejagt. In der schwülen, brütenden Hitze liegen hier schweißgebadet Hunderte von Männern und Frauen, enggeschichtet auf Stellagen neben- und übereinander. Fanatische Hoffnung auf bessere Zukunft läßt sie alles ertragen. Was wird sich erfüllen?
Das Firmament hat sich aufgeklärt. Ein neuer Sternenhimmel wölbt sich über uns, beängstigend in seiner strahlenden Fremdheit. Eine neue Welt, ein neues Leben für jeden, der jetzt die alte Heimat verläßt. Er steht allein. Wird ihn das machtlos gewordene Vaterland schützen können? Nur allein in seiner eigenen Brust ruhen seines Schicksals Wurzeln.
Ich suche in den Sternen zu lesen. Wie ihr Widerschein funkelt es im Kielwasser des Schiffes. Meeresleuchten! Von der Schraube hochgewirbelt steigen leuchtende Ballen an die Oberfläche, glühen auf und erlöschen wieder: Unsere Hoffnungen, unsere Wünsche, unser Leben!
An Bord S. S. Frisia, Bahia.
Ehe noch der Dampfer den ersten amerikanischen Hafen anlief, wurde die Tote, die die Grippe im Zwischendeck gefordert, ins Meer versenkt. Es gab kein großes Aufheben, kaum daß der Dampfer einen Augenblick stoppte. Ein Geistlicher und ein Schiffsoffizier. Nur die alte verkümmerte Frau im blauen Umschlagtuch, die immer neben dem Mädchen in dem billigen Liegestuhl lag, stand noch dabei und starrte aufs Meer. Es war zwei Uhr nachts, als die Leiche auf dem Wasser aufschlug.
„Armes, ausgehungertes Volk!“ meinte am nächsten Morgen der argentinische Reisende auf der Reede von Pernambuco, „auf jeder Reise sterben ein paar.“ Mitleidig zuckte er die Achseln und ging nach dem Heck, wo gerade der dicke Holländer die Haiangel richtete. Ein Haufen Fahrgäste sah neugierig zu, wie er ein mächtiges Stück Fleisch an dem starken Eisenhaken befestigte. Kaum konnte der Steward sich durchwinden, der den Eimer mit den morgendlichen Brot- und Speiseresten über Bord schüttete. Man hat sich mit der Zeit ja daran gewöhnt, allein es gibt einem doch immer wieder einen Stich. Wie viele Menschen könnten in Deutschland davon leben!
Eine Regenböe fegte über Deck und färbte das Wasser schwarz. Weiß gischtete an der Mole die Brandung hoch. Mühsam kämpfte sich das Boot mit Arzt und Hafen[S. 22]kommandant hindurch. Drei Reisende stiegen ein, einer aus; Ladung wurde weder genommen noch gelöscht. Lohnte das Anlegen überhaupt? Der junge Deutsche, der auf seine Baumwollpflanzung in Parahyba fuhr, nannte es einen Wechsel auf die Zukunft. Stadt und Hafen stünde eine rasche Entwicklung bevor.
Wir fuhren weiter, ohne die Haie, die uns der Holländer versprochen. Dafür sahen wir am Nachmittag Wale. Wir mußten in eine ganze Herde hineingeraten sein; denn stundenlang sah man rings um das Schiff die breiten schwarzen Rücken auftauchen und das Wasser in Fontänen hochsprudeln. Wie mit Pastellfarben war dahinter die ferne Küste an den Horizont hingehaucht.
Am nächsten Abend liefen wir Bahia an. Eine flimmernde lichterfunkelnde Wand, baute sich über der tiefschwarzen Bucht die Stadt auf, in deren Gärten die köstlichsten Früchte des früchtereichen Landes wachsen, in deren Straßen aber Fieber und Seuchen nie erlöschen. Einer zähflüssigen Masse von Öl und Teer gleich, schien sich das träge flutende Wasser um den Schiffskörper zu legen. Langsam und immer langsamer fuhren wir, bis die Maschine stoppte und die Ankerketten rasselten.
Wie wir jetzt hielten, streckte die Stadt, die wie im Fieber zu uns herüberglühte, ihre feuchtwarme Hand über die Bai und sandte uns einen Atemzug schwüler, heißer Luft. Wir Nordländer lagen nach Kühlung lechzend an Deck; im Speisesaal aber, dessen dumpfe Luft wie glühender Brodem durch die Deckfenster hochstieg, saßen unangefochten von der Hitze die Brasilianer beisammen. Lachen, Singen, Gläserklingen, dazwischen Reden und[S. 23] immer wieder Reden. Die Brasilianer feierten den Quinze de Novembro, den Gedenktag der Ausrufung ihrer Republik. Durch die Fenster trinken sie uns zu. Gleich den Portugiesen haben sie uns vom ersten Tag an keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie gegen Deutschland und gegen die Deutschen keinerlei Haß fühlten, sondern mit ihnen in der Abneigung gegen Engländer und Yankees durchaus einig waren.
„Aber euere Teilnahme am Krieg?“
„Nun, das war eine Sache, mit der die Völker nichts zu tun hatten, ein Geschäft, das einige unserer Politiker mit England und den Vereinigten Staaten machten.“
Die Brasilianer sind wie alle Lateinamerikaner eine höfliche Nation, und man wird auf Stimmungen und Meinungen einiger Mitreisender kein allzu großes Gewicht legen dürfen; aber auch die Deutschbrasilianer auf dem Schiff hatten nur günstige Nachrichten.
Die Zahl der Deutschen, die Rio oder Santos zum Ziel haben, ist nicht klein. Einstweilen sind es nur Rückwanderer, die Besitz oder Stellung drüben haben. Aber neue Einwanderer werden folgen. Und der Kaffeepflanzer aus Santos, mit dem ich über die Aussichten sprach, meinte, der fruchtbare Süden biete auch den Kapitallosen gute Möglichkeiten zu raschem Aufstieg.
Ja, fruchtbar muß dieses Land sein. Als am nächsten Morgen die gelbe Quarantäneflagge am Fockmast niederging, wimmelte es rings um das Schiff von Booten, überladen mit Früchten: Bananen, rot und gelb, in dichten Trauben, und dreimal so groß wie jene kümmerlichen Früchte, die jetzt in Deutschland verkauft werden. Orangen,[S. 24] noch grün oder nur mit leichtem gelben Anflug — es ist hier ja erst Frühling —, aber faustgroß und größer Kokosnüsse und Ananas.
Zwischendeck und Kajüte kaufen und kaufen. Korb um Korb wird hochgezogen. Bald sieht es zwischen den Ladebäumen aus wie ein Fruchtladen. Die Hauptmannsfrau sitzt mit ihren drei Kindern inmitten von Bananen und Ananas. Der Wiener Komiker kommt die Arme voll Orangen von der Reling. Ein anderer schleppt Ananas in Büscheln. Hier trinkt einer eine Kokosnuß aus, und dort schiebt in stummem Staunen ein dreijähriger Blondkopf mit heiligem Ernst eine Banane in den Mund.
Allein die reiche, bunte Fülle will nicht recht zu den ärmlichen, blassen und schmalen Gesichtern passen. Wie anders sehen die strotzenden Bronzeleiber der Neger in den Booten aus, deren glänzende Haut über straff gespannten Muskeln Früchten gleich durch die zerrissenen weißen Hemden leuchtet.
Sie haben auch keinen Anteil an der Fülle dieser reichen Welt, mögen die deutschen Zwischendecker in der ersten Freude noch so sehr über ihre Verhältnisse kaufen. Sind die süßen Schätze auch spottbillig, für uns macht die Valuta sie teuer. Solange diese sich nicht ändert, bleiben wir Parias, ausgeschlossen von den Schätzen der Erde.
Die Valuta ist das große Problem, nicht nur der Sorge, sondern auch der Spekulation. Kaum sind die ersten Zeitungen an Bord, so sitzen sämtliche Herren über dem Studium der Kurse. Eine erregte Debatte entspinnt sich und eine komplizierte Rechnerei. Wie stand der[S. 25] Milreis im Frieden? Wie jetzt? Wo und wann kauft man am besten? Wie steht der Dollar, das Pfund Sterling, der Frank und die Lira? Sie haben alle im Verhältnis zur Vorkriegszeit keinen besonderen Stand gegenüber dem Milreis Brasiliens. Die Valuta dieser südamerikanischen Staaten, die man bei uns vor dem Kriege gern nicht für voll nahm, ist gewaltig in die Höhe geschnellt. Wird das bleiben? Stehen wir hier am Anfang einer Entwicklung, wie sie die Vereinigten Staaten durchliefen?
Lustig flattert über unsern Köpfen die Flagge Brasiliens mit der gelben Weltkugel im grünen Feld. Ein wenig phantastisch scheint sie und ein wenig anmaßend, aber vielleicht ist sie nur prophetisch. Wochenlang fahren wir an der Küste dieses Landes entlang, von dem kaum erst der zehnte Teil der Kultur erschlossen ist.
In unser Gespräch tönt das Rasseln des Dampfkranes. Die farbigen Gentlemen der hiesigen Lloydagentur lassen krachend die Kisten in die Leichter hinunterpoltern.
„Donnerwetter, das sind doch meine Kisten“ — der ehemalige Flieger springt plötzlich auf. Er nimmt sein Geld in Form von Bijouteriewaren mit hinüber und ist in Sorge, ob er auch alles richtig hinüberbekommt. Oder er sitzt und rechnet und rechnet, was ihn jedes einzelne Stück kostet und wieviel er dafür verlangen kann.
„Unter zweihundert Prozent Verdienst mache ich überhaupt kein Geschäft,“ meinte der argentinische Kaufmann zu ihm, der nun schon zum zweiten Male zum Einkauf nach Deutschland fuhr. Es liegt ein Hauch von Spekulation über dem ganzen Schiff, wie man ihn früher nicht kannte; denn jeder führt irgendeine Ware bei sich, mit[S. 26] der er phantastische Geschäfte zu machen hofft: Bijouterien oder Stahlwaren, Rasierapparate oder Ferngläser.
Der Bankbeamte, der aus dem Krieg nach Buenos Aires zurückkehrt, zieht eine goldene Uhr an kostbarer Kette. — „Die hätte ich mir sonst auch nicht gekauft.“ — Aber wer weiß, wie die Verhältnisse drüben liegen, was gebraucht wird und woran Überfluß herrscht. Die wenigen, die Bescheid wissen, schweigen oder renommieren.
Das Gespräch schläft ein. Die Hitze lähmt jede Tätigkeit. Unter dem Sonnensegel ballt sich die Glut fast körperlich. Die weißen Häuser Bahias mit ihren stolzen Säulenhallen und Terrassen blenden über dem trägen, unbewegten Wasser.
Endlich heult die Sirene. Aber noch immer kommen Boote. Der Koch nimmt noch Proviant ein. Mächtige Körbe mit Eiern werden hochgehißt, gewaltige Stücke Fleisch und Kisten mit Fischen. Mitten über Deck platzt eine, und eine silberne Flut stürzt herunter. Es sind Exemplare von Haigröße dabei. Ihre lebenden Brüder tummeln sich um das Schiff.
An der Reling steht die alte, abgehärmte Frau im blauen Umschlagtuch und starrt aufs Meer.
Wieder heult die Sirene. Immer noch nehmen wir Früchte ein. Überall Stapel von Ananas. Auf allen Tischen und Bänken steht angeschnitten die süße Frucht. Einen Augenblick ekelt es mich fast vor dem schweren Fruchtduft, der gleich einem fremdartigen, betäubenden Parfum das ganze Schiff durchzieht.
Buenos Aires.
Die Fahrt dahin führte an allen Herrlichkeiten der Erde vorbei. Nach der grotesken Schönheit der spanischen Häfen, nach Lissabon und den Kapverdischen Inseln, nach tropischen Nächten unter dem Äquator, in denen Mond und Wolken Bilder von verzehrender Schönheit auf See und Himmel malten, nach sonnendurchglühten Tagen, an denen der Ozean in fast schmerzlicher Bläue leuchtete, nach Nächten, in denen das Meer phosphoreszierend flammte, als fahre das Schiff durch einen See voll brennender Eisberge, und in denen das Kielwasser sich in einen Strom intensivsten grünen Lichtes wandelte, breitete viele Tage lang die brasilianische Küste ihre schwüle, lockende Pracht aus. Nach Bahias Früchteparadies baute Rio mit seinen Felsen, Bergen und Buchten eine Wunderlandschaft auf.
Aber als wir Santos’ liebliche Bucht verlassen hatten und die Brandung von São Vicente verrauscht war, die gegen brennend bunte Gärten spült, verblaßten des Himmels und des Meeres Bläue. Eisengrau rollten in schwerer Dünung die Wellen. Nach lastender Hitze wurde es frisch und abends bald empfindlich kühl, als runde sich die Reise zum Kreislauf und kehrten wir in die rauhe, kalte Nordsee zurück.
Und wie See und Himmel wandelte sich die Stimmung der Passagiere. Statt satter Behaglichkeit, statt wohligem[S. 28] Nichtstun und siegessicherem Optimismus breitet sich eine fiebernde Nervosität aus, die mehr und mehr das ganze Schiff erfüllt. Riefen in Santos übermütige Zwischendecker den am Kai wartenden Landsleuten zu: „Wie lange dauert’s, bis man hier Millionär wird?“, so mehren sich jetzt die sorgenden, ernsten Gesichter.
In der Kajüte nicht minder. Nur wenige kehren ja in sichere, wohlbekannte Verhältnisse zurück. Auch die drüben Stellung und Besitz haben, fragen sich: wie werden wir unser Geschäft vorfinden. — Wer kennt denn dieses Land, in dem Hunderttausende in der Heimat das Land der Verheißung sehen? Der Krieg soll es von Grund auf gewandelt, die Preise phantastisch in die Höhe geschnellt haben.
Immer häufiger bilden sich Gruppen, die sich über Preise unterhalten. Der englische Reiseführer von 1914 nennt zwei Pfund für den Tag als unterste Grenze. Der Bankbeamte erzählt, daß er vor dem Krieg mit 200 Peso, etwa 800 Mark, im Monat für Wohnung und Essen auskam. Aber jetzt? Wie wird es werden? Wie weit wird die mitgenommene Barschaft reichen? Und wie viele sind auf dem Schiff, die drüben alles verkauften! Nun sind’s fünfzig- oder hunderttausend Mark, die für Land- und Viehkauf reichen sollen. Oft aber noch viel, viel weniger. Und dabei fällt und fällt die Mark.
Aber dafür hat man ja Waren mitgenommen. Die lange Reise und manche Bowle in den Mondnächten hat die Zungen gelöst. Pläne wurden geschmiedet, Verbindungen geknüpft. Soll man schmuggeln oder nicht? In den Kabinen beginnt ein großes Packen. Geheimnisvolle[S. 29] Zinkkisten tauchen auf. Bijouterien und Goldwaren werden in Wäsche und Stiefeln versteckt, Brillanten in Kleidungsstücke eingenäht.
Wo ist die Zeit, da Lulu tanzte und man Nächte auf Deck verträumte? Lulu ist übrigens nicht mehr an Bord. In Rio flog sie in großer Ekstase ihrem sie sehnsüchtig erwartenden Amigo in die Arme. Aber die Frau im blauen Umschlagtuch, deren Tochter man vor Pernambuco ins Meer senkte, ist noch da und liegt auf ihrem Stuhl und starrt ins Meer. Ein Stockwerk höher, in der ersten Klasse, werden die Augen der alten Dame, die zu ihrem einzigen Sohne fährt, den sie zwölf Jahre lang nicht sah, immer fiebriger. Und in der zweiten Klasse geht der aus portugiesischer Kriegsgefangenschaft heimkehrende Ingenieur immer unruhiger auf Deck auf und ab. Ein Jahr war er in Portugiesisch-Ostafrika, und gerade wollte er seine Familie nachkommen lassen, als der Krieg ausbrach, der ihn in Gefangenschaft auf die Azoren führte. Die ganze Zeit war er ohne Nachricht von seiner Frau. Er kann es nicht mehr sehen, das Meer, auf das er all die Jahre hindurch von seiner Insel aus sehnsüchtig starrte. Und die hilflose Achtzigjährige, die zu ihren Kindern nach Argentinien zurückkehrt, von denen der Krieg sie trennte! Und das Geschwisterpaar, das 1913 auf ein Jahr nach Deutschland in Pension geschickt worden war und das jetzt im Zwischendeck zurückkehren muß. Und all die Frauen, die der Krieg von ihren Männern trennte. Welche Tragödien auch hier!
Das erste Land, das sich nach Brasiliens Palmenbergen am Horizont zeigt, ist flach, öde, wüstengelb.[S. 30] Oasenhaft heben sich von Zeit zu Zeit Baumgruppen über die Sanddünen.
Auf einmal eilt das Schiff. Um neun Uhr abends sollten wir in Montevideo sein, am nächsten Mittag in Buenos Aires. Pünktlich laufen wir die Hauptstadt Uruguays an. Wie auf Schnüren gezogene leuchtende Perlen sind die Lichterreihen der linealgeraden Straßen über den Nachthimmel gespannt. Die Blinkfeuer der Hafeneinfahrt zwinkern rot und grün. Der viele Stock hohe Lokaldampfer nach Buenos Aires liegt am Kai wie ein festlich flimmerndes Haus. Das Knattern der unzähligen eleganten Automobile hört sich an wie Gewehrfeuer.
Argentinische Zeitungen kommen an Bord. Alles stürzt sich darüber her und studiert die Preise. Gott sei Dank, was man hörte, war maßlos übertrieben. Aber anderes ist teuer genug. Der Flieger geht strahlend auf und ab.
„An meinen Bijouterien verdiene ich glatt 10000 Peso.“
„Und der Zoll?“
„Oh, die sind so gut versteckt, da müßte der Beamte schon sehr genau suchen — —.“
Die Offizierswitwe mit den beiden Söhnen hat bereits ein erstaunlich billiges Angebot für Haus und Land in Paraguay. Die Stimmung geht hoch.
Am nächsten Morgen sind wir mitten im La Plata. La Plata, Silberstrom! Der Name klingt wie Hohn; denn in schmutzigem Lehmgelb wälzen sich seine trägen Wogen. Gelbe, einförmige Wüste, soweit das Auge reicht. Fast wirkt der Anblick bereits wieder schön in seiner gran[S. 31]diosen Eintönigkeit. Am Horizont stehen Schiffe, flach auf die Wüstenplatte gestellt. Merkwürdig unwirklich sehen sie aus.
Das Land, das jetzt zur Linken auftaucht, paßt zum Fluß, es ist flach, öde, reizlos. Aber noch öder, noch reizloser könnte es erscheinen, es würde doch mit den gleichen sehnsüchtig erwartungsvollen Blicken verschlungen. Es ist ja das Land der Verheißung, die Erlösung aus all dem Leid, aus all dem Jammer in der Heimat.
Buenos Aires sticht mit Kaminen, Türmen und Kuppeln über den Horizont. Am Bug ballt sich die Masse der Auswanderer. Rasch wächst die Stadt. Eine flüchtige Ähnlichkeit mit New York, ein schüchterner Versuch zu Wolkenkratzern. Der Jachthafen mit Dutzenden der elegantesten Jachten. Dann im Hafen Schiff an Schiff, endlose Kais lang.
Ärztliche Untersuchung und Paßrevision. Dann darf man von Bord. Jetzt noch die zollamtliche Untersuchung. Der Flieger verhandelt aufgeregt mit einem Gepäckträger. Koffer auf Koffer rollt an. Immer wieder greifen die geübten Hände der Zollbeamten tief in Kisten und Koffer. Der ehemalige Fliegeroffizier hat einen Teil seiner Sachen schon durch, aber nun zieht der Beamte ein Bündel Uhrketten aus einem Paar Damenhandschuhe.
„Was ist das?“ — und nun kommt Stück für Stück ans Tageslicht. Er bekommt einen puterroten Kopf. Tapfer hält sich die junge Frau.
Auf Schmuggel steht Beschlagnahme der Ware und hohe Geldstrafe, bei großen Beträgen Gefängnis. Weiß Gott, da wird der Herr vom Tisch vis-à-vis abgeführt.[S. 32] Er hatte Brillanten in der Weste eingenäht. Eine Dame soll ihn angezeigt haben.
Sicher erhoffte Telegramme sind ausgeblieben. Über Paraguay hört man bereits im Zollamt nur Ungünstiges. Luftschlösser stürzen ein. Und die Traumstadt der Verheißung ist, wenn man sie betritt, auch nicht anders wie jede Weltstadt: eine gewaltige Mühle, die die Masse der Menschen zerreibt, um den wenigen Zähen, Auserwählten den Aufstieg zu unerhörter Macht freizugeben.
Buenos Aires.
Draußen im Land blühen jetzt die Kakteen. Wenn man mit einer der zahllosen Elektrischen hinausfährt und wenn nach den eleganten Straßen auch die Zone der Vorstädte mit ihren niedriger und ärmer werdenden Häusern zurückbleibt, bis nur mehr der durch Steppe, Sumpf und Busch führende Damm der Bahn der einzige Bindestrang mit der zurückgelassenen Zivilisation ist, dann ranken Kakteen zu beiden Seiten des Weges, seltsame, fleischig-wulstige Pflanzen. Wie Tiere ihre Jungen auf dem Rücken tragen, so haben sie ihre Triebe angesetzt, und dazwischen treibt der staubgraue Leib eine Blüte von seltsam flammender Schönheit, die auf dem häßlichen Pflanzenkörper so fremd anmutet, als hätte sich ein leuchtender Schmetterling auf ihn gesetzt.
Ist dies das Bild der Stadt, in der ich jetzt lebe? Sicher ist es ein krasser, willkürlicher Vergleich, und doch drängte er sich mir auf, als ich zum ersten Male von dem Turm der Pasaje Guemes über die Stadt blickte. Wie trostlos öde ist der Boden, aus dem diese Stadt erwuchs! Jede, aber auch jede angeborene Schönheit hat ihr die Natur versagt. Der Fluß, dessen unerhörte Breite ein Meer vortäuscht, ist, von hier oben gesehen, nichts als ein braunes ödes Feld. So träge steht die Masse der lehmschweren Flut, daß der Unwissende von hier nicht[S. 36] unterscheiden könnte, ist es Morast oder Wüste oder Wasser. Und nicht anders ist das Land, in das sich die Stadt mählich verliert. Keine blauen Berge am Horizont, keine fernen Wälder, nichts, auf dem das Auge friedlich ruhen, kein Punkt, nach dem die Sehnsucht schweifen könnte.
Unten am Fuß des Gebäudes aber ziehen elegante Straßen, dehnen sich Plätze voll Palmen und blühenden Blumen. Die Plaza und Avenida de Mayo, Plaza San Martin, der Palermo-Park mit seinen Teichen, Rasen und Hainen: alles ist künstlich geschaffen, ist einer Wüste abgerungen. Und alle diese Plätze, Gärten, öffentlichen Gebäude und reichen privaten Villen und Residenzen sind gebaut aus dem Erlös der Produkte dieses so trostlos öde scheinenden Landes. Dieses Land hat die Palmen gepflanzt und die Autos der Männer wie den Schmuck der Frauen bezahlt. Es allein ermöglicht die Einfuhr aller dieser wahnsinnig teueren Luxusartikel aus allen Ländern der Erde, die die Lager und Läden der Stadt füllen. Wie reich und vollsaftig muß dieses Land sein, das eine solche Blüte treiben konnte, aus dem in phantastischer Üppigkeit eine Hauptstadt erwachsen konnte, in der ein Viertel der Bewohner des ganzen Landes lebt, deren überreicher Luxus Zweck und Ziel aller Arbeit auf den fernen Estancias und Chacras, auf den Ranchos und Quintas zu sein scheint!
Eine Kakteenblüte voll fremdartiger Schönheit? — Nein, der Vergleich stimmt doch in keiner Weise! Dazu ist diese Stadt zu nüchtern, zu europäisch, zu amerikanisch. Ja, amerikanisch, das ist der Grundton, und es bedürfte[S. 37] nicht der Ansätze zu Wolkenkratzern, um an New York zu erinnern. Aber da unten die Plaza de Mayo könnte ebensogut in irgendeiner mexikanischen oder brasilianischen Stadt liegen, und die Avenida erinnert durchaus an einen Pariser Boulevard, ihre Läden an Oxford Street in London und die umliegenden Straßen an die Berliner Friedrichsstadt. Selbst in der Vorstadt ähnelt an einer Stelle die Wellblecharchitektur dem Rande von Chicago, während an anderer Stelle die auf Pfählen im Sumpf errichteten Bretterbuden einer polnischen oder wolhynischen Landstadt gleichen. Jede Nation mag hier Anklänge an ihr Heimatland finden.
Unten in der Avenida rollen in sechsfacher Reihe die Autos, Wagen an Wagen; wie bei marschierender Truppe Leib an Leib gepreßt, zieht es sich wie ein stählernes endloses Band, wie ein grau und gelb und schwarz lackiertes Trottoir roulant hin, das alles, was Geld und Macht und Ansehen hat, hin- und herträgt zwischen den die Straße gleich mächtigen Querriegeln begrenzenden Gebäuden, dem Regierungspalast und dem Kongreß. In den beängstigend engen Straßen aber, die beiderseits der Avenida wie schmale Rillen in die viereckigen Häuserblöcke eingeschnitten sind, drängt sich der Strom der Autos, Wagen und Fußgänger so dicht, daß sie von hier oben kaum belebt erscheinen.
Ist es anders als in der Fifth Avenue oder in den Steinschluchten um Woolworth oder Bankers Trust Building in New York City? Wer dem Pulsschlag lauscht, dem Pochen des Herzens, das in jeder Stadt schlägt, wird den Unterschied finden.
Hier fehlt der eine harte Klang, der das ganze Leben der Union durchzittert, der Rhythmus Dollar, Dollar, Dollar, der in den Riesenturbinen von Niagarafalls nicht anders pulst als in dem Blut der Tausende von Girls in weißen Blusen, die nach Geschäftsschluß die Straßen füllen als springlebendiger, weicher, warmer Strom.
Hier fehlt die harte Geste, das Vorwärtsdrängen, Zurückstoßen. Schon an der Art, wie sich der Straßenverkehr abspielt, wird es erkennbar, an der graziösen Leichtigkeit, mit der der elegante schlanke Schutzmann in dunkelblauer Uniform und blauem Tuchhelm mit seinem schneeweißen Gummiknüppel in weißbehandschuhter Hand den Strom der Autos lenkt. An der Höflichkeit und Liebenswürdigkeit der Menge wird es deutlich, die sich ohne Lärm, ohne Zwischenfall, ohne Schelten in den lächerlich engen Straßen bewegt, auf deren Bürgersteigen nicht zwei Personen nebeneinander gehen können.
Sicher spielt in den geschäftlichen Kreisen von Buenos Aires Geld keine geringere Rolle als in andern Handelsmetropolen, sicher wird hier im Verhältnis nicht weniger umgesetzt und verdient als in New York oder London, aber die Brutalität des Geldmachens fehlt hier. Man lebt leichter, verdient leichter und gönnt auch dem Nächsten seinen Teil, so daß die Geste auch des Geschäftsmannes hier liebenswürdige Höflichkeit bleibt.
Und weiter erkennt man bei näherem Zusehen, daß diese scheinbar so amerikanische oder europäische Stadt im Grunde ganz etwas anderes ist: durch und durch argentinisch; mag dies auch in dem noch unorganischen Stadtbild nicht deutlich werden, wo ein moderner englischer[S. 39] Geschäftsbau neben einem altspanischen Hause mit blumenumranktem Innenhof steht.
Buenos Aires ist eine Stadt, die ins Maßlose, Unbegrenzte strebt. Im Zentrum, das für zwanzig- oder zweihunderttausend Menschen gedacht und gebaut wurde, muß sich heute der Verkehr einer Menschenmasse von zwei Millionen abspielen. Darum hat man alle neuen Straßen in zehnfacher Breite angelegt. Kilometerweit hinaus führen breite Avenidas, die heute nur ärmliche, ebenerdige Häuser oder Buden und Hütten säumen, die aber vielleicht schon in zehn Jahren elegantes Leben füllt.
Diese Stadt will wachsen. Auch die City will heraus aus ihrer Enge. Und darum hat man im Zentrum ganze Reihen von Häuserblöcken niedergerissen und daraus die Plaza und Avenida de Mayo geschaffen. Darum sollen auch weitere Straßenreihen fallen. Die Ansätze dazu sind schon da. Bis die ganze innere Stadt mit einem Netz breiter Diagonalen durchzogen ist, die Luft, Licht und Raum schenken.
Städte sind Lebewesen, die wachsen, blühen und sterben. Drüben jenseits des lehmigen Wassers des La Plata und des blauen des Atlantik liegen Städte, in deren verwahrlosten Straßen der Menschenstrom kreist wie schweres schwarzes Blut in kranken Adern, deren Häuserfassaden die Spuren durchlebter Fieberschauer tragen oder die Anzeichen kommender. Nirgends empfindet man so stark wie in dieser jungen, so namenlos jungen Stadt, wie krank Europa ist, wie krank und unheilschwanger!
Mariano Saavedra.
Die große Halle von Retiro, dem Bahnhof des Central Argentino, liegt im milchigen Licht der Bogenlampen. Gepäckträger umringen das vorfahrende Auto. Der Chauffeur fährt nach Taxe. Im Handumdrehen ist das Gepäck aufgegeben. Die Erlangung der Schlafwagenkarten kostet einen Gang ins Reisebureau, keine Bestechung, kein Schmieren, kein Aufgeld.
Ein leerer Bahnsteig, keine Menschenmenge, die sich vor der Sperre staut. Wagen, in denen jeder bequem Platz hat, sauber, geräumig; auch die zweite Klasse, die unserer dritten und vierten entspricht. In dem sonst so unsozialen Argentinien kennt man nur zwei Wagenklassen.
Mächtige Autobusse fahren vor dem Bahnhof vor. Eine bunte Menschenmenge, Männer, Frauen und Kinder, drängt heraus. Lastwagen, hochbeladen mit Gepäck, folgen. Es sind die Wagen der Einwanderungsbehörde. Die freie Beförderung zu den Bahnhöfen und weiter bis zur gewählten Arbeitsstelle, mag sie auch am äußersten Zipfel der Republik liegen, gehört zu den Vergünstigungen, die die Regierung Einwanderern gewährt.
Diese Vergünstigungen sind nicht unerheblich. Schon der Empfang ist besser als beispielsweise in den Vereinigten Staaten, trotz aller Vorsichts- und Kontrollmaßnahmen, die die argentinische Regierung zur Fernhaltung bolschewistischer Elemente immer mehr verschärft. Argentinien[S. 41] kennt kein Ellis Island, keine von aller Welt abgeschlossene Einwandererinsel, wo die Einwanderer jeder Willkür brutaler Beamten wehrlos ausgesetzt sind. Ist die ärztliche Untersuchung vorüber, der im übrigen die Passagiere der ersten Klasse ebenso unterworfen sind wie die Zwischendecker, und sind die Papiere geprüft, so kann jeder Einwanderer gehen, wohin er will, falls er es nicht vorzieht, ins Einwandererhotel zu ziehen. Es liegt unmittelbar am Kai. Ein hoher, heller Bau, luftig und reinlich wie ein Lazarett mit seinen fliesenbedeckten Böden und kachelbekleideten Wänden. Irgendwelchen Luxus gibt es natürlich nicht, und alles ist auf Massenbetrieb eingestellt. Allein gegenüber dem Schmutz, der Enge und Stickluft des Zwischendecks ist es ein Dorado. Was der Einwanderer braucht, ist da: Bäder, Hospital, ein Arbeitsvermittlungsamt, Post, Telegraph und vor allem eine Geldwechselstelle der Nationalbank, in der kostenlos fremde Währung eingewechselt wird; bei dem großen Aufschlag, den die Wechsler in der Stadt nehmen, ein gewaltiger Vorteil. Und vor dem Haus ein herrlicher Garten, mit Palmen und blühenden Blumen, der dem Einwanderer eindringlich vor Augen führt, in welch reiches, fruchtbares Land er gekommen.
Nach dem Gesetz steht den Einwanderern und ihren Familien fünftägige freie Unterkunft und Verpflegung zu. Das Gesetz wird sehr großzügig gehandhabt, und die Fälle sind häufig, daß Einwandererfamilien nicht nur Tage, sondern Wochen über die gesetzliche Frist hinaus kostenlosen Aufenthalt gewährt bekommen. In den Provinzen, in die sich der Einwanderer begibt, wird er gleichfalls zunächst frei untergebracht und verpflegt.
Dieses Anrecht steht jedem Reisenden der zweiten und der dritten Klasse zu, der sich einen entsprechenden Vermerk in seine Papiere eintragen läßt. Es sollte niemand versäumen; denn es ist keinerlei Verpflichtung eingeschlossen. Wer auf das Einwandererhotel verzichtet, wird doch unter Umständen gern die freie Bahnfahrt und Gepäckbeförderung für sich und seine Familie in Anspruch nehmen. Bei den teueren Bahntarifen und den weiten Entfernungen handelt es sich mitunter um sehr erhebliche Beträge.
Weiter aber sorgt der Staat für die Einwanderer nicht, und alle Anpreisungen von Kolonisations- und Landgesellschaften über kostenlose oder billige Zuweisung von Regierungsland usw. sind nur mit größter Vorsicht aufzufassen. Das gilt auch von dem sogenannten Heimstättengesetz, der Ley del Hogar, auf das die Auswanderungsgesellschaften mit Vorliebe hinweisen. Dieses Gesetz, das die Ansiedelung auf Regierungsland vorsieht, ist zwar vom Kongreß genehmigt und auch amtlich veröffentlicht worden, ist aber noch nicht in Kraft getreten, da die dazugehörigen Ausführungsbestimmungen noch nicht erlassen sind. Wann und ob sie überhaupt erlassen werden? — Quien sabe!
Das Einwandererhotel und die Fürsorge für die Einwanderer kostet die argentinische Regierung jährlich je nach der Stärke des Zustroms eine halbe bis etwa zwei Millionen Peso (etwa 900000 bis 3600000 Goldmark). Es hat Zeiten gegeben, in denen Argentinien freie Überfahrt gewährte und ein weitverzweigtes Agentennetz in Europa unterhielt, um Einwanderer zu bekommen. Es hat das jetzt nicht mehr nötig; denn Argentinien ist heute das bevorzugteste Einwanderungsland, und lediglich die hohen[S. 43] Überfahrtspreise und die Valutaverhältnisse begrenzen die Zahl.
Der Zug fährt durch die Nacht. Die hellen Straßenzeilen der Hauptstadt und die dunkle Fläche des La Plata bleiben zurück. Der Zug eilt durch weites, weites, ebenes Feld. Stoppelfelder auf Stoppelfelder, von den hohen Mieten des abgeernteten Getreides wie von Zwingburgen beherrscht. Dann Mais, eine im blassen Mondschein goldig schimmernde Fläche, endlos, unübersehbar.
In der Morgenfrühe passieren wir Rosario und dann wieder endlos weites Land: Mais, Stoppelfeld und unendliche Weide. Zwischen kilometerlangen Drahtzäunen Weideflächen, Stunde auf Stunde. Um die Station ein paar Häuser, und dann nichts als selten und spärlich ein Rancho zwischen Bambusstauden, eine Chacra, eine baumumstandene Estancia.
Vor mir liegt eine Nummer des „Argentinischen Tageblattes“ — nebenbei gesagt die rührigste und bestgeleitete deutsche Zeitung des lateinischen Amerika — mit einer Umfrage über die Möglichkeiten deutscher Einwanderung und Kolonisation. Führende Persönlichkeiten der deutschen Kolonie haben sich darin ausgesprochen. Während ich durch die menschenleere fruchtbare Weite sause, lese ich: „Argentinien ist auf eine große deutsche Einwanderung nicht vorbereitet, und alljährlich können nur ein paar tausend Einwanderer in Betracht kommen.“ Ein anderer, ein Bankdirektor, schreibt: „Selbst wenn jährlich nur 4000 bis 5000 unserer Landsleute einwandern, so ist das schon viel.“ Oder ein dritter, ein Großkaufmann: „Die wichtigste Aufgabe der deutschen Kolonie, so glaube[S. 44] ich, sollte sein, die Auswanderung aus der Heimat nicht zu fördern.“ Nachdem er davon gesprochen, wie die Auswanderungslust einzudämmen sei, schließt er: „Damit könnte auch in wirksamer Weise das Deutschtum in Argentinien und in der Heimat gefördert und geschützt werden.“
Draußen nichts als Mais, Weide und Vieh. Und das sind die menschenreichsten Provinzen: Buenos Aires und Santa Fé, in denen die Bevölkerungszahl noch nach Millionen und Hunderttausenden zählt. Weiterhin, in der Pampa, in Patagonien und im Chaco, da zählt man nach Zehntausenden und Tausenden. Nach Klima und Fruchtbarkeit kann Argentinien 300 Millionen Menschen ernähren, und nun soll es nur knapp für ein paar Tausend Einwanderer Existenzmöglichkeiten bieten!
Ich lese weiter: Ablehnung auf Ablehnung. Aber da schreibt auch einer, der nur als „Selfmademan“ zeichnet: „Alles, was bei dem gegenwärtigen Stand des Weltverkehrs von Deutschland hierher auswandern kann, vermag Argentinien aufzunehmen und mit seinen Erwerbsgelegenheiten dauernd festzuhalten. Keine Auswandererzahl ist zu groß, als daß sie nicht in den Rahmen unserer Volkswirtschaft eingepaßt werden könnte.“
Wer hat nun recht? Im allgemeinen ist die deutsche Kolonie für möglichste Einschränkung der Einwanderung, und es wird mir von allen Seiten nahegelegt, durch möglichst wahrheitsgetreue, d. h. pessimistische, Schilderungen mitzuhelfen, Einwanderer abzuhalten. Nun ist sicher richtig: Je weniger Illusionen der Einwanderer mitbringt, desto besser, und die Arbeit ist im allgemeinen wohl härter und die Anfangsschwierigkeiten sind größer,[S. 45] als man sich in Deutschland vorstellt. Aber mit dem bloßen Abraten ist nichts getan. Man kann ja nicht von Auswanderungslust sprechen, sondern nur von einer Auswanderungsnot. Und es wäre auch nicht wahrheitsgetreu, wollte man nur warnen und abraten. Es gibt hier Möglichkeiten, und zwar sehr erhebliche, zu Wohlstand und Reichtum zu kommen, nur ist der Weg hart, und nur ein zäher Wille kommt durch. Aber seinen Lebensunterhalt, und der ist im Verhältnis zu Deutschland reichlich, kann sich jeder erwerben, der guten Willens ist, wenn er ein heißes Klima und mancherlei Unzuträglichkeiten mit in Kauf nehmen will.
Es handelt sich nicht darum zu warnen, sondern zu helfen. Hier ist der Deutsche Volksbund in Argentinien mit gutem Beispiel vorangegangen, der eine Beratungsstelle und Stellenvermittlung für deutsche Einwanderer geschaffen hat. (Im deutschen Vereinshaus, Buenos Aires, Calle San Martin 439.) Schon Hunderten deutschsprechender Einwanderer ist hier kostenlos Arbeit und Stellung nachgewiesen worden. Da der Bund in allen größeren Plätzen Ortsgruppen unterhält, ist es ihm ein leichtes, sich nicht nur über den Arbeitsmarkt zu orientieren, sondern auch über die Zuverlässigkeit der Arbeitgeber. Nur so kann vermieden werden, daß Einwanderer, wie es bereits geschehen ist, in völlig unhaltbare Verhältnisse nach Misiones oder Chubut geschickt werden, von wo sie nach einigen Monaten elend, abgerissen und verbittert wieder zurückkamen. Über jeden Einwanderer wird genau Buch geführt, so daß mit der Zeit wertvolles Material über die Einwandererbewegung gesammelt wird. In der[S. 46] gleichen Richtung arbeitet auch der Verein zum Schutz germanischer Einwanderung und der deutsch-argentinische Zentralverband.
Wer nach Argentinien auswandern will, muß sich klar machen, daß er in Verhältnisse kommt, die von Grund aus neu sind, und daß er unabhängig von Beruf und Vorbildung zu jeder Arbeit und Unternehmung bereit sein muß. Im allgemeinen kann man sagen, daß die Aussichten für Kaufleute und geistige Arbeiter jeder Art schlecht, die für Handwerker und Industriearbeiter gut sind. Aber das eine wie das andere ist nebensächlich gegenüber dem Zentralproblem: die Kolonisation und Ansiedlung im größten Maßstabe. Argentinien ist ein Agrarland mit extensiver Wirtschaft. Geht man dazu über, den Betrieb intensiv zu gestalten, so lassen sich unbegrenzte Mengen von Ackerbauern und Farmern unterbringen, und ein wachsender Bedarf für industrielle, kaufmännische und geistige Arbeit wird geschaffen.
Was jetzt von Deutschland herüberkommt, läßt sich noch eine Weile in der bisherigen Weise unterbringen. Wächst jedoch der Einwandererstrom, ohne daß die Kolonisationsfrage gelöst ist, so muß es zur Proletarisierung der deutschen Einwanderer kommen. Den deutschen Einwanderern bieten sich unbegrenzte Möglichkeiten, aber erst dann, wenn die sehr schwierige hauptsächlichste Vorbedingung erfüllt ist: die Beschaffung von Land, Land und nochmals Land!
Mariano Saavedra.
Wir reiten über den Kamp. Endlose Weite. Wie weiße, braune und schwarze Tupfen steht das Rindvieh im Grün des Alfalfafeldes. Weiterhin Pferde in Rudeln, dann Schafe gleich Lämmerwölkchen über den grünen Horizont ziehend. Kein Baum, kein Strauch, kein Haus. Nur die Drahtzäune, die den Kamp in einzelne Potreros teilen, laufen unermüdlich neben uns her, und ab und zu passieren wir ein klapperndes Windrad, das Wasser in die Viehtränken pumpt.
Man könnte in menschenleerer Öde sich verlassen glauben, kündete nicht der dunkle Schatten am Horizont die Estancia mit ihren Hainen und Gärten, Landhäusern und Wirtschaftsbauten. Dort die Estancia mit ihrem Schloß, in dem der Besitzer in der Regel kaum ein paar Wochen im Jahr weilt, und hier am Weg ein paar zerfallene Lehmmauern, die Reste eines Pächterhauses: das ist das Landproblem Argentiniens.
Argentinien ist das Land des Großgrundbesitzes. Seit den Zeiten des Diktators Rosas (geb. 1793, gest. 1877) haben die Regierungen ihren Günstlingen, verdienten Parteigängern, Generälen und Staatsmännern gewaltige Landkomplexe überlassen, Ländereien von der Größe eines Fürstentums wurden verschenkt oder zu lächerlich niederen Preisen verkauft. Heute ist die ganze Republik mit Ausnahme der augenblicklich wertlosen oder geringwertigen Regierungsländereien im äußersten Norden und Süden[S. 48] und des wenig zahlreichen mittel- und kleinbäuerlichen Besitzes in den Händen einer geringen Zahl von Großestancieros und Landgesellschaften. Komplexe von 100 und 200 Hektar, also etwa von der Größe eines deutschen Ritterguts, sind hier ein winzig kleiner Besitz. Man zählt nach Quadratleguas, einem Flächenmaß gleich 25 Quadratkilometern, und Estancien von 50, 75 und 100 Quadratleguas sind keine Seltenheit.
Diese gewaltigen Ländereien dienen lediglich der Viehzucht, und zwar einer Viehzucht extensivster Art. Weder der einheimische Landbesitzer, der Estanciero, noch der eingeborene Landarbeiter, der Gaucho, hat irgend Sinn und Neigung für Ackerbau. Da sich der reiche Argentinier nur ungern von seinem Land trennt und er andrerseits die gewaltige Wertsteigerung nicht missen will, die in dem Umreißen des rohen Kamps und seiner zeitweisen Bestellung liegen, verfiel man in diesem Land auf das eigenartige Pachtsystem des Medianero. Der Besitzer stellt Land, Vieh, Gerät und Samen einem Medianero, einem Pächter, zur Verfügung, der dafür so viel Land bestellt, wie er mit seiner Familie bewirtschaften kann. In den Ertrag teilen sich Pächter und Besitzer zu gleichen Teilen. Derartige Pachtverträge werden jedoch nur auf kurze Zeit, auf drei bis fünf Jahre, oft auch nur für ein Jahr abgeschlossen. Ist die Zeit abgelaufen, so muß der Pächter im wahren Sinne des Wortes sein Dach abreißen und dahin ziehen, wo er wieder Pacht findet. Dem Estanciero liegt ja nichts daran, dauernd Korn zu bauen. Er will lediglich den Boden seines Kampf verbessern und bessere Weide für sein Vieh bekommen. Darum legt er in der Regel dem[S. 49] Pächter die Verpflichtung auf, im letzten Jahr des Pachtvertrages Alfalfa zu bauen, eine Luzernekleeart, die das vornehmste Futter für Großvieh hierzulande ist.
Der Pächter hat also seinerseits gar kein Interesse daran, es sich irgendwie gemütlich zu machen. Inmitten der Öde des Kamps steht sein Rancho, eine Lehmhütte mit Wellblechdach, das der Kolonist mit sich führt. Er pflanzt keinen Baum, kaum Gemüse, und ist zu einem elenden Nomadenleben verdammt, falls es ihm nicht gelingt, sich so viel zu ersparen, daß er zum Arendatario, zum Pächter mit eigenem Vieh und Gerät, und schließlich zum Besitzer auf eigener Scholle aufzusteigen vermag.
Es ist ein brutales System, das seinen Zweck, den Wert des Landes zu steigern, zwar erfüllt — ein mit Alfalfa bestandener Kamp kostet 100 Prozent mehr als ein roher —, das aber in keiner Weise für deutsche Einwanderer in Frage kommt. Was der ins Land kommende Deutsche erhofft, ist Seßhaftigkeit auf eigener Scholle, die er mit der Zeit durch seiner Hände Arbeit erwerben kann.
Nichts ist aber schwerer als das. Die Schwierigkeiten liegen in den hohen Landpreisen, in der Wertlosigkeit der deutschen Valuta und in der Unsicherheit des Besitztitels.
Drei Wege führen zum Besitz von Grund und Boden: Kauf von privater Seite, Erwerb von Regierungsland oder von Ländereien einer Kolonisationsgesellschaft. Der erste Weg scheidet für die Besitzer von Markguthaben aus. Selbst für kleine Kampe sind bei dem derzeitigen Stand der deutschen Valuta Guthaben erforderlich, über die selbst der wohlhabende deutsche Einwanderer nicht verfügt.
Nun zum Regierungsland. Das ist die vielumstrittene Frage. Einmal, gibt es überhaupt noch Regierungsland, das für Kolonisation in Frage kommt, zum andern, wie steht es mit der Übertragung der Besitztitel?
Regierungsland gibt es sowohl in den nördlichen Territorien, in Misiones und im Chaco, als auch im Süden, in Rio Negro, Neuquen, Chubut und Santa Cruz. Die allgemeine Ansicht geht dahin, daß beide Gebiete für Kolonisation nicht in Frage kommen. Der Norden sei zu heiß, der Süden nur für Schafzucht geeignet. Nach den Temperaturen, die ich bisher in den Provinzen Buenos Aires und Santa Fé erlebte und die bis an 40 Grad reichen, möchte ich der ersten Ansicht beipflichten. Allein ich habe hier stets gefunden, daß man selbst sehen muß, und die Kenntnis der Porteños, der Bewohner von Buenos Aires, von den äußeren Gebieten des Landes geht in der Regel nicht sehr weit.
Was die Besitztitel betrifft, so wird immer wieder über die Schwierigkeit geklagt, solche zu erlangen. Die Regierung gibt wohl Land zu billigen Preisen ab, allein ohne Besitztitel. Mitunter sitzen Leute zehn, fünfzehn und mehr Jahre auf ihrem Kamp, dessen Wert sich inzwischen durch ihre Arbeit verfünffacht und verzehnfacht hat, und können keine ordentlichen Besitztitel erhalten.
Auf der Fahrt hierher erzählte mir ein Deutscher, der in eine Zuckerfabrik des Nordens auf Arbeit fuhr, seine Geschichte. Ihm war in Paraguay Regierungsland zu günstigen Bedingungen übertragen. Nachdem er sein ganzes Kapital hineingesteckt und ein paar Jahre darauf fleißig gearbeitet hatte, meldete sich eine argentinische[S. 51] Landgesellschaft als Besitzerin und wies rechtskräftige Titel vor. Alle Reklamationen der deutschen diplomatischen Vertretung blieben fruchtlos. Der Mann mußte sein Vieh verkaufen und Grund und Boden verlassen. Ich habe denselben Vorgang nicht einmal, sondern wohl ein dutzendmal gehört, nicht nur aus Paraguay, sondern auch aus Argentinien. Ich kann ihre Wahrheit nicht nachprüfen, allein die Häufigkeit, mit der man sie hört, macht stutzig. Der einzelne, ohne genügend Kapital, ohne Rückhalt und vor allem ohne Verbindungen und „amigos“ kann sich jedenfalls nicht genug vorsehen, ehe er sein Geld in Land anlegt.
Bleibt die Vermittlung der Kolonisationsgesellschaften. Die Mehrzahl arbeitet auf kapitalistischer Grundlage, andere auf genossenschaftlicher oder wie die des Baron Hirsch auf gemeinnütziger Basis. Nicht alle bestehenden Kolonisationsgesellschaften haben sich immer einwandfrei betätigt. Es sind Fälle vorgekommen, daß sie an Kolonisten Land gaben, das so mit Hypotheken überlastet war, daß die Käufer es nicht halten konnten. Von den Gesellschaften, die sich neu in Deutschland gebildet haben, sind ein Teil reine Schwindelunternehmungen, denen es lediglich auf Gimpelfang ankommt. Andere verfügen wohl über guten Willen, aber nicht über die erforderlichen Kenntnisse, Erfahrungen und Verbindungen. Daß in ihrem Vorstand Männer sitzen, die früher einmal in Argentinien waren, genügt nicht. Vor allem darf man nicht vergessen, daß zwischen Buenos Aires und dem Land ein himmelweiter Unterschied ist. Man kann jahrelang in der Hauptstadt sitzen, ohne vom Kamp etwas zu verstehen.[S. 52] Dabei mag von solch grotesken Fällen ganz abgesehen werden, daß sich hier bei amtlichen Stellen als Vertreter deutscher „Siedelungs- und Kolonisationsunternehmungen“ Herren meldeten, mit der Absicht, Land zu kaufen, die weder von Argentinien, noch von Landwirtschaft, noch von der spanischen Sprache eine Ahnung hatten.
Es ist bedauerlich, daß durch solche Schwindelunternehmungen der Gedanke der Kolonisationsgesellschaft diskreditiert wird und unter Umständen auch gutfundierte und gutgeleitete Gesellschaften zu leiden haben; denn dieser Gedanke stellt den einzigen Weg dar, eine große deutsche Einwanderung gut unterzubringen. Vorbedingung ist jedoch, daß deutsches und argentinisches Kapital zusammenarbeitet, unter enger Fühlungnahme mit den beiden Regierungen und unter Ausschaltung von Spekulationsgewinnen.
Der gegebene Mittler wäre das deutsch-argentinische Kapital, das bei gutem Willen ohne Schwierigkeiten über die erforderlichen Mittel verfügen würde, um selbst sehr großzügige Siedelungsunternehmungen zu finanzieren. Seit Ende 1919 ist auch die Frage einer Siedelungsaktiengesellschaft erörtert worden. Kommissionen haben getagt. Es ist jedoch nichts dabei herausgekommen. Nach den Äußerungen des Direktors der Überseeischen Bank hätten alle Berechnungen ergeben, daß nicht einmal eine bescheidene Verzinsung der aufgewendeten Kapitalien zu erwarten sei. Ich kann diese Behauptung noch nicht nachprüfen. Wenn aber das betreffende Komitee weiter einstimmig zu der Ansicht kam, daß mit einem derartigen Unternehmen den Einwanderern selbst kaum ein Dienst erwiesen würde, so wird man stutzig.
Bei dem großen Mehrwert, den eine großzügige Kolonisation für alle Beteiligten bedeuten würde, kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß einigen, und gerade den kapitalkräftigsten, Mitgliedern der deutschen Kolonie die Einwanderung aus der Heimat unsympathisch ist. Man hört mitunter die Meinung, daß sie die sozialistische Gesinnung deutscher Kolonisten fürchten. Vielfach sollen sie auch schlechte Erfahrungen mit deutschen Arbeitern gemacht haben.
Deutsches Kapital, das wohl verfügbar wäre — denn nach menschlichem Ermessen gibt es für mitteleuropäische Gelder kaum eine sicherere Anlage als in argentinischem Grund und Boden —, kann sich nur in Form von Maschinen, Werkzeug und Waren beteiligen. Schon aus diesem Grunde bedarf es der Mitwirkung argentinischer Firmen. Sperrt sich das deutsch-argentinische Kapital noch länger, so wird rein argentinisches Kapital die Sache machen, ja, es wird sogar behauptet, daß Ententekapital darauf lauere, sich der deutschen Einwanderung als eines guten Spekulationsobjekts zu bemächtigen, was nicht so unwahrscheinlich ist.
Ein derartiges Siedelungsunternehmen müßte als Kolonisations- und Handelsunternehmung gegründet werden, um die aus Deutschland gelieferten Waren in eigener Regie veräußern zu können und andrerseits die auf der Kolonie erzeugten Produkte direkt nach Deutschland zu liefern. Es müßte weiterhin versuchen, Einfluß auf die Verschiffung der Einwanderer zu nehmen, wenn es nicht eigene Schiffe erwirbt. Im Anschluß daran ließe sich die Frage der Verpflanzung deutscher Industrien nach Argentinien lösen.
Es muß etwas geschehen, womöglich ehe eine deutsche Masseneinwanderung hier eintrifft. Darum ist es Zeit zu einem lauten, weithin vernehmlichen Caveant Consules! Was die deutschen Einwanderer brauchen, ist nicht Warnung und Rat und bestenfalls Arbeitsvermittlung, sondern die rasche Beschaffung von billigem Land.
Auch der argentinische Staat sollte daran interessiert sein. Eine planmäßig geförderte und systematisch geleitete deutsche Einwanderung würde nicht nur dem Lande eine Fülle wertvollster Kräfte zuführen, sondern eine gerechte und großzügige Lösung der Landfrage würde der argentinischen Republik das schaffen, was ihr noch fehlt: einen gesunden und kräftigen Bauern- und Mittelstand, und damit die beste Sicherung gegen die sozialen Gefahren, die die gegenwärtige Besitzverteilung des Landes und die Latifundienwirtschaft unheilschwanger in sich bergen.
Estancia „La Louisa“.
Kein anderes Land läßt sich auf solch kurze, einfache Formel bringen wie die Republik zwischen dem La Plata und den Kordilleren: Argentinien ist sein Vieh und sein Korn.
Allerdings galt diese Formel nicht immer, wie sie auch für die Zukunft kaum Geltung behalten wird. Man denke, vor ein bis zwei Menschenaltern gab es in dem Viehland Argentinien nichts, was der heutigen Viehzucht gleichkam, und noch vor vierzig Jahren führte der heute größte[S. 55] Getreideexporteur der Welt für den eigenen Bedarf Weizen ein, und so wird auch der fortschreitende Übergang der argentinischen Landwirtschaft zum intensiven Landbau das zukünftige Bild ändern, ganz abgesehen von den industriellen Möglichkeiten, die die Ölquellen von Comodore Rivadavia, die Wasserfälle des Iguassu und die noch unerforschten Mineralschätze der Anden bergen mögen.
Vieh und Korn! Seit etwa anderthalb Jahrzehnten fing das Getreide an, in den Ausfuhrziffern in die Vorhand zu kommen. Allein trotzdem ist Argentinien noch auf lange Zeit in erster Linie ein viehzüchtendes und kein ackerbautreibendes Land, da die gesamte Struktur der landwirtschaftlichen Besitzverhältnisse durchaus auf der Viehzucht beruht und den Ackerbau, wenigstens was die großen Estancien anbetrifft, gleichsam nur als einen landwirtschaftlichen Nebenbetrieb erscheinen läßt.
Die großen Estancien umfassen den weitaus besten und bedeutendsten Teil des anbaufähigen Landes. Von dem Willen ihrer Besitzer, der Estancieros, hängt es ab, ob und zu welchen Bedingungen Land zu Kolonisationszwecken verfügbar wird und in welcher Weise sich die argentinische Landwirtschaft entwickelt.
Ihre Grundlage sind eine unbegrenzte und schier unendliche Weidefläche, eine Fläche Land, die Deutschland, England, Frankreich und Italien an Ausdehnung übertrifft, und — die acht Kühe und der eine Stier, die die Spanier im Jahre 1553 hierher brachten. Heute ziehen nicht mehr riesige Herden, von halbwilden Hirten, den Gauchos, getrieben, in wochen- und monatelanger[S. 56] Wanderung auf der Suche nach frischer Weide über die Pampa, die Steppe, das Vieh wird in kleinen Herden in Potreros gehalten und über jedes einzelne Stück genau Buch geführt. Aber dem eingeborenen Volkselement, das von der Viehwirtschaft lebt, Herr und Knecht, haftet noch immer die ritterliche Großzügigkeit des Nomaden an, der ohne schwere körperliche Arbeit von dem natürlichen Überfluß seiner Herde lebt.
Ohne Dung und Pflege erneuert das jungfräuliche Land seine Säfte. Auf ihm wächst und vermischt sich das Vieh, ungehütet Sommer und Winter im Freien. Selbst die Mühe des Melkens und der Butterbereitung ist den meisten der Besitzer zu groß. Sie erübrigt sich auch, da der Gewinn ohnehin überreichlich ist und der Besitzer sich damit begnügen kann, das schlachtreife Vieh, einerlei ob Ochsen oder Kühe, an die Frigorificos, die Schlacht- und Kühlhäuser, zu verkaufen.
Dies ist das Bild der argentinischen Viehwirtschaft von heute. Es wird nicht das von morgen sein; denn schon sind die Anzeichen einer weitgehenden Intensivierung überall zu sehen. Von zwei Seiten geht sie aus: einmal von den Cabañas, jenen Estancien, in denen hochwertige Rassen zu Zuchtzwecken gezogen werden und in denen man das Vieh in modernen Stallanlagen hält, und dann von jenen Estancien, in denen weitsichtigere, energischere oder auch nur ökonomischer denkende Unternehmer (meistens Ausländer) zu Milchwirtschaft, Butter- und Käsebereitung und zu sonstiger landwirtschaftlicher Industrie übergegangen sind.
Aber einstweilen beruht noch die große Mehrzahl der[S. 57] Estancien auf der reinen Zucht von Schlachtvieh. Und auf großen Estancien kann es einem geschehen, daß man weder Butter noch Milch bekommt. —
Die Mittagssonne brennt auf das Land. Vor Hitze flimmert der Horizont, und in eiligem Galopp auf müden Pferden streben Capataze und Peone, die seit frühem Morgen unterwegs sind, der Estancia zu, der Schatteninsel im Sonnenmeer. Der dichte Hain von Eukalyptus und Paraiso wirkt wie ein Schutzdach vor der sengenden Sonne, die die Temperatur bis auf 40 Grad hinauftreibt. In ihm verstreut liegen das Haus des Mayordomo und das Wirtschaftsgebäude. Hier ruhen auch, mit Stricken an den Eukalyptusbäumen angebunden, die wertvollen Zuchtstiere, wahre Musterexemplare potenzierter Männlichkeit, die nur nachts zu den Kühen, die sie decken sollen, gelassen werden. Das Vieh draußen steht müde und apathisch um die Wasserbehälter, in die die klappernden Windräder Tag und Nacht frisches Wasser pumpen, oder es drängt sich, soweit Platz ist, in dichten Haufen im Schatten der wenigen Bäume, die als Alleen die zur Estancia führenden Wege einfassen, oder die an der Stelle einer ehemaligen Kolonistensiedelung blieben, als einziges Zeichen, daß hier einstmals ein Rancho stand.
Einst kannte dieses Land ja nicht einen einzigen Baum. Als die Spanier hierherkamen, gab es nichts als eine einzige unermeßliche Ebene, ein Meer von Steppe.
In all den Jahrhunderten, die seitdem verstrichen, sind keine Wälder gepflanzt worden. Nur um die Wohnhäuser der Estancieros setzte man einige Eukalyptus- und Paraisobäume, und es sind schon sehr moderne, gutgeleitete[S. 58] Estancien, in den systematisch Baumreihen und Buschgruppen als Sonnen- und Windschutz angelegt sind.
Statt Busch und Baum aber hat die fortschreitende Zivilisation der ehemals freien Pampa den Drahtzaun gebracht. Jenes Gesetz — ich weiß nicht mehr, aus welchem Jahre —, das die Einzäunung jedes Besitzes forderte, wurde die Grundlage der heutigen argentinischen Viehwirtschaft. Es machte dem freien Umherschweifen der Herden und ihrer wahllosen Vermischung ein Ende und ermöglichte damit erst eine systematische Aufzucht von Rassevieh.
So segensreich dieses Gesetz auch war, ist es der Anlaß, daß das ganze Land mit Draht durchzogen wurde, und man kann schon von einer Manie des Einzäunens sprechen. So scheiden sich beispielsweise die Provinzen durch Draht voneinander, die Bahngesellschaften sind verpflichtet, ihre Linien durch Draht einzuhegen, und jeder einzelne Besitz ist, wie gesagt, durch Draht geteilt. Millionenwerte stecken in diesen Drahtzäunen; denn das Meter Drahtzaun stellt sich auf einen Peso, und nach Angabe der Zollbehörde sind in dreißig Jahren etwa eineinhalb Millionen Tonnen Stacheldraht eingeführt worden.
Aber die Abgrenzungen durch Draht in sogenannte „Potreros“ ermöglichen erst eine rationelle Weide und Mästung des Viehs und auch eine genaue Kenntnis des Standes der Herden. Eine Anzahl Potreros untersteht dem Capataz, einem Vorarbeiter. Jeden Tag muß er die Umzäunung abreiten, um zu sehen, ob die Drähte fest genug gespannt sind, und er kontrolliert, ob die Windräder laufen und in den Behältern genug Wasser ist, ob die[S. 59] Weiden ausreichen, oder ob man noch ein paar Stück Vieh mehr halten kann, und ob sich kein Unkraut ausbreitet, das frisch gekaufte Herden an ihren Hufen eingeschleppt haben können.
Die Normalweidepflanze ist die Alfalfa. An Stelle des ursprünglichen harten Steppengrases waren mit der Zeit weichere Grasarten getreten. Aber der gewaltige Aufschwung der argentinischen Viehzucht rührt von der Einführung der Alfalfa genannten Kleeart her. Während auf dem rohen Kamp bestenfalls ein Stück Großvieh auf zwei Hektar gerechnet werden kann, zählt man bei Alfalfaweide zwei bis vier Stück Vieh auf einen Hektar. Der ungeheuere Vorteil der Alfalfa liegt darin, daß ihre Wurzeln auf der Suche nach Wasser acht bis zehn Meter tief in den Boden hinabkriechen und dabei wasserundurchlässige Tonschichten durchdringen, so daß dieser Klee auf einem Boden gedeiht, auf dem sonst nichts wächst. Nur wegen der Anpflanzung von Alfalfa verpachtet, wie schon erwähnt, der Estanciero zeitweise Teile seines Kamps an Kolonisten, die nach Ablauf ihres Pachtvertrages den Boden mit Alfalfa bestellt zurückliefern müssen. Im allgemeinen kann man dann für ein Alfalfafeld zehn bis zwanzig Jahre rechnen, bis der Boden neu umbrochen werden muß.
Die Großzügigkeit des Estancieros und nicht minder die Lethargie des Kreolen sind es, die den bisherigen Charakter der argentinischen Landwirtschaft bestimmen. Man hat intensive Arbeit nicht nötig, und bei den geringen Anforderungen, die der Eingeborene sowohl wie der eingewanderte italienische Landarbeiter an Komfort und[S. 60] Lebenshaltung stellen, während der Estanciero den größten Teil des Jahres in der Hauptstadt verbringt, ist das Land, das ein Garten sein könnte, überwiegend noch Weide.
Kaum daß um die Estancia ein Pfirsichhain und ein paar Gemüsebeete angelegt sind. Aber trotzdem drängt die ganze Entwicklung argentinischer Landwirtschaft auf die Einführung intensiver Bewirtschaftung und gibt damit dem europäischen Einwanderer ganz andere Möglichkeiten in die Hand als heute. Waren ehemals die Felle das einzige, was der Estanciero von seiner Herde verwertete — das Fleisch blieb liegen, ein Fraß für Geier und Jaguare —, so ist es heute das Fleisch, und morgen werden es ganz allgemein Milch und Butter sein und eine eingehende Nutzung landwirtschaftlicher Industrie jeder Art.
Estancia „La Louisa“.
Seit Wochen regnet es nicht. Der Boden ist trocken wie Zunder. Auf den Pfosten der Potrerozäune sitzen in regelmäßigen Abständen graugepudert die Habichte. Von den Hufen des Pferdes weht der Staub gleich gewaltiger Rauchfahne nach rückwärts. Aber sie ist wie ein dürftiges Fähnchen gegenüber der riesigen Wolke, die über den Horizont zieht. Breit und massig steigt sie gen Himmel.
Es ist eine Herde frisch gekauften Viehs, die zur Verteilung in die Ensenada getrieben wird. Dort sollen die aus dem Norden kommenden Rinder nach ihrer Qualität[S. 61] in kleine Herden geteilt werden. Ist dies geschehen, so wartet ihrer noch Bad und Impfung. Dies und Kastrieren, Markieren und Schneiden der Hörner ist neben der täglichen Kontrolle des Viehs, der Zäune, Pumpen und Tanks die Arbeit der Capataze und Peone, der Viehhirten der Estancia.
Es ist Arbeit, die ihr Vorgänger, der Gaucho, nicht kannte; er hätte auch für die modernen Hilfsmittel der Ensenada nur ein verächtliches Lächeln gehabt. Er hatte nichts als sein Pferd und seinen Lasso. Wollte in früheren Zeiten ein Estanciero zwecks Zählung oder Verkaufs seine Herde zusammentreiben, so geschah es auf freiem Feld, höchstens daß ein Pfosten den Platz bezeichnete, an den sich das Vieh mit der Zeit gewöhnte, so daß es willig mitzog, wenn die Gauchos es in dieser Richtung trieben. Aber seine Trennung und Absonderung geschah nur durch lebendige Gassen von Pferden und Reitern, die es oft genug durchbrach. Zum Markieren oder Kastrieren aber mußte jedes einzelne Stück mit dem Lasso gefangen und geworfen werden.
Heute ist der Lasso, jedenfalls auf modernen Estancien in den zentralen Provinzen, mehr ein Dekorationsstück, das aus Tradition noch am Sattel hängt. Wenigstens erlebte ich es, als ich vom galoppierenden Pferd aus den Lasso versuchte und natürlich fehlwarf, daß auch der unterweisende Peon bei Pferd wie Kuh und Schaf keinen besseren Erfolg hatte.
Die Ensenada hat den Lasso überflüssig gemacht. Ein weiter Corral, ein festumzäunter Platz, in den das Vieh getrieben wird. Auf die erste Abteilung, den Vorhof[S. 62] gleichsam, folgt eine zweite, die sich trichterförmig verengt und schließlich in einen engen Schlauch ausläuft, in dem zwischen schrägen festen Wänden kaum ein Stück Vieh Platz hat. Durch Fallgatter und Türen kann man bequem, ohne Anstrengung und Gefahr, jedes einzelne Stück in verschiedene Unterabteilungen, die auf den Gang münden, leiten.
Mit dumpfem Brüllen hat sich inzwischen die wandelnde Staubwolke dem Eingangstor der Ensenada genähert. Der voranreitende Peon zieht an einem Strick eine klappernde Lata, eine große leere Blechbüchse, hinter sich her. Willig folgt ihm die Herde. Versuchen einige Ungebärdige rechts oder links auszubrechen, so treiben die begleitenden Peone mit lautem Geschrei und geschwungener Peitsche sie auf den Weg zurück.
Der Corral ist voll. Die Staubwolke steht und steigt gerade gen Himmel. Unruhig schiebt und drängt sich die Herde hin und her. Das dumpfe Brüllen ist allgemein geworden. Aufreizend durchzittert es die Luft, die so dick voll Staub ist, daß man alles nur in ungewissen, verschwommenen Formen sieht. Von den Peonen sind einige abgesessen und haben zu beiden Seiten des Schlauchs Posto gefaßt. Die andern reiten an.
Lust faßt mich, mitzutun. Mit geschwungener Peitsche und lautem Geschrei gibt es ein Preschen auf die Rinder. Unwillig setzt sich ein Teil in Bewegung und drängt in die Trichter. Andere wollen nicht, brechen aus, gehen die Reiter an. Es gibt ein wildes, heißes Reiten. Immer wieder im Galopp um die Herde herum und mit Gewalt in sie hineingeprescht.
„Sigue vaca!“ „Vamos!“ „Sigue, sigue!“ und dazwischen ein indianerartiges Aufheulen in hohen Fisteltönen. Donnerwetter, trotz der Ensenada ist es harte Arbeit. Die Kehle ist heiser vom Schreien, Gesicht und Arme sind schwarz von Staub. Die braune Haut der Peone sieht sich an wie altes, brüchiges Leder.
Endlich haben wir einen Schub im Trichter. Das Tor wird geschlossen. Drinnen bleiben zwei berittene Peone und treiben die Rinder, die immer wieder umzukehren versuchen, in den Schlauch.
Der nächste Schub und der übernächste! Je weniger Vieh im ersten Corral bleibt, desto ungebärdiger wird es. Es sind ja jene Widerspenstigen, die bisher immer wieder auszubrechen verstanden, die übrigblieben und die nun hineingetrieben werden müssen.
„Sigue, sigue vaca!“ Die Kehle gibt nur mehr ein heiseres Brüllen her. Mund und Lunge sitzen voll Staub. Es ist ein eigentümliches Gefühl, in diese Masse Rinderhäupter hineinzureiten. Langsam schiebt sie sich vor, bis eines ausbricht und die ganze Herde kehrtzumachen droht. Da heißt es, sofort den Widerspenstigen zurückzutreiben.
Ein mächtiger Stier trottet vor mir zwischen den Kühen her. Zornig und tückisch schielt er, als empfinde er das Unwürdige seiner Situation. Plötzlich dreht er und will zurück. Eine Wendung mit dem Pferd, und die Last des angaloppierenden Pferdes prallt dem Stier in die Flanken, während gleichzeitig die schwere Peitsche ihm über den Rücken saust.
Die Brust des Pferdes ist Waffe und Werkzeug. Mit ihr reitet man das Vieh an, wie das Pferd auch gewöhnt[S. 64] ist, mit der Brust die Tore der Umzäunung zu öffnen. Bewundernswert ist die Ruhe der Tiere. Für den Neuling ist es ein unheimliches Gefühl, so mitten zwischen den Hörnerspitzen einer unruhig drängenden Rinderherde zu reiten, aber willig sprengt das Pferd immer wieder von neuem gegen jedes widerspenstige Rind. Es ist ein heißes, hartes, aber auch schönes, ritterliches Arbeiten. In der Luft liegt etwas von der Aufregung, Lust und Gefahr eines siegreichen stürmischen Schlachttages.
Ein anderes Bild: Eine Herde frisch eingetroffener Pferde jagt über den Kamp. Im Galopp geht es zur nächsten Ensenada. Sie müssen gezeichnet werden.
Es ist Sitte und Gesetz von jenen Zeiten her, als das Land noch keine Drahtzäune kannte, daß jedes Stück Vieh die Marke seines Besitzers, die gesetzlich eingetragen ist, führen muß. Diese Marke ist etwas Ähnliches wie bei uns ein Wappen und wird auch auf dem Briefbogen geführt. Wird ein Stück Vieh verkauft, so wird die Marke umgekehrt über die erste Markierung eingebrannt, zum Zeichen, daß der Besitzer das Pferd rechtmäßig verkaufte, und daneben wird das Zeichen des neuen Besitzers aufgeprägt.
Die Pferde stehen jetzt hintereinander im Schlauch, das vorderste zwischen zwei Gattern vorne und hinten eingepreßt. Von einer Plattform aus kann man ihm bequem mittels der Schlaufe der Peitsche eine bändigende Fessel über die Nüstern legen. Inzwischen glüht an dem kleinen Knochenfeuer, das mit Fett zu hellerer Flamme angefacht wird, das Brandeisen.
Ruhig steht das gefesselte Pferd. Der Peon setzt ihm[S. 65] das Eisen auf den Schenkel. Jetzt spürt das Tier die Hitze. Wild schlägt es mit den Hufen gegen die Bretterwände und versucht, sich mit gewaltigem Ruck zur Seite zu werfen. Umsonst, schon hat sich der glühende Stahl unerbittlich in sein Fleisch gebissen. Das Gatter öffnet sich. Verzweifelt sich schüttelnd, stürmt es ins Freie. Das nächste!
Für besonders ungebärdige Tiere, vor allem für Stiere, dient eine Art Holzklammer, welche die Tiere so zusammenpreßt, daß sie ganz widerstandslos werden. Eine ähnliche Vorrichtung benutzt man zum Festklemmen des Kopfes, um die Hörnerspitzen kappen zu können.
Eine besondere Einrichtung erfordert das Baden, dem alle aus dem Norden kommenden Tiere unterworfen werden müssen, da sie durchweg mit Zecken behaftet sind. Die Anlage ähnelt der Ensenada. Nur endet der Schlauch in einem engen Kanal, der mit desinfizierender Lösung gefüllt ist. Langsam trotten die Rinder den engen Gang vor. „Vamos! Sigue vaca, sigue!“ Mit den Peitschenstielen treiben die Peone die Unheil witternden Rinder an. Jetzt steht das erste vor dem Kanal und stutzt. Aber schon hat es den Fuß auf die schräge Zementbahn gesetzt. Und damit ist sein Schicksal besiegelt. Es saust die steile Bahn hinunter und schlägt auf dem hochspritzenden Wasser auf. Ängstliches Brüllen, verzweifelt starrende Augen, aber ein mit langer eiserner Gabel bewaffneter Peon faßt die Hörner und taucht unerbittlich den Kopf in die dunkle Flut.
Rind auf Rind passiert. Will eines absolut nicht vor, so genügt ein rascher Griff, der ihm den Schwanz bricht, um es vorzutreiben.
Dazwischen traben die Kälber. Sie sind die Wider[S. 66]spenstigsten. Oft gelingt es ihnen, sich umzudrehen. Dann müssen sie rückwärts schreitend ins Bad getrieben werden. Oder zwei purzeln übereinander, geraten gleichzeitig mit einem ausgewachsenen Rind ins Bad und kommen unter dessen Füße; dann gibt es aufreibende Arbeit, sie vor dem Ertrinken zu bewahren.
Am Ende des Bades führt eine Rampe in zwei zementierte Einzäunungen, aus denen die kostbare Flüssigkeit wieder ins Bad zurückfließen kann. Hier steht zitternd und tropfend das verängstigte Vieh, während von der andern Seite das aufreizende „Sigue vaca!“ klingt und die Peone einen neuen Schub Rinder in den Trichter treiben.
Es ist spät geworden, als ich mich verabschiede. Schon ist der die Luft füllende Staub golden von der sinkenden Sonne.
„Buenas noches, caballeros!“ Mit vollendeter Ritterlichkeit ziehen die braunen Gestalten, von denen mehr als einer aussieht wie ein Strolch, die Hüte und schütteln mir kavaliermäßig die Hand. Es ist wohl nicht nur das alte stolze Indianerblut in jedem von ihnen, sondern auch ihre ritterliche, reiterliche Tätigkeit, die ihnen nur das Leben im Sattel, die Arbeit mit Peitsche, Lasso und Messer als die einzig manneswürdige erscheinen läßt.
San Geronimo.
Der leichte Fordwagen jagt hüpfend und stoßend über die löchrige Straße, die sich neben den Drahtzäunen hinzieht. Zwischen den kleinen Weiden, auf denen[S. 67] das Vieh enger beisammen steht, Felder mit Korn und Mais. Der Charakter der Landschaft wird fast norddeutsch. Darüber ein blauer Himmel mit getürmten Haufenwolken, wie man ihn oft im bayerischen Hochland sieht. Dabei aber sitzt es auf den Wegen gelb und grünlich und orangerot von Schmetterlingen, wie Blütenfall.
Die erste Kolonie, die wir passieren, ist San Carlos. Es bedürfte nicht der Worte des Begleiters, um zu wissen, daß hier Italiener wohnen. Im nächsten Ort, der Anklänge an die Normandie zeigt, wohnen Franzosen, bis wir in San Geronimo ankommen, das Schweizern und Deutschen gehört. Friedliche, saubere Häuser mit großen Blumengärten, mit Sträuchern und Obstbäumen. Beides kennt der Eingeborene nicht. Es ist ihm zu mühsam. „Obst kommt nicht“, antwortet er, wenn man ihn frägt, oder: „Die Heuschrecken fressen es ja doch.“ Aber die Deutschen und Schweizer pflanzen es, und es gedeiht, trotzdem gerade hier die Heuschreckenplage besonders groß ist, wie die rings um das Dorf gleich Wällen aufgestellten Bleche künden, die vor der anmarschierenden Brut schützen sollen.
An der weiten grünen Plaza die Kirche. Daneben blütenumrankt das Pfarrhaus. Der Pater, der seit dem Kriege keinen Deutschen von drüben sprach und dessen Fragen, wie alles kam, kein Ende nehmen wollten, blätterte in der Chronik: Vor etwa 60 Jahren, im März 1857, kamen die ersten Deutschen herüber, 80 Familien aus der Gegend von Mainz, die das benachbarte Esperanza gründeten, heute eine blühende Stadt. Ein Jahr später kamen Schweizer aus dem Wallis und legten den Grund zu San Geronimo.
Später sitze ich bei alten Kolonisten, die jene Zeit noch als Kinder erlebten, und lasse mir erzählen, wie hart der Anfang war. Wohl hatte die Regierung das Land umsonst gegeben. Aber der erste Weizen mußte mit Hacken und Rechen in den Boden gelegt und mit der Sichel geerntet werden. An Nahrung gab es nur Fleisch von den benachbarten Estancieros. „18 Monate hatten wir kein Brot,“ erzählte der alte Kolonist aus dem Hessischen, „und unmittelbar vor dem Hause konnte man die Rehe schießen.“
Die damals hart und schwer um des Lebens Notdurft ringen mußten, sind heute müde und alt. Aber sie sind alle reich geworden. Nach deutschen Begriffen zum Teil Millionäre.
Noch ist San Geronimo deutsch, aber es gilt einen harten Kampf, es deutsch zu erhalten. Gibt es auch Familien, in denen noch die Enkel deutsch sprechen, so doch auch andere, in denen bereits die zweite Generation nur Spanisch kann. Als Kaufleute sind Argentinier ins Dorf gekommen, die Peone sind Eingeborene, der Schulunterricht ist spanisch. Halten die Eltern nicht streng darauf, daß im Hause deutsch gesprochen wird, so lernen die Kinder nur das ihnen viel leichter fallende Spanisch. Der Pater klagte mir sein Leid. Er kämpft tapfer für das Deutschtum und unterhält eine Privatschule, in der in Deutsch unterrichtet wird. Sie wird immerhin von 140 Knaben besucht, während die Mädchen deutschen Unterricht von — man höre und staune! — französischen Schwestern erhalten. So gibt es also doch noch Inseln, denen der Haß fernblieb.
Die Grundlage des Wohlstandes in San Geronimo[S. 69] wie in allen andern Kolonien ist der Weizenbau. Heute wird jedoch nach und nach die Ackerwirtschaft durch reine Viehwirtschaft ersetzt. Eine ganze Reihe von Gründen sprechen mit: einmal die Erschöpfung des Bodens, die Unsicherheit des Getreidebaues, bei dem einige schlechte Jahre mit Trockenheit und Heuschrecken um jeden Gewinn bringen können, während Viehzucht einen ständigen und sicheren Ertrag gewährt. Je weniger Getreide gebaut wird, desto weniger lohnt es sich für Dreschmaschinenunternehmer zu kommen. Mit ihrem Fernbleiben geht der Körnerbau weiter zurück, und heute baut San Geronimo nicht einmal mehr so viel Getreide, um den eigenen Bedarf zu decken.
So sind heute die Bauern zu dem Betrieb der Estancien, zur Viehhaltung, zurückgekehrt, allerdings einer wesentlich intensiveren, deren Grundlage die Milchwirtschaft ist. Nötig ist dies ja bereits durch die viel geringere Bodenfläche, über die die Chacra, das Bauerngut, verfügt.
Ursprünglich erhielten die Kolonisten von der Regierung nur eine Konzession, kinderreiche Familien zwei. Diese alten Konzessionen messen 33 Hektar, die neuen 25. Fast alle Kolonisten aber konnten ihren Besitz durch Kauf erweitern. Es gibt heute Kolonisten mit 20 Konzessionen. Die Regel aber sind vier bis sieben. Eine Familie kann etwa vier noch ohne Hilfe bewirtschaften. Die Kinder gehen sämtlich wieder in die Landwirtschaft. Der Besitz wird unter sie geteilt. Durch Zukauf sucht man eine allzu weitgehende Verkleinerung der Chacras zu verhindern.
Auf einer alten Konzession lassen sich zirka 60 Stück Rindvieh halten, so daß selbst ein kleiner Kolonist über[S. 70] größere Herden verfügt als ein deutscher Gutsbesitzer. Die Milch wird an Molkereien verkauft, für 6 bis 7 Centavos das Liter. Es gibt eine genossenschaftliche Molkerei am Ort, andere liefern nach Rosario oder Santa Fé oder direkt nach Buenos Aires. Die Magermilch dient der Schweinemast. Mit einer Kaseinfabrik ist der Anfang landwirtschaftlicher Industrie gemacht. Dazu kommen Hühnerzucht und Obstbau.
Infolge dieses intensiven Betriebes sind die Landpreise außerordentlich hoch. Eine alte Konzession von 33 Hektar kostet 12–14000 Peso. So kommt diese Gegend für Einwanderer nicht in Frage, höchstens um zu lernen, oder allenfalls als Pächter.
Einer der Kolonisten zeigt mir eine seiner Chacras, eine halbe Autostunde vom Ort. Die fünf Konzessionen, die sie mißt, sind an einen Italiener, einen ehemaligen Österreicher, verpachtet. Er ist als Medianero auf halben Gewinnanteil gesetzt. Aus der Milch allein zieht er als seinen Anteil im Jahr 3000 Peso. Daneben hat er aber auch von einer halben Konzession 326 Zentner Mais geerntet.
Ein großer Obst- und Blumengarten umprangt das Haus. Kaum eine Fruchtart fehlt da: Pfirsiche, Aprikosen, Äpfel und Birnen, von denen man im allgemeinen behauptet, daß sie hier nicht kämen, Quitten, Orangen, Mandarinen, Pflaumen, Feigen und selbst Dattelpalmen. Die meisten Bäume, die dicht voll Früchte hängen, sind 30 bis 40 Jahre alt, aber in einem Teil des Gartens steht auch eine Hecke dünner, doch immerhin übermannshoher Stämmchen. Sie ist aus Pfirsichkernen entsprossen, die im vorigen Jahr in den Boden gelegt, und an einem[S. 71] und dem andern der ein Jahr alten schmucken Bäumchen hängt bereits seidenweich und rund ein großer Pfirsich. Wäre nicht die Heuschreckenplage, das Land wäre das Paradies!
Auf der andern Seite ist der Corral, in den die Kühe zum Melken getrieben werden. Er ist besser eingerichtet und sauberer als die Tambos der Estancien. Die eine Seite nimmt eine offene Halle ein, in der die Kühe bei schlechtem Wetter gemolken werden. Weiterhin ist eine Einzäunung für Schweine, und gackernd laufen über den Hof Hunderte von Hühnern, bei dem billigen Futter und den hohen Eierpreisen — hier draußen 50 Centavos das Dutzend — sicher kein schlechtes Geschäft.
Es ist ein sonderbares Gefühl, das mich hier beschleicht. Hier ist Heimat und doch Fremde. Wie eine Figur aus dem „Lederstrumpf“ steht der alte Pionier mir dem wallenden weißen Bart auf seinem Grund. Er hat ein Leben hinter sich, wie wir es nur aus Geschichten kennen, aber er hat reiche Ernte eingebracht.
Ist dies heute noch möglich? Gibt es noch Teile in der Republik, in denen es der Fremde zu gleichem Glück und Wohlstand bringen kann wie jene Deutschen vor zwei Menschenaltern in Santa Fé? Der Gedanke beschäftigt mich, während wir im Auto zurücksausen durch die Abendlandschaft, die ganz von Goldstaub flimmert. Die Heuschrecken, die vom Wege aufschwirren, prallen gegen den Wagen. Eine ägyptische Plage, und trotzdem das blühende Land! Galt ihretwegen vielleicht einst Santa Fé für ebenso aussichtslos für Kolonisation, wie man es heute wegen Klima, Trockenheit und Wassermangel von den[S. 72] noch unerschlossenen Teilen der Republik wähnt? Jede Mühe und Fährlichkeit scheint es wert, mitzuhelfen, Raum und Brot für hungernde Menschheit zu schaffen.
Auf dem Paraná.
In den Straßen von Santa Fé stand die Glut, körperlich, sichtbar. Man schritt durch sie hindurch, wie durch greifbare Masse, und am Fuß der Häuser fehlte auch die kleinste Spur von Schatten.
Die Hitze stand über allem in der Stadt. Über allem, was man tat und sprach; es war, als sei alles gelähmt, belastet, betäubt von diesem schwülen, feuchten Hauch, der bis auf den letzten Tropfen alle Feuchtigkeit aus dem Körper zu pressen suchte. Und diese Schwüle sprach wohl auch aus den Worten des deutschen Lehrers, der davon renommierte, wie anders sie, die Auslandsdeutschen, den Krieg beendet hätten, wenn sie nur drüben gewesen wären, und wieviel mehr sie im Ausland gelitten als jene in der Heimat, denen es im Grunde an nichts gefehlt habe.
Die Nacht brachte keine Kühlung. Die Luft stand im Zimmer wie ein heißes Ölbad. Sobald man sich niederlegte, fiel die feuchtschwere Luft als drückende Hitzelast auf die Brust. Wieder aufgestanden und zu entrinnen versucht. Umsonst. Wie hineingegossen blieb der Körper in der stickigen Schwüle.
Nervenaufreizend summten die Moskitos, die immer wieder ihren Weg durch die Netze fanden. Nur wenn man den schweren starken Ventilator dicht ans Bett rückte,[S. 73] konnte man sich für Augenblicke das Gefühl der Kühlung vortäuschen.
Endlich brach das Unwetter los, das die Luft mit so überreicher Feuchtigkeit gesättigt hatte. Strömend floß, rann, stürzte das Wasser vom Himmel. Draußen rieselte und planschte es. Durch das Badezimmer trat ich aus dem unerträglich heißen Raum ins Freie. Die Hoffnung auf Kühlung trog. Auch hier war es nicht anders wie im Treibhaus. Schlaflos verging die Nacht.
Am frühen Morgen fuhren wir im kleinen Dampfboot über den Strom, über den Paraná. Wie eine Vision, phantastisch schwül, blieb die Stadt zurück. Vorbei an ärmlichen Häusern und Hütten, den Vorstädten Santa Fés, menschlichen Wohnstätten, die nur aus vier Pfählen und einem Schilfdach bestanden. Überdies war der Strom jetzt über seine Ufer getreten und hatte die armen, halbnackten Bewohner aus ihren armseligen Behausungen gejagt. Wie seltsame Fahrzeuge schwammen die Schilfdächer auf der gelben, trüben Flut.
Am jenseitigen Ufer baut sich die Stadt Paraná auf steilem Steinhang mit Türmen und Kuppeln auf. Dahinter ziehen sich die welligen Hügel der Provinz Entre Rios in unabsehbaren Reihen zum Horizont, nach der grenzenlos ebenen Eintönigkeit der Pampa ein überraschendes Bild.
Die steigende Sonne bringt die Glut des vergangenen Tages wieder. Wie eine Erlösung begrüßt man am Horizont, im Zollhaus auf den Koffern sitzend, den wie ein stockhohes Haus mit schaumaufwirbelnden Schaufelrädern rasch näherkommenden Mihanovichdampfer.
Kühle Kabinen, geräumige Salons und der fächelnde Lufthauch der raschen Talfahrt. Die Hitze der vergangenen Tage versinkt wie böser Traum.
Aber über dem ganzen Schiff liegt es wie ein Hauch tropischer Fremdheit. Es kommt den Paraná herunter von Asuncion, und Paraguayaner stellen den größten Teil der Passagiere. Gelbe bis dunkelbraune Gestalten mit tiefschwarzem Haar, und Frauen von seltsam fremdartiger Schönheit. Den Farmer mit der Pergamenthaut im saloppen Leinenanzug mit dem offenen Hemd ohne Kragen begleitet das junge Mädchen in schwarzer Seide, augenscheinlich seine Compañera, die in Paraguay in der Regel an Stelle der Gattin das Leben des Mannes teilt.
Alle, die auf diesem Schiff vom Norden herunterkommen, tragen irgendwie das Merkmal der Hitze. Irgendwie hat sie die blendende, glühende Sonne gezeichnet. Das gilt von dem zarten, träumerischen, berückend schönen Mädchen — fast ist es noch ein Kind — mit der pfirsichweichen mattbraunen Haut ebenso wie von jenen unförmig in die Breite gegangenen Frauen mit dem merkwürdig stechenden, heimtückischen Blick, deren ganzes Wesen Nichtstun, Lässigkeit, Schwelgen in erotischen Träumen kennzeichnet, während der Körper Tag für Tag untätig in Hängematten und auf Pfühlen liegt. Und sie zeichnete auch jene deutsche Frau, die mißmutig, gequält, verärgert mit dem geschwollenen, entzündeten Fuß, in den der Sandfloh seine Eier gelegt hatte, nach jahrelangem Aufenthalt im Norden, enttäuscht und verbittert, verblüht zurückkehrt.
Die Nacht im Liegestuhl auf dem kühl umhauchten Deck ist ein unerwartet geschenkter Ruhepunkt zwischen[S. 75] dem qualvoll heißen Santa Fé und Buenos Aires, das um diese Zeit auch nichts anderes ist als ein Glutofen, von dem die Zeitungen Temperaturen bis zu 40 Grad und täglich Todesfälle infolge Hitzschlag melden.
Ich muß an alle die Kolonisationsprojekte denken, die wir auf der Estancia durchgesprochen, von der Besiedlung des Chaco, von Misiones, Formosa und Paraguay. Kenner meinten, die Temperaturen seien dort auch nicht schlimmer, in gewisser Hinsicht sogar erträglicher als in Santa Fé oder Buenos Aires. Mag sein, wenn es auch wenig wahrscheinlich klingt. In jedem Fall ist diese erste große Hitzewelle, die den frisch aus Europa Kommenden nach so kurzem Aufenthalt überfällt, eine Warnung, ein Menetekel, nicht unvorsichtig, nicht ohne sorgfältige Prüfung jene Zonen aufzusuchen, in denen die Sonne als allmächtige, unumschränkte Herrin mit glühender Peitsche herrscht.
Buenos Aires.
Im Hafen lag noch die beflaggte „Argentina“, der erste deutsche Passagierdampfer, der seit Kriegsausbruch in den La Plata eingelaufen war; die Sirenen, die zu ihrem Willkommen über die Docks gegellt, waren noch kaum verhallt. Es war ein starker Sympathiebeweis für Deutschland gewesen, und auch jene Zeitungen, die während des[S. 76] Krieges auf Deutschland nicht genug Schmähungen hatten häufen können, hatten freundliche Worte gefunden.
Die Casa Rosada, der Regierungspalast, flimmerte in der Sonne. Die rosaroten Wände glühten wie von innen erleuchtet. Hier war man immer deutschfreundlich und entschlossen, den Krieg zu vermeiden. Auch in jenen schweren Tagen, als das Ungeschick des deutschen Gesandten es dem argentinischen Präsidenten fast unmöglich machte, seine Neutralitätspolitik fortzusetzen. Damals stand Irigoyen fast allein gegen Volk, Presse und Parlament. Er schaffte es; der ungeheure Wille des einen Mannes siegte.
Verständlich, daß ich ihn sehen und sprechen wollte. Es war nicht leicht; denn natürlich ist er überlaufen, und überdies ist er eine zurückgezogene Natur. Die deutsche Gesandtschaft hatte es sogar für vollkommen ausgeschlossen erklärt, diese Unterredung zustandezubringen, aber das „Argentinische Tageblatt“ machte sie sofort möglich. Kaum hatte es von meinem Wunsche gehört, so erhielt ich eine Einladung in das Präsidentenpalais.
Es war wirklich nicht ganz leicht, bis in das Innerste der Gemächer vorzudringen, und wir entgingen übermäßig langem Warten nur dadurch, daß uns ein Vertrauter durch den Eingang des Präsidenten und mittels des ihm vorbehaltenen Fahrstuhles unmittelbar in das Vorzimmer des Präsidenten geleitete.
Als wir bei Irigoyen eintraten, saß er an seinem Schreibtisch, den mächtigen, fast ungefüge wirkenden Kopf über Schriftstücke gebeugt, die ihm einer seiner Sekretäre reichte. Als er den Kopf hob, schaute man in ein durchdringend blickendes Auge, wie ich es vorher nur bei[S. 77] Thomas Alva Edison gesehen. Eine seltsame Mischung von Güte und unbeugsamem Willen lag in Gesicht und Erscheinung des Mannes, der, auf Gehalt, Wohnung im Palast sowie allen Luxus und Prunk verzichtend, in den einfachsten Verhältnissen lebt, der nur einen Gedanken kennt: sein Land, und der keinen Augenblick zögert, seinen Willen einer Welt entgegenzusetzen.
Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er jetzt auf uns zuging und uns in der natürlich höflichen und herzlichen Art des Südamerikaners begrüßte, dem republikanisches Empfinden und demokratische Form seit Generationen angeboren ist.
Man braucht nicht sehr lange mit Irigoyen zu plaudern, um dem faszinierenden Zauber zu unterliegen, den diese starke Persönlichkeit ausstrahlt, und man versteht ebensosehr die fanatisierende Wirkung, die er auf die Massen ausstrahlt, wie die innerliche Überredungskunst, die schon oft genug aus erbitterten Gegnern ergebene Freunde machte.
Was an dem Präsidenten der Argentinischen Republik am stärksten wirkt, ist die gerade Offenheit, mit der er seine Gedanken äußert und seine Ideen vertritt. Es zeigte sich dies ganz besonders, als wir auf die argentinische Völkerbundpolitik zu sprechen kamen. Man hatte gerade in deutsch-argentinischen Kreisen die Meinung geäußert, daß Deutschland mit seinen Sympathiekundgebungen gegenüber Argentiniens Haltung auf dem Völkerbundkongreß in Genf zurückhalten solle, da ein allzu großes Maß von Zustimmung und Sympathie Argentiniens Stellung gegenüber den Alliierten erschweren müsse.
Ich äußerte diese Bedenken, aber Irigoyen schüttelte nur den Kopf: „Unsere Haltung in Genf“, sagte er, „wie auch unsere Neutralitätspolitik während des Krieges war lediglich bestimmt durch unsere Interessen als souveräner Staat, durch unsere Auffassung von einer wirklich gerechten, völkerversöhnenden Politik, sowie durch unsere Sympathien gegenüber Deutschland. Was Dritte dazu meinen sollten, ist uns völlig gleichgültig und kann in keiner Weise unsere Entschlüsse oder unsere Politik beeinflussen.“
Im weitern Verlauf des Gespräches entwickelte Irigoyen seine Ideen über einen wirklichen Völkerbund. Und der sonst so ruhige abgeklärte Mann ereiferte sich dabei.
„Que esperanza!“ — rief er aus, „welche Idee, ein Völkerbund, dem nicht alle Staaten angehören! Wie soll ein solcher Staat den Frieden garantieren können?“
Und er sprach im Anschluß daran von seinen Sympathien für Deutschland, für das deutsche Volk, und welche Erwartungen er in die deutsche Zukunft setze.
Von seiten jener ultrareaktionären extrem monarchistischen Auslandsdeutschen wird immer wieder betont, wie sehr Deutschland durch die „Schmach“ seiner Niederlage und der Revolution in der Achtung des Auslandes gesunken. Und da auch Irigoyen von diesen Kreisen gerne als Kronzeuge angeführt wird, ergab es sich von selbst, daß das Gespräch auch diesen Punkt berührte.
„Unsere Sympathie“, meinte der Präsident, „gilt in erster Linie dem tüchtigen und arbeitsamen deutschen Volk. Ohne Rücksicht auf seine Regierungsform. Aber selbstverständlich ist es, daß wir als Republikaner für eine[S. 79] deutsche Republik doppelte Sympathien empfinden. Im Kriege muß schließlich immer einer verlieren, und die Niederlage kann die Bewunderung für das, was Deutschland geleistet, nicht verringern. Statt an Sympathien zu verlieren, hat das deutsche Volk durch die Revolution nur gewonnen, und zwar durch die Tatsache, daß es aus einem derartigen weltgeschichtlichen Zusammenbruch sich aus Anarchie in die Bahnen einer neuen ruhigen Entwicklung hinaufarbeitete.“
„Selbstverständlich ist es,“ fügte Irigoyen hinzu, „daß die Spuren eines derartigen Umwandlungsprozesses noch nicht verwischt sind und daß man noch mit einem Dezennium wird rechnen müssen, ehe die deutsche Republik sich völlig konsolidiert hat. Aber ich habe keinen Zweifel daran, daß Deutschland sich zu einem großen demokratischen Gemeinwesen entwickeln wird, in ähnlicher Weise wie die Vereinigten Staaten.“
Wir sprachen noch lange über den Krieg, die Revolution, die Blockade und den Hunger und das Elend, die in ihrem Gefolge einherzogen. Auch über Versailles und die Wirkungen, die eine Politik heraufbeschwören muß, die ein Volk durch unerfüllbare Forderungen zur Verzweiflung treibt. Das Gesicht Irigoyens war sehr ernst, sehr nachdenklich, als ich von den Konsequenzen sprach, die die Geschehnisse in Europa auch für die südamerikanischen Republiken haben müßten.
Es war spät geworden. Durch die weit offenstehenden Fenster sah man, wie die lehmgelben Wasser des La Plata sich rot zu färben begannen. Es sah aus, als spüle der Ozean von Osten her Blut an den Strand.
Ich stand auf; es war Zeit zu gehen. Mehr als Phrase war es, als ich Irigoyen zum Abschied sagte, daß die Unterredung mit ihm mein stärkster Eindruck in Südamerika gewesen. „Sie kennen ja jetzt den Weg zu mir,“ sagte er zum Abschied, „sobald Sie wieder nach Buenos Aires kommen, vergessen Sie nicht mich wieder aufzusuchen.“
Man ist außerordentlich höflich in Südamerika. So höflich, daß man keineswegs jedes Wort, das im Verlauf eines Gespräches fällt, als bare Münze nehmen darf. Aber von dem, was Irigoyen über seine Politik und über Deutschland sagte, blieb nachhaltig das starke Gefühl, daß hier ein Mann gesprochen, der unbedingt und unbeugsam zu seinen Worten und Entschlüssen steht.
Bahia Blanca.
Von der Station Constitucion, dem Bahnhof der Südbahn in Buenos Aires, aus dessen bretterbudenartiger Halle sonst die Ausflüglerzüge nach Quilmes und die eleganten Badezüge nach Mar del Plata laufen, fährt zweimal in der Woche der Neuquenzug, der bis nach Zapala an den Fuß der Kordillere führt. Die Rio-Negro-Neuquen-Bahn ist die nördlichste der vier Stichbahnen, die vom Atlantischen Ozean aus nach Patagonien hineinführen, gleichsam als ein schwacher Versuch, dieses ungeheure Gebiet zu erschließen.
Patagonien ist für den Europäer im allgemeinen ein Begriff, unter dem er sich nicht viel vorstellen kann. Besten[S. 81]falls hat er ein unklares Bild von Wüste und Steppe, von winddurchwehter, eisiger Hochfläche, auf der Indianer und Schafe ein kümmerliches Dasein fristen. Aber auch der Argentinier der zentralen Provinzen und des Nordens besitzt, soweit er nicht geschäftliche Verbindungen nach dort unten hat, kaum eine bessere Kenntnis dieses Teiles seiner Heimat, der sich über nicht weniger als 18 Breitengrade erstreckt. Die meisten, zu denen ich von meiner Absicht sprach, Patagonien zu bereisen, meinten erstaunt: „Was wollen Sie da? Das ist die reine Wüste, höchstens für Schafzucht geeignet. Im übrigen kommen Sie da bereits bald in den Winter.“ Allerdings wird in dieses Urteil das Rio-Negro-Gebiet nicht eingeschlossen, das zwar nominell zu Patagonien gehört, aber einen Begriff für sich bildet, da die klimatischen und infolge der künstlichen Bewässerung auch die wirtschaftlichen Verhältnisse völlig andere sind als im mittleren und südlichen Patagonien.
Der Zug füllt sich. Estancieros und Chacreros, die nach kurzem Besuch in der Hauptstadt auf ihre Besitzungen zurückfahren, vor allem aber Kaufleute, Geschäftsreisende, Aufkäufer und Arbeiter, die zur Alfalfa- und Obsternte an den Rio Negro fahren. Vom Kupeefenster aus sieht man den Strom am Zug entlang streichen, und unter all den dunkelfarbigen, schwarzhaarigen tauchen mit einem Male ein paar blauäugige helle Blondköpfe auf. Junge Burschen in Lodenanzügen, die ihre Säcke schleppen. Auf den ersten Blick unverkennbar deutsche Offiziere, die mit Fahrkarten der Einwanderungsbehörde nach dem Süden fahren, um sich dort am Rio Negro oder in der Kordillere eine neue Existenz zu gründen.
Immer wieder stößt man auf das eine schwere Problem: da Frachtraum und mehr noch Valutanot es nicht ermöglicht, den gewaltigen Überschuß dieses Landes an Nahrungsmitteln dem hungernden Deutschland zuzuführen, sollte es da nicht gehen, all denen, die in Deutschland weder Brot noch Arbeit finden, hier eine neue Heimat zu schaffen?
Die Reise im Zwischendeck kostet beim heutigen Kurs 5000 Mark, der Aufenthalt in Buenos Aires selbst bei bescheidensten Ansprüchen 2–3000 Mark für den einzelnen. Es gehört also ein kleines Vermögen dazu, um nur herüberzukommen und hier mit nichts anfangen zu können. Und doch! — Wenn sich hier nur Menschen fänden, die statt zu debattieren und zu verhandeln rasch und tatkräftig helfen wollten!
Drei Richtungen stehen sich in der Siedlungs- und Kolonisationsfrage gegenüber. Jene, die den Einwandererstrom nach dem subtropischen Norden, in den Chaco, nach Formosa und Misiones, lenken wollen, die andern, die nur auf die zentralen Provinzen schwören, auf Buenos Aires, Santa Fé, Cordoba, Entre Rios und allenfalls die Pampa, und schließlich jene, die nur den Süden gelten lassen.
Auf eine kurze scharfe, aber leider im allgemeinen zutreffende Formel gebracht, kann man sagen: Die Herren in Buenos Aires halten stets die Gegend für die geeignetste zur Kolonisation, in der sie Kampe liegen haben, die sie entweder anbringen wollen, oder für die sie durch intensivere Wirtschaft fleißiger Kolonisten Wertsteigerung erhoffen. Die zentralen Provinzen haben das eine für sich,[S. 83] daß der Einwanderer auf gutes Land und in Verhältnisse kommt, die den europäischen verhältnismäßig am ähnlichsten sind. Da hier jedoch der Hektar 300, 400, 500 und mehr Peso kostet, ist es mir unklar, woher die Mittel hierfür aufgebracht werden sollen.
Im Norden gibt es viel billiges und auch gutes Land. Aber ob deutsche Familien dort auf die Dauer die sehr hohen Temperaturen ertragen?
So bleibt zunächst nur der Süden.
Der Früchteaufkäufer, der mir gegenüber sitzt, schwärmt davon. Er kauft für eine Engrosfirma in Buenos Aires ein. Seine Pflücker sind schon unten; denn die Chacreros verkaufen die Ernte meist auf den Bäumen. Er zahlt für den Cajon, für die Kiste Pfirsiche, die etwa 180 bis 200 Stück faßt, zweieinhalb Peso. Mit Pflücklohn, Fracht und sonstigen Unkosten stellt sich der Cajon auf 6 Peso. Verkauft wird er im Großhandel für 12 bis 14 Peso. Und bis die Früchte an den Konsumenten kommen, kosten sie ein bis eineinhalb Peso das Dutzend. „Muy lindo negocio“ — ein feines Geschäft —, meint schmunzelnd der Händler.
Draußen zieht erst unter klarem Sternenhimmel und dann bei grauendem Tag das Land vorbei. Noch öder, noch trostloser, noch flacher, wenn möglich. Stundenlang nur roher Kamp und der ewige Draht. Die Estancien müssen weit drinnen im Lande liegen. Kaum daß man ab und zu einen dunklen Schatten am Horizont sieht.
Erst hinter Pringles ändert sich das Bild. Sanft ansteigende Hügel, dann steile Felsen, tief eingeschnittene Flußtäler. Und gleichzeitig zwischen den Bergen grüne[S. 84] Gärten, Bäume — man staunt, richtige Bäume —, die Sierra de la Ventana, die einer Oase gleich die ewig gleichförmige Landschaft unterbricht.
Aber nach wenigen Stationen werden die Hügel flacher und verlaufen sich schließlich wieder in der unendlichen Ebene, graubraun, öde und tot.
Mit einem Male steht mitten in der Ebene ein Schiff. Schornsteine, zwei Masten und unterhalb des schwarzen Rumpfes ein leuchtender roter Streifen. Unvergleichlich phantastisch sieht es aus, bis das Auge langsam erkennt, daß die Ebene am Horizont ohne erkennbare Grenzlinie in Schlick, Sumpf und schließlich offenes Wasser übergeht.
Schiff auf Schiff. Dann die unheimlichen Türme der Getreidesilos: Bahia Blanca, die Metropole des Südens!
Bahia Blanca.
Die Geschichte mancher Städte des Landes ist nicht anders als in der Union. Vor achtzig, neunzig Jahren noch ein Indianerfort, vor einem Menschenalter ein Dorf, heute eine blühende moderne Stadt. Als typisches Beispiel mag man Bahia Blanca nehmen, aber auch dafür, wie sehr die Kurve des Erfolges in diesem Lande nicht nur für den einzelnen, sondern auch für ganze Gemeinwesen auf und ab geht, und wie auf übersteigerte Hoffnungen und Erwartungen empfindliche Rückschläge folgen.
Wenn man die Lage Bahia Blancas auf der Karte ansieht, drängt sich der Gedanke auf, daß diese Stadt, an einem natürlichen Hafen gelegen, der gegebene Mittelpunkt des Südens der Republik werden müsse. Orientiert man sich aber näher, so muß man wie überall die verschiedensten Urteile hören, die wie in allen Fragen von den größten Erwartungen bis zu dem pessimistischsten Urteil variieren, daß Bahia Blanca keine Zukunft habe und der Höhepunkt seiner Entwicklung bereits überschritten sei.
Es ist nicht leicht, sich in dem Widerstreit der Meinungen ein eigenes Urteil zu bilden. Sicher ist, daß das Übergewicht von Buenos Aires wie auf der Entwicklung jeder argentinischen Stadt auch auf der von Bahia Blanca lastet. Eine Möglichkeit, dieses Übergewicht wenigstens in etwas zu paralysieren, schien gegeben, als die Regierung der Provinz Buenos Aires aus der gleichnamigen Landeshauptstadt hinausverlegt werden sollte, um die bisherige Reibung zwischen den Verwaltungen der Provinz und des Landes zu verringern. Damals wäre Bahia Blanca die gegebene Hauptstadt der Provinz Buenos Aires gewesen. Allein den Politikern schien die Stadt wohl zu langweilig und abgelegen, und so entschloß man sich, in „La Plata“ in nächster Nähe der Metropole Buenos Aires aus dem Nichts eine Provinzhauptstadt zu schaffen, die trotz der großen Gelder, die man an sie wandte, doch nie etwas anderes werden kann als eine Vorstadt der Landeshauptstadt, und die südliche Metropole mit ihren völlig anderen Verhältnissen und Bedürfnissen wird nach wie vor vom Norden aus regiert.
Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß sich in Bahia Blanca zeitweilig Autonomiebestrebungen geltend machten und der Wunsch, die Hauptstadt einer eigenen Provinz zu werden, die aus dem Süden der Provinz Buenos Aires sowie Teilen der Gobernacionen Pampa Central und Rio Negro bestehen sollte. In der Zeit vor dem Krieg waren diese Autonomiebestrebungen mehr wirtschaftlicher Art, und man versuchte durch direkte Schiffahrtslinien vor allem einen Teil des Auswandererstromes direkt nach Bahia Blanca zu leiten. Der Krieg jedoch und sein Ende mit seiner zeitweisen Ausschaltung der deutschen Schiffahrtslinien hat diese Bestrebungen und Hoffnungen auf lange Zeit zerstört. Der Auswandererstrom geht nach wie vor ausschließlich nach Buenos Aires, und es ist Zufall, wenn einzelne nach Bahia Blanca verschlagen werden.
Bahia Blanca ist nicht weniger langweilig und reizlos als die meisten argentinischen Städte, und auf den ersten Blick sieht man der Stadt, die weit vom Meer und den eigentlichen Hafenanlagen abliegt, ihre große wirtschaftliche Bedeutung nicht an. Die mächtige Plaza im Zentrum, die ehemals als Corral diente, in den nachts das Vieh vor räuberischen Überfällen der Indianer in Sicherheit gebracht wurde und auf der noch bis zum Jahre 1902 die Kühe einer benachbarten Molkerei weideten, ist heute allerdings durch Palmenalleen und Blumenbeete in einen Garten verwandelt. Auch sonst gibt sich die Stadtverwaltung die größte Mühe, Bahia Blanca einen möglichst großstädtischen Anstrich zu verleihen; dabei streift sie allerdings mitunter die Grenze des Lächerlichen. In Buenos[S. 87] Aires ist in der Hauptgeschäftsstraße, der „Florida“, von 6 bis 8 Uhr jeder Wagenverkehr verboten, da die enge Straße kaum die Masse der Fußgänger zu fassen vermag. Entsprechend ist auch hier die Hauptgeschäftsstraße in der gleichen Zeit ausschließlich für Fußgänger vorbehalten, obwohl sich die Zahl der Passanten wie der Fuhrwerke um ein Vielfaches vermehren müßte, ehe von irgendwelchem Gedränge überhaupt etwas bemerkbar wäre.
Aber kommt man in der Hauptgeschäftszeit in ein Kontor der großen Getreide- oder Wollfirmen, so gibt einem das Kommen und Gehen sowie das unaufhörliche Telephonieren doch zu denken. Es ist der Höhepunkt der Getreidebörse. Die Preise schwanken von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde, so daß das Geschäft, wie fast alles hier, in hohem Maße Spekulation ist. Die Getreidehändler stehen daher in ständiger telephonischer Verbindung mit ihren Aufkäufern in den Zentren der Getreideproduktion, teilweise haben sie sogar eigene Leitungen.
Dem Bild, das Zahlen übermitteln, fehlt immer die Anschaulichkeit. Man muß die Bahnstrecke nach Pringles und Tornquist hinausfahren, um einen Begriff von den ungeheueren Mengen des produzierten Getreides zu bekommen. Schnitt und Drusch sind zu Ende, und zu der Station bringen die zehn-, zwölf- und mehrspännigen Wagen die Säcke angefahren. Hier werden sie gestapelt und häufen sich zu gewaltigen Bergen. Auf der ersten Station sieht man staunend die erste Kette von Getreidebergen, auf der zweiten, auf der dritten und so fort das gleiche Bild. Die Menge des in den Hafenanlagen angefahrenen Getreides ist so groß, daß alle Geleise verstopft[S. 88] sind, und die Bahnverwaltungen die Zufuhr bis auf weiteres gesperrt haben.
Allein dieses überaus günstige Bild täuscht. Nach sieben mageren Jahren haben Bahia Blanca und der Süden das erste fette Jahr. Der Feind des Südens ist die Trockenheit. Im vergangenen Jahr hat es ungewöhnlich viel geregnet, daher die erstaunlich große Ernte.
Die Zukunft Bahia Blancas als Getreideexporthafen liegt im Süden der Provinz Buenos Aires und in der Pampa. Die nähere Umgebung der Stadt wie alles Land südlich davon ist wenig wertvoll, und ein großes mißglücktes Kolonisationsunternehmen in dieser Gegend ist ein warnendes Exempel.
Der zweite Hauptexportartikel Bahia Blancas, die Wolle, liegt augenblicklich darnieder. Der Wollpreis sinkt, und Händler und Produzenten halten zurück. Nach den phantastischen Preisen, die im Kriege für Wolle gezahlt wurden, ist die Reaktion nur natürlich. Aber es krampft einem doch das Herz zusammen, wenn man die riesigen Wollager sieht, die bessere Preise hier abwarten sollen, und an die stilliegenden Textilfabriken in Deutschland denkt und an den Mangel an Kleidung.
Dazu kommt natürlich Vieh. — In letzter Zeit sind mehrere Frigorificos gebaut worden, während ein großzügiger Obstexport aus dem Rio-Negro-Tal mit Marmelade- und Konservenfabriken noch Zukunftsmusik ist.
Ist der eine Zukunftsfaktor Bahia Blancas die Entwicklung seines Hinterlands, so ist der andere sein Hafen. Auch hier sind die Ansichten nicht weniger geteilt. Bahia liegt an einer langsam versandenden und verschlickenden[S. 89] Bucht. Wenn auch jetzt noch mittlere Ozeandampfer an den Kais anlegen können, so ist die Frage, welche Kosten es auf die Dauer machen wird, die Fahrstraße offen zu halten.
Der Hafen ist landschaftlich nicht weniger trostlos als die ganze Umgebung der Stadt. Schlick und Morast lassen nicht erkennen, wo das Land aufhört und das Wasser anfängt. Die Bucht wirkt wie ein brauner Sumpf.
Ein Gewirr von Schienensträngen, alle übervoll von getreidebeladenen Waggons, führt an die Molen. Hier liegt ein Schiff neben dem andern, alle harren auf Ladung. Aber wie eine ungeheure, zinnengekrönte Festung türmen sich die Getreidesilos, hoch die Kamine und Masten überragend.
Die Hafenanlagen sind sämtlich in privaten Händen, die einen in Ingeniero White gehören der Südbahn, die andern in Puerto Galvan der Pazifikbahn.
Die Bahnen englisch. Die Hafenanlagen und Silos englisch. Die Schiffe an den Molen — teilweise tragen sie noch deutsche Namen — unter dem Union Jack. Nirgends sonst drängt sich die ungeheuere wirtschaftliche Gewalt Großbritanniens so unerbittlich auf und die tyrannische Macht, mit der sie das gesamte Transport- und Verkehrswesen ganz Argentiniens zu Wasser und zu Lande beherrscht. Die Engländer können — und sie haben es getan — jedes Unternehmen, das ihnen nicht paßt, dadurch zugrunde richten, daß sie ihm keine Transportmittel stellen. Hier liegen die Grenzen deutschen Betätigungsdranges und Unternehmungsgeistes in Argentinien.
Bahia Blanca, Puerto Militar.
Die Kapitänskajüte der „Seydlitz“ ist die alte geblieben in all ihrer Traulichkeit und Behaglichkeit mit den vielen Familienbildern an den Wänden und auf dem Schreibtisch, und doch ist etwas anders. Ein unheimlich Fremdes strömt von Decke und Wänden, wittert durch Tür und Bullauge herein — das Schiff ist tot. Seit mehr als fünf Jahren liegt es unbeweglich, interniert, an der Kaimauer des argentinischen Kriegshafens, und wie im Herzen von Führer und Mannschaft im Laufe der langen Jahre etwas zerriß, so wirken die unerklärlichen Sprünge in allem Porzellan und Steingut auf dem Schiff, welche alle Toiletten, alle Badewannen und alle Waschbecken in Stücke splitterten, wie ein unheimliches äußeres Zeichen dieses Sterbeprozesses eines Schiffes, das einst ein lebendiges Glied der deutschen Flotte war.
In langer Reihe liegen die Schiffe hintereinander am Kai untätig. Die Welt leidet unter dem Mangel an Schiffsraum. Die Überfülle des Getreides staut sich in den Silos und Elevatoren von Puerto Galvan und Ingeniero White. Aber trotzdem, und trotzdem längst schon Frieden, können die Schiffe die Fahrt mit lebenswichtiger Fracht nach Deutschland, mit Getreide, Fett und Fleisch, die ihnen England bewilligte, noch immer nicht antreten.
Die Sonne flimmert auf dem glatten Wasserspiegel des Hafens, der hinter den riesigen Kaimauern stilliegt wie ein Teich, während auf der andern Seite die be[S. 91]ginnende Flut das lehmgelbe Wasser der Bucht von Bahia Blanca hochgischtet.
Der Kapitän erzählt, wie sie vor fünf Jahren einliefen. Die meisten Schiffe gehörten zu dem Geschwader des Grafen Spee, der sich ein deutsches Schiff nach dem andern aus dem Stillen Ozean heranholte und in Hilfs-, Kohlen- und Transportschiffe verwandelte. Die „Seydlitz“ war Hospitalschiff und machte als solches die Schlachten von Coronel und Falkland mit.
Coronel, das ist es, von dem all die deutschen Seeleute in Südamerika noch leben. Die Augen des Kapitäns leuchten, wenn er erzählt, wie die Engländer sanken. In zwanzig Minuten war alles vorüber. Dann kam Falkland. Alle waren dagegen, daß man das englische Geschwader angriff, vom Grafen Spee angefangen. Aber der Chef des Stabes setzte seinen Willen durch. Trotzdem wäre vielleicht alles gut gegangen. Allein man hatte sich in der Magalhãesstraße mit einem englischen Segler, der Kohlen geladen hatte, zu lange aufgehalten, und inzwischen waren die beiden Dreadnoughtkreuzer, die die Engländer über den Ozean geschickt, zu dem britischen Geschwader gestoßen. Einen Tag, bevor die Deutschen angriffen, waren sie eingetroffen. Einen Tag zu spät!
Die Internierung war nicht hart, und sie sparte andrerseits den deutschen Schiffahrtsgesellschaften die Zahlung der andernfalls gewaltig hohen Liege- und Hafengelder. Trotzdem — fünf Jahre auf diesem trostlosen Fleck Erde!
Puerto Militar liegt am äußersten Ende der Bucht von Bahia Blanca, fast am offenen Meer. Der argentinische Kriegshafen teilt mit Wilhelmshaven Öde von[S. 92] Wasser und Land, mit Libau die Weitläufigkeit der Anlage, die in größtem Maße auf Erweiterung und Neubauten zugeschnitten ist.
Ein armseliges Pueblo an der Station. Dann führt eine breite Allee zu den verbotenen Zonen des Kriegshafens. Sein Hauptstück ist das mächtige Hafenbassin, in dem die gesamte argentinische Kriegsflotte, auch wenn sie sich verzehnfacht, noch Platz hätte. Auf der einen Seite liegen ein paar kleine Kreuzer italienischen Ursprungs, auf der andern die internierten deutschen Schiffe und nach der Ausfahrt zu die beiden mächtigen Dreadnoughts „Moreno“ und „Rivadavia“, der Kern und der Stolz der argentinischen Schlachtflotte.
Trotz der hohen Kampfkraft dieser beiden Schiffe, die auf nordamerikanischen Werften gebaut und das typische Gepräge amerikanischer Panzer mit ihren charakteristischen Gittermasten zeigen, ist der Wert der ganzen argentinischen Kriegsflotte einigermaßen problematisch. Das kritische Problem ist die Kohlenfrage. Wie man mir sagte, hat die argentinische Flotte im Kriegsfall für ganze 14 Tage Feuerungsmaterial. Diese Schwierigkeit wäre jedoch leicht zu überwinden, wenn die argentinischen Schiffe Ölfeuerung erhielten. Öl wird ja im Lande selbst, in Comodore Rivadavia und neuerdings in Neuquen, gebohrt. Aber vielleicht liegt Absicht darin, daß die Nordamerikaner Argentinien keine Schiffe mit Ölfeuerung bauten.
An das Hafenbassin stoßen zwei Trockendocks, ein kleineres und ein gewaltiges, das mir als das größte der Welt bezeichnet wurde. Jedenfalls können die großen Dreadnoughts hier gedockt werden, und der Norweger, der[S. 93] augenblicklich darin liegt, verschwindet mit Kamin und Masten vollständig, als wäre er ein Miniaturschiffchen.
Neben dem großen Dock erhebt sich die Casa de Bombas, das Maschinenhaus, das die Anlage zur Entleerung der Docks enthält. In der Mitte des Gebäudes liegen die Pumpen, in einem viereckigen Zementschacht von gewaltigen Dimensionen versenkt. Aus den Ecken langen die mächtigen Rohre gleich Riesenarmen in den Raum hinein zu den mit Mehrfachexpansionsmaschinen gekuppelten Pumpen. Der Gedanke wirkt fast unheimlich, wie auf eine Drehung am Schaltrad hin diese Maschinen das ganze Becken des Trockendocks leer zu saugen vermögen.
Noch ein paar Werkstätten und Kasernen; dann sind alle Sehenswürdigkeiten von Puerto Militar erschöpft. Man kann sie bequem in ein- bis zweistündigem Rundgang erledigen. Und fünf Jahre hier! Fünf Jahre nutzlosen, untätigen Wartens!
Der Kapitän fängt meinen Blick auf: „Nein,“ sagt er kopfschüttelnd, „wir haben es hier im Grunde recht gut gehabt. Wir können nicht klagen. Vielleicht war es ein Fehler der Kompanie, daß sie die Mannschaft an Bord behalten wollte. Durch das enge Zusammenleben und die Untätigkeit ist es natürlich zeitweise zu Reibereien und Disziplinlosigkeit gekommen. Damals hätten alle Leute leicht lohnende Arbeit beim Hafenbau gefunden. So sind die meisten der Arbeit entwöhnt. Erst später wurde Landurlaub gewährt und die Erlaubnis, Arbeit anzunehmen. Heute muß ich meine Leute zusammenhalten, um genügend Besatzung für die Rückreise zu haben.“
Nur an Stewards, Aufwäschern und dergleichen sei[S. 94] kein Mangel. Eine Fülle von Rückwanderern meldet sich zu diesen Posten, darunter Leute, die erst vor wenigen Monaten oder Wochen aus Deutschland hierher gekommen sind, Enttäuschte, die in Argentinien das Land, wo Milch und Honig fließt, zu finden hofften und die nun nach den ersten Schwierigkeiten die Flinte ins Korn werfen. Manche von ihnen, die im Frühling oder Sommer vergangenen Jahres herüberkamen, haben allerdings kein schlechtes Geschäft gemacht, trotz der verlorenen Hin- und Herreise. Ich denke dabei an jenen Paraguaysiedler, der im Frühling vorigen Jahres herüberkam und jetzt zurückkehrt. Damals hatte er sein ganzes Geld in Pesos umgewechselt, da er sich in Paraguay ansiedeln wollte. Aber es war ihm zu heiß und die Arbeit zu schwer. Wenn er jetzt zu Hause sein letztes Geld wieder in Mark einwechselt, hat er dank des Valutasturzes, wenigstens in Papier, mehr als er bei der Ausreise mitnahm. Ein gutes Geschäft! Und er hat nichts gearbeitet und keinen Cent verdient.
Wir sehen über die Hafeneinfahrt hinaus, wo die auf und ab tanzenden Bojen die Fahrrinne anzeigen. Immer kleiner werden sie und verschwinden, aber in ihrer Verlängerung sieht man fern am Horizont, scheinbar mitten aus dem Wasser ragend, einen Bau, der wie ein Haufen zusammengewachsener Leuchttürme wirkt. Es sind die Silos einer französischen Gesellschaft, die an der offenen See, noch weit über den Kriegshafen hinaus, große Hafenanlagen und Getreidespeicher baut.
Zukunftsmusik. Allein wer vermag zu sagen, wie die Produktion eines Landes wachsen mag, in dem Königreiche noch brachliegen.
Choele Choel.
In der Vorhalle ihres Bahnhofes in Bahia Blanca hat die Südbahn Produkte des Rio-Negro-Tales ausgestellt, Pfirsiche von Faustgröße, Äpfel und Birnen von noch erheblicheren Maßen, Trauben, Gemüse, Samen und schließlich Kürbisse und Melonen von geradezu ungeheuerlichem Umfang.
Man steigt in den Rio-Negro-Zug, der nur viermal in der Woche fährt, mit dem Gefühl, in ein Dorado der Fruchtbarkeit und Fülle zu kommen. Die Bahn geht erst den Rio Colorado entlang, um nach Überschreiten dieses Flusses eine vollkommen wasserlose Wüste, die früher so gefürchtete Travesia, zu durchkreuzen und dann das Rio-Negro-Tal bis nach Neuquen hinauf zu führen. Die Bahn wurde zur Zeit der letzten Grenzstreitigkeiten mit Chile aus strategischen Gründen gebaut. Ihr Bau wurde den Deutschen zu äußerst günstigen Bedingungen angeboten; denn die argentinische Regierung hätte gerne das englische Monopol im Verkehrswesen gebrochen. Allein in Deutschland war damals nur geringes Interesse für argentinische Unternehmungen, und es genügte, daß die interessierten englischen Bahngesellschaften einige abschreckende Artikel über das Projekt und die ganze Gegend in die Presse brachten, um auch die wenigen deutschen Kapitalisten, die Interesse gezeigt hatten, abzuschrecken. Die Bahn wurde dann natürlich von den Engländern gebaut und sie ist[S. 96] heute dank der Entwicklung des Rio-Negro-Tals ein glänzendes Geschäft.
Von dieser Entwicklung ist allerdings zunächst nichts zu sehen; auch nachdem die Travesia durchkreuzt und der Rio Negro erreicht ist, wechselt das Landschaftsbild nicht. Die Überraschung wächst, als sich auch bei der Station Choele Choel, der ältesten Kolonie des Rio-Negro-Tals, das Bild nicht ändert. Im Norden eine felsige Barranca, im Süden eng gewelltes Hügelland geben zwar dem durch die ewige öde Ebene ermüdeten Auge landschaftliche Abwechslung. Aber das Bild der Dürre und Unfruchtbarkeit ist nicht anders als bisher.
Aber das Pueblo liegt noch eine gute halbe Stunde von der Station entfernt, und in rüttelnder Fahrt mahlen die hohen Räder der leichten Kutsche hügelauf, hügelab durch tiefen Sand. Es liegt am Ufer des Rio Negro, der sich hier in zwei Arme spaltet, die in weitem Bogen die gleichnamige große Insel, die eigentliche Kolonie, umschließen.
Die Insel ist alter historischer Boden. Zur Zeit der Indianerfeldzüge war sie Hauptquartier, und aus dem Militärlager ging die erste Kolonie hervor. Mancherlei Schwierigkeiten, vor allem die furchtbaren Überschwemmungen, unterbrachen und hemmten die Entwicklung. Einen neuen Abschnitt und Aufschwung bedeutete erst das Kolonistengesetz von 1904, das die ganze Insel in einzelne Lose von 100 Hektar teilte. Die Korrektionsarbeiten am oberen Rio Negro, vor allem die Stauanlage der Cuenca Vidal, haben die Überschwemmungsgefahr auf ein Minimum beschränkt.
Auf einer Regierungsfähre setzt der Wagen über den Fluß. Dichte Baumreihen fassen die breit und rasch dahinströmende Flut ein. Aber sobald die fruchtbare grüne Zone unmittelbar am Fluß durchschritten ist, erstreckt sich zwischen den am Weg hinlaufenden Drahtzäunen bald wieder roher Kamp, zum Teil nur mit Gestrüpp und Strauchwerk umstanden, auf dem man kaum einige Kühe und Schafe sieht.
Nach vielstündiger Fahrt quer durch die Insel ist der Eindruck nach den großen Erwartungen, die man hegte, entmutigend. Erst am folgenden Tag, als ich unter sachkundiger Führung einzelne Chacras mit fruchtschweren Obstgärten und reichen Alfalfafeldern aufsuchte, änderte sich das Bild. Es ist hier, wie überall in Argentinien. Der erste Eindruck täuscht leicht und übertreibt nach der guten oder der schlechten Seite.
Schuld für dieses Stagnieren der Insel sind die Schieber und Spekulanten, die es bei der Aufteilung des Landes verstanden haben, sich einen großen Teil der Lose zu sichern. Nicht gewillt, Arbeit oder Kapital in den Boden zu stecken, zogen sie, lediglich um der gesetzlichen Bestimmung zu genügen, einen Drahtzaun um ihr Land und setzten einen Rancho oder eine Wellblechbaracke darauf, da das Gesetz die Errichtung eines Hauses fordert. Im übrigen warten sie darauf, daß die Arbeit der Anlieger den Wert ihres Bodens um ein Vielfaches steigert, um ihn dann mit hohem Gewinn loszuschlagen.
Da die wirklichen Ansiedler in der Minderheit und die Spekulanten in der Mehrheit waren, so verfiel das ohnehin ungenügende Kanalsystem, und die Insel zeigt heute[S. 98] nur dort fruchtbare reiche Landstrecken, wo die enger aneinanderwohnenden Kolonisten die Kanäle in Ordnung halten, oder an den Flußrändern, oder wo mittels motorischer Kraft, in der Regel mit Hilfe von Windrädern, berieselt wird.
Nach vierstündiger Fahrt ist die Insel durchquert, und noch einmal geht es über den Fluß. Wo die Fähre anlegt, sind die Bäume besonders hoch und dicht, und unter ihrem hohen Dach stehen freundliche, saubere, weiße Häuser. Es ist die Estancia eines Deutschen.
Die Geschichte dieses Deutschen, der einer der ältesten Pioniere des Südens und ein eifriger Anhänger des Rio Negro ist, ist typisch argentinisch. Als junger Kaufmann kam er herüber, fand eine bescheidene Anstellung, und erwarb sich in den Freistunden durch Briefmarkenhandel ein kleines Kapital. Mit diesem führte er die ersten Ansichtskarten nach Argentinien ein. Hiermit machte er ein Vermögen, das er in einem großen Briefmarkengeschäft anlegte, das glänzend ging und es ihm ermöglichte, weite Ländereien aufzukaufen. Er wurde nun Landwirt, erlitt jedoch mancherlei Rückschläge, bis ihm eine große Überschwemmung des Rio Colorado, an dem seine Hauptbesitzung lag, Haus und Vieh, Einrichtung und Gerät wegriß. Er siedelte nach dem Rio Negro über und schuf dort in wenigen Jahren auf billig erstandenem rohem Kamp eine blühende, reichen Ertrag abwerfende Estancia.
Der Besitzer zeigte mir Bilder aus den Anfangsjahren, und es erscheint fast unglaubhaft, daß diese dürftigen Stämmchen und bescheidenen Pflanzungen in der kurzen Zeit derart herangewachsen sind. Was den Besuch so[S. 99] interessant macht, ist die Tatsache, daß hier alle Stadien der Bewirtschaftung eng nebeneinanderliegen. Ein großer Teil ist noch roher Kamp. Die erste Arbeit ist das Roden. Mit Axt und Schaufel wird der Busch beseitigt und dann angezündet. Zum erstenmal geht dann der Pflug über die schwarzgebrannte Erde. Der gelockerte Boden wird mittels der automatischen Schaufel verteilt, um ihn zu planieren. An anderer Stelle sieht man diese von Pferden gezogenen, einfachen, aber hier unentbehrlichen Maschinen an der Arbeit. Es ist eine Kippschaufel, die die gelockerte Erde von den Erhöhungen abnimmt, um damit die Senkungen auszufüllen.
In den so bereiteten Boden wird im ersten Jahr Mais gesät, im zweiten Gerste oder Hafer, im dritten bereits Alfalfa, entweder allein oder mit Getreide, und damit ist die Goldquelle erschlossen. Das Alfalfafeld bleibt entweder ertragreiche Weide oder wird ohne Neusaat Jahr für Jahr auf Samen und Futter geerntet.
Die Wirtschaft beruht auf Vieh und Alfalfa. Aber daneben bieten Obst, Wein und Gemüse große Aussichten. Unmittelbar am Fluß wachsen selbst empfindliche Pflanzen ohne künstliche Bewässerung, und hier sind gewaltige Obst- und Gemüsegärten angelegt, die jedes Jahr vergrößert werden, Pfirsiche, Äpfel, Birnen, Pflaumen. Trotz der weiten Entfernung von der Bahn ist der Obstbau lohnend; denn es kommt ja nicht nur der Versand nach Bahia Blanca und Buenos Aires in Frage, sondern ebenso die Versorgung Patagoniens mit Obst und Wein. Die Estancia liegt unmittelbar an der Poststraße nach Valcheta, und ein spekulativer Unternehmer läßt hier jede Woche ein Fruchtauto laufen.
Am nächsten Tag traf ich den Mann auf einer benachbarten Obstplantage, als er gerade seinen Wagen voll Pfirsiche lud. Wie er mir erzählte, verkauft er die Fruchtlast, die ihn 80 Peso kostete, für 400 Peso.
Einzelne Gewinne, von denen man hört, sind phantastisch. So wurde eine Chacra von 200 Hektar zwei Monate vor der Ernte von ihrem Besitzer, einem in Europa lebenden Spanier, um 75000 Peso verkauft. Aus dem Alfalfasamen allein schlägt der Käufer im ersten Jahre bereits zum mindesten die Hälfte des Kaufpreises heraus. Allerdings ist dieses Jahr die Alfalfaernte besonders gut und sind die Preise besonders hoch. So plötzlich der Erfolg, so plötzlich kann der Rückschlag kommen.
Wenn wir abends unter den schattigen Bäumen vor dem reichgedeckten Tisch sitzen, auf dem alles, Fleisch und Brot, Butter und Obst eigenes Erzeugnis ist, da mag das Los des Siedlers und Pioniers beneidenswert erscheinen. Der eilige Besucher wird ja nichts gewahr von der unendlichen Mühe und Arbeit, um all das zu schaffen, was hier blüht und gedeiht, und eine einwandfreie Beurteilung der Aussichten wäre nur dann möglich, wenn man genau die Zahl jener wüßte, die alles einsetzten und elend zugrunde gingen.
Choele Choel.
Stundenlange Autofahrt kreuz und quer über die Insel vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag, bald in Staubwolken gehüllt, bald in Schlamm steckenbleibend, eine reiche Fülle von Eindrücken, wüste Dürre, verschlammte Kanäle, überschwemmtes Land, roher buschbestandener Kamp und wieder samenschwere Alfalfafelder und Obstbäume, zusammenbrechend unter der Last der Früchte.
Kleine Pueblos über die Insel verstreut als Kultur- und Wirtschaftszentren, Zukunftsanlagen, Almacen und Fonda und einige Schuppen. Aber auch hier betont eine ein Denkmal darstellende Pyramide aus ungebrannten Ziegeln den Stadtcharakter.
In der Fonda Chacreros und Händler und lange, schmutzige, weinbefleckte Tische. An der Wand klebt ein Plakat, daß am Abend ein Varietésängerpaar große Festvorstellung geben wird. Gegenüber der Tür die Schenke, an der andern freien Wand ein großer Spiegel mit Frisiertoilette, Rasiermesser, Kämme, Bürsten; denn die Wirtschaft ist gleichzeitig Frisiersalon.
Der Wein, den der Wirt verschenkt, ist Inselprodukt. Die Salesianerpatres haben neben ihrer Arbeit im Weinberg des Herrn auch einen irdischen Weinberg aufgetan. Kirche und Schule liegt in ihrer Hand, und nebenbei[S. 102] haben sie die beste Bodega, wie man hier einen Winzerbetrieb nennt.
Dem Salesianerkloster ist auch äußerlich nichts anzumerken. Ein einstöckiger, schmutziger Ziegelrohbau. Aber durch Zimmer und winklige Korridore kommt man mit einem Male in einen hochgewölbten Kreuzgang, ein erstaunlicher Anblick in einem Lande, das nur Wellblech- oder Lehmbauten kennt. Die Erklärung ist einfach. Einer der beiden Patres war früher Architekt. Welch seltsames Schicksal mag ihn zum Salesianermönch gemacht haben! Nun mauert er Jahr für Jahr Gewölbe an Gewölbe, Kreuzgang, Schlafsaal, Kelterei und Weinkeller. Daneben wird Jahr für Jahr ein weiteres Stück roher Kamp gerodet und als Weinberg bestellt. Daneben der Schulunterricht und die geistliche Tätigkeit.
Wir müssen alles ansehen, Weinberg und Kelter, die zementenen Gärbottiche und das hohe Steingewölbe mit den großen Lagerfässern, in ihrer Art einzig im Rio-Negro-Tal. Und schließlich geht’s die enge Treppe hinunter in den Keller unter dem Kreuzgang.
Während wir eine Sorte nach der andern probieren müssen, erzählt der andere Pater ununterbrochen. Über der speckigen, mehr grünlichen als schwarzen Sutane sitzt ein kugelrunder Kopf, in seiner blühenden Farbe wie aus Rosenquarz gedrechselt, und alles darunter ist rundlich.
Ein ferner Klang wie von Geigenspiel streicht durch das Kellergewölbe. Wir stehen lauschend. „Unser Rennreiter“, meint Pater Rosenquarz.
Und er erzählt: „Eines Tages kam ein junger Mann und bat um Herberge. In diesem gastfreien Land ist es[S. 103] allgemein Sitte, jedem, der da kommt, Herberge und Essen zu gewähren. Es sind Arbeitsuchende oder Abenteurer oder auch nur Wanderlustige, die in monatelangen oder jahrelangen Märschen halb Südamerika durchwandern. Ich habe manchen von ihnen kennengelernt. Einer war dabei, der ganz Brasilien und halb Argentinien durchwandert hatte. Da er dem Mayordomo, bei dem er um Herberge gebeten, gefiel, fragte ihn dieser, ob er nicht bleiben und Arbeit nehmen wolle. Aber ein entrüsteter Ausruf war die Antwort: ‚Was, arbeiten! Ich bin zwei Jahre durch Brasilien gewandert, ohne zu arbeiten, und ich denke es hier in Argentinien auch nicht anders zu tun!‘ Trotz dieses vielfachen Mißbrauches der Gastfreundschaft wird doch der Estanciero jedem, der morgens kommt, Frühstück und Mittagbrot und jedem, der nachmittags eintrifft, Abendessen und Nachtlager geben.“
Solch einer war es auch, der zu den Salesianern gekommen war. Monatelang war er durch die Republik gewandert und am nächsten Tage wollte er weiter. Aber im Gespräch stellte es sich heraus, daß er Rennreiter und als berühmter Jockei durch die ganze Welt gekommen war. Bei seinem letzten Rennen in Buenos Aires hatte er sich den Kopf so bös zerschlagen, daß es nichts mehr war mit der Reiterei. Eine gute Stelle auf einer Estancia, die man ihm verschafft, gab er mir nichts dir nichts auf und begann ein Wanderleben.
Aber außer den Pferden hatte er immer noch seine Geige gehabt, und die hatte er mitgenommen und spielte den Patres darauf vor. Und als sie sein Spiel hörten, da meinten sie, das wäre eine treffliche Gelegenheit, um[S. 104] ihren Schülern Musikunterricht zu geben, und auf ihren Vorschlag blieb der ehemalige Rennreiter als Musiklehrer und Laienbruder bei den Salesianern.
Auf unsere Bitten riefen sie den Musikanten zu uns und zum Wein, einen hohen, schlanken Menschen in billigem Leinenanzug, aber mit Akzent und Allüren eines Wiener Aristokraten.
Paris und London, Sidney und New York waren ihm in gleicher Weise geläufig, und zwischen den Erzählungen von Rennen und Siegen schwirrten nur so die phantastischsten Zahlen von Gehältern und Gewinnen. Aber jetzt scheint das alles weit hinter dem noch jungen Mann zu liegen, und er, ruhig und abgeklärt, als habe es nie etwas anderes gegeben, als habe er nie etwas anderes erstrebt und gewünscht, als auf einem weltvergessenen öden Fleckchen einer Insel im Rio Negro mit zwei ein wenig fetten und schmutzigen, aber vergnügten und tüchtigen Patres zu sitzen und braunen, wilden Söhnen von Italienern, Spaniern und Indios Musikunterricht zu geben.
Wir merkten ihm den Wunsch an, uns vorspielen zu dürfen, und baten ihn darum. Mit todernstem Gesicht lehnte er sich an den Tisch, und wie er den Bogen ansetzte, schwand der kranke Ausdruck der Augen — von dem Sturz war das Hirn wohl noch immer ein wenig durcheinandergerüttelt —, und wie er nun spielte, saßen alle lauschend, wir und die Patres und der Indianerjunge, der den Wein einschenkte.
Immer leidloser und immer befreiender wurden die Lieder, und man sah die Mücken nicht mehr, die massenhaft um den brandroten Wein schwirrten. Und er spielte[S. 105] doch nur Wiener Walzer, Operetten, „Dorfkinder“ und „Zigeunerprimas“, aber aus dem Spiel schluchzte himmelhoch und sehnsüchtig der ganze Gegensatz heraus von hier und dort, von einst und jetzt.
Allen, Territorium Rio Negro.
Ein beinahe unheimlicher Eindruck erfaßt einen, wenn man zum erstenmal mitten in die Zone intensiver künstlicher Bewässerung kommt. Ein Schauer streift einen, als sei hier in fast frevelhafter Weise das Gesetz der Natur überwunden, indem der Mensch das Wetter meistert oder vielmehr seinen Einfluß ausschaltet und sich in der Bestellung des Bodens von Regen und Sonnenschein unabhängig macht. Der schlimmste Feind der argentinischen Landwirtschaft, die Trockenheit, sie, die in regelmäßigen Abständen Tausende von Existenzen zugrunde gehen ließ, die Früchte jahrelanger Arbeit in kürzester Frist zerstörte, die das Korn versengte und das Vieh in Massen mordete: hier ist sie überwunden. Die Landwirtschaft ist industrialisiert, ist ein maschinenmäßiger Betrieb geworden, dessen Gedeihen abhängt von dem richtigen Gang des technischen Apparates, der aber unabhängig ist von den Launen der Witterung. Ein später Frost kann wohl die Baumblüte zerstören und die Obsternte gefährden, aber dies ist auch fast das einzige, was dem Landmann das Wetter noch antun kann. Im übrigen ist der jährliche Ertrag etwas, was man mit Hilfe der Bewässerung selbst regelt. Der Landwirt braucht nicht ängstlich zum Himmel schauen,[S. 106] sei es, ob endlich der ersehnte Regen fällt oder ob der Himmel seine Schleußen schließt, um von der verregneten Ernte noch etwas zu retten. Es regnet nur im Winter, wenn es gleichgültig ist, und der Farmer selbst gibt seinen Pflanzen das an Wasser, was sie brauchen.
Die steil abfallenden Steinwände des patagonischen Hochlandes, deren Fels rot zu glühen scheint von der darauf brennenden Sonne, begrenzen das weite Tal, das eine Kuppel von intensivster unabänderlicher Bläue überspannt. Wo das Wasser noch nicht hinkam, trostlose Dürre, kaum daß der Boden ein paar dornige Büsche trägt, und unmittelbar daneben, soweit die Feuchtigkeit reicht, blühendes Grün.
Pappeln säumen alle Wege, Pappeln, immer nur Pappeln. Ist in andern Gegenden der Republik Meilen auf Meilen und Stunden auf Stunden ermüdender Bahnfahrt Drahtzaun, Windrad und Wassertank das ewig wiederkehrende Motiv, so ist es hier der hohe schlanke Baum. Regelmäßig und quadratisch wie alles hier im Lande, ist das ganze Bewässerungsgebiet in Lose von gleicher Größe geteilt. Kann auch ein Besitzer mehrere Lose in einer Hand vereinen, so muß doch ein jedes Los von der Größe von 100 Hektar von öffentlichen Wegen umschlossen sein. Jeder dieser Wege, von denen der größte, die Hauptverkehrsader durch die Kolonie, eine Breite von 50 Meter hat, ist mit enggepflanzten Pappeln eingefaßt. Und jeder Weg auf den Chacras, ja jedes Feld ist wieder mit diesen Bäumen umstanden. Sie säumen jeden Corral und jeden Wassergraben. Ihr Zweck ist ein vielfacher. Sie sollen die Gewalt der vom Hochland herunterbrausenden[S. 107] Staubstürme brechen und die jungen Pflanzungen schützen, und sie sollen die Böschungen der Kanäle festigen. Aber daneben reizt auch das rein Praktische zu ihrer Anpflanzung. Sie geben Holz, ein wertvoller Artikel in diesem holzarmen Lande. Und als letzten, wenn auch vielleicht nicht einmal beabsichtigten Vorteil spenden sie Schatten. Stundenlang im Schatten reiten zu können ist ein Genuß, den man sonst in Argentinien nicht leicht findet.
Am stärksten ist der Kontrast zwischen dem leichten frischen Grün des Bewässerungslandes und der gelben heißen Dürre des übrigen Bodens unmittelbar an der Mündung des großen, im Bau befindlichen Regierungskanales bei Almirante Cordero. Einige Kilometer flußaufwärts von der Vereinigung des Neuquen und des Limay, die zusammen den Rio Negro bilden, ist mittels eines gewaltigen Staudammes das gesamte Flußbett abgesperrt. Von hier zweigt der große Regierungskanal ab, der bis Zorilla oder Chinchinales führen und das gesamte Rio-Negro-Tal auf eine Länge von 120 bis 150 Kilometer bewässern soll. Dieser Staudamm soll zugleich das Tal vor den gefährlichen Überschwemmungen schützen, die es bisher von Zeit zu Zeit verheerten und deren letzte im Jahre 1899 das Städtchen General Roca zerstörte. Vollständig wird der Schutz vor den Überschwemmungen allerdings erst dann sein, wenn auch der Limay reguliert ist. Die größte Gefahr ist jedoch wohl heute schon gebannt.
Ein besonders günstiger Umstand ist das Vorhandensein eines ungeheuren leeren Felsenkessels unweit des Staudammes, die Cuenca Vidal. Ihre Steilwände haben ein Fassungsvermögen von über 5 Milliarden Kubikmeter, so[S. 108] daß selbst die größten Wassermengen zu Zeiten ungewöhnlich großer Schneeschmelze unschädlich dorthin abgeleitet werden können.
Almirante Cordero ist heute nichts als eine Barackenstadt für die am Bau beschäftigten Ingenieure und Arbeiter. Der Anblick ist aber wesentlich anders als der sonst übliche. Man hat gleich zu Beginn der Arbeiten Bewässerungskanäle gezogen und Bäume gepflanzt, und heute liegen die Wellblechbaracken im Schatten eines dichten Haines hochstämmiger Pappeln.
Es ist die Zeit des niedersten Wasserstandes, und doch ist es eine gewaltige Wasserflut, die durch die Schleusen in den unmittelbar vor dem Staudamm abbiegenden Hauptkanal strömt, genug, um Zehntausende von Hektaren zu bewässern. Wenige hundert Meter flußaufwärts zweigt ein breites steiniges Bett ab, das einen natürlichen Ablauf zur Cuenca Vidal bildet. Man ist augenblicklich noch dabei, das Bett zu vertiefen. Zwischen dieser Linie und dem Kanal ist ein Streifen Kulturland von Pappelreihen eingefaßt, und es breiten sich frischer grüner Rasen und blühende Gärten. Inmitten der sonstigen Steinwüste wirkt dies alles fast phantastisch, um so mehr als der Übergang zwischen Fruchtbarkeit und Dürre nicht allmählich erfolgt, sondern plötzlich, wie mit der Meßschnur gezogen.
Der Rio Negro fließt dicht am Südrande des Tals entlang, teilweise fast am Fuße der Steilwände des patagonischen Hochlandes. Im Gegensatz dazu wird der Kanal am Nordrand des Tales entlang geführt. Mittels eines Systems von Nebenkanälen, die das Tal durchqueren, soll das ganze Gebiet mit Wasser versorgt werden. Bisher[S. 109] sind aber nur die ersten Zonen mit den Kolonien Picasso und Luzinda unter Kultur genommen. Trotzdem an dem Kanal seit vielen Jahren gebaut wird und mehr als 12 Millionen Peso dafür ausgegeben sind, schiebt sich die endliche Fertigstellung von Jahr zu Jahr hinaus, so daß die Bewässerung der größten Kolonie, General Roca, noch immer durch den alten Genossenschaftskanal erfolgt, während die weiter flußabwärts liegenden Gebiete einstweilen vergeblich auf Wasser warten.
Die Bewässerung erfolgt in der Weise, daß von Nebenkanälen, den „Secundarios“, durch immer weitere Verzweigungen das Wasser bis zu jeder einzelnen Chacra geleitet wird. Hier hat der Besitzer durch ein System von Gräben, den „Acequias“, selbst für die Verteilung des Wassers zu sorgen. Vorbedingung für die Bewässerung ist die vollkommene Planierung des Geländes. Darauf wird jeder einzelne von Acequias umrahmte Abschnitt oder Potrero durch niedrige Dämme in Streifen von 20 Meter Breite eingeteilt. Diese Streifen können nacheinander je nach Bedarf unter Wasser gesetzt werden, indem man die Acequias staut und den Damm an der gewünschten Stelle durchsticht.
Die Schwierigkeit liegt darin, dem Boden die richtige Wassermenge zuzuführen. Vielfach hat sich durch ein Zuviel der Grundwasserspiegel in bedenklicher Weise gehoben. Aus solcher Überwässerung mag auch der allzu große Wassergehalt herrühren und der dadurch bewirkte fade Geschmack, den man da und dort dem Obst vom Rio Negro vorwirft. An einzelnen Stellen sind die Folgen noch schwerer, und eine unachtsame, allzu reichliche Bewässerung[S. 110] hat zu einer vollkommenen Verschlammung des Bodens geführt, die stellenweise so weit geht, daß man beim Passieren zu versinken droht.
Vor einem solchen versumpften Feld mögen einen Bedenken beschleichen, daß sich die Natur doch nicht ungestraft ins Handwerk pfuschen läßt. Allein es sind Fehler, die in der Anlage liegen. Jedes Bewässerungssystem erfordert die gleichzeitige Anlage von Entwässerungskanälen; bei dem neuen Regierungskanal hat man dies vorgesehen und auch ein Entwässerungssystem gebaut.
Der Eindruck, den das Bewässerungsgebiet macht, ist trotz der technischen Unzulänglichkeit größer als der jedes andern technischen Werkes. Denn hier greift der Mensch wirksam und erfolgreich in den Lauf der Natur ein. Er gibt dem Lande nicht nur Wasser, wann er will, sondern mit der Bewässerung des Tales ändert sich auch das Klima, und mit diesem und infolge der vom übrigen Argentinien von Grund aus abweichenden Lebensbedingungen ändert sich wohl auch der Charakter der hier aufwachsenden Menschen. Die schwüle Hitze, die andere Teile Argentiniens so unerträglich macht, fehlt hier völlig. Die Nächte sind auch im Sommer frisch, die Winter kalt. Statt der extensiven Wirtschaft im übrigen Argentinien herrscht hier intensiver Betrieb. Das Leben hat hier etwas von der Enge, aber auch von der Behaglichkeit des alten Deutschland. Ein bitterer Wermutstropfen nur: trotz der Bemühungen einzelner Deutschargentinier, wie Theodor Alemanns, war es vor dem Kriege nicht möglich, Interesse für diesen Landstrich zu gewinnen, der wie kein anderer für deutsche Einwanderung geeignet gewesen wäre. Heute ist[S. 111] das Land fast durchweg in festen Händen und teuer, so daß deutsche Einwanderer nur gestützt auf eine kapitalkräftige Kolonisationsgesellschaft hier die Ansiedelung wagen könnten.
Am Neuquenfluß.
Der Zug fährt durch eine Wand von Staub. Mehr als die schwarzen Schleier, die die unendliche Nacht vor die Kupeefenster zieht, sind es die Staubmassen, die jeden Ausblick hemmen. Wie inmitten einer Sandhose fährt der Zug.
Resigniert gibt man den Versuch auf, durch die blinden Scheiben den Charakter der Landschaft zu erspähen, und läßt auch noch die hölzernen Rolläden herab, um dem Staub den Eintritt in den Wagen zu wehren.
Umsonst. Durch die feinsten Ritzen dringt er ein. Fingerdick setzt er sich auf Polster und Lehne, auf Koffer und Kleider. Von Zeit zu Zeit macht ein Bediensteter der Bahn den Versuch, mit einem Wedel den Staub aufzuwischen. Es ist hoffnungslos. Der Zug ertrinkt im Staub.
Wie sagte der Herr in Bahia Blanca, als er von meiner Reise durch Neuquen hörte?
„Was, in diese Wüste wollen Sie?“
„Waren Sie denn schon einmal dort?“ war meine Gegenfrage.
„Nein, aber das weiß man doch!“
Das weiß man doch! Ich frage etwas unter meinen Bekannten in Bahia Blanca herum, wer Neuquen oder auch nur Rio Negro kenne. Das Resultat war nicht anders[S. 112] als in Buenos Aires. — Kaum einer. Seltsam, da handeln die Geschäftsherren mit den Frutos del pais, mit Getreide und Alfalfa, mit Wolle und Häuten, aber sie haben kein Interesse daran, das Land kennenzulernen, aus dem sie das beziehen, womit sie sich ein Vermögen machen.
Und so bilden sich Urteile nicht aus eigener Anschauung, sondern gleichsam auf überkommenen Konventionen ruhend, die man nachspricht, ohne sie nachzuprüfen. „Patagonien — nur für Schafzucht geeignet“, „Regierungsland — wertlos“, „Neuquen — eine Wüste“.
Stimmt das Urteil? Auf den Stationen sieht man im schwachen Licht der Sterne kaum eine Bretterbude, einen Windmotor und Wassertank, dahinter nichts als zampabestandene Wüste. — Ich gehe ins Schlafkupee. Auch hier der Staub. Noch in den Traum folgt er und liegt beim Aufwachen trocken im Gaumen und knirscht zwischen den Zähnen.
Die Stationen sind spärlich geworden. Stundenlang fährt der Zug von einer zur andern. Und nicht einmal für die wenigen fanden sich Namen, einfach Kilometer soundso.
Sand, Zampa, Tosca, dorniges Buschwerk, bestenfalls am Horizont ein paar Hügel und leicht sich wellende Berge.
Um neun Uhr sind wir in Ramon M. Castro, der letzten Station vor Zapala, von wo die Reise zu Pferd weitergehen soll.
Wie ging uns als Knabe das Herz auf, wenn wir von Wild West lasen. Heute kann man die Vereinigten Staaten von Ost nach West, von Nord nach Süd durch[S. 113]fahren, man wird von Wild-West-Romantik nichts mehr sehen. In Argentinien gibt es sie noch, keine 40 Bahnstunden von der Hauptstadt entfernt: Städte, die heute aus ein paar Wellblechbaracken bestehen und deren Entwicklung niemand ahnen kann. Unbegrenzte Möglichkeiten für den Zähen, Zielbewußten, und königliche, schrankenlose Freiheit in unbegrenzter Weite.
Die Häuser, aus denen Ramon M. Castro besteht, lassen sich leicht an zwei Händen zählen: Außer der Station drei Almacene, ein Franzose, ein Spanier, ein Pole, eine Fonda, die ein Italiener bewirtschaftet, die Bretterbude der Polizeistation und einige Lehmranchos. Halt, da ist noch ein stattliches, zweistöckiges Gebäude, ein Ziegelbau mit Wellblechdach — die Schule. Man frägt erstaunt, für wen. Alle Achtung vor einem Land, das in seinen abgelegensten, menschenärmsten Teilen noch solche Schulen baut.
Diese armselige Kampstadt inmitten trostlos heißer Sandwüste ist für eine weite Umgebung Kultur- und Wirtschaftszentrum. Hierher verkaufen die wenigen an dem Flusse sitzenden Estancieros wie die auf dem Regierungsland nomadisierenden Indios ihr Vieh und ihre Felle. Hier können sie in den Läden alles einkaufen, was sie brauchen, und in der Kneipe können sie spielen und sich betrinken. Kehrt man nach tagelangen Ritten in einsamer Wüste und Steppe nach Ramon zurück, so ist es nicht anders als die Rückkehr aus der Provinz nach Buenos Aires.
Einstweilen aber kann man es nicht fassen, wie Menschen es in diesem heißen, sandigen Kessel aushalten. Kein[S. 114] Grün, weder Busch noch Baum. Nur an der Bahn das Gärtchen des Stationsvorstands, das, von dem Tank der Südbahn aus mit Wasser versorgt, mit frischem Grün prangt: Tomaten, Kohl, Pfirsiche, Äpfel, Birnen.
Sonst kommt alles, was diese Kampstadt zum Leben braucht, mit der Bahn. Die Preise sind höher als in Buenos Aires. Früchte, die man nur wenige Bahnstunden weit in Roca zu anderthalb Peso das Hundert kaufen kann, verkauft der Italiener mit 10 Cent das Stück. Gebrauchsgegenstände, Stoffe, Kleider, Küchengerät, Messer usw. verkaufen die Almaceneros mit hundert, zweihundert, ja sogar dreihundert Prozent Aufschlag. Oft spielt sich das Geschäft in der Weise ab, daß die Indios den Erlös für Vieh, Felle oder Wolle in einem Tag vertrinken, die Ware auf Kredit nehmen und wieder ohne einen Cent bares Geld auf ihre einsamen Ranchos zurückkehren.
Wir warten die größte Mittagshitze ab, ehe wir abreiten. Mäntel und Decken — denn die Nächte sind kalt — und ein wenig Wäsche ist alles, was mitkommt.
Ein breites flaches Tal zwischen sanften Hängen zieht sich nach Norden. Wir reiten Stunden und Stunden. In großen Abständen kündet eine weidende Tropilla Pferde oder eine Schaf- und Ziegenherde einen Puesto, eine kleine Ansiedlung von Indianern.
Ein ganz ärmlicher Rancho, ein Brunnen, um den Kürbisse wuchern, und allenfalls noch ein Corral, mit mühsam zusammengesuchtem Gestrüpp kunstlos eingehegt, das ist alles. Auf engstem Raum hausen unter dem niedrigen Lehmdach oft mehrere Männer und Frauen und ein[S. 115] Dutzend Kinder. Wir steigen ab und bitten um Wasser. Mit argentinischer Höflichkeit wird es gereicht, aber als wir photographieren wollen, gibt es fast eine böse Szene. Die Señora fürchtet sich vor dem Apparat; vielleicht glaubt sie sich auch nicht schön genug angezogen. Wir müssen ohne Aufnahme weiter.
Von den Hufen unserer galoppierenden Pferde weht der Staub in langen Fahnen. So geht es Stunde um Stunde, kaum mit kurzen Schritteinlagen. Es sind billige eingeborene Tiere, klein und unansehnlich; aber fabelhaft ist, was sie leisten. Sicher wird durch Mischung mit europäischem Blut der einheimische Schlag größer und ansehnlicher. Allein geht das nicht auf Kosten von Zähigkeit und Anspruchslosigkeit? Kein europäisches Pferd könnte bei diesem Futter auch nur entfernt ähnliches leisten.
Schon will es dämmern, als sich das Tal verengt. Felskulissen schieben sich vor. Über den Paßeinschnitt wechselt flüchtendes Wild — Strauße. Scharf zeichnen sich für Augenblicke ihre Silhouetten am Horizont ab.
Die Pferde keuchen den steinigen Pfad empor. Auf der Höhe weitet sich der Blick. Den Horizont grenzen blaue Berge.
In wildem Farbentaumel stirbt der Tag. Soweit das Auge reicht, nicht Mensch noch Tier noch Anzeichen menschlicher Behausung. Ringsum grenzenlose Einsamkeit.
Der Galopp der Tiere, der müd und kurz geworden war, wird in der kühlen Nachtluft wieder raumgreifend. Schweigend galoppieren wir durch buschbestandene Steppe. Mensch wie Tier hasten dem Ziele zu.
Aus dem Grunde vor den horizontfernen Bergen, die[S. 116] sich jetzt wie eine schwarze Wand drohend vor uns aufbauen, kommt ein mattes Blinken wie von Silber, auf das schwaches Licht fällt — der Fluß.
Ohne es zu wissen löst sich aus staubtrockener Kehle ein Schrei: Der Fluß, Wasser, Leben! Die Pferde rasen ohne Antrieb vorwärts.
Wie im Traum faßt das Auge die wechselnde Landschaft. Zwischen den blinkenden Kurven dunkle Flächen von Grün, Gras und Alfalfa, mehr geahnt als erkannt, Pappeln in Reihen aufmarschiert, die Schatten hoher Baumgruppen.
Inmitten der Wüste grünendes Leben, treibende Frucht.
Wir reiten zwischen Pappelreihen. Dahinter Weingärten, Obst, Früchte. Unter hohen Bäumen ein großes, weißes Haus, Schuppen, Ställe und ringsherum Gärten. Eine Oase in der Wüste nimmt uns auf.
Es ist kein anderer Boden, kein anderes Land als jenes, das wir durchritten haben, nur daß es der Zauberstab berührt hat, auf den das ganze Land wartet, um sich in ein Paradies zu wandeln — die segenspendenden, lebenschenkenden Fluten künstlicher Bewässerung.
Wo der Rio Cayunco in den Neuquen fließt, treten die Berge im weiten Umkreis zurück und bilden mit ihren steil abfallenden Wänden einen mächtigen Felskessel.[S. 117] Eingeschlossen von dem toten heißen Gestein aber, an den Ufern der Flüsse, fruchtbares Land, das nur des Wassers bedarf, um jede Frucht zu treiben.
Es ist ein eigen Ding um die Sonne, die hier von einem Himmel von unendlicher Bläue herunterbrennt und deren Hitze die steinernen Mauern vielfach widerstrahlen. In wenigen Tagen färbt sie Gesicht und Hände, den offenen Hals und die bloßen Arme über ein Indianerrot zu einem tiefen satten Braun.
Sicherlich steigt hier die Quecksilbersäule auf die gleiche Höhe wie in Buenos Aires, ja selbst auf die Höhe, die ich im Dezember und Januar im Norden der Provinz Santa Fé stöhnend erlebte. Aber es ist eine andere Hitze. Es scheint eine andere Sonne. Die Luft ist in diesem Lande, das keinen Regen kennt, von einer Trockenheit, Reinheit und Klarheit, daß die Hitze nur wie ein köstlicher, warmer Hauch empfunden wird. Dazu sind die Nächte wundervoll frisch, fast kalt.
Wer hat von diesem Klima Neuquens gehört? Ich habe nur von unerträglichen Staubstürmen gelesen, und es bedarf wohl geraumer Zeit, bis man sich klar wird, daß dieses Wohlgefühl des Körpers von einem Klima herrührt, das dem Ägyptens ähnelt.
In der trockenen Glut dieses Felskessels reift eine Frucht von unendlicher Süße. Ich gehe durch die pappelumstandenen Weingärten der Estancia, die mir Gastfreundschaft gewährt. Schwer hängen grün und blau und rot die Trauben von den jungen Stöcken. Noch sind erst schüchterne Versuche gemacht worden, aus ihnen Wein zu keltern. Aber Lage und Boden müssen ein Produkt[S. 118] geben, das es mit jedem Wein des Rio-Negro-Tales aufnehmen kann. Anschließend strömen die Obstgärten unter kühlem Schatten einen betäubenden Duft aus. Die zehnjährigen Pfirsichbäume hängen übervoll. Hier und da sind besonders schwerbehangene Äste gestützt oder unter der Last der Früchte heruntergebrochen. Weiterhin Äpfel und Birnen, Pflaumen, aber auch Feigen. Auch mit Tabak sind die ersten Anbauversuche erfolgreich gemacht. Der Boden scheint alles zu tragen, was man in ihn pflanzt.
Schwierig ist die Verwertung. Zur Station sind zehn Leguas. Trotzdem werden Früchte nach Bahia Blanca verschickt. Das übrige dient für den großen Bedarf des Besitzers, seiner Familie und des Gesindes. Für den Winter wird in großem Maße Trockenobst bereitet, das man in einfacher Weise in der Sonne dörrt.
Die Obst- und Weingärten säumen Alfalfafelder, die fast bis an den Fluß reichen. Unter den Akazienbäumen des Hofes steht die Reinigungsmaschine, die den Samen von den letzten Unreinigkeiten befreit. Wie pures Gold rinnen die gelben Körner über die Siebe in die Benzinkannen, die als Meßgefäße dienen.
Keuchend bringen die Peone die schweren Säcke angeschleppt. Klappernd dreht sich die Maschine, und ein kleiner Indianerjunge streicht vorsichtig den Samen in den Latas, den Kannen, bis zum Rande glatt, damit das Maß genau stimme, und der Besitzer füllt über ausgebreitetem Segeltuch den goldenen Samen so sorgfältig in die zum Versand bestimmten doppelten Säcke, als handle es sich um wirkliches Gold. Für ihn ist es das auch. Trägt ihm doch jeder Hektar 500 Kilo Samen und rechnet er aus seinen[S. 119] wenigen hundert Hektaren auf einen Gewinn von 30000 bis 40000 Peso.
Mit Ausnahme der in der Nähe des Flusses liegenden Alfalfafelder empfängt das ganze Land Wasser mittels eines Kanals, der zwei Leguas oberhalb der Estancia vom Fluß abzweigt und durch ein System von Acequias Alfalfa, Obst und Wein bewässert.
Die ganze Anlage ist nicht älter als dreizehn Jahre. Um diese Zeit kam der Besitzer hierher, ein Spanier, der bisher einen Laden in Las Lajas hatte, kaufte um wenige Peso das wertlose Land und schuf in unermüdlicher, harter Arbeit das heutige Paradies.
Das Land ringsum, zum Teil Regierungsland, zum Teil Privatland, ernst um einen Pappenstiel gekauft, aber unverwertet gelassen, da seine unfruchtbare Dürre kaum Schafe und Ziegen ernähren würde, unterliegt denselben Bedingungen. Nur zwei Dinge braucht es, Arbeit und Wasser.
Wir reiten zum Fluß. Noch brennt die Mittagssonne. Langsam trotten die Pferde hintereinander auf dem schmalen Pfad durch die Alfalfa. Noch liegt ein leichter blauer Schimmer der absterbenden Blüte über dem grünen Feld. Doch die meisten Pflanzen hängen schon schwer unter dem überreichen Samen.
Ein breiter Streifen ungenützten Landes trennt das letzte Alfalfafeld vom Fluß, Überschwemmungsland. Denn noch ist ja der wilde Gebirgsfluß in keiner Weise reguliert, und Überschwemmungen drohen hier jede menschliche Arbeit zu vernichten. Sand und Kiesbank, grünumstandene Lagunen, Schilf, Gras und Buschwerk, durch das sich die[S. 120] Pferde kaum einen Weg bahnen können und das fast über unseren Köpfen zusammenschlägt, wechseln miteinander ab. Dann wieder das Kiesbett eines trockenen Flußarmes und Weiden in kleinen Gruppen. Die Sonne brennt auf unsere bloßen Arme. Über unsern Häuptern streicht ruhigen Fluges ein mächtiger Adler. In seinen Fängen windet sich lang herabhängend eine große Schlange.
Unsere Pferde saufen im Fluß. Man muß schon ein guter Schwimmer sein, um über den breiten reißenden Strom das andere Ufer zu gewinnen. Fast andächtig sehe ich auf die raschfließende Flut. Wie nutzlos vergeudetes Lebensblut verströmt sie. Nur ein winziger Bruchteil dieses lebenweckenden Elementes ist ja abgefangen. Statt Hunderte von Hektaren ließen sich Tausende und Zehntausende bewässern. Wir stehen hier am Anfang vielfältigen Werdens.
Vor den Hufen unserer Pferde schwirren immer wieder die Martinetes auf. Diese schmackhaften, hier nur allzu zahlreichen Vögel sind der einzige Feind der Kulturen, die weder Dürre noch Heuschrecken, noch Phylloxera noch irgendeine andere Reben- oder Baumkrankheit kennen. Aber wie der Weg höher hinaufführt, sandiger und steiniger wird, hören auch sie auf, und nur ab und zu huscht eine feiste Feldmaus vorüber oder ein putziges Gürteltier, das eiligst hinter einem Busch Deckung sucht.
Der Weg führt hoch oben am Rand der Felsmauern entlang, und man sieht weithin über das Land. Nur spärlich sind die grünen Flächen bebauten Landes oder die Baumgruppen, die menschliche Wohnung künden. Fast zufällig sind sie entstanden, indem da oder dort ein unter[S. 121]nehmender Estanciero oder ein etwas weiterblickender Indio einen Kanal vom Fluß abzweigte.
Rasch wechseln beim eiligen Reiten Gedanken und Phantasien. Wenn hier planmäßig gearbeitet würde, wenn das Wasser der Flüsse nicht nur zu rationeller, groß angelegter Bewässerung genützt, sondern der regulierte Neuquen gleichzeitig als Transportstraße für den Absatz der Produkte dieses Landstriches verwendet werden könnte und sein Gefälle für den Antrieb elektrischer Maschinen, die ein weites Gebiet mit Licht und Kraft versorgten — da, das bäumende Pferd wirft mich fast aus dem Sattel. Grellgelb und schwarz züngelt dicht vor ihm eine Giftschlange auf. Die Pistole fliegt aus dem Futteral. Aber schon ist das Biest in einem Erdloch verschwunden. Die Gedanken sind plötzlich abgerissen. Noch ist hier ja Wüste, Einsamkeit, Weltabgeschiedenheit. Wer hier als Ansiedler anfängt, läßt weit hinter sich alles, was Kultur und Zivilisation heißt. In weiter Ferne liegt die Verwirklichung der Möglichkeiten, die dieses Land birgt, es sei denn, daß zu den beiden, die Wüste in Garten wandeln sollen, zu Wasser und menschlicher Arbeit, ein drittes kommt — das Kapital.
Am Cayunco.
Die Nebenflüsse des Neuquen vervielfachen die Möglichkeiten dieses Flusses der Gobernacion gleichen Namens. Wenn auch für Schiffahrtszwecke infolge des[S. 122] niedrigen Wasserstandes im Sommer nicht geeignet, so sind die Verhältnisse für künstliche Bewässerung hier stellenweise noch günstiger als am Hauptfluß.
Ich reite den Cayunco stromauf. Einige Leguas hinter der Mündung schließt sich das Tal zu enger Felsschlucht zusammen. Tief unten springt der Fluß über Felsblöcke. Aber noch hier oben am Wege ist der Stein seltsam ausgehöhlt, rundgewaschen und glattpoliert, zum Zeichen, daß manchen Winter übergroße Wassermassen die ganze Schlucht füllten.
Hinter der Enge öffnet sich ein weites Tal. Auf dem nördlichen Ufer rücken die Berge bis an den fernen Horizont zurück, während sie sich auf dem südlichen in sanftgewellte Hügel lösen.
Von Zeit zu Zeit künden grüne Flächen und Baumgruppen die Puestos von Indianern, die mit Hilfe primitiver Kanäle einige Hektar unter Kultur genommen haben.
Bei einer Ranchogruppe unter besonders hohen dichten Bäumen soll erste Rast gehalten werden. Allein statt der Indios, die wir um Mate, um Paraguaytee, angehen wollten, stoßen wir auf Männer, bei denen aller Sonnenbrand die mitteleuropäische Abkunft nicht verwischen konnte. Deutsche Laute nehmen den letzten Zweifel. Wir sind in einer deutschen Siedelung mitten in der Wildnis, an der Grenze der Republik.
Es sind junge Leute zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die der für Deutschland ungünstige Ausgang des Krieges aus ihrer Bahn geworfen hat: aktive Offiziere des Heeres und der Flotte, Marineingenieure, Staats[S. 123]beamte, aber auch Handwerker und Landarbeiter. Da sie nicht über viel Geld verfügten, blieb ihnen die Qual der Wahl, wo sie das Land kaufen sollten, erspart. Sie mußten sich mit billigem Regierungsland begnügen.
Ich habe einige Tage unter diesen Siedlern gelebt, und ich muß sagen, einfacher kann man nicht gut leben, aber auch kaum glücklicher und zukunftsfroher sein. Wohl waren einige Lehmranchos da. Aber da sie noch von ihren früheren Bewohnern her voll Ungeziefer saßen, nutzte man sie lediglich als Gepäck- und Geräteschuppen, und alles, einschließlich der einen Frau, die ihren Gatten in die Wildnis begleitete, schlief im Freien.
Es ist ein herrliches Schlafen unter dem freien strahlenden Sternenhimmel, wenn auch das Aufstehen in der empfindlichen Kühle nicht ganz leicht ist. Bereits vor fünf Uhr steht alles um das mächtig flackernde Feuer, auf dem der Siedler vom Küchendienst bereits den Morgenkaffee bereitete.
Um fünf Uhr beginnt die Arbeit. Der ehemalige Indianerpuesto, in dem sich die Siedler zunächst niedergelassen, hatte einen alten verwahrlosten Kanal. Den galt es zunächst in Ordnung bringen, um möglichst rasch einige Hektar Gartenland und Weide bewässern zu können. Dann mußte ein Potrero gebaut werden, der bereits fertig ist, und jetzt ist man an der Errichtung eines Kolonistenheims, um vor Eintritt der kalten Jahreszeit unter Dach und Fach zu sein und um vor allem auch für die übrigen Frauen, die teilweise auf benachbarten Estancien, teilweise noch in Deutschland sitzen, eine gute warme Unterkunft zu schaffen.
Steine für den Unterbau liefert eine hinter der Siedelung hochsteigende Felswand. Lehmboden zum Ziegelbrennen ist zur Genüge da, Kalk hofft man noch zu finden, und so brauchen nur Holz und Wellblech zugeführt zu werden. Einer der Siedler ist Architekt, nach dessen Plänen und unter dessen Leitung gebaut wird.
Es sind etwa zwanzig Herren, die unter der Leitung zweier argentinischer Landwirte, eines Kolonisationschefs und eines Capataz, den Grundstock zu einer Siedelung legen.
Manche der Siedler stammen aus angesehenen, wohlhabenden Familien, und sicher war der Sprung in so ganz andere Lebensverhältnisse und die Gewöhnung an schwere körperliche Arbeit nicht leicht, und das Zusammenleben so verschiedenartiger Elemente auf so engem Raume mußte zu Reibungen führen. Aber wie sich alle in der Zwischenzeit ein paar tüchtige, schwielige Hände zugelegt haben, so hatte ich auch den Eindruck, daß sich die übergroße Mehrzahl nicht nur mit dem neuen Leben abgefunden hat, sondern daß sie alle völlig in ihrer Arbeit und in ihrem Unternehmen aufgehen.
Es ist ein eigen Ding um die Arbeit auf eigenem Grund und Boden. Zehnmal so leicht ist sie wie für fremde Rechnung. Die Siedler haben sich zunächst zu einem Jahr unentgeltlicher gemeinschaftlicher Arbeit verpflichtet, und sobald wie möglich sollen dann die einzelnen Familien auf eigenen Losen angesiedelt werden und jede eine gewisse Anzahl Hektar Bewässerungsland bewirtschaften, während der übrige Kamp genossenschaftlicher Viehwirtschaft dient.
Sobald es Abend wird, kommen die einzelnen Gruppen von der Arbeit, die einen vom Steinetragen, die andern vom Roden, die dritten vom Kanalbau. Unter den Pappeln und Weiden sitzt man auf den selbstgefertigten Bänken, ein Stück knusprigen Bratens in der Hand.
Rasch sinkt die Nacht. Von dem verglimmenden Feuer steigt ein leichter blauer Rauch. Aus dem Potrero tönt das Läuten der Glocke der Leitstute der Tropilla, und in das Läuten der Glocke, in das Quaken der Frösche vom Fluß her und das Zirpen der Grillen und in all die unbestimmbaren Geräusche der Nacht in der Wildnis klingt immer wieder das Lachen der jungen Frau.
Man sitzt und erzählt. Einer hat sich schon zurückgezogen, und aus der Ferne klingt sein Geigenspiel. Schwermütige Weisen — wie könnt’ es anders sein.
Es war viel Hoffnungsfreude und Zukunftsglaube unter den Siedlern. Im Geiste stand bereits das Haus, blühte das Feld. Aber als ich nach Jahresfrist nach Argentinien zurückkehrte, da war die Siedelung eingegangen, an Kapitalmangel, an Streitigkeiten der Siedler. Sie alle waren auseinandergeflogen, und ein Teil vegetierte dahin in Elend und Armut.
Am Cayunco.
Zwischen den beiden Nebenflüssen des Neuquen, dem Cayunco und dem Agrio, erstreckt sich als Wasserscheide ein mächtiges Hochplateau. Vom Fluß aus scheinen[S. 126] dessen steil abfallende Wände das Tal wie mit unübersteigbaren Mauern abzuschließen. Aber wie man mir sagt, führt ein Reitweg auf die Hochfläche hinauf, und da Hufspuren und vertrockneter Pferdemist untrügliche Spuren geben, reite ich allein eines Morgens los.
Endlos dehnt sich der Weg. Die scheinbar so nahen Felsmauern rücken immer wieder ein Stück in die Ferne. Es zeigt sich, daß oberhalb der leicht und einfach bewässerbaren Flußufer sich weithin eine zweite Stufe dehnt, teilweise Ebene, teilweise leicht gewelltes Land, die nicht minder Frucht und Alfalfa tragen könnten wie das Land am Fluß, wenn, ja wenn es gelänge, hierhin Wasser zu bringen. Allein mit den einfachen Mitteln des bisherigen Kanalsystems ist nicht daran zu denken. Dazu gehörten schon Stauwerke, großzügige Anlagen, Ingenieurarbeit.
Zwischen Zampabüschen, die noch bei größter Dürre und absolutem Wassermangel gedeihen, führt die Hufspur. Der Boden ist reich an Salpetersalzen. Stellenweise ist er weiß von ausgeschiedenen Kristallen, und einzelne Pflanzen sind von unten her ganz damit bedeckt. Die Kristalle kriechen an Wurzeln und Stengeln in die Höhe, so daß es aussieht, als verwandelten sie sich langsam in steinerne Blumen des Todes.
Eine Reihe trockener Flußbetten kreuzt den Weg. Dann schlängelt er sich längs der Felsen hin, bis eine Schlucht sich auftut und steil und steinig der Weg sich aufwärts windet.
Mühsam keucht das Pferd. Auf Meilen sind wir beide die einzigen Lebewesen. Sind wir’s wirklich? Dort,[S. 127] von dem Felsvorsprung, hebt sich eine seltsame Silhouette vom Himmel ab, ein seltsam geformter Stein, ein bizarrer Strauch, oder ist es wirklich ein Guanaco? Beim Näherkommen zeichnet sich deutlich das braune zottelige Fell ab, der unwahrscheinlich lange Hals, der lächerlich kleine Kopf des Tieres, das wie eine tolle Laune des Schöpfers wirkt. In seiner unbeweglichen Haltung sieht das Tier nicht anders aus wie einer dieser grotesken Auswüchse der Felsen, die bald Drachen, bald menschliche Köpfe oder tierische Leiber scheinen. Fast könnte man noch zweifeln, ob es wirklich ein lebendes Wesen ist. Da bekommt es Wind von dem nahen Menschen und zieht in eiliger Flucht ab.
Wie Blut und Feuer brennt in der Sonne der rote Fels. Die Augen schmerzen, bis der Rand der Hochfläche erreicht ist und das jetzt wieder alles überwuchernde matte Grün der Büsche wohltuende Ruhe gibt.
Aber zwischen den Büschen verschwindet der letzte Rest der Hufspur. In den leichten Senkungen des Hochplateaus versinkt der letzte Richtpunkt am Horizont. Nach rechts, nach links, nach vorn, nach hinten eine einzige, gleichförmig eintönige Fläche. Nur Sonne und Kompaß bleiben als letzte untrügliche Wegweiser.
In mühsamem Galopp geht es durch das dornige Strauchwerk. In die grenzenlose Verlassenheit zittert ein Sehnen nach etwas Großem, Befreiendem, nach einem Ende dieser verzweiflungsvollen Öde. Aber hinter jede eben überwundene sanfte Hügelkette schiebt sich eine neue. Mit einem Male, als die Stimme, die zur Umkehr mahnt, schon laut und vernehmlich geworden war, scheint es,[S. 128] als höben sich Vorhänge, und von der letzten Kimme aus öffnet sich berauschend weit der Blick ins Agriotal hinunter.
Einem Amphitheater gleich öffnet sich die weite Schlucht. Immer weiter treten Felskulissen zurück, braun und grau und rot, bis über Hänge und Stufen hinunter tief unten im Grund wie fließendes grünes Licht das gewundene Band des Agrio aufleuchtet. Nach West und Nordwest aber baut sich in horizontweiter Ferne unter der leuchtenden Last des ewigen Schnees der Fels der Kordillere in intensiv blauen und weißen Farben auf.
Unbestimmte Sehnsucht ist es, die durch brennend heißen Sand und Dornbusch bis zu jenen unerreichbar fernen Bergen treibt. Zwischen Busch und Stein formt sich wieder Hufspur, die durch Schluchten hindurch langsam wieder abwärts führt zu jener Stufe oberhalb des Cayuncotals.
Eben oder nur in sanfter Wellung zieht sich die Terrasse Leguas weit. Herrenloses Land, unnützes Land, trocken und dürr. Wer hier Wasser hinbrächte, wer hier Weide und Acker erschlösse, nahrungspendend für Tausende!
Vor dem Reiter flüchtende Schaf- und Ziegenherden künden die ersten Spuren menschlicher Siedelung. Es sind Indianerpuestos unten am Fluß zwischen Pappeln und Weiden.
Der Weg führt plötzlich steil und rasch abwärts. Der Fluß rückt dicht heran. Jetzt trennt nur mehr ein steil abfallender Hang den Pfad von seinem blauen Spiegel.
Der Weg scheint zu Ende. Die Hänge, die voll von Papageienlöchern sind, lösen Felsen ab, die dicht an den Fluß heranrücken. Zwischen Wasser und Stein bleibt kaum so viel Platz, daß das Pferd vorsichtig tastend seine Hufe setzen kann.
Auf einer Sandbank am Fluß endet der Weg. Kristallklar strömt die Flut. Durstig trinken Mensch und Tier. Hinter dem über den Wasserspiegel Gebeugten knirscht der Kies. Ein Mensch ist aus den Felsen herausgetreten, sonngebräunt, verwildert, mit langem Bart und Haar. Einen mächtigen Kasten und ein Stativ hält er in den Händen. Weiß Gott, ein Nivellierapparat! — Es ist ein Vermessungsingenieur. Seit Wochen haust er hier in menschenfernster Einsamkeit, häuft meterhohe Steinpyramiden zu trigonometrischen Punkten und mißt das Land, das selbst auf den neuesten Regierungskarten nur eine weiße Fläche ist.
Er führt mich zu dem Indianerpuesto, wo er ißt und schläft. Hier kredenzt die braunhäutige Señorita den Mate, den in Argentinien üblichen Paraguaytee. Neben dem alten Indianer, der nicht lesen noch schreiben kann, der nichts kennt als seine Pferde und Schafe, sitzt als Gast und Hausgenosse der akademisch gebildete deutsche Ingenieur und ehemals königlich preußische Staatsbeamte, benutzt zum Trinken dieselbe Bombilla, das Röhrchen mit einem Sieb am untern Ende, und spricht mit dem Indio als Caballero zum Caballero. Der in Europa so ganz andere Verhältnisse gewöhnte Fremde muß immer wieder über die natürliche, kavaliermäßige Sicherheit staunen, mit der sich auch der einfachste Ureinwohner dieses Landes bewegt,[S. 130] und über das über alle sozialen Unterschiede hinwegleitende chevalereske Verhältnis gegenseitiger Höflichkeit und Achtung zwischen Patron und Peon.
Wie ich die beiden nebeneinander sitzen sehe, steigt mir eine Zukunftsvision dieses Staates auf, in dem sich aus den größten Gegensätzen des Klimas, des Bodens und der Menschen langsam und fast unmerklich ein neues Land und eine neue Rasse formen.
Los Andes.
Von Neuquen führen zwei Wege über die Kordillere der Anden nach Chile, der eine über San Carlos Barriloche und den Nahuel-Huapi-See, der andere über San Martin de los Andes, der erstere im Auto, letzterer nur zu Pferd oder Maultier benutzbar. So groß auch die Lockung war, über die Schneeberge zu reiten, die ich täglich vor mir sah, so entschloß ich mich doch, nach Buenos Aires zurückzufahren, um den ersten und Hauptverkehrsweg zwischen Argentinien und Chile zu benützen und über den Uspallatapaß mit der transandinen Bahn zuerst nach der Hauptstadt der chilenischen Republik zu fahren.
Vierundzwanzigstündige Schnellzugsfahrt bringt nochmals durch die seit Monaten wohlbekannte argentinische Landschaft. Pampa, flache, endlos weite unbegrenzte Ebene. Aber je mehr sich mit Tagesgrauen der Zug der Wein- und Obstzone von Mendoza nähert, desto mehr ändert sich der Charakter der Landschaft. Die Eindrücke vom Rio Negro und Neuquen wiederholen sich. Erst spärlich aufmarschierende Pappelreihen, die ersten Anzeichen künstlicher Bewässerung, dann dichter und dichter werdend Wein, Obstgärten und Alfalfafelder.
Mendoza ist das Zentrum des ältesten Wein- und Fruchtgebietes des Landes, eine friedliche Stadt; gepflasterte Straßen, Baumreihen und Häuschen, umrankt von Trauben. Hier wechselt die Spurweite, und die schmalspurige Andenbahn beginnt.
Von der Landschaft des Rio Negro kommt man in die des Neuquen. Die Kulturen verlieren sich zwischen Sand und Stein, die Berge, die als großartiges Panorama den Horizont säumten, rücken heran. Die Schienen gleiten in Flußtal und Schlucht hinein. Unten rauscht der Mendoza. Hie und da ist noch ein Kanal für die eine oder andere kleine Estancia mit wenigen Alfalfafeldern abgezweigt. Dann hört auch das auf. Die letzten Büsche verschwinden; kein Halm, kein Strauch, keine noch so dürre, bedürfnislose Distel. Nichts als Stein, nackter Fels; nur wo dem kahlen Stein die heißen Quellen entspringen, bei Cacheuta, inmitten ödester Felseinsamkeit mondänstes Leben.
Bald saust der Zug um scharfe Kurven. Täler verengen und weiten sich. Graues, schieferartig übereinandergeschobenes Gestein wird heller und rötet sich zu Sandsteinfarbe. Das letzte Grün verhaucht zwischen den Schluchten. Neue Felsen, neue öde, grandios einsame Steinhalden. Die Sonne brennt in den Steinkessel, die Bläue des Himmels vertieft sich. Im Zug wird es stiller und stiller. Tiefleuchtende Augen sehen voll stummer Andacht in diese Welt, so unbelebt, so unberührt. Hier ist Gottes ureigenstes Gebiet.
Nur das heisere Schnaufen des Zuges und der gellende Sirenenschrei der Lokomotive durchbrechen die Stille. Weiter und weiter. Als ginge es in steinernen Urwald hinein, in ein vormenschliches Zeitalter, mit einem Häuflein Menschen in hochmodernen Wagen.
Noch stummer, noch unbeweglicher, noch mahnender stehen die Felsen. Ein Grauen packt uns vor dieser Ein[S. 135]samkeit. Wer ist stärker, sie oder wir? Stumm stehen die Felsen. Kein Laut löst die Enge. Drei, vier Felsen, wie in Verzweiflung gerungene Hände, dicht aneinander und übereinander wachsend, dann wieder ein einziger großer Stein, ein mächtiger Koloß, ruhend, stark wie ein Gott, der die paar Menschen an sich herankommen läßt. Als der Zug, bei steilerem Anstieg wieder einmal in die Zahnradkette eingeschnappt, langsam keuchte, war einer ausgestiegen, der dann, als die Lokomotive plötzlich wieder anzog, nicht rasch genug wieder aufspringen konnte. Es gab ein verzweifeltes Rennen, bis der Zugführer verständigt war und stoppte. Auf den Zügen des italienischen Auswanderers malte sich das Grauen, als er uns wieder erreichte.
Scharf geht die Bahnlinie den Fels an. Steil wird die Trasse und gefährlich. Bald, in wenigen Wochen, in Tagen vielleicht werden zwischen jenen Felsblöcken die ersten Schneelawinen hinunterrollen. Der Mensch hat Schutzdächer gebaut, um seine Bahn zu schützen. Wie in einen Schlund tauchen wir unter das erste. Oder haben sie den Zweck, die Augen vor der immer großartiger werdenden Schönheit zu schützen? Wenn ein Schutzdach aufhört, sieht man verwirrt in die flimmernden Lichter. Die Sonne hat ihren Zenit überschritten. Regenbogenlichter spielen auf dem Fels. Dahinter die weißen Kuppen der Schneeberge und der bläuliche Schimmer von Gletschern. Wo sie herunterkommen, verändern sie den Fels. Rillen werden gewaschen, Blöcke verschoben. Man ahnt, daß auch hier Kämpfe spielen, der ewig währende, uralte Kampf zwischen Wasser und Stein.
Puente del Inca ist der letzte Punkt, bis zu dem die Zivilisation hochgedrungen. Dann stört nichts mehr die grandiose Monotonie der Berge. Nur der Schienenstrang, den der Mensch als Fessel über den Berg gelegt, verbindet menschliches Leben diesseits und jenseits der Kordillere. Wir sind jetzt in über dreitausend Meter Höhe. Das Blut pocht in den Schläfen. Der Kopf wird schwer von Wirrnis.
Aber als der Zug aus dem langen Tunnel heraustritt, der unter der Paßhöhe der Cumbre durchgestoßen, verwehen alle Spuren der Bergkrankheit. Nichts als restloses Aufgehen in dieser hinreißenden Schönheit des Landes. Der Fels fängt an zu opalisieren. Phantastisch bunte, lichte Farben legen sich über die Hänge: blau, wie Kobalt, rosenrot, violett, vom zartesten Grün bis zum intensivsten Giftton, Indigo, Purpur. Wie Pastellmalerei, zart und fein, spinnt sich das Bild der Farben über den Stein.
Von der Plattform des letzten Wagens ist es ein einsames Schauen, als schwebe man in unendlicher Einsamkeit den Fels hinan. Tiefste Frömmigkeit, wie nur die unmittelbare Todesnot der Schlacht sie brachte, füllt das Herz. Wenn man hier auf diese Höhe Menschen brächte, ihnen Nahrung erschließen könnte aus dem toten Stein, welch Geschlecht müßte hier erwachsen! Ein Geschlecht, das, in unmittelbarer Nähe des Schöpfers aufgewachsen, in seinem Herzen die starke, reine Flamme läutern müßte, die Flamme, die, hinuntergetragen in das dunstige, schlammige Tal, den Frieden bringen müßte den Menschen und Völkern, die heute einander töten, vernichten, vergiften, die wie Reptilien in eklem Pfuhl ineinander verschlungen und verbissen liegen.
Vorbei — ein neues Schutzdach blendet die Augen. Aber durch die viereckigen Löcher in seiner Decke fällt in dicken Streifen die Sonne herein. Wie Lichtpfeiler geleiten sie den Zug, und es ist, als arbeite sich die Maschine an ihrer Lichtspur aufwärts.
Santiago de Chile.
Ist es infolge der monatelangen Gewöhnung an die grenzenlose Eintönigkeit der Pampa, oder steht das Herz noch unter dem bangen Eindruck der steinernen Göttlichkeit der Kordillere, daß einen beim Hineingleiten in die chilenische Landschaft dies grünende, blühende, früchtetragende Land umfängt wie ein betörend schöner Traum?
Kaum daß der Zug den Tunnel unter der Höhe der Cumbre passiert hat und in rasend raschen Windungen auf 2000 Meter Höhe hinuntergeeilt ist, vorbei an dem indigoblauen Inkasee, dessen Tiefe noch niemand gelotet hat, kriecht bereits das erste Grün die Steinhänge hinan und weiden längs des sich aus Schmelzwasser bildenden Flusses Pferde und Rinder.
Auf das Grün folgt Kaktus in unheimlich fleischigen, dicken, übermannshohen Stämmen, pfeilgerade ohne Knollen, Früchte und Blätter zwischen dem Fels emportreibend, dann Felder, Gärten, Bäume, richtige schattenspendende Bäume, wie Argentinien sie kaum kennt, die Stationshäuschen von Veranden umgeben, blumenumrankt, und vor ihnen aufmarschiert in endloser Reihe ein[S. 138] Tisch neben dem andern, reichbeladen mit Früchten, Trauben, weiß, blau und rot, Äpfel, Birnen, eine Fülle fremder, absonderlicher Früchte, die der Reisende aus Europa noch nie gesehen.
Und der Eindruck eines paradiesisch schönen, phantastisch reichen Landes bleibt, mag man mit dem Zug weiter nach Westen über Santiago nach Valparaiso oder nach Süden nach Talca oder gen Norden nach Serena fahren. Er bleibt auch, wenn das in allen Farben brennende Herbstlaub von den Bäumen fällt und halbmeterhoch mit Blattgold die Wege deckt. Überzieht sich auch den einen oder andern Tag der Himmel und strömt wolkenbruchartig der Winterregen, die lehmigen Straßen in Gießbäche verwandelnd, so heben sich am nächsten Tag von der intensiven Bläue des Himmels traumhaft schön in blendender Weiße die bis tief hinab mit Schnee bedeckten Hänge der Kordillere ab. An ihrem Fuß aber wandelt man in strahlend warmer Sonne durch Gärten, in denen Rosen blühen, und aus deren dunklem Grün der satte Goldton reifer Orangen leuchtet.
Diese Gärten um Santiago! Kein Baum, kein Strauch, keine Pflanze der Welt scheint in ihnen zu fehlen. Von Kiefern, Pinien und Zedern, von den Eichen und Buchen unserer deutschen Heimat bis zu Palmen und Feigenbäumen voll reifer Früchte, bis zu Mandelbäumen und Paltas, deren Frucht mit Pfeffer und Salz aufgetischt im Herbst bei keiner chilenischen Mahlzeit fehlt.
Die Früchte aber, für die das milde Klima Mittelchiles zu warm ist, wie Äpfel und Birnen, kommen aus dem kälteren Süden, während der Norden subtropische[S. 139] und tropische Früchte liefert. Darum fehlt auf dem Markt von Santiago vielleicht keine Frucht und kein Gemüse der Welt. Dazu kommt über Valparaiso die ganze phantastische Tier- und Pflanzenwelt des Meeres, außer Fischen jeder Art Krebse, Hummern und Langusten, kreisrunde, tellergroße Taschenkrebse, eßbare Algen, stachelige Seeigel, Austern und Pfahlmuscheln.
In noch weiterem Maße als Argentinien erstreckt sich Chile durch alle Klimate und Zonen. Nicht nur, daß es sich nach dem Norden um mehr als vier Breitengrade, etwa 500 Kilometer, weiter dehnt als die Nachbarrepublik, die langgestreckte Enge des Landes bewirkt auch, daß jeder Punkt zu Lande wie zu Wasser rasch erreicht werden kann. So kann man in wenigen Tagen Bahnfahrt von dem völlig regenlosen Norden über das Zentrum mit seinem Mittelmeerklima in den Süden kommen, wo es, wie der Argentinier boshaft sagt, „13 Monate im Jahr“ regnet.
Mittelchile kennt nur Winterregen. Infolgedessen ist Landwirtschaft im allgemeinen nur mit künstlicher Bewässerung möglich. Aber anders als in der argentinischen Bewässerungszone, wo die Kanäle und Acequias das flache Land in planmäßige, langweilige Quadrate teilen, ziehen sich hier die wasserführenden Gräben an den Hängen der Berge entlang, und von ihnen dehnen sich abwärts malerisch wuchernde Gärten und Felder, mit Bäumen und Hecken umstanden, zwischen denen blühende Schlinggewächse ranken.
Es ist wohl das Schicksal von Paradiesen, daß sie stets den Wenigen vorbehalten bleiben. So ist auch[S. 140] Mittelchile, das Millionen sorgenlose Nahrung geben könnte, Sitz und Besitz weniger Großgrundbesitzer, die ihre „fundos“ mit teilweise noch halbleibeigenen Inquilinos bewirtschaften.
Während im argentinischen Bewässerungsland Wasser ein kostbares Element ist, bei dem mit jedem Tropfen gespart werden muß, strömt in Chile überall überreich das Wasser von der Kordillere, so daß hier die Anlage von Bewässerungskanälen im allgemeinen einfacher und billiger ist. Trotzdem ist noch ein großer Teil des Wassers für Landwirtschaftszwecke ungenützt, ebenso seine natürliche Kraft. Ein einziger Fall des Aconcagua, der Salto del Soldado, würde genügen, die ganze Andenbahn elektrisch zu betreiben. Bei der wachsenden Kohlennot der Welt liegen hier noch große Möglichkeiten. Chile hat auch das vor Argentinien voraus, daß es in seinen Kohlenfeldern bei Concepcion über reiche Schätze verfügt, und lediglich die in letzter Zeit häufigeren Streiks bewirkten den gefährlichen Kohlenmangel, der den größten Teil des Bahnverkehrs lahmlegte und jetzt auch die Industrie mit Stillstand bedroht.
Santiago de Chile.
Die Santiago einkesselnden Felsen, die sonst in matten Farben von dem abgetönten Gelb und Braun des Morgens bis zu dem rosigen, dann satten und schließlich flammenden Rot des Sonnenunterganges leuchten, glühen und brennen, sind über Nacht weiß geworden. Fast bis ins[S. 141] Tal hinunter ist der Schnee gekommen, der sonst nur auf den fernen Gipfeln blinkt. Unten aber in den reichen Quintas rings um die Stadt flammen im Grün die Goldorangen, und an strahlend klaren Tagen nimmt es diese Stadt an Schönheit mit der gelobtesten Landschaft Italiens auf.
Aber bald ziehen sich die Wolkenschleier vor. Es regnet und regnet. Oben in der Kordillere fällt dichter und immer dichter der Schnee. Die Nervosität jener, die noch rasch, ehe der Winter voll einsetzt, über die Anden wollen, steigt; ängstlich wird die Zeitung durchflogen, ob vielleicht schon die peinliche Nachricht drin steht: „Die Kordillere ist zu, aber man hofft, sie wieder freizubekommen“ — eine Hoffnung, die nur zu oft täuscht.
Meere verbinden, Berge scheiden! Nie wird einem das Wort klarer, als wenn man von Europa über Atlantik, Pampa und Kordillere in die zwischen Pazifik und Anden eingeklemmte Republik reist. Zwischen Amsterdam und Buenos Aires ist die Ähnlichkeit vielleicht größer als zwischen letzterem und Santiago. Und der Unterschied zwischen Chilenen und Argentinier, die doch beide aus dem gleichen Blute stammen — auch der indianische Einschlag in Argentinien geht ja auf die chilenischen Araukaner zurück —, fällt selbst dem ungeschulten Auge des Fremden auf.
Roosevelt nannte Chile das schönste Land der Welt. Man möchte es auch das gesegnetste nennen, und es möchte mir wohl wahrscheinlicher scheinen, daß das verlorengegangene Paradies unter dem milden, blauen Himmel Mittelchiles lag als in den heute trockenen und[S. 142] dürren Feldern Mesopotamiens. Wenn irgendwo in der ins Wanken geratenen Welt, so könnte man in Chile ein befriedetes, glückliches Volk erwarten. Statt dessen Volk und Land erschüttert von allen Fiebern politischer und sozialer Erregung. In diesem Land, das so reich ist, daß in einzelnen seiner Teile Massen von Korn, Kartoffeln und Früchten verderben, steigt in andern Teilen die Not von Tag zu Tag. In Santiago übertrifft die Teuerung des Lebens bereits die von Buenos Aires.
Und die gleichen Wetterzeichen, die der Fremde von Europa her gewöhnt ist: auch hier Streik und immer wieder Streik. Monatelang setzt die Arbeit in den Schächten von Concepcion aus, und immer rarer wird die Kohle. Erinnerung an das Zentraleuropa des Krieges und der Revolution: die Züge fahren immer unregelmäßiger, immer größer werden die Verspätungen. Zug auf Zug wird eingestellt. Schon geht seit Monatsfrist die nach dem Norden führende Bahn nicht mehr. Bis Serena wird von Santiago aus der Verkehr nur mühsam aufrechterhalten. Doch auch hier droht völlige Stockung. Aus der Provinz Atacama kommt die Nachricht, die Nordprovinzen verhungern, weil wegen Kohlenmangel die Stichbahnen stilliegen, die von den Küstenstädtchen Caldera, Carrizal und Huasco ins Innere führen. Im Süden aber verfaulen Berge von Kartoffeln.
Das ist der Boden, auf dem politische Erregung zur Siedehitze erglüht. Das große Pendel der Wahlbewegung hat zu schwingen begonnen, und alles, was an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wünschen und Hoffnungen im Lande lebt, wird mit hineingerissen in diese eine Be[S. 143]wegung, von deren Ausgang jede Partei alles hofft und alles fürchtet.
Um die Pole, Barros Borgoño und Arturo Alessandri, hat das ganze Leben der chilenischen Republik zu kreisen begonnen. Als ich in den Märztagen des Jahres 1920 nach Chile kam, da sprach man in den Kreisen, die sehr viel Geld und sehr viel Einfluß haben, von Arturo Alessandri nur als von dem „Bolschewisten“ und „Maximalisten“. Man hielt seine Aussicht, von der Konvention der Allianza als Präsidentschaftskandidat nominiert zu werden, für recht gering. Als er doch überraschenderweise mit großer Stimmenmehrheit aufgestellt wurde, da meinte man in denselben Kreisen, das sei der dümmste Streich, den die Allianza Liberal hätte tun können; denn jetzt sei die Wahl des Kandidaten der Union Nacional mit Unterstützung der Konservativen sicher. Heute haben viele der gleichen Leute sich bereits mit Arturo Alessandri abgefunden, und die ganze Beurteilung dieses Mannes erinnert etwas an die Tonart der Pariser Blätter nach der Wiederkehr Napoleons von Elba. Als sein Schiff in den Hafen von Marseille einlief, schrieb die Pariser Presse: „Der Werwolf und Tyrann, Napoleon Bonaparte, ist in Frankreich gelandet.“ Langsam milderte sich dann der Ton, bis es kurz darauf hieß: „Unser geliebter, gefeierter Kaiser ist an der Spitze seiner Truppen in seine treue Hauptstadt eingezogen.“
Wird Arturo Alessandri ein ähnliches Schicksal haben? Der Fremde, der in die Politik des Landes nicht eingeweiht ist, vermag nur zu vermuten. Man sagt ihm, Überraschungen bei der Wahl seien das Gewöhnliche.[S. 144] Erst in den letzten Tagen, bevor die Wähler zur Urne schreiten, beginne das Geld und der Stimmenkauf seine Rolle zu spielen.
Aber andrerseits sieht, wer die politischen und sozialen Erschütterungen Europas leidend und handelnd miterlebte, in manchem auch klarer. Fast erschütternd war in Santiago die Ähnlichkeit mit Berlin, als kurz nach meiner Ankunft der vierundzwanzigstündige Generalstreik als Demonstration gegen die Verhaftung des radikalen sozialistischen Studentenführers Gandolfo einsetzte.
Ich war noch völlig fremd, hatte noch keine Zeitung gelesen, wußte nicht, um was es sich handelte. Aber das hastige Schließen von eisernen Rolläden der Geschäfte um die Mittagszeit, diese so plötzlich überfüllten Straßenbahnen und die nervöse, unruhige Eile, die mit einem Male das ganze Getriebe der Stadt ergriffen hatte, erinnerte erschreckend an so manche Tage in Berlin, wenn plötzlich das Gerücht des Generalstreiks auftauchte und man hastete, noch vor dem letzten Stadtbahnzug die weit im Vorort gelegene Wohnung zu erreichen.
Unter südamerikanischer Sonne glühen die politischen Leidenschaften heißer. Aber es fehlt andrerseits der günstige Boden für gewaltsame Erschütterungen, den Krieg und Hunger in den Seelen der mitteleuropäischen Völker bereitete. So muß man hoffen, daß jene recht behalten, die Unruhe und Umsturz für ausgeschlossen halten. Aber man darf doch nicht vergessen, daß die chilenische Präsidentenwahl des Jahres 1920 die erste politische Wahl ist, die einen sozialen Charakter hat.
Und noch eines, das man bei all der berechtigten[S. 145] Furcht vor maximalistischer Agitation nicht vergessen sollte: Maximalismus in russischem Sinn gedeiht nur, wo Not und Hunger herrschen. Geschieht in dieser Hinsicht alles, dieses Gespenst zu bannen? Dieser Tage kam ich mit einem reichen Getreidespekulanten ins Gespräch, und wir sprachen auch über Maximalismus. Er meinte: „Die eigentlichen Maximalisten sind wir. Mit 20 und 30 Peso die Tonne Weizen ist uns nicht gedient. Wir wollen 40, 50, 60. Wir sind Maximalisten. Wir wollen immer das Maximum.“ Er hielt es für einen Witz und lachte und war sich der bitteren Wahrheit, die er sprach, nicht bewußt.
Temuco.
Sollte es möglich sein, Menschen wochenlang in tiefen Schlaf zu versenken und sie in diesem Zustand über den Ozean zu bringen, sie würden, in einer der Städte Südchiles erweckt, darauf schwören, Deutschland nie verlassen zu haben. Die viereckige grüne Plaza ist wohl etwas fremdartig, aber die Häuser ringsherum sind rein deutsch; alles ist peinlich sauber, frisch gestrichen, mit blühenden Blumen, in Läden wie in Gasthäusern deutsche Laute, deutsche Kirche, und über der Schule sogar die Inschrift: „Vergiß nicht, daß du ein Deutscher bist.“
Die heute blühendsten Provinzen des Landes, Valdivia, Llanquihue und der Süden von Cautin, sind das Werk deutscher Kolonisation. Vor zwei Menschenaltern begann südlich des Biobioflusses die Frontera, die Grenze,[S. 146] jenseits der das Gebiet der nur nominell unterworfenen Araukaner lag. Im Jahre 1850 kamen hierher, wo heute die blühende, reiche, fast rein deutsche Stadt Valdivia liegt, die ersten dreihundert Deutschen; weitere folgten, die an den Llanquihuesee und nach Puerto Montt zogen.
Die Nachkommen jener ersten Siedler sind heute zum großen Teil Millionäre — in Peso, nicht in Mark —, aber das Leben ihrer Großväter und teilweise noch ihrer Väter muß nach allen Erzählungen, die man hört, unsäglich hart und entbehrungsreich gewesen sein, wie es überhaupt das Schicksal aller Kolonisten zu sein scheint, daß die Früchte erst Kinder und Enkel erben.
Noch heute ist ein großer Teil der Provinzen Valdivia und Llanquihue Urwald, und eine neue deutsche Kolonie in diesem abgelegenen Gebiet würde mit ähnlichen, wenn auch nicht so großen Schwierigkeiten zu rechnen haben, wie jene ersten deutschen Kolonisten vor siebzig Jahren. Das Land, das in Kultur genommen werden soll, ist undurchdringlicher Urwald. Darum ist die erste Arbeit des Siedlers nach der Vermessung die Herstellung eines Pfades, auf dem er in mühseligem, meist stundenweitem Marsch im Winter auf unergründlichen, schlammigen Wegen — denn dann regnet es wolkenbruchartig Tag für Tag — sich seine Arbeitsgeräte und die Nahrung für sich und seine Familie heranschaffen muß.
Dann geht es an die Arbeit des Holzfällens, die der Ungeübte, Fremde, ohne Hilfe einheimischer Peone, meist Chiloten von der Insel Chiloé, kaum bewerkstelligen kann. Aus den Erinnerungen der ersten Ansiedler ist einiges erhalten. Eine jener alten Ansiedlerfrauen, die als Kind in[S. 147] den Urwald kam, berichtet, wie sie im Sommer ankamen und wie Vater, Mutter und ältere Geschwister vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung sich mit dem Fällen der Baumriesen mühten. Und als dann der Frühling seinen Abschied nahm, da war das Stücken Lichtung, an dem so unendliche Arbeit hing, noch jämmerlich klein.
Ist diese erste Lichtung geschaffen, so wird das übermannshohe Gewirr von Stämmen, Ästen und Blättern angezündet, sobald die Sonne des Sommers das Laub gedörrt hat. Allein so eisenhart und fest sind die Stämme, daß nur Blätter und Zweige verbrennen und selbst die dürren Äste kaum ankohlen. So müssen Stämme und Äste mit der Axt durchhauen, aufgeschichtet und neuerdings angezündet werden. Die größten Stämme bleiben liegen, oder man läßt sie überhaupt stehen. Noch heute sieht man im Süden überall, selbst an der Bahnstrecke, Felder, zwischen denen hohe, abgestorbene oder angekohlte Baumstämme in die Luft ragen.
Teilweise sind es ganze lichte Wälder solcher kahler Stämme, zwischen denen das Korn wächst, und im ersten Augenblick wähnt man, man führe durch jene Gegenden Frankreichs, in denen der Regen des beiderseitigen Trommelfeuers die Wälder getötet.
Zwischen den Stöcken und Stämmen wird der erste Weizen in den mit der Hacke aufgeritzten Urwaldboden gestreut. So wird Jahr für Jahr ein immer größeres Stück unter Kultur genommen, bis langsam nicht nur der eigene Bedarf für den Lebensunterhalt, sondern auch ein verkaufsfähiger Überschuß erzeugt wird.
Einfacher ist die Haltung des Viehs; dieses wird in[S. 148] den Wald getrieben, wo es sich die Nahrung selbst sucht. Auch die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind denkbar einfach. Als Wohnung dient ein Bretterhaus, als Fortbewegungsmittel die Carreta, ein primitiver zweirädriger Karren, dessen Räder häufig einfach zwei Scheiben Baumstamm sind. Das Zugtier ist überall der Ochse, der die Carreta mittels eines Joches primitivster Art zieht, von dem Treiber mit dem gestachelten Stab des klassischen Altertums gelenkt.
Valparaiso.
Das Herz Chiles ist sein Längstal, das sich zwischen Hochkordillere und Küstenkordillere von Nord nach Süd erstreckt. Hier ist seine Korn- und Fruchtkammer, hier führt der Hauptverbindungsweg, hier liegen seine reichsten Städte.
Bei Puerto Montt hört dieses Tal auf. Hier ist das Meer hereingebrochen und hat das Tal unter Wasser gesetzt. Die Küstenkordillere hat es in eine Reihe von Inseln zerlegt, während die Hänge der Hochkordillere statt auf das fruchtbare Tal zu münden, jetzt von den vielen Golfen und Kanälen genetzt werden, die sich zwischen Inseln und Festland hinziehen.
Hier bei Puerto Montt endigt für den Durchschnittschilenen sein Land. Früher war dies an der Frontera der Fall, bis die deutschen Einwanderer die Grenze des Kultur- und Machtbezirkes Chiles um einige hundert Kilometer nach Süden verschoben.
Chiloé, die nördlichste und größte der dem Festland vorgelagerten Inseln, ist noch bekannt. Hier führt eine Bahn von Ancud bis Castro, und vor einer Reihe von Jahren versuchte die Regierung auf Grund eines großangelegten Kolonisationsplanes die Insel zu kolonisieren. Trotz der guten Erfahrungen, die mit der deutschen Einwanderung gemacht waren, fürchtete man doch das allzu starke Überwiegen einer fremden Nationalität in geschlossener Siedelung und siedelte deshalb auf Chiloé Deutsche, Engländer, Franzosen und Holländer durcheinander an, möglichst fremdartige Nationen einander benachbart. Der Erfolg war, daß die meisten der Kolonisten, die sich gegenseitig weder verstanden noch helfen konnten, wieder abwanderten. Nur ein paar Deutsche und Holländer blieben.
Berühmt ist Chiloé wegen seiner Kartoffeln. Aber man klagt über die geringe Verwertungsmöglichkeit infolge der hohen Frachten.
Auf dem gegenüberliegenden Festland aber hört tatsächlich die Welt auf. Man sagt sich verstandesmäßig, daß die Täler dieses Gebietes wenigstens in ihrem nördlichen Teile von den blühenden Kolonien am Llanquihue nicht so sehr verschieden sein können und die gleichen Siedlungen, die gleichen Kolonisations- und ackerbaulichen Möglichkeiten bieten müssen, und daß auch in dem weiter südlich gelegenen Gebiet des Territoriums Magallanes, das klimatisch und landschaftlich norwegischen Fjords gleicht, infolge seines Holz- und Fischreichtums sich große Möglichkeiten eröffnen müssen.
Bei meinem ersten Besuch auf dem Kolonisations-[S. 150] und Einwanderungsamt in Santiago erkundigte ich mich sofort nach Plänen und Angaben über dieses Gebiet. Pläne gab es nicht, und im übrigen bekam ich die verblüffende Antwort: „sirve para nada“ (das hat überhaupt keinen Wert).
Die fraglichen Gebiete sind durchweg mit altem Hochwald bestanden, zum Teil mit dem wertvollen Holz der Alerce, eines in Chile einheimischen Nadelbaums. Die Golfe, Kanäle und Flüsse sind ebenso reich an Fischen wie an Choros, den Seemuscheln, die überall in Chile gern gegessen und hochbezahlt werden. Auch die Möglichkeiten für Ackerbau und Viehzucht können nicht ganz von der Hand gewiesen werden.
Aber in gewissem Sinne hatte der Beamte doch recht. Das Land ist wertlos, wenn auch nur gegenwärtig, und zwar um der verwickelten Besitzverhältnisse willen, die dort unten herrschen. Ich erlebte in der Folge bald selbst ein schlagendes Beispiel dafür.
Auf Grund eines Interviews, das in der größten chilenischen Zeitung, dem „Mercurio“, stand, in dem auch die Rede war von meiner Aufgabe, die Kolonisationsmöglichkeiten zu studieren, erhielt ich eine ganze Reihe von Antworten und Zuschriften. Einer derselben, die ganz besonders verlockend erschien, ging ich nach. Es handelte sich um eine ganze Halbinsel gegenüber Chiloé in der Größe von 50000 Hektar. Der Kaufpreis schwankte zwischen 5 und 30 Peso der Hektar. Der Besitztitel, ein ganzes Buch mit einem Vermögen von Stempeln darauf, war ordnungsmäßig ausgefertigt. Als ich jedoch die Unterlagen mit einem Regierungsingenieur, der die Ge[S. 151]gend genau kannte, überprüfte, stellte sich heraus, daß dieses Land zwei Besitzer hatte, die beide ordnungsgemäße Titel in Händen hatten. Ein neuer Käufer müßte sich also zum mindesten mit den beiden bisherigen Besitzern auseinandersetzen, wobei keineswegs ausgeschlossen wäre, daß mit der Zeit nicht noch weitere Besitzer auftauchten.
So kam ich dazu, mich mit der Frage der Besitztitel in Südchile näher zu befassen. Hier liegen die Verhältnisse besonders verwickelt. Wer, sei es von der Regierung, sei es von Privaten, Land kauft, dessen Titel nicht ganz einwandfrei und siebenmalsiebenmal geprüft sind, riskiert einen Rattenkönig von Prozessen mit einem Dutzend plötzlich neu aufgetauchter Besitzer, die alle Rechte auf sein Land geltend machen.
Die Eigentumsrechte an diesen Ländereien gehen zum großen Teil noch auf Konzessionen zurück, die zur Zeit der spanischen Herrschaft an verdiente Feldherren und Soldaten verliehen wurden. Von den Nachkommen wurden Teile dieser Gerechtsame weitergegeben, verschenkt, verkauft und so fort, so daß heute mancher Komplex Dutzende und Hunderte von Besitzern hat. Um solches Land kaufen zu können, muß es erst „bereinigt“ werden. Zu diesem Zweck muß ein „Stammbaum“ angelegt werden, der von der ersten Konzession ausgehend alle weiteren Erben, Käufer und Besitzer feststellt. Mit allen diesen muß man sich mittels Abfindung auseinandersetzen, wenn man einen einwandfreien Besitztitel haben will, und selbst dann ist die Möglichkeit weiterer Komplikation nicht ganz ausgeschlossen, wenn nicht genaue Kenner der einschlägigen Verhältnisse die Bereinigung und den Kauf ausführen.
Vor dem noch unerschlossenen Land im Süden Argentiniens hat das Land südlich von Puerto Montt den Vorteil, daß es durch Abholzung seiner wertvollen Wälder sofort Gewinne ermöglicht, die unter günstigen Verhältnissen bereits in kurzer Zeit den Kaufpreis oder auch ein Mehrfaches davon wieder hereinbringen. Erforderlich wäre freilich eine Gesellschaft mit großem Kapital, die Einwanderer herüberbringt, Wälder abholzt und Werften anlegt, um dort eigene Schiffe zu bauen, mit denen sie den Abtransport des Holzes und weiterhin Fischfang, sowie den Transport der Ackerbau- und Viehprodukte aus den inzwischen angesiedelten Kolonien in eigene Regie nimmt. In den Wäldern ist noch verwildertes Vieh. Es sind Kohlenlager nachgewiesen. Die Anlage von Fisch- und andern Seetierkonservenfabriken sind weitere Möglichkeiten.
Natürlich lassen sich derartige Unternehmungen nur nach genauen und eingehenden Untersuchungen, zu denen Expeditionen ausgesandt werden müssen, ins Leben rufen. Aber die Möglichkeit wäre für die reichen Deutschen Chiles hier wie in den Provinzen Llanquihue und Valdivia unzweifelhaft gegeben, mittels einiger hunderttausend Peso ihren zur Auswanderung gezwungenen Landsleuten zukunftsreiche Siedelungsgebiete zu erschließen. Jetzt leben hier wie vor hundert Jahren nur wenige armselige Indianer. Vielleicht allerdings auch nicht mehr lange; denn auch hier sind bereits amerikanische Konzerne dabei, sich diese wie Königreiche großen Ländereien zu sichern.
Dampfer „Taltal“ im Pazifik.
Es sind andere Bäume und sie tragen andere Namen — roble, quila, alerce —, die die dichten Wälder Südchiles bilden, aber oft könnte man doch meinen, es sei deutsches Land, schwermütiger, träumerischer deutscher Wald.
In diesem Wald hängt fremdartig wie ein Märchen die Blume, die Chiles Volk sich als Nationalblume erkor: die Copihue. In dichten Dolden schlingt sie sich um die Äste und tropft in schweren roten Blüten herab mit langen, schmalen, purpurnen Kelchen gleich Tropfen heißroten Blutes, die langsam und schwer aus tödlich getroffenem Herzen sickern.
War es die Erinnerung an die mit Blut geschriebene Eroberungsgeschichte ihres Landes, welche die Chilenen diese Blume zur Lieblingsblume wählen ließ? Oder ist sie dem Andenken des tapferen stolzen Volkes geweiht, das den Spaniern den zähesten Widerstand in ganz Amerika entgegenstellte, den sie erst nach unerhörtem Kampfe besiegen konnten, eigentlich erst nachdem sie seine Kraft durch den Alkohol gebrochen, und dessen Überreste jetzt einem tragischen Ende entgegengehen?
Auf dem Marktplatz von Temuco sieht man die ersten Araukaner. In der sonst so biederen, sauber blanken Stadt wirken die kleinen schwarzen Gestalten wie ein[S. 154] Faschingsscherz. Der Mann im bunten Poncho, die Frau mit Stirnbinde, Bänder in den straffen schwarzen Zöpfen, und die ganze Bluse mit reichem Silberschmuck behängt. Es sind keine schönen Frauen und Mädchen, aber sie haben märchenhaft kleine, schmale Hände und Füße.
Auf dem Wege, der von Las Casas hereinführt, begegnet man ihnen in langen Zügen, wie sie auf uralten Ochsenkarreten, mit Baumstammscheiben als Rädern, ihr Gemüse und Korn nach der Stadt fahren. Oft der Mann hoch zu Pferd, die Frau lastenbeladen, mit ihren kleinen Füßen im Schlamm daneben trippelnd. In den Straßen von Santiago sieht man die gleichen kleinen Hände, die gleichen Füße, die gleichen Züge, wie sie der Mann auf dem Pferde hat. Fließt doch ein gut Teil araukanisches Blut im heutigen chilenischen Volk, und es sind nicht die schlechtesten Eigenschaften, die die Chilenen der araukanischen Blutmischung danken.
Sie haben es ihnen schlecht vergolten. Die Araukaner, die eigentlich nie ganz unterworfen waren, wurden mit List und Gewalt um ihren Besitz gebracht. Es gab eine Zeit, wo es ein einträglicher Sport war, Araukaner betrunken zu machen, um ihnen dann in der Trunkenheit um ein Spottgeld ihr Land abzunehmen. Leider blieben auch die eingewanderten Deutschen daran nicht unbeteiligt, und mancher deutschchilenische Millionär in Osorno und Valdivia dankt solch unsauberem Landgeschäft seiner Vorfahren Besitz und Stellung.
Endlich besann sich die chilenische Regierung darauf, welch wertvolles Volkselement sie in den Araukanern besaß. Es wurden Vormunde für die Indianer einge[S. 155]setzt und Geschäfte mit den Indianern ohne deren Zustimmung für ungültig erklärt. Zu spät! Überdies kehrte man sich vielfach nicht an die gesetzlichen Bestimmungen, und um für alle Fälle sicher zu sein, überfiel man die Indianer und schlug sie einfach tot. Die Rasse stirbt.
Bayerische Kapuziner sind es, die sich ihrer Rettung gewidmet haben. Draußen in Las Casas ist ihr Stammhaus. Schon sieht man ihre Spuren. Die Straße, die bisher ausgefahren, voller Löcher, unergründlich war, wird mit einem Male eben und glatt. Ein sauberer Zaun. Dahinter ein Blumengarten, dann Kirche und Kloster.
Ein Pater in wallendem Bart führt uns. Alles ist selbstgebaut, gezimmert, gemauert, gepflanzt. Die Kirche, der geschnitzte Altar, selbst die Orgel und ebenso Gemüsegarten, Bienenhaus und Stall.
Die Indianermission der Kapuziner nimmt unentgeltlich so viele Araukanerjungen auf, wie sie unterbringen kann. Sie lernen lesen, schreiben und rechnen und sie lernen vor allem Spanisch. Der Unterricht ist nicht einfach, denn keiner der Jungen kann etwas anderes als Mapuche, die Sprache der Eingeborenen. Und es sind sonderbare Klassen; denn neben Achtjährigen sitzen Achtzehnjährige auf der gleichen Bank.
Neben dem Schulunterricht geht der Handfertigkeitsunterricht. Einer der Fratres ist Tischler. Er hat eine große Werkstatt eingerichtet mit Drehbank, Hobelmaschine und Bandsäge. Bis auf die Eisenteile alles selbstgebaut. Sein Stolz ist ein deutscher Sauggasmotor, der die Werkzeugmaschinen und daneben die Dynamomaschine für die Lichtanlage treibt.
Andere Knaben werden als Lehrer ausgebildet — die Indianermission ist weitverzweigt — und in der untersten Klasse unterrichtet bereits ein junger Araukaner.
Die Patres sind voll Stolz, und sie können es auch sein, auf die Kulturarbeit, die sie geleistet. Allein ich werde ein Gefühl drückender Trauer nicht los. Die Klänge der „Copihue“, der Hymne auf die Blume, die die sterbende araukanische Rasse verkörpert, wehen mir durch den Sinn.
In Santiago im Konzertsaal hörte ich sie. Der Komponist dieser echt chilenischen Musik ist übrigens ein Deutscher, ein ehemaliger Hof- und Kammersänger, der Commendatore Oberstetter von der Münchener und Wiesbadener Oper. Der Krieg überraschte ihn in Brasilien. Er schlug sich tapfer durch ganz Südamerika durch, überall deutsche Musik hinbringend, und so hat er vielleicht besser deutsche Propaganda gemacht, als manche vom Auswärtigen Amt betriebene war, die Unsummen verschlang.
Der hinreißende Marschrhythmus zuckt mir im Blut, wie ich dem jungen Araukanerlehrer zum Abschied die Hand drücke. Auch in seinen Adern brennt noch die Flamme, die seine Vorfahren gegen die spanischen Feuerschlünde anreiten ließ. Uralte Rhythmen! Sangen sie nicht auch uns im Blute, als wir bei Gorlice stürmten, als wir über die Berge am Isonzo in Italien einbrachen, als die letzte tragische Schlacht in Frankreich anhob?
Künstliche Züchtung hat das ursprüngliche Blutrot der Copihue in fleckenloses Weiß gewandelt — die Reste der Araukaner haben ihren Frieden mit den Eroberern gemacht. Die Überlebenden gehen langsam in der Rasse des Siegers auf. Die Copihue der schweigenden Wälder weiß von keinen furchtbaren Schlachten mehr zu erzählen.
Dampfer „Taltal“ im Pazifik.
Die täglich wachsende Teuerung der Lebenshaltung bezeichnet den Weg vom Süden Chiles nach dem Norden des Landes. Im regnerischen Süden Überfülle an Frucht, so groß, daß jedes Jahr gewaltige Mengen nutzlos verfaulen. Im regenlosen Norden absoluter Mangel, so daß jeder Zentner Mehl, jeder Sack Kartoffeln, jeder Korb Äpfel vom Süden nach dem Norden geschafft werden muß.
Allein trotzdem liegt das wirtschaftliche Schwergewicht des Landes im Norden. Hier dehnen sich in trostlos dürrer Pampa die Salpeterlager, auf deren Ausbeute der Reichtum, ja überhaupt die ganze Finanzwirtschaft des Landes beruht.
Meinen ursprünglichen Plan, auf dem Landweg nach Antofagasta zu fahren, konnte ich nicht ausführen, denn seit einiger Zeit fährt die Longitudinalbahn wegen Kohlenmangel nicht mehr. Der große Streik im Kohlenrevier von Concepcion nötigte die Eisenbahnverwaltung, Zug um Zug einzustellen, und man kann froh sein, noch gute[S. 158] Zugverbindung auf der verkehrsreichen Strecke nach Valparaiso zu finden, wo der Dampfer nach Antofagasta bestiegen werden soll.
Nach Überschreitung der Küstenkordillere führt die Bahn plötzlich ans Meer, und an den reichen Villen des Seebades Viña del Mar vorbeigleitend baut sich unmittelbar das Panorama Valparaisos überwältigend auf. Die Stadt scheint zwischen dem blauen Pazifik und den steilen Felsen kaum Platz zu haben, und so klettert Haus um Haus terrassenförmig die Felsen hoch. Einige Straßen sind asphaltiert, andere muß man bergmäßig über Geröll und Gerinne ersteigen, und an Regentagen mögen sie sich in wahre Sturzbäche wandeln, wie die Sandsacksicherungen vor den Fenstern an der Rückseite der gegen den Fels gelehnten Häuser zeigen.
Valparaiso ist nichts als Hafen, Stadt am Meer, im Meere fast. Stadt der Reeder, Stadt der Großkaufleute. Mochte im Weltkrieg, als der Verkehr durch die Magalhãesstraße aufgehört hatte und die Nordamerikaner den Panamakanal gesperrt hielten, hier auch vieles tot gelegen haben, heute ist es auf der offenen Reede, deren unbeweglicher Bläue man an stillen Tagen nicht ansieht, wie gefährlich hier der „Norder“ wüten kann, voll von kommenden und gehenden Schiffen. Fast jede Woche geht einer der großen Passagierdampfer durch den Panamakanal nach Europa oder den Vereinigten Staaten, und außerdem gibt es einige chilenische Dampfergesellschaften für den Lokalverkehr.
Die Zeiten sind gut für die Dampfergesellschaften. Der „Taltal“, der kleine schmucke Dampfer, von dessen[S. 159] Heck die chilenische Flagge weht und dessen tadellose Sauberkeit überrascht, liegt mit vielstündiger Verspätung noch immer im Hafen, als längst der volle Mond, einer riesigen Bogenlampe gleich, über der Bucht hochgezogen war. Kisten auf Kisten, Faß auf Faß, Alfalfabund auf Alfalfabund, und noch immer ist die Hauptladung noch nicht eingenommen, liegt in großen Prahmen wartend längsseits des Schiffes: einige hundert Kühe und Ochsen, die nach Antofagasta sollen.
Bei so viel Ladung bleibt für die Menschen kein Platz. Freilich die erste Kajüte mit bequemen Kabinen, Rauch- und Damensalon ist kaum halb voll. Aber die Zwischendecker werden von Fracht und Vieh immer enger zusammengepreßt. In dem Raume, der sonst bei jedem Schiff als Zwischendeck dient, steht in langen Reihen Ochse an Ochse, und immer mehr kommen vom Kran hochgezogen brüllend und strampelnd durch die Ladeluke in den Raum hinunter. Auf- und übereinander drängen sich die Tiere, die Ladeluke wird noch voll gestellt, und von den Peonen mit ihren Frauen und Kindern, die sich unten ein warmes Plätzchen sichern wollten, muß eins nach dem andern aufs offene Deck wandern, wo bereits eine Schicht Männer, Frauen und Kinder so enggedrängt aneinanderliegt, daß man kaum den Fuß dazwischen setzen kann. Auf dem breiten, bequemen Promenadedeck der ersten Kajüte schlendern ein paar einsame Nordamerikaner auf und ab.
Wie eine hohe Festungsmauer, die jedem Fremdling den Weg wehren will, baut sich die Küstenkordillere längs des Meeres auf, steil, steinig und unfruchtbar. Ein[S. 160] unfruchtbares, unzugängliches Land von Fels und Stein täuscht sie vor, und die Überraschung der ersten Spanier muß groß gewesen sein, hinter dieser Küstenmauer das frucht- und blütenreiche Längstal zu entdecken.
Allerdings wird diese reiche Vegetation immer spärlicher, je weiter man nach Norden kommt. In Coquimbo, wo der Dampfer am nächsten Tag gegen Abend einläuft, scheint das reiche Mittelchile im Elquital noch einen Ausläufer zu entsenden. Zwar die Felsen sind hier nicht weniger steinig drohend und laufen längs des Kammes in so scharfe Zacken aus, daß diese fast Baumwuchs vortäuschen. Allein die Dutzende von Booten mit Früchten, die ein Wettrudern nach dem Schiff veranstalten, zeigen an, wie gesegnet das Elquital ist.
Im Handumdrehen wimmelt das ganze Deck. Früchte werden ausgebreitet, unter den Zwischendeckern werden ganze Speiseanstalten aufgetan, aus großen Kesseln wird Hühnersuppe verteilt, einen Peso der Teller, gierig gekauft von den Zwischendeckern, deren Verpflegung nur dünne Bohnensuppe bildet. Dazu Früchte, Früchte in großen Mengen, Früchte, die man nicht kennt, die wie Mischung von Zitrone und Melone schmecken, oder mehr wie Gurke oder Kürbis.
Früchte und Überfluß an Lebensmitteln zum letztenmal. Am nächsten Tag in Taltal kommt kein Boot. Die kurzen, staubigen Straßen des kleinen Städtchens enden nur zu bald in Stein und Wüste. Dankt doch dieses selbst seine ganze Existenz nur dem Salpeter, der im Hinterland gefunden wird.
Wüste von Stein, Sand, Geröll. Gut paßt dazu der[S. 161] ölige Schimmer von vergossenem Petroleum, der vor dem Städtchen auf dem Wasser schwimmt. Die meisten Dampfer entnehmen hier den großen Tanks nordamerikanischer Petroleumfirmen den flüssigen Brennstoff für ihre Kessel. Zwischen Felsspalten führt die Röhrenleitung zum Strand, läuft auf schmutzigem Eisensteg ins Meer hinaus, um in dicke Schläuche zu münden, die auf Flößen schwimmend in Windungen wie eine riesige schmutzige Seeschlange sich längsseits des Schiffes schlängeln.
Wie eine Zwingburg haben die Yankees die riesigen Tanks vor Taltal aufgepflanzt, dessen Salpeterwerke bisher in deutschem Besitz waren. Eine von den drei großen Gesellschaften ist drauf und dran, in Yankeehände überzugehen. Oben im Rauchsalon auf dem Promenadedeck sitzen die Nordamerikaner beieinander, die in der ersten Kajüte dominieren. Abgerissene Worte wehen durch den Raum: „Wir kriegen das ganze Salpetergeschäft noch in die Hand.“
Vorn auf dem Deck liegen eng gedrängt und schlechter untergebracht als das Vieh die ursprünglichen Herren des Landes, die eingeborenen Chilenen, gute, willige Arbeiter von Haus aus.
In dem engen Gang, der an der Maschine vorbei zur Kajüte führt, hockt eine Reihe Peone beisammen und saugt gierig den Duft der Speisen, die an ihnen vorbei in die erste Kajüte getragen werden. Da tritt zu den teilnahmslos Kauernden einer im schmutzigen Poncho, lang und hager, struppiger Stoppelbart. Unruhige Augen stechen unter einer blauen Schirmmütze hervor. Er redet heftig, eindringlich, mit eindrucksvollen Gesten. Bald hat[S. 162] sich ein dichter Kranz um ihn gebildet; in die bisher teilnahmslos blickenden Augen kommt Leben. Und es ist, als laufe ein Funke durch all die Reihen abgearbeiteter, abgerissener Männer, ein gefährlicher, aber auch leuchtender, strahlender Funke. — In der aufkommenden See stampft und schlingert schwer das kleine Schiff. Oben im Rauchsalon trennt man sich von flaschenbedecktem Tisch. Ein behagliches „Good Night“ verweht in der Luft.
Antofagasta.
Der erste Eindruck: Stadt und Hafen haben an dieser Stelle keine Existenzberechtigung! Eine offene Reede, gegen den Strand zu schwarze Klippen, über die schäumend weiße Brecher toben. Man wird ausgebootet wie fast in allen chilenischen Häfen, fährt an Prahmen und Leichtern vorbei, die voll besetzt sind mit Pelikanen und Möwen, passiert die Klippen und sieht sich plötzlich umgeben von Rudeln spielender Seehunde, die so dicht das Boot streifen, daß es fast kentert.
Auf dem engen Raum zwischen Meer und Berg führen breite, schnurgerade Straßen senkrecht gegen den Fels. Von der See sieht es aus, als liefen Sturmkolonnen die steinernen Wälle an. Mit einem Blick übersieht man Stadt und Straßen. Es ist ein sonderbarer Anblick, wie saubere, breit asphaltierte Wege plötzlich enden, und dann kommt nichts als glatte, steile, sonnendurchglühte Steinwand.
Wo heute eine moderne europäisch-amerikanische Stadt mit 65000 Einwohnern steht, lebten vor fünfzig Jahren[S. 163] nur ein paar indianische Fischer. Man bedarf keines Reiseführers, um zu wissen, in welch hohem Maße das alles künstliche Schöpfung ist, einzig und allein auf dem kostbaren Gut beruhend, das die trostlose Wüste des Hinterlandes liefert: dem Salpeter.
„Te Ratanpuro“, „Te Dulcinea“, in haushohen Lettern sind Reklamen auf die steilen Felswände gekalkt wie ein Wahrzeichen für diese Stadt, die nichts kennt als Geschäft, Geschäft und wieder Geschäft. Wenn man aus dem Süden des Landes kommt, möchte man zweifeln, daß diese so ganz andersartige Stadt auch zu Chile gehört. Sie wirkt vielmehr wie eine der Städte im Süden der Union, denen die Mischung von angelsächsischer und hispano-amerikanischer Kultur ihr charakteristisches Gepräge gibt.
Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn man die Straßen durchwandert. Angelsächsische Sauberkeit und Akkuratesse, aber auch angelsächsische Langeweile und Eintönigkeit. Straßen und Läden, wie sie ebensogut in jeder Londoner Vorstadt stehen könnten. Die blumen- und palmenumstandene Plaza, die in keiner mittel- oder südamerikanischen Stadt fehlen darf, wirkt hier fast fremdartig, als gehöre sie nicht zwischen diese sauberen, langweiligen Straßen, in denen sich ein englisches Geschäftsschild an das andere reiht.
Die Deutschen, die in Süd- und auch in Mittelchile im Wirtschaftsleben des Landes eine so maßgebende Rolle spielen, treten hier gegenüber den Angelsachsen völlig zurück. Dagegen nehmen die Slawen eine hervorragende Rolle ein, und zwar vor allem Südslawen ehemals[S. 164] österreichischer Nationalität. Kroaten, Dalmatiner, daneben Serben und Montenegriner. Eine Reihe großer Firmen und Salpeteroficinen sind in ihren Händen. Darüber hinaus aber sind sie durch die ganze Pampa Salitrera bis an die bolivianische Grenze vor allem als Wirte und Hoteliers verstreut.
Gerade diese Slawen an der Westküste Südamerikas haben im Weltkrieg sehr bald, größtenteils von seinem Beginn an, eine feindliche Haltung gegen den Staat angenommen, dem sie offiziell angehörten. Sie richteten ein eigenes jugoslawisches Paßbüro ein, und noch heute stößt man als Deutscher im Verkehr mit ihnen auf einige Schwierigkeiten, wenn sich auch ihr ganzer Haß noch immer gegen das entschwundene Österreich und gegen — Italien richtet.
Antofagasta ist bolivianischer Freihafen. Hier ist eine bolivianische Zollbehörde, und der Import und Export Boliviens geht zollfrei über diesen chilenischen Hafen. Dies ist das einzige, was Bolivien von der einst ihm gehörenden Stadt und der ganzen reichen Provinz Antofagasta geblieben ist.
Chile dagegen ist billig genug zu dieser Stadt gekommen, die ihr heute allein an Zöllen täglich 180 Peso Gold einbringt. Als Bolivien einen Ausfuhrzoll auf den von Chilenen auf seinem Territorium ausgebeuteten Salpeter legte, landete Chile im Jahre 1879 kurzerhand 200 Soldaten, die die bolivianischen Behörden vertrieben und die Stadt in Besitz nahmen. Damit wäre der Kampf um die Provinz Antofagasta eigentlich erledigt gewesen, wenn nicht Peru eingegriffen hätte und auf die Seite Boliviens getreten wäre. Dieses Eingreifen kostete die Peruaner,[S. 165] nachdem sie bei Iquique und Tacna geschlagen und die Chilenen in ihre Hauptstadt Lima einmarschiert waren, die Provinzen Tarapaca und Tacna-Arica. Erstere ist wertvolles Salpeterland, letztere eine wichtige strategische Position. Seitdem ist das Verhältnis zwischen Peru und Chile ähnlich wie das Frankreichs zu Deutschland, und Tacna-Arica wird vielleicht in Südamerika eine ähnliche Rolle spielen wie Elsaß-Lothringen in Europa.
Antofagasta ist eine Männerstadt und eine Stadt, in die man nur geht, um Geld zu machen. Einige Kinos und Kneipen bestreiten die kulturelle und Vergnügungsseite des Lebens. Kein Bad am Strand, kein Segelsport. Meer wie Fels scheinen gleicherweise unwirtlich. Kein Spaziergang, kein Garten, und fast wirkt es wie ein grotesker Witz, wenn man auf dem Felsen über dem kümmerlichen, fast nur angedeuteten Garten der Quinta Corrizo, eine Wegestunde von der Stadt entfernt, liest: „Schönster Ausflugsort Antofagastas.“ Nach einigen Tagen Aufenthalt verläßt man gern diese Stadt und vergißt dabei ganz, daß sie Zehntausenden, die in der trostlosen Pampa ein einsames Leben führen, Verkörperung alles Luxus, alles Vergnügens, aller Kultur ist.
Peineta.
Gesellschaft zur Erforschung der Wüste (Compañía Exploradora del Desierto) nannte sich die erste Salpeterkompanie, die im Jahre 1866 von der bolivianischen Regierung eine Konzession auf fünf Quadratleguas erhielt.[S. 166] — Desierto! Wüste! der Name paßt besser als das euphemistische „Pampa“. Wer die argentinische Pampa kennt, denkt bei diesem Namen doch auch im ungünstigsten Falle mindestens an Steppe, die genügsamen Schafen Nahrung bietet. Die chilenische Pampa aber ist Wüste im reinsten Sinne des Wortes, ein Grauen von Öde und Unfruchtbarkeit.
Man ist mitten in ihr, sobald man den Bannkreis der Stadt Antofagasta und ihren hochgelegenen Friedhof verlassen, dessen Boden aus Zement besteht, zwischen dem einige kümmerliche Bäume hochgepflegt werden. Eine steile Rampe den Berg hinauf — zwei Lokomotiven mühen sich schnaufend —, und noch ein letzter Blick auf das blaue Meer, und dann ist man in einer Rinne von Schutt und Geröll.
Eine Landschaft von trostloser Öde, der selbst die Grandiosität der Öde fehlt. Nicht der winzigste Halm, nicht das leiseste Grün. Nicht das mindeste Insekt, nicht der armseligste Wurm könnte hier leben. Es ist nicht einmal starrer, festgewachsener Fels, der die Landschaft bildet. Alles scheint Geröll, Schutt, Staub, Schmutz!
Es ist jetzt Winter. Aber man sieht Tropenanzüge und weiße Kleider, und die stechende Sonne erinnert an qualvoll heiße Tage im sommerlichen Buenos Aires. Wie muß es hier im Sommer sein! Und keinen Schutz vor der Sonne als das brennend glühende Wellblechdach. Zu beiden Seiten des Bahndammes schwärzlicher Staub, als hätte die Lokomotive hundert und mehr Meter breit das Land verrußt, dann Sand in hellerer Färbung bis zu den brüchigen Bergen, die, mehr und mehr zurücktretend, eine weite, öde Hochebene öffnen.
Die Berge, bald ferner, bald näher, das ist der einzige Wechsel in der Melodie von Monotonie, die die längs des Zuges stehenden Telegraphenstangen und Wellblechbaracken der Streckenarbeiter singen. Eine niederdrückende Landschaft. Jeder Vergleich für sie fehlt. Am ehesten gewinnt man eine Vorstellung von ihr, wenn man sich die Schutt- und Schlackenhalden der Industriereviere ohne Abwechslung unabsehbar aneinandergereiht denkt.
Wer von Salpeterfeldern liest, denkt leicht an weißschimmernde, glänzende Fläche — ich selbst erinnere mich, solche Beschreibung gelesen zu haben —, aber nur in den seltensten Fällen ist der Caliche, das Mineral, aus dem der Salpeter gewonnen wird, so hochprozentig, 50 bis 70 Prozent, daß es im weißen Glanz schimmert, und so bleibt der Charakter der Landschaft schmutzig-eintönig, auch als der Zug jetzt mitten durch die Salpeterregion fährt.
Jede Wüste hat ihre Oasen, auch die Salpeterwüste kennt sie. Allein es sind künstliche, von Menschenhand geschaffene. Statt Palmen Essen, statt blauer Lagunen und Teiche die dampfenden offenen Kessel, in denen der Caliche kocht, statt weißer, kühler Häuser die öden Wellblechcampamentos der Arbeiter. Kaum ein wenig Grün im Hofe des Administratorhauses. Das sind die Oasen der Salpeterwüste, die „Oficinas“, wie sie genannt werden.
Am Horizont, bald näher, bald ferner, tauchen sie jetzt immer zahlreicher auf. Es sind die Forts, die der Mensch in die Wüste gebaut hat. Dazwischen ein Schlachtfeld aufgerissenen, durch Pulver und Dynamit zerstörten Bodens, dem das kostbare Mineral entnommen wird. Geleise, Rampen, Feldbahnen, rauchende Lokomotiven[S. 168] und stöhnende Mulas vor schwerbeladenen Karren. Aber alles weit verstreut in der Wüste, in einer braungelben Öde, über die sengend und blendend die Sonne brennt.
Ab und zu hält der Zug, wo eine Zweigbahn zu einer Oficina führt. Da steht eine Wellblechbaracke als Station. Aber es gibt auch größere Stationen, wo eine ganze Zeile Häuser steht. Das sind die Städte der Pampa. Hier gibt es „Hotels“, „Restaurants“, Kinos, Läden und vor allem Kneipen, in denen der Arbeiter seinen Wochenlohn verspielen und vertrinken kann. Es sind buntgestrichene Häuser — aus Wellblech natürlich — mit pompösen Namen, die in der öden, durchglühten Wüste wie grell geschminkte, alternde Dirnen erscheinen. Und man weiß nicht, was erschütternder wirkt: ihr Anblick oder der der Gräber, die man nicht allzu selten längs der Bahn sieht, Gräber, wie im Felde: ein flacher Hügel mit einfachem Holzkreuz und davor ein Strohkranz oder ein Radreifen, wenn es nur etwas Rundes ist.
An beiden vorbei aber rollen Tag für Tag die Züge, die endlos langen Züge mit den schweren Säcken — so schwer, daß ein Mann sie keuchend gerade tragen kann — voll des weißglänzenden Minerals, dem die Chilenen bisher Steuerfreiheit und glückliche Aktienbesitzer in Valparaiso, New York, Paris oder London ein verschwenderisches, sorgenloses Leben verdankten.
Peineta.
Seltsam, daß im Süden wie im Norden Chiles die Landschaft an die Schlachtfelder in Frankreich erinnert. Gleicht der Süden mit seinen verkohlten Baumstümpfen zwischen den Feldern Gegenden, in denen nach mörderischer Schlacht neues Leben erblühte, so ähnelt die Salpeterwüste des Nordens jenen unglücklichen Landstrichen von Ypern und an der Somme, in denen der Eisenhagel die Eingeweide der Erde um und um wühlte.
Calichera, Salpeterfeld! — Heißer Stein, heiße Arbeit! Ein halbes bis ein Meter tief liegt der Caliche, das kostbare Mineral, unter taubem, wertlosem Gestein. Sprenglöcher werden gebohrt, mühsame, wochenlange Arbeit mit Schlegel und Eisen, mit selbstbereitetem Schwarzpulver gefüllt — Salpeter gibt es ja genug, Schwefel liefern die nahen Schwefelfabriken, Kohle die Bahn — und gesprengt. Die hohen, schwarzen Rauchwolken inmitten all der Sprengtrichter vollenden den Eindruck des Schlachtfelds.
In den heißen Kesseln der Sprengtrichter, die sich bald schützengrabenartig aneinanderreihen, geht die harte Arbeit des Losbrechens und Zerkleinerns des Caliche weiter. Das Mineral ähnelt in Form und Farbe dem es deckenden Stein. Der Laie vermag einen vom andern nicht zu unterscheiden, und auch der Aufseher bedarf der brennenden Lunte, um den Salpetergehalt des zu brechenden Minerals zu prüfen.
Ist es hoch salpeterhaltig, so brennt der Stein mit heller, sprühender Flamme, während der geringwertige kaum trübglimmende Funken gibt.
Hart poltert der gebrochene Stein in die von Mulas gezogenen Karreten. Im Galopp zur Rampe. Von da mit der Kleinbahn zur Oficina, der Salpeterfabrik. Jede Oficina baut sich auf wie eine Burg. Auf ihren Zinnen stürzt der Caliche aus den Kipploris in die Brecher und Mühlen, die ihn zerkleinern und mahlen, bis ihn ein Förderwerk in die „Cachuchas“ leitet. Cachuchas sind rechteckige, offene Kessel, wie riesige Badewannen, die, von Heizschlangen durchzogen, in langen Reihen aufmarschieren. Einige frisch gefüllt, kaum daß aus der Steinschicht die ersten unheimlichen Dämpfe aufsteigen, andere in vollem, brodelndem Kochen, schwadenumwallt. Bisweilen ist alles in beizenden Qualm und Rauch gehüllt, durch den man halbnackte Gestalten mit langen Eisenstangen in den Händen springen sieht. Manch einer fiel unvorsichtig ausgleitend in die siedende Brühe. Längs der Bahn sind genug Gräber.
In kochendem Sud löst sich der Salpeter aus dem Stein. Die wertvolle Lösung wird in die „Chulladores“ geleitet, während der schlammige Rückstand, der „Ripio“, durch geöffnete Bodenklappen in Loren fällt, die ihn auf die Halde führen. Doch auch der Ripio ist nicht wertlos. Er enthält noch Jod, und vor allem Wasser, das man ablaufen läßt und in grünlich-schmutzigen Becken sammelt.
Wasser! Das ist ja die große Not in der Salpeterwüste. Der Prozeß erfordert viel Flüssigkeit, und jeder Tropfen kommt meilenweit in langen Rohrleitungen von[S. 171] der Kordillere her. Die Tonne Wasser kostet anderthalb Peso, und ein mittelgroßes Werk verbraucht im Monat für 14000 Peso Wasser. So sucht man im ganzen Arbeitsprozeß Wasser zu sparen, und auch im Campamento ist der Wasserbedarf kontingentiert. Heiße Wüste und Wasserknappheit!
In den Chulladores setzen sich Fremdkörper aus der Flüssigkeit ab, und die konzentrierte Lösung wird in die Bateas geleitet. Die Bateas sehen aus wie die Klärbecken eines Wasserwerkes, offene, eiserne Tanks, quadratisch aneinandergereiht. Hier kristallisiert in zwei bis drei Tagen der Salpeter aus. Und jetzt erst bekommt er seine schöne glänzend weiße Farbe. Die Tanks voll fertigem Salpeter glitzern gleich Schatzkammern märchenhafter Schätze. Am Fuß der Bateas waten die Arbeiter, die den Salpeter in Säcke füllen, wie in silbernem Schnee.
Schätze! Sie zahlen nicht nur den ganzen teueren Apparat in der Wüste, wo der Unterhalt jedes Menschen drei, jedes Tieres sechs Peso pro Tag kostet, sie zahlen nicht nur die Steuern des Landes, sie geben auch reichen Überschuß.
Eine Oficina produziert im Monat 70000 Quintal (zu 46 Kilogramm), die Provinz Antofagasta allein 3,5 Millionen. Wie Kraken wandern die Oficinen über das Land, reißen den Boden auf und lassen wild zerfleischtes Land zurück. So geht es Jahrzehnt um Jahrzehnt. Die noch jungfräuliche Calichera aber ist noch unabsehbar, auf unbegrenzte Zukunft deckt sie den Weltbedarf. Auf dem Salpeter beruht Chiles Existenz; aber eine Gefahr steigt unheilvoll am Horizont auf: die[S. 172] fortschreitende Vervollkommnung in der Gewinnung künstlichen Salpeters; sie droht Chiles Weltmonopol zu zerstören und damit die Wirtschaft des Landes schwer zu schädigen.
Calama.
Wir standen unter der Tür des Administratorhauses und sahen auf das Werk. Seine Lichterreihen bauten sich terrassenförmig auf, und darüber hoben sich vom sternklaren Nachthimmel die rauchenden Essen ab.
„Wie ein Schiff“, meinte nachdenklich der Administrator.
„Ja, wie ein Schiff.“ Ich mußte an die lange frauenlose Männerrunde der Beamten und Ingenieure denken, die immer die gleiche blieb, die nie wechselte. Immer die gleichen Gesichter, immer die gleichen Arbeiten, und kaum einmal im Jahr ein paar Tage Urlaub nach Antofagasta.
„Der Unterschied ist nur der,“ fuhr der Leiter des Werkes fort — er war vor dem Kriege als Kapitän zur See gefahren, und das Kriegsschicksal hatte ihn in die Pampa verschlagen —, „ein Schiff legt an, ein Schiff wechselt Ladung und Passagiere; wir aber, wir liegen ewig am gleichen Fleck im Ozean vor Anker.“ Das Werk lag jetzt wirklich wie ein phantastisches Schiff in der Wüstennacht. Unendlichkeit von Wüste und Himmel, gleich ewig, gleich drückend, gleich grausam.
„Noch ein paar Jahre als Pampino, dann —.“ Wir gingen zum Whisky zurück ins Haus.
Pampino, Pampabewohner, es ist ein eigener Men[S. 173]schenschlag. Allein, wenn sich Werkleiter und Beamte auch dazu rechnen, wenn man ihn wirklich und echt kennenlernen will, den „Pampino“, muß man ins Campamento, ins Arbeiterlager, gehen.
Ich habe als Student im Industrierevier gearbeitet, vor dem Hochofen, im Stahlwerk, im Walzwerk, und dieses Land von Ruß und Feuer, von Schlackenhalden und Essen schien mir seitdem das grauenvollste, die Arbeit als Hüttenarbeiter die schwerste und freudloseste. — Es war ein Irrtum. Die Salpeterpampa ist schlimmer. Wohl gibt es auch in europäischen Kohlen- und Eisenrevieren Arbeiterkasernen. Aber oft sind es freundliche Häuser mit Gärtchen. Es gibt doch Bäume, andere Häuser als Wellblechbaracken, andere Menschen als die täglichen Arbeitskameraden. Man kann in die Stadt gehen oder schließlich an Sonntagen auch ins Freie, ins Grüne.
Das Campamento — zwei Reihen Wellblechbuden, eine wie die andere, primitiv aus Blechtafeln zusammengesetzt. Vorne ein Wohnraum, dann durch eine kaum mannshohe Zwischenwand abgetrennt ein Schlafraum, dahinter ein Hof, gleichzeitig Küche, Vorratsraum, Rumpelkammer und alles übrige. Freilich, man kann die Unterkunft primitiv halten in diesem Landstrich. Es regnet ja nie. Aber das Wellblech gibt auch in gleicher Weise der sengenden Glut des Tages wie der beißenden Kälte der Nacht Zutritt.
Campamento und Werkleitung, das ist Todfeindschaft. Wie die Dinge liegen, künden auf den ersten Blick die schweren, eisernen Gitter, die doppelten Läden und die eisernen Querbalken, die in wenigen Augenblicken[S. 174] Verwalterhaus und Beamtenwohnungen in starke Festungen verwandeln können. Und dann ist gar nicht weit die Carabinerostation, zu der eine direkte Telephonleitung führt.
Dem Salpeter dankt Chile seinen Reichtum, aber auch die Verschärfung seiner sozialen Frage. Gewiß, der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit durchzieht die ganze Welt. Er muß auch in der Pampa zum Ausdruck kommen, ob aber in dieser scharfen, erbitterten Form? Man hört von gestürmten Oficinen, von erschlagenen Werkleitern, von Plünderungen, aber andrerseits auch von Gewalttaten gegen streikende Arbeiter, von ganzen Belegschaften, die von den Carabineros einfach in die Wüste getrieben wurden. In die Wüste, in der kein Halm wächst, in der kein Tröpfchen Wasser zu haben ist, wo die Sonne erbarmungslos sticht.
Man sagt mir, der Arbeiter verdient gut. Aber was sind 8, 10 oder selbst 12 Peso im Tag für die Arbeit und das Leben, das er führen muß? Dabei braucht ein Mann für das nackte Leben im Tag zweieinhalb bis drei Peso. Und alles, was der Arbeiter und seine Familie benötigt an Nahrung, Kleidung, Hausgerät, muß er in der Pulperia, der Werkkantine, kaufen, und die Werkleitung setzt die Preise fest.
Jede Oficina gibt ihr eigenes Geld aus, aus Kautschuk geprägte Fichas. Sie hinterlegt dafür eine gleichwertige Summe in Bankbilletten bei der Nationalbank. Das Kautschukgeld ist handlich und praktisch, aber auch sein sonstiger Zweck liegt auf der Hand. Es hat nur in der Salpeterzone Kurswert. Und dann: „Wenn die[S. 175] Arbeiter die Kasse stürmen,“ meinte der Zahlmeister zu mir, „so ist eben nicht viel verloren; die betreffenden Fichas werden dann einfach für wertlos erklärt.“ Zu ihrer Charakterisierung genügt schließlich, daß ihre Abschaffung ein Programmpunkt der radikalen Partei ist, die jetzt mit dem neugewählten Präsidenten Arturo Alessandri in Chile zum erstenmal zur Herrschaft gelangt.
Von manchen Werken wird allerlei an Wohlfahrtseinrichtungen getan. Man legt Plazas an, läßt Musikkapellen spielen, richtet Kinos ein. Aber ich habe auch Werke gesehen, in denen der Eintritt ins Kino für den Arbeiter einen Peso kostet, so daß die Werkleitung auch noch mit ihrer Wohlfahrtseinrichtung ein fettes Geschäft macht. Aber auch selbst wenn es wirkliche Wohlfahrtseinrichtungen sind, es bleibt ein Almosen. —
„Wenn die Regierung, die so viel an den Salpeterabgaben verdient, wenigstens darauf dringen wollte, daß die Werke hygienische, menschenwürdige Unterkunft schüfen!“ meinte der Unterbeamte, mit dem ich durch das Campamento ging. „In einem solchen Raum schlafen, wohnen und essen oft zehn Menschen zusammen.“
Bezeichnend für die bisherigen politischen Verhältnisse in Chile ist, daß die Arbeiter wohl das Wahlrecht haben, daß aber die Ausübung des Wahlrechts sehr erschwert ist, da sie dazu nach Antofagasta fahren müssen, fünf bis acht Stunden Bahnfahrt. Und da nur täglich ein Zug fährt, bedeutet das einen Lohnausfall von zwei bis drei Tagen, ganz abgesehen von den teueren Reisekosten.
Die Sonne brennt durch die Scheiben des Zuges. Die Wüste flimmert. Der Speisewagenkellner bringt Beefsteak mit Spiegelei, Preis 3,60 Peso. Die Frau, die es bestellt hat, trägt unter ihrem ärmlichen Kleid kein Hemd. Ihr gegenüber sitzt eine Bolivianerin in bunten Tüchern mit einem Säugling. Wie sie das Kleid abhebt, um den Säugling zu stillen, tropft von der braunen Brust langsam ein schwerer weißer Tropfen zu Boden.
Ollague (chilenisch-bolivianische Grenze).
Von den Felsmauern herab, die oben blank von Eis sind, kollert ein brauner Stein, stürzend, sich türmend, ein Strom von Stein. Rasend rasch kommt er näher, füllt das Tal, prallt an den Bahndamm, staut sich zu beiden Seiten. Wir fahren mitten hindurch.
Lava! Bräunlich-schwarze, graue Lava. Hochgetürmt, daß der Zug fast darin versinkt. So frisch sieht sie aus, als sei sie eben erst vom Berg herabgeflossen, und ist doch hundert, tausend, vielleicht viele tausend Jahre alt.
Zone der Vulkane. Die weißen Schleier, die um die Spitzen der Berge hängen, sind nicht Wölkchen, die sich an ihren Zacken gefangen. Es ist Rauch, Wasser- und Schwefeldampf, der aus den Kratern steigt. Wie der Zug weiterfährt, sieht man durchs Glas deutlich, wie es aus runden und ovalen Kratermäulern weiß und gelb in die Höhe schießt.
Wir sind in der Werkstatt der Erde. Tief unter dem[S. 177] Boden, über den wir eilen, ruhen die Kräfte, die diesen Kontinent schufen, veränderten und verändern werden. Sah es nicht unten im Archipel südlich von Puerto Montt aus, als sei hier die See in das chilenische Längstal hineingebrochen und habe es in einen langen Meeresarm verwandelt und die ragenden Kuppen der Küstenkordillere in Tausende von Inseln?
Hier oben im Norden aber, wo der Salpeter quadratkilometerweit das Land bedeckt, möchte man glauben, als habe das ganze Land sich aus dem Meer gehoben, aus dessen verdunsteten Wassermengen das Seesalz zurückblieb, das stellenweise in blinkender dicker Kruste den steinigen Fels überzieht.
Aber schon die Salpetergegend war 1000 Meter, 1500 Meter hoch, Calama, wo die großen Salzseen sind, 2000, und die letzte Station, an der der Zug vorbeieilte, trug die Zahl 3223 Meter.
So wäre ganz Südamerika einst am Grunde des Meeres gelegen? Doch nein! Lag nicht östlich des Kontinents Atlantis, der sagenhafte versunkene Erdteil? Vielleicht war er nichts anderes als die Fortsetzung der argentinischen Pampas, und als sich in unvordenklichen Zeiten die chilenische und peruanische Küste aus den Fluten des Pazifik hob, da versank im Osten die weite Ebene in den Wassern des Atlantik, so daß sich der ganze Kontinent um seine Achse drehte wie der Balken einer ungeheuren Wage.
Die Berge beiderseits der Bahn sind rot und blau, in bunten Streifen gefärbt. Wie Hermelinbesatz zieht sich über scharfe Kämme und Grate der ewige Schnee, und[S. 178] darüber die weißen und gelblichen Wolken wie eine Warnung: Wir sind immer da, wenn wir auch zu schlafen scheinen, wir ewigen Kräfte, die wir die Welt wandeln und zerstören.
4000 Meter, fast Montblanchöhe! Die Luft von einer unwahrscheinlichen Klarheit und Durchsichtigkeit. Man meint Hunderte von Kilometern weit zu sehen und glaubt noch an den fernsten Hängen die kleinste Einzelheit erkennen zu können.
Wunderlich rot färbt sich der Boden. Ein ganz satter, warmer Ton. Erst beim Näherkommen sieht man, daß es nicht Fels noch Stein, sondern eine niedrige fleischige Pflanze ist, eine Art Fetthenne, die meilenweit über den nackten Stein kriecht.
Dann aber wird mit einem Schlag alles schneeweiß, glitzernd, kristallklar zu beiden Seiten der Bahn bis an den Fuß der Vulkane. Mitten hindurch fährt der Zug wie über einen gefrorenen See. Ein unheimliches Gefühl; denn an einzelnen Stellen sieht man noch dunkle Flut zwischen dem glitzernden Weiß.
Und das alles wie unter einer Kuppel von intensivstem Blau. Es ist, als hätten sich die vulkanischen Kräfte hier auf dem Dache der Welt einen Tempel gebaut, daß die Menschheit dahin wallfahre und sich in Demut beuge vor den ewigen Gewalten.
Aber nein, das Weiße ist Borax. Millionenwerte liegen hier. Man braucht sie nur aufzulesen, und weiterhin sieht man inmitten des glitzernden Weiß Schlote und Wellblechbaracken: die Boraxwerke von Cebollar, in denen das wertvolle Material für den Versand eingesotten wird. Seit Jahren wird hier gearbeitet und in die Welt hinaus[S. 179]verschickt. Aber das Tischtuch, das hier die Natur über die Erde gebreitet, ist kaum kleiner geworden.
Und weiterhin ist der Boden gelb; es ist Schwefel. Und gleichfalls braucht es nicht mehr als die Mühe des Losbrechens. Grünlich gelbe Dämpfe wallen um die viereckigen Blöcke der Schwefelöfen, aus denen das goldgelbe Mineral fließt, Tränen in die Augen treibend und die Kehle würgend. Aber dem, der es fand und von der Erde hob, lauteres Gold in die Taschen.
Geld machen, Geld, Geld! Wie wird sich erst in absehbarer Zeit die göttliche Felseinsamkeit bevölkern mit Essen und Öfen, wenn erst weitere Schienenstränge die Kordillere durchziehen; denn die Bahn ist hier alles. Ohne sie blieben die weiten, großen Schätze der einsamen Erde tot. Über dem Vulkan aber steht Tag und Nacht, als stumme Warnung, die Rauchwolke.
Als Chile noch unter den Meeresfluten lag, soll das heute kalte und rauhe Andenhochplateau jenseits der Kordillerenkette ein paradiesisch schönes, tropisches Land gewesen sein, die Wiege der amerikanischen Völker. Uralte Ruinen künden, daß hier einst Weltstädte standen. Was mag aus diesem Gebiet hier werden, wenn sich die unheimlichen Kräfte wiederum regen, wenn neuerdings Kontinente versinken, Kontinente erstehen?
Auf der einsamen, im Weltmeer verlorenen Osterinsel steht eine ungeheuere Steinstatue mit traurig ergebenem Gesicht, nach Norden blickend. Als einst die Achse des Kontinents sich drehte und Atlantis versank, da errichteten seine entsetzten Bewohner, die das Meer über sich hereinbrechen sahen, auf der höchsten Höhe diese Statue,[S. 180] wie um den Zorn der Götter zu besänftigen, und als einziges Denkmal einer versunkenen Welt blieb sie von der Flut verschont.
Mag es so sein oder nicht. Die Mythe ist schön, und als in Ollague der erste Aimara an den Zug herantrat, um Llareta zu verkaufen, die als Brennmaterial dienenden torfigen harzreichen Polster einer Schirmblütlerpflanze, die er in unsäglich harter Arbeit in eisiger Felseinsamkeit gesammelt, da glaubte ich in den Zügen dieses Sprossen eines vielgeprüften Volkes die gleichen Züge trauriger und stummer Resignation zu lesen.
La Paz.
Sie wollen nach Bolivien? Und gar, um dort Einwanderungs- und Kolonisationsmöglichkeiten zu studieren? Nein, das lohnt wirklich nicht die Mühe. Minen, ja; wenn Sie Minengeschäfte machen wollen. Aber sonst, nichts als unfruchtbare Hochfläche oder fieberschwangere Tropen. Nein, es lohnt wirklich nicht die Mühe!
Das war das Urteil über Bolivien in Buenos Aires, und in Santiago lautete es nicht anders. Wenn so geurteilt wird, geschieht es nicht einmal so sehr aus Böswilligkeit als aus Unkenntnis. Was weiß man im allgemeinen von Bolivien? Ein Land im Herzen Südamerikas, ohne Küste, mit der Hauptstadt La Paz. Das ist so ziemlich alles. Vielleicht gibt es wenig Länder, die gleich unbekannt und die kennenzulernen doch derart der Mühe wert, wie dieses Land, das nach seinem Befreier Bolivar den Namen wählte.
Freilich, es war immer Stiefkind. Schon zur Kolonialzeit. Damals gehörte es als Alto Peru zum Vizekönigreich Peru. Allein obgleich die Metropole Lima nicht gar so fern war, blieb es doch Hinterland, Provinz, hinterste Provinz.
Und später, nach seiner Befreiung, hatte es auf allen Seiten neidische Nachbarn. Kein Staat an seinen Grenzen, mit dem es nicht einmal Krieg geführt, der ihm nicht einmal eine Provinz abgenommen hätte. Und als ihm gar Chile im Salpeterkrieg seine Küste entriß, wurde es völlig[S. 184] von der Welt abgeschlossen. Seine Waren gingen nicht mehr als bolivianische in die Welt, sondern je nach dem Verschiffungshafen als peruanische oder chilenische oder brasilianische. Und alle seine Nachbarn bauten gleicherweise eine unsichtbare chinesische Mauer um das abgeschiedene Hochland; alle machten es gleicherweise schlecht, wie es noch heute geschieht. Denn jeder hatte ein Interesse daran, daß nicht etwa fremdes Kapital oder Einwanderer weiter zögen in das Land der Andenhochfläche. Und so blieb es bis zu einem gewissen Grade, hätten nicht seine Minenschätze die Fremden ins Land gelockt — ein Tibet im Herzen Südamerikas.
Der Zug fährt über das Altiplano, das vielgeschmähte Andenhochplateau. Eine steinige breite Fläche wie eine ungeheure Tischplatte. Am Horizont verschwimmende braune Schatten, die Ketten der Kordillere. Wessen Herz gesund, der merkt an nichts, daß wir hier 4000 Meter über dem Meere sind.
Auf den ersten Blick sieht es freilich unwirtlich genug aus. Aber bald entdeckt man da und dort weite gelbe Flächen: Gerste, Kartoffeln, und selbst wo scheinbar nur Wüste und Steppe, ist der Boden doch überall bedeckt mit einem spärlichen Grün. Spärlich, aber doch immerhin genug, daß große Rinder-, Schaf-, Esel- und Lamaherden auf ihnen ihre Nahrung finden.
Und Bolivien ist schließlich nicht nur Hochland und Gummizone. Zwischen den Schneeketten der Kordillere und der fieberheißen Gummigegend an den Rios Beni und Mamoré erstrecken sich je nach der Höhenlage alle Klimate. Keine Pflanze, die hier nicht wächst, von den[S. 185] harten Gräsern arktischer Region bis zu der wuchernden Pracht der Tropen. Kein Mineral, das fehlt, von Eisen, Kupfer, Zinn und Gold in den Bergen bis zu Petroleum in den Niederungen.
Aber der größte Teil seiner Schätze liegt ungehoben. Keine Verkehrsmittel. Dazu die politischen Verhältnisse.
Bis vor etwa 20 Jahren das übliche Bild jener hispano-amerikanischen Republiken um den Äquator herum. Revolutionen und Revolten in stetem Wechsel. In den achtzig Jahren staatlicher Unabhängigkeit mehr als dreißig provisorische Regierungen, d. h. alle zweieinhalb Jahr bemächtigte sich ein anderer Parteiführer der Macht im Staate.
Seit der letzten liberalen Revolution im Jahre 1899 Ruhe und Aufschwung, bis auch die Liberale Partei den gleichen Fehlern erlag, die sie ehemals bekämpfte: Korruption, Machtmißbrauch, Wahlmache und Günstlingswirtschaft, so daß am 12. Juli 1920 die Republikanische Partei der liberalen Epoche in unblutigem Staatsstreich ein unrühmliches Ende bereiten konnte.
In mancher Hinsicht ist dieses Land noch so weit zurück, daß ihm gegenüber Argentinien und Chile als hochentwickelte moderne Staaten erscheinen. Das gilt vor allem von seinen sozialen Verhältnissen. Wenigstens in der Landwirtschaft ist das Arbeitsverhältnis noch rein mittelalterlich-feudal. Der Landarbeiter ist Höriger, Kolone, der Hand- und Spanndienste zu leisten hat.
Aber vielleicht ist es kaum anders möglich in einem Lande, wo eine winzige weiße Oberschicht über zwei Millionen Indianer herrscht, die weder lesen noch schreiben[S. 186] können, und — den einen Vorteil hat diese Zurückgebliebenheit: daß es in Bolivien keine soziale Frage gibt und daß dieses Land bisher in der Hauptsache verschont geblieben ist von Arbeiterschwierigkeiten, Streiks usw., unter denen seine entwickelteren Nachbarländer ständig zu leiden haben.
Eines allerdings wird notwendig sein: diese teilweise noch halbwilden indianischen Massen langsam zu erziehen und heranzubilden und gleichzeitig dem bisher ihnen gegenüber beliebten Ausbeutungssystem ein Ende zu machen. Sonst droht Bolivien zwar nicht die soziale Revolution — die in Argentinien und Chile immerhin schon zur Diskussion steht —, sondern etwas viel Schlimmeres: der blutige, erbarmungslose Indianeraufstand!
La Paz.
Markt. — Willst du eine fremde Stadt, ein fremdes Land kennenlernen, geh dorthin. Am gesammeltesten findest du dort noch alte Sitten, Trachten und Gebräuche.
Markt in La Paz. Man muß weit in den Orient fahren, um die gleiche Fremdartigkeit, die gleiche Farbenfreudigkeit zu finden. Aimaras vom Hochland in bunten Ponchos mit unbewegten, harten Gesichtern wie aus Coopers „Lederstrumpf“. Leute aus den Yungas, den Tälern des Innern, in kurzen Leinenpumphosen und Filzhüten mit riesenbreitem Rand, aber einem Puppenhutköpfchen. Cholas, Indianermischlinge, mit schwefelgelben Strohhüten und[S. 187] bunten Seidentüchern. Das erstemal ist man ganz benommen von der Buntheit der Farben, in die sich Männer wie Frauen, Indios wie Mischlinge kleiden. Dunkelviolette Überwürfe zu orangenen Röcken, oder indigoblaue zu purpurroten, grellgrüne zu leuchtend gelben. Ponchos in allen Farben gestreift. Dazu jede zweite Frau mit einem Säugling in buntgewürfelten Tüchern auf den Rücken gebunden, oder ihm ungestört und offen die Brust reichend, während sie verkauft. Und zwischen dem Menschenschwarm Esel- und Lamakarawanen, die vom Alto, dem Andenhochplateau, oder aus den Yungastälern die Lebensmittel in die Hauptstadt bringen.
Denkbar einfach spielt sich das Marktgeschäft ab. Es gibt zwar eine Markthalle, ähnlich dem Basar des Orients, allein sie faßt nicht den zehnten Teil der Verkäufer, und so sitzt die Mehrzahl in den umliegenden Straßen einfach auf dem Boden, vor sich die Ware ausbreitend.
Bunt wechseln hier alle Erzeugnisse der kalten, gemäßigten und heißen Zone miteinander ab. Fällt doch das Andenhochplateau mit seinen fast 4000 Meter Höhe dicht bei La Paz steil zu subtropischen und tropischen Gebieten ab. So liegen Gerste und Kartoffeln vom Hochland dicht neben Apfelsinen, Mandarinen und Ananas aus den Yungas, Äpfel neben Zuckerrohr und Kaffee, in gleicher Weise Produkte aus der Umgebung von La Paz.
Die ersten Male steht die einkaufende Europäerin hilflos vor der Menge von Gemüsen und Früchten, die ihr völlig unbekannt sind. Zunächst einmal die zirka 200 Kartoffelarten, die es hier in der Heimat der Kartoffel[S. 188] gibt, dazu die Chunos, auf Eis und in der Sonne zu Steinhärte getrocknete Knollen, die, dann wieder in Wasser geweicht, das Lieblingsgericht der Indios bilden, die Tuntas, durchs Wasser gezogene und an der Sonne getrocknete Kartoffeln, und dergleichen mehr. Eine Delikatesse, auch für Europäer, sind die Ocas, die in gefrorenem Zustand zusammen mit Miel de Caña, dem Saft des Zuckerrohrs, gegessen werden. Dazu die Fülle fremder Früchte, deren Königin die Chirimoya ist, eine mitunter kindskopfgroße Frucht mit herrlich süßem, weißem Fleisch.
Wie mit Gemüse und Frucht ist es mit Fleisch; denn auch alle inneren Teile, wie Kaldaunen, Magenwände und dergleichen, was in Deutschland Anrecht der Hunde beim Schlachten ist, liegt hier aus, und Stier- und Hammelhoden sind beispielsweise gesuchte Leckerbissen.
Besonders Sonntags, dem Hauptmarkttag, flammt und leuchtet die ganze Calle Recreo in buntesten Farben. Die Indias und Cholas, auf den Boden gekauert, blühen in ihren weiten, bunten Röcken und Tüchern gleich farbigen Blumen aus dem Boden. Zwischen goldenen Orangen, blassen Limonen, gelben Bananen liegt in bunten Lappen ein schreiender Säugling. Dazwischen gackern Hühner, schnattern Enten und blähen sich Truthähne, während die vollgepackten Lamas mit unglaublich dummen und arroganten Mienen durch die Menge schieben.
In einem unterscheiden sich die Marktfrauen von La Paz wohl von allen der Welt. Man kann alles nachprüfen, alles anfassen und dann weitergehen, ohne etwas zu kaufen, und man wird doch kein unfreundliches Wort hören. Überhaupt spielt sich das ganze Geschäft sehr[S. 189] eigenartig ab. Feste Preise gibt es nicht. Die Eingeborenen fordern zunächst so viel, wie sie meinen, daß der Gringo, der Ausländer, dumm genug ist zu bezahlen. Das ist in andern Ländern ähnlich, aber eine bolivianische Spezialität mag sein, daß der Weiße, wenn das Geschäft nicht anders zustande kommt, sich einfach die Ware nimmt und bezahlt, was er für angemessen hält. Nur in den wenigsten Fällen wird der Indianer dagegen aufzumucken wagen.
Er ist es ja auch nicht anders gewöhnt. Bereits am Eingang der Stadt erwarten die Zwischenhändler, meist Cholos, die Indianerkarawanen und nehmen ihnen ihre Lasten ab zu Preisen, die sie selbst ziemlich einseitig und willkürlich festsetzen. Auch der Weiße, der von den Indios ganze Lasten kauft, Gerste, Futter oder Brennmaterial, macht das Geschäft meist derart, daß er zunächst durch sein Dienstpersonal die Lasttiere, Esel oder Lamas in seinen Hof treiben und abladen läßt. Wenn er dann den Preis bietet, großes Jammern des Indianers, der aber doch meist zufrieden abtrollt, wenn man ihm noch ein paar Centavos für Coca drauflegt. Mitunter helfen allerdings ein paar Fußtritte nach.
An diese ganz anderen sozialen Verhältnisse muß man sich überhaupt erst gewöhnen. Vielleicht muß man sehr weit nach Afrika hineingehen, um noch diese Unterwürfigkeit des Farbigen dem Weißen gegenüber anzutreffen. Selbstverständlich, daß kein Weißer etwas trägt. Kauft man nur die geringste Kleinigkeit auf dem Markt, so ist man von einem halben Dutzend Indianerbuben umdrängt, die das Paket tragen wollen. Sollte aber gerade[S. 190] keiner Lust dazu haben, und der Weiße sieht sich suchend um, so mahnt ein eingeborener Polizist mit ein paar sanften Püffen den nächstbesten Indio an seine Pflicht dem Weißen gegenüber. Der Begriff „Blanco“, „Weißer“ ist dabei übrigens nicht wie in den Südstaaten der Union eine Rasse, sondern ein sozialer Begriff. Auch der Mischling und der Indio haben auf das gleiche Vorrecht Anspruch, wenn sie zu Stellung und Vermögen gekommen.
Mitunter kann man es auf dem Markt auch erleben, daß ein paar Polizisten mit Besen erscheinen, sich die nächsten Indios aufgreifen, den Widerstrebenden die Besen in die Hand drücken und sie erst einmal unter Aufsicht der Polizei den Platz kehren lassen, ehe die armen Betroffenen ihren beabsichtigten Geschäften weiter nachgehen können.
„Mamita“ oder auch „niña, niñita“ — „Mütterchen“ oder auch wohl „Schönes Kind“ — schallt es den über den Markt gehenden Europäerinnen entgegen. Fleisch, Früchte, Bauerntöpfe, bunte Tücher werden entgegengewinkt. Es ist ein fröhliches, buntes Bild unter dem leuchtend klaren Himmel von La Paz, und man könnte fast vergessen, daß hinter der fröhlichen Fassade ein armseliges, gedrücktes Volk steht, und im Hintergrund all dieser Unterwürfigkeit und sklavenhafter Demut lauert das eine — Haß gegen den weißen Herrn.
Pongo.
Noch immer ist die Wand der Cumbre in meinem Rücken. Wie der Weg sich auch schlängelt, bleibt sie und sperrt den Horizont, ungeheuer, unheimlich und so steil, daß man jetzt kaum versteht, wie diesen senkrechten Fels überhaupt ein Weg hinunterführen kann, gangbar für Mensch und Tier.
4600 Meter! Selbst wenn man aus dem 3600 Meter hohen La Paz kommt, ist der Marsch über die Höhe anstrengend genug. Jetzt sind bereits wieder 3800 Meter erreicht, und nach dem kahlen, nackten Fels der Kordillerenhöhe mit den letzten Schneeresten des Winters fängt bereits wieder das erste Grün am Wege an.
Es dämmert. Die Wand der Cumbre wächst zusammen mit den sich ballenden Nebelwolken und steigt ins Unendliche auf. Schwache, weiße Wölkchen, die an ihr hochziehen, entzünden sich am Abendhimmel und glühen wie irrlichternde rosenrote Flächen auf.
Tief unten rauscht der Fluß, den die Gletscher schufen. Immer schwärzer wird die Tiefe, daß bald nur mehr Rauschen aus undurchdringlichem Dämmern dringt.
Wie in einen Schlund rutscht man den steilen Weg hinunter. Bizarre Felsen am Wege türmen und häufen sich, täuschen Häuser vor. Und dazwischen wirkliche Reste verfallener Mauern und Häuser, daß man nicht mehr weiß, was Schein, was Wirklichkeit ist.
Aber jetzt Hundegebell. Lagernde Tiere und Menschen am Wege. Diese Mauern sind wirklich, sind bewohnte Häuser — die Posada.
Ein langgestreckter, niederer Bau. Ein fensterloses Zimmer neben dem andern, auf der andern Seite des Hofes ein Strohdach, unter das die Tiere bei Regen untertreten können. Das ist die Posada, staatlich konzessioniertes Wirtshaus, Relaisstelle, der Posthalterstation aus der Urgroßväterzeit noch am meisten vergleichbar. Es ist die übliche, vom Staat vorgesehene Unterkunftsstätte in jenen Gegenden, in denen es kein anderes Verkehrsmittel gibt als das Maultier.
Im ersten Augenblick mutet es seltsam und fast unbegreiflich an, daß in nächster Nähe der Hauptstadt des Landes, die mit nicht weniger als drei Bahnen mit dem Pazifik verbunden ist, ein weites, reiches, kommerziell und wirtschaftlich überaus wichtiges Gebiet liegt, für das es keine andere Verkehrsmöglichkeit gibt als eine kostspielige und anstrengende Maultierreise.
So mögen wohl — wie lange ist es her — die Poststraßen der Alpen, über den Gotthard und Brenner, ausgesehen haben, als noch keine Postkutschen fuhren, Maultierkolonne hinter Maultierkolonne.
Denn die Yungas sind ja keine abgelegene, ferne Region, in die man etwa eine Expedition unternehmen müßte, nein, es ist das Gebiet, das La Paz, Oruro und den ganzen Minendistrikt mit Bananen, Orangen, Zitronen, Kaffee und vor allem mit Coca versorgt, dem unentbehrlichen Stimulans des Hochlandindianers.
Karawane geht hinter Karawane, Maultiere und dann[S. 193] wieder Esel, struppige kleine Hochlandsesel mit langhängendem Zottelfell. Mit Früchten und Coca aus den Yungas, mit Gerste und Fleisch vom Hochland und mit Ware jeder Art von La Paz. Und dazwischen, spärlich allerdings, Reisende. Am seltsamsten wohl jene Dame, die ich unterwegs traf. Sie selbst, mit der ältesten Tochter hinter sich, auf dem Maultier; mit ihr der indianische Diener, ein Kind vor sich im Sattel und auf dem Rücken noch einen Säugling.
Kein angenehmes Reisen. Und so reist denn auch kaum jemand in den Yungas außer jenen indianischen Frachtführern und etwa der eine oder andere Fincabesitzer, der einmal im Jahr mit oder ohne Familie auf kurze Zeit auf sein Gut kommt, um nach dem Rechten zu sehen. Der Bolivianer reist ja überhaupt nicht gern, und wenn schon, dann eher nach Europa als in sein eigenes Land.
Schwierig, anstrengend und teuer, das war der sich immer wiederholende Refrain, wenn ich mich nach den Reisemöglichkeiten abseits der Bahn erkundigte.
Vor allem teuer! „Sie brauchen ein bis zwei Reittiere für sich, mindestens ein Packtier und ein Tier für den Führer, der gleichzeitig als Arriero die Tiere versorgt.“ Wie oft habe ich das gehört. Da kämen allerdings leicht bald 1000 Peso für eine kurze Reise heraus.
So geht’s freilich nicht. Und so habe ich auf Packtier und Führer verzichtet und bin allein losgeritten, das Nötigste in den Packtaschen, wie ich es von so manchen einsamen Ritten im Balkan und in Mexiko her gewohnt war.
Der Hof der Posada ist schon voll fremder Tiere. Eine Jagdgesellschaft, ein Minenbesitzer und ein paar Goldsucher haben bereits ihre Tiere eingestellt. Es gibt Beißen und Schlagen, bis jedes Tier sein Futter hat.
Futter! Da denkt man freilich an das, was erfahrene Yungasreisende in La Paz erzählten. Ein Tercio Cebada, ein Büschel Gerste auf dem Halm, kostet einen Peso. Mindestens drei bis vier Tercios braucht man, um sein Tier satt zu kriegen.
Da ist das Futter für den Menschen billiger, das ein siebenjähriger Junge bringt — gleichzeitig Kellner, Hausdiener und Pferdeknecht, kurz der einzige dienstbare Geist im Hause. Suppe und Fleisch, derartig mit Aji, dem einheimischen Pfeffer, gewürzt, daß Mund und Gaumen brennen wie Feuer. Ein Ungar müßte seine Freude daran haben; denn gegen Aji ist der magyarische Paprika die reinste Süßrahmbutter.
Der Junge klagt beweglich, er sei Waise und sein ganzes Gehalt bestehe in Schlägen, bis er ein entsprechendes Trinkgeld erhalten hat. Dann richtet er das Zimmer für die Nacht her, indem er das schmutzige Tischtuch fortnimmt. Sonst braucht er vor etwaigen diebischen Gästen nichts zu sichern; denn außer dem wackligen Tisch und einem dreibeinigen Hocker steht im Zimmer nichts als das leere Bettgestell, ein Rahmen auf vier Pfosten und darauf ein paar Riemen gespannt. Das Lager ist hart, die Nacht kalt. Schlafsack, Decke und Mantel genügen kaum. Draußen wiehern die Mulas. Ein Tier hat sich losgerissen und galoppiert über den Hof.
Ich trete noch einmal unter die Tür. Eine schmale[S. 195] Mondsichel steht am Himmel, und die Cumbre ragt in sie hinein. Und es ist wie scheues Wundern, daß ich noch vor wenigen Stunden auf jener senkrechten Wand stand und in eine unbegreifliche, märchenhafte Eis- und Felswelt sah.
Bella Vista.
Welch ein Kontinent! Immer neue Überraschungen und neue Szenen. Verblüffte schon in Chile das nahe Nebeneinander der verschiedensten klimatischen Zonen, so ist das nichts gegen Bolivien. Hier ist es die reine Hexerei. Hier ist Kälte und Hitze, Nordland und Tropen dicht beieinander. Mit einem Sprung etwa von Nordrußland nach den Kanarischen Inseln, weiß Gott, mit einem Sprung. Nicht etwa derart, daß man von vereinzelten eisstarrenden Höhengipfeln ins warme Tal hinunterstiege. Das kann man in Italien auch haben. Nein, in Bolivien liegen zwei gewaltige Gebiete, das eine kaum kleiner als Deutschland, das andere so groß wie Bayern, dicht beieinander. Wand an Wand kann man sagen: das Altiplano und die Yungas.
Die Wand der Kordillere, die beide voneinander scheidet, ist bei La Paz so schmal, daß man sie in einem Tag übersteigt, und kaum daß man von Pongo abwärts zieht, sieht man mit Verblüffung, wie das kümmerliche kurze Gras, das den genügsamen Lamas kaum dürftige Nahrung bietet, sich unversehens in kurzes Buschwerk[S. 196] wandelt. Schon geht man in niederem Wald. Saftiges Grün, bunte Blätter, wucherndes Schlingwerk und darüber wie Märchenvögel blaue, violette und rote Blüten.
Aber noch phantastischer ist der Wechsel, wenn man in San Felipe, trotzdem man hier schon auf 2000 Meter und einiges hinabgestiegen ist, die bequeme Karawanenstraße nach Coripata und Chulumani verläßt und nochmals aufsteigt auf die steilen Hänge, die zu beiden Seiten Weg und Fluß begleiten.
Nochmals hinauf auf 3600 Meter. Aber diesmal in steiler Steigung. Fast muß sich das Maultier ständig um sich selber drehen, wie es jetzt mühsam die engen Windungen der sich den Berg hinanwindenden Spirale aufwärtskriecht.
Der Gipfel des Berges ragt in die Wolken. Bald ist man mitten drin im Nebel, man sieht nichts mehr und erkennt nur an den niedriger und kümmerlicher werdenden Bäumen, wie langsam wir steigen.
Eine Steigung, die nie enden will. Und immer schlechter der Weg, die reinsten Treppen mit ausgetretenen, ungleich hohen Stufen. Dazu regnet es jetzt. Schon dicke Tropfen. Der wasserdichte Gummimantel ist nicht lange mehr wasserdicht. Bald dringt die Feuchtigkeit bis auf die Haut.
Die Höhe ist endlich erreicht. Fast unmittelbar fällt sie jenseits des schmalen Grates wieder ab.
Man glaubt, falsch geritten zu sein; denn der Weg ist kaum mehr als Geröll und Steinbruch, den der strömende Regen in die reinsten Grotten mit Wasserfällen verwandelt. Aber die Indios, die tropfnaß mit ihren[S. 197] Tieren an der andern Seite aufsteigen, nicken auf die Frage nach dem Wege.
Also hinunter, das Tier am Zügel! Ein Springen von Stein zu Stein, die Mula bald vorsichtig tastend, bald fast auf der Kruppe rutschend hinterher. Dazu Wasser, Wasser in Strömen. Aber sobald man bis auf die Haut naß ist, wird man vergnügt, denn nässer kann man nun nicht mehr werden.
Und wie könnte man auch verdrießlich sein, wo sich das Blattwerk immer phantastischer um einen rankt, Fächer, Teller, Schwerter, Grün in allen Schattierungen. Hunderte von Bäumen, die man nicht kennt. Und alles umrankt und verwoben durch schlingende, wuchernde Lianen.
Ab und zu erscheint der Berg gespalten, und den Einschnitt hinunter stürzt aus hundert Meter Höhe ein sprühweiß gischtender Wasserfall.
Langsam vertropft der Regen. Aus dem Grün hört man seltsames Rascheln, und fremde, bunte Vögel fliegen über den Weg, glitzernd farbige Schmetterlinge folgen.
Aber das Wunderbarste ist doch, wie jetzt Regen und Wolken weichen, und wie man nun, sobald die Bäume den Blick freigeben, das Land sieht, in das man hinabsteigt.
Gewiß, es gibt Landschaften von gewaltigerer Schönheit und auch von größerer Fremdartigkeit, aber es passiert einem kaum, daß man sie nicht längst im Bilde sah, ehe man sie wirklich betritt. Allein, wer sah je Bilder von den Yungas. Nicht einmal in La Paz gab es dergleichen.
So aber ist die Landschaft: Man denke sich den Schwarzwald oder den Wiener Wald. Waldberge. Aber[S. 198] Waldberge, die vom Tal aus tausend, zweitausend und mehr Meter ansteigen. Ungeheuere Kuppen, und von der Sohle bis zur Spitze mit dem gleichen, fremdartig, tropisch anmutenden Wald bedeckt.
Berge wie Lebewesen, unheimliche, fremdartige Lebewesen. Man sieht keine Felswände, Schründe oder Klippen, nur Wald, Wald. Was jenseits von ihm an Fels, Schnee und Eis der Kordillere sonst sichtbar sein mag, decken die Wolken.
Das Unheimlichste aber ist der Fuß der Berge. Unten, ganz unten muß ein Fluß fließen. Man sieht ihn nicht. So eng stoßen die Berge im Tal zusammen. Man sieht nur die Krümmungslinien, in denen die steil abfallenden und dennoch grünen Wände sich begegnen. Man möchte meinen, daß unten hinein kein Sonnenstrahl dringe und dort düster feuchte, dunstige Tümpel voll vorsintflutlichem Gewürm sein mögen.
All diese Wälder sind Urwald. Unbetretbarer, nie betretener jungfräulicher Wald. Er ist beiderseits des Weges durch und durch undurchdringlich. Man ist mitten drin und übersieht ihn doch von Höhenwegen aus. Steht ihm gleichsam Aug in Aug gegenüber. Der Mensch und der Wald. Seit Stunden, seit den Indianern auf der Höhe, kreuzt niemand mehr meinen Weg.
Es gibt nur den einen unfehlbaren Weg durch den Wald, unfehlbar, denn es gibt nicht eine Abzweigung. Und jeder muß die vorgeschriebene Tagesreise machen. Denn vor Tagesende gibt es kein Haus, nicht die geringste menschliche Spur. Ein endlos langer Tag durch Wald.
Ein vorspringender Rücken ist es, der das erste einsame Haus trägt. Bella Vista. Hier ist der Wald gerodet, hellgrüne Pflanzungen, Mais, Bananen, Zitronen, Orangen. Zu gleicher Zeit tragen die Orangenbäume brautweiße Blüten und vollsaftige, goldene Früchte. Gelbe Zitronen und Limas in dunkelgrünem Laub. An der Banane aber schält sich aus riesiger violetter Blüte die vieltraubige Frucht.
Der Regen hat aufgehört, die Wolken haben sich verzogen. Man sieht weithin talabwärts in das wellige, hügelige Grün. Nur an einzelnen Stellen ist es sonderbar rot gefärbt. Tief orangerote, kreisrunde Flecken unterbrechen das zarte Grün, gleichsam als durchbrächen ungeheuere Giftpilze den Waldboden.
Es sind Ceibas, Wollbäume, Bäume ohne Blätter, nur dicht bedeckt mit den orangefarbigen Blüten. Dicht vor den Häusern, auf die ich zureite, steht solch ein Baum, und wie zum Willkommen wirft ein Windstoß seine Blüten auf mich herab, während beiderseits des Weges Orangeblüten, schneeige und rosige Pfirsichblüten schimmern und goldene und gelbe Früchte glühen.
Coroico.
Auf steiniger, isolierter Kuppe liegt das Städtchen über 1700 Meter hoch, und man übersieht von ihm weithin das Gewirr der am Fuß des Berges mündenden Täler. Das dunkle Grün der Wälder hat sich unten an den Ufern der Flüsse, deren Spiegel sich hier schon auf[S. 200] 1000 Meter senkt, in lichte Farben gewandelt. Zuckerrohr, deren dichte Wedel wie niederer Palmenwald wirken.
Unten im Städtchen ist Markt. Markt?, möchte man fragen. Wozu? Wenn irgendwo, kann hier der Landmann erzeugen, was er braucht. Trägt ihm sein Feld doch alle Nahrungs- und Genußmittel, gibt es doch Holz in überreichen Mengen, Baumwolle und alle Faser- und Textilpflanzen, sogar Farbpflanzen, während der Boden Ton und Schiefer enthält.
Gestern abend schon sind vom Alto die Hochlandsindianer mit ihren Maultieren und Eseln in die Stadt gekommen, stumm und ernst hinter ihren hochbeladenen Tieren. Und heute sieht man auf allen Wegen die Yungeños dem Pueblo zuströmen, Menschen der gleichen Rasse, die das mildere Klima doch so ganz anders formte. Neben dem ernsten, schweigsamen Aimara vom Hochland mit seinen harten Zügen wirkt der Yungeño frauenhaft weich, wozu allerdings viel das reiche, tief den Rücken hinunterfallende Haar beitragen mag, das im Nacken ein Band zusammenhält.
Aus den großen Bündeln, die die Indianer des Alto vor sich liegen haben, schälen sich, in Heu verpackt, Korn, Gerste, Kartoffeln und Fleisch, das in seiner trockenen, braunen Steifheit mehr wie Leder erscheint als wie ein Nahrungsmittel. Und die Yungeños kaufen, kaufen, daß am Mittag bereits fast der ganze Markt leer ist. Es ist eine merkwürdige wirtschaftliche Erscheinung. Der Yungeño pflanzt wohl seine Banane, die sein hauptsächlichstes Nahrungsmittel darstellt, und vielleicht auch noch etwas Juca und Racacha, dicke, wurzelartige Knollen. Aber was er[S. 201] darüber hinaus braucht an Fleisch, Brot und Kartoffeln, kauft er vom Hochland, und für die Städter, denen die Banane nicht als Nahrungs- sondern als Genußmittel dient, kommt fast der ganze Lebensbedarf vom Alto herunter.
Was der Yungeño erzeugt, ist Luxus: Früchte, Kaffee, Alkohol (nicht zum Brennen, sondern zum Trinken) und Coca. Letztere Pflanze, deren getrocknete Blätter in ganz Bolivien, Peru und Nordargentinien als Nervenstimulans gekaut werden und ohne die der bolivianische Indianer nicht leben kann, sind das A und O aller Yungaskultur.
Der Gewinn, den die Coca abwirft, ist so hoch, daß da, wo der Boden einigermaßen geeignet ist, ihr Anbau jede andere Kultur verdrängt. Es gibt indianische Kleinbauern, die auf ihrem Grund und Boden nicht einmal die für den Lebensunterhalt wichtigsten Pflanzen, nicht einmal ein paar Bananen bauen, sondern die alles, bis auf das letzte Fleckchen, mit Coca bestellen und den gesamten Lebensunterhalt in der Stadt kaufen. Und die Einnahme aus dem Cocaverkauf ist so hoch — mitunter selbst für den Kleinbauern, der nicht mehr als ein paar Hektar bestellt, bis zu 9000 Peso —, daß er unbedenklich die durch die Fracht enorm hohen Preise für alle Lebensmittel, die höher sind als in La Paz, zahlen kann.
Freilich nötig wäre es nicht, selbst bei intensivster Coca-, Kaffee- und Rohrzuckerkultur nicht, daß das Alto die Yungas ernährt; denn von den weiten Yungas ist erst ein winziger Teil kultiviert, und oberhalb der Cocafelder und Bananenpflanzungen sind die Berge noch alle bedeckt mit undurchdringlichen Wäldern, an deren Stelle[S. 202] sich Weizen- und Gerstenfelder dehnen könnten, mehr als ausreichend, die ganze Yungasbevölkerung zu ernähren, und endlose Weiden für Viehherden, die die Hauptstadt des Landes mit Butter zu versorgen vermöchten, statt, wie es heute geschieht, sie mit hohen Kosten aus Peru oder Chile kommen zu lassen.
Wenn man nach dem Grund frägt, immer die gleiche Antwort: „falta de brazos“, „Mangel an Arbeitskräften“, und so sind die Yungasprovinzen, die sich wie eine köstliche Blume an die Hänge des Hochlandes schmiegen, heute fast nichts als Parasiten. Was sie erzeugen, ist Luxus, schlimmer noch — Gift. Über die Coca kann man ja zweierlei Meinung sein; sicher ist, daß der seit unzähligen Generationen daran gewöhnte Indianer nicht ohne sie leben kann. Aber auch aus dem Zuckerrohr wird nicht Zucker gewonnen — und Zucker braucht das Land; denn heute wird er noch zu hohen Preisen aus Peru und Argentinien eingeführt —, sondern lediglich Alkohol, vierziggradiger Alkohol, der bei den Indianern unverdünnt das Hauptgetränk für Mann und Frau bei ihren Festlichkeiten ist.
Coripata.
Die beiden Goldsucher aus Pongo waren vor mir hergeritten. Sie wollten den Rio Peri nach dem gelben Metall absuchen. Als ich an den Fluß herunterkam, fand ich noch die Spuren ihres Lagers; sie selbst waren schon fort. Sie hatten wohl nichts gefunden, oder die Moskitos[S. 203] hatten sie vertrieben, wie mir ein vorbeireitender Administrator einer Finca erzählte.
Auf den Höhen merkt man übrigens nichts von Moskitos, und trotzdem ich Moskitonetz und Schleier mitführte, hatte ich noch für keines von beiden Verwendung.
Dagegen war es doch schon recht heiß. Ich war ziemlich spät von Coroico abgereist, und das ganze Yungasgebiet kennt keinen ebenen Weg. Ständig geht es auf und ab bei stärkster Steigung, und selbst wo eine Straße am halben Hang entlang führt, geht sie in Kurven auf und nieder.
Coroico, Coripata, Chulumani, das ist das Herz der Yungas. Hier sind alle Hänge entwaldet. Es gibt keinen Baum mehr, alles Banane, Kaffee, Coca, alles gleich schattenlos.
So kam mir die Finca halbwegs nach Coripata gerade recht, um während der größten Mittagsglut kurze Rast zu machen. Aber als ich mit dem Administrator ins Gespräch kam, stellte sich heraus, daß er drei Jahre in Weimar auf einer landwirtschaftlichen Schule gelernt hat. Seit den sechs Jahren, die er wieder zurück und in den Yungas ist, war ich der erste Deutsche, den er gesprochen. So lud er mich zum Bleiben, und ich nahm gerne an.
Die bolivianische Finca hat mit der argentinischen Estancia die Ausdehnung gemein. Zehntausende von Hektaren sind die Regel. Allerdings sind hiervon stets kaum ein paar hundert, oft kaum ein paar Dutzend Hektar bewirtschaftet. Alles übrige liegt brach, unerforscht, und die Grenzen kennt der Besitzer in der Regel selbst nicht.
Die Hacienda, der Komplex der Wohn- und Wirt[S. 204]schaftsgebäude, ist noch wesentlich einfacher als in Argentinien. Lebt in Argentinien der Patron kaum ein paar Wochen und Monate auf seiner Estancia, so kommt er in den bolivianischen Yungas kaum einmal im Jahr auf wenige Tage hinaus, oft nur alle paar Jahre. Der Administrator aber ist ein schlecht bezahlter Angestellter, für den ein einfaches Lehmhaus aus luftgetrockneten Ziegeln mit Wellblechdach genügen muß.
Dieses Haus mit einem Schuppen für die Coca und dem mit Schiefer ausgelegten Hof, in dem die Coca getrocknet wird, ist eigentlich alles: Irgendwelche landwirtschaftlichen Maschinen oder Geräte, totes oder lebendes Inventar gibt es nicht. Das Maultier für den Administrator, wenn es hoch kommt, eine Kuh, das ist alles. Das Arbeitsgerät bringen die Peone selbst mit; es besteht nur in Hacke und Schaufel. Eines fehlt freilich nicht, auf keiner Finca. Das ist die Kirche, und sie ist stets der stolzeste Bau, massiv aufgeführt mit Glockenturm und Glocken; denn der bolivianische Indio ist in erster Linie ein treuer Sohn der Kirche, und was er irgend erspart, führt er außer dem Alkohol zunächst dem Pfarrer zu, den er reichlich mit Geschenken regaliert. Jede Messe auf einer Finca bringt dem Geistlichen nie unter einigen hundert Peso an Gebühren und Geschenken ein.
Rings um die Finca herum liegen in kleinen Bananenpflanzungen die rohgebauten, niederen Lehmhütten der Kolonen, der Hörigen. Jede Finca verfügt ja über ihre bestimmte Zahl höriger Indianerfamilien, die zur Arbeit für den Patron verpflichtet sind, und der Wert jedes Grundbesitzes richtet sich auch nach der Zahl der auf ihm[S. 205] ansässigen Kolonen. Man kauft und verkauft eine Finca nicht nach Hektaren oder Quadratleguas, sondern nach der Zahl der Kolonen, und im allgemeinen wertet jede Kolonenfamilie tausend Peso.
In rein mittelalterlich-feudaler Weise spielt sich auch die Arbeit auf der Finca ab. Jeder Kolone ist verpflichtet, zwei, drei oder vier Tage, je nach der althergebrachten Gewohnheit, für den Grundherrn zu arbeiten. Diese Arbeit ist nicht nur völlig unentlohnt, der Kolone muß auch noch Arbeitsgerät und Arbeitstiere selbst stellen. Er ist ferner zu unentgeltlichem Dienst im Hause des Patrons verpflichtet. Jede Kolonenschaft stellt allwöchentlich einen oder mehrere Pongos als Hausdiener. Ebenso wählt sich der Patron, beziehungsweise der Administrator aus der Reihe der Frauen und Mädchen allwöchentlich eine Mitani als Haus- und Küchenmädchen. Verreist er, will er etwas besorgen lassen, in der Stadt etwas kaufen oder verkaufen, so stellen die Kolonen so viele Apiris, wie er benötigt, um ihn auf ihren Mulas zu begleiten oder die Besorgungen zu erledigen.
Als Entgelt für diese Dienste erhalten die Kolonen Land zugewiesen, das sie in ihrer freien Zeit bebauen. Jeder Indianer hat denn auch seine Bananenpflanzung, von der er in der Hauptsache lebt, sein Cocal, sein Cocafeld, dessen Erträgnisse seine sonstigen Bedürfnisse decken müssen.
Am nächsten Morgen in aller Frühe hatte ich Gelegenheit, den ganzen Betrieb kennenzulernen. Es war Frontag, und der Hilacata, der Kazike oder Aufseher der Indianer, trat mit den Kolonen auf dem Hofe an. Dann ging’s zur Arbeit, Männer und Frauen getrennt.
Wir gingen erst zu den Männern, denen die schwere Arbeit obliegt. Es galt, neues Land für ein Cocal zu roden. Büsche und Bäume, die den Hang deckten, waren bereits abgebrannt, und jetzt waren die etwa dreißig Indios in langer Reihe dabei, mit Hacke und Schaufel die Wurzelstöcke zu entfernen. Langsam arbeitete sich die braune Kette den Berg hinauf. Vor ihnen stand in buntem Poncho, das fast meterlange Messer im Gürtel und das schwarzglänzende Haar bis auf die Hüften herabhängend, der Hilacata.
An anderer Stelle waren die Frauen dabei, im Cocal das Unkraut zu jäten. Auch hier ein Hilacata-Stellvertreter als Aufseher.
Am Abend saßen der Administrator und ich auf der luftigen Veranda beisammen. Hinter dem scharfen Bergrücken, zu dessen beiden Seiten Coripata wie ein Raubvogelnest klebt, verflammte der Abend. Aus dem dunklen Laub des Gartens heraus sah man das Leuchten der Orangen. Dahinter ließen gleich müden Pferden die Bananen ihre früchteschweren Köpfe hängen. Von den Indianerhütten her klang monoton eine Rohrflöte.
„Ständiger Ärger mit dem Pack!“
„Nun, ich glaube, jeder europäische Gutsbesitzer würde blaß vor Neid über solch billige Arbeitskraft. Entlassung geht ja nicht gut, wenn jeder Arbeiter seine tausend Peso wertet, und Lohnabzug gibt’s auch nicht. Was machen Sie denn, wenn die Leute widersätzlich sind oder faul?“
Er sah erstaunt auf. „Aber dafür hat man doch die Peitsche!“
„Die Peitsche?“
„Aber natürlich, glauben Sie denn, es ginge anders? Selbstverständlich habe auch ich eine, oder vielmehr zwei, eine dicke für die Männer und eine dünne für die Frauen.“
Ich mußte wohl ein sehr ungläubiges Gesicht gemacht haben. Denn er meinte: „Wenn Sie es nicht glauben, kann ich ja einen auspeitschen. Ein Grund findet sich immer.“
Ich dankte. Aber am nächsten Tag frug ich in Coripata den Munizipalsekretär, wie es eigentlich mit dem Recht der Fincabesitzer wäre, ihre Kolonen zu schlagen.
„Ein Recht“, meinte er, „besteht selbstverständlich nicht. Aber kein Richter oder Polizeipräfekt wird etwas dagegen einzuwenden haben, wenn ein Patron oder Administrator seine Indianer schlägt, in mäßigen Grenzen natürlich. Aber ab und zu muß der Indianer seine Prügel haben, damit er nicht verdirbt.“
Irupana.
Das Zimmer war das übliche, vier bis fünf Meter im Quadrat, weißgetünchte Wände, lehmgestampfter Fußboden, ohne Fenster, nur durch die Tür Licht und Luft erhaltend.
Wir saßen beim Abendessen, wir, d. h. der Hausherr und Gastgeber, mein Reisekamerad und ich. Die Frau des Hauses, eine Chola, den geschwefelten Strohhut auf den straffen, schwarzen, langen Zöpfen, die nackten Beine hellbraun und schlank, aß wie üblich nicht mit, sondern bediente die Männer. Von dem, was wir übrigließen,[S. 208] fütterte sie die Kinder, die, zwei- und vierjährig, vergnügt und halbnackt auf dem Boden herumkrochen, um dann selbst den Rest stehend in einer Ecke zu sich zu nehmen.
Mein Reisekamerad hatte mich mitgenommen, d. h. die Kameradschaft war recht kurz. Wir waren eine Strecke zusammen geritten, waren zusammen in den Regen gekommen und hatten uns dann gemeinsam in einer Chacra an den dort überreichlich wuchernden Orangen gestärkt, nachdem wir vergeblich nach dem Besitzer gerufen.
Aber solche kurze Bekanntschaft genügt hier zu Gastfreundschaft. Es ist das Merkwürdige, daß es hier in einsamer Gegend am Ende jeder Tagereise eine Posada gibt. Aber in Ortschaften fehlt oft genug jede Unterkunftsmöglichkeit. Wozu auch? Wer hierher kommt, hat selbstverständlich seine Geschäftsfreunde oder sonstigen Bekannten, bei denen er nächtigt, wie umgekehrt sie bei ihm, und andere Reisende gibt es nicht. Wohl hatte ich einen Empfehlungsbrief von der Regierung an alle Behörden. Aber von allen Behörden war augenblicklich niemand da, und so wäre ich fast in peinliche Verlegenheit gekommen, da die Nacht schon hereinbrach, wenn nicht mein Reisekamerad mich zu seinem „Compadre“ mitgenommen hätte, der ihm Gastfreundschaft gewährte. Dies geschah mit der größten Selbstverständlichkeit und natürlichsten Liebenswürdigkeit, und in der gleichen Weise nahm mich der Compadre auf, als kennten wir uns seit Jahren und als wäre es gar nicht anders denkbar.
Die junge Cholafrau war ein selten zartes, schlankes Geschöpf mit feinem braunem Gesicht, und es wirkte merkwürdig, wie sie demütig, sklavenhaft an der Wand lehnte[S. 209] und den Rest der Suppe löffelte, während wir um den Tisch vor vollen Fleischschüsseln und gefüllten Biergläsern saßen. Aber das ist nun einmal Landesbrauch.
Nach Tisch gingen wir ins Café an der Plaza: ein kleines Zimmer, Stühle und Tische, augenscheinlich aus den verschiedensten Häusern zusammengeliehen, ein Billard und in der Ecke auf einigen über Kisten gelegten Brettern die Bar. Es gab nur Schnaps; denn die Frachtführer hatten seit langem aus La Paz kein Bier gebracht. Aber gleichwohl war der Raum übervoll, und es mußte wohl ein sehr gutes Geschäft sein; Ausstattung und Betrieb waren mehr als wildwestartig primitiv und der Besitzer Schenk- und Zahlkellner wie Barkeeper in einer Person.
Als wir heimgingen, zerbrach ich mir schier den Kopf, wie wohl die Unterbringung für die Nacht sein sollte; denn ich wußte, daß das Haus aus einem einzigen Raum bestand, an den sich nach rückwärts nur ein offenes Dach anschloß, unter dem gekocht wurde. Allein unsere Gastfreunde schienen keine Schwierigkeit zu sehen. Als wir zurückkamen, lagen die Kinder schon schlafend auf der Bank, und uns beiden wurde, als sei es gar nicht anders denkbar, das einzige Bett als Schlafstätte angeboten. Natürlich lehnten wir ab. Aber es bedurfte erst eines endlosen Hin- und Herparlamentierens, bis sich unsere Wirte endlich fügten und die Frau des Hauses die Kinder von der Bank wieder ins Bett legte. Während wir auf Schaffellen auf dem Boden unser Lager bereiteten, legte sie mit größter Ungeniertheit Rock und Bluse ab, schlüpfte zu den Kindern, ihr Gatte dazu, und bald hörte man nichts als tiefe ruhige Atemzüge.
Die Luft war stickig; denn die Tür war fest geschlossen. Dazu machte sich bald das übliche Ungeziefer bemerkbar, trotzdem ich meinen Schlafsack so voll Insektenpulver geschüttet hatte, daß ich selbst kaum schnaufen konnte.
Mein Reisekamerad wachte auf, und so kamen wir ins Gespräch, flüsternd, während vom Bett in der Ecke her das Atmen der Familie zu uns herüberdrang.
Mir war schon unterwegs das eigenartige Braun und der scharfe Schnitt der Züge meines Reisekameraden aufgefallen, und so fragte ich ihn, woher er stamme.
„Araber, aus Damaskus; nach dem ersten Balkankrieg kam ich herüber.“
Ich mußte plötzlich daran denken, wie ich in den Dezembertagen jenes unglücklichen Krieges vor dem verzweifelten Angriff der Bulgaren auf Tschataldscha bei dem Ritt an die Front unweit Derkeskoj jenem frisch aus Damaskus eingetroffenen Araberregiment begegnete, das sich in Aussehen und Haltung so sehr von den bei Kirkilisse geschlagenen und nach der Tschataldschalinie zurückflutenden Türkentruppen unterschied.
Ich fragte ihn, ob er jenem Regiment angehört, und als er bejahte, folgte Erinnerung auf Erinnerung an jene Zeit und Gedankenaustausch über das, was dann kam, den Weltkrieg, den Zusammenbruch, den Sturz des Kalifats und das Sinken des Halbmondes.
Es war eine seltsame Unterhaltung, die sich in dem engen, finsteren, schwülen Zimmer entspann, während vom Bett her jetzt lautes Schnarchen herüberdrang und das unruhige Hin- und Herwerfen der von Ungeziefer geplagten Kinder.
„Ich gehe jetzt bald wieder hinüber“, meinte der Reisekamerad.
„Wohin?“ fragte ich. „In Konstantinopel sind die Engländer, in Kleinasien Griechen und Italiener, in Syrien die Franzosen.“
„Allah wird es wenden...“ Er brach ab. Aber es war, als füllte sich plötzlich das Zimmer mit einer unheimlichen, die Wände sprengenden Kraft, und als dröhnten in der Ferne Trommeln und wieherten Rosse.
Als ich am nächsten Morgen bei grauendem Tag weiterritt, war es unmöglich, den liebenswürdigen Wirten Bezahlung aufzudrängen. So hing ich wenigstens der Kleinsten eine Holzperlenkette um den Hals, die ich vorsorglich in mein Gepäck getan.
Dann reichte ich dem Araber die Hand. Wir wußten, daß wir beide dasselbe dachten, und so brauchte es zum Abschied nur das eine Wort „Inschallah! — Gott gebe es!“
Cañamina.
Im hochgelegenen Irupana war es kühl gewesen, wie an einem bewölkten Frühlingstag in Deutschland. Aber hat man den Paß hinter sich, ist stundenlang über den sanft sich senkenden Rücken geritten und hat den Abstieg in scharfen Serpentinen zum Bett des Rio de La Paz hinunter vollendet, eines bei La Paz entspringenden Quellflusses des Beni, so wird es wärmer und wärmer. Ab und zu sieht man zwischen Büschen, an deren Stelle mehr und mehr Palmen treten, den Fluß heraufschimmern,[S. 212] ausgegossen zwischen die steilen Felsmauern wie flüssiges Blei. Das erstemal erschrickt man, wenn man dieses zwei- bis dreihundert Meter breite, mattfarbene Band erblickt, — wie soll man da hinüberkommen? Aber bald sieht man, daß es das sandige, steinige Flußbett ist, das der Fluß nur in einzelnen schmalen Linien durchzieht.
Es wird schwül wie in einem Gewächshaus. Seltsame Pflanzen schießen zu beiden Seiten des Weges hoch. Haushohe Kakteen von einem weißlichen, verwitterten Graugrün, die aufeinandergetürmt sind wie Reste zerbrochener Säulen oder wie unheimliche, schlanke Monolithe. Von ihren Stacheln hängt ein seltsames fahlgrünes Moos herunter, das auch alle andern Bäume und Pflanzen zu überziehen beginnt, eine Wucherpflanze, zäh wie Draht, die auf alle Äste und Zweige klettert, das letzte Grün der Bäume erstickend, bis von den gebeugten, sterbenden Stämmen gleich Greisenbärten nur mehr das tückische Moos hängt, und sie, bis ins Mark zerfressen, zusammenbrechen.
Unten im steinigen Flußbett aber glüht und brennt die Sonne zwischen den hohen Felsmauern wie in einem Feuerofen.
Sorgfältig die Spuren zwischen den Steinen lesend, sucht und findet man die Furt. Bis über den Bauch geht dem Tier die schmutzig braune Flut.
Jenseits mündet ein Tal. Zwischen Urwaldrankwerk führt ein schmaler Pfad. Bald darauf ein Bananenhain und Bambusrohrhütten. Vor einer der Hütten hockt eine alte Negerin, vom Halse herunter hängt ein Kropf, nein, ein Dutzend Kröpfe, in der schlaffen Haut liegen sie wie Bälle in einem Netz. Ein junges Weib neben ihr platt[S. 213] auf dem Bauch, die straffen Brüste vor sich ausgebreitet und an jeder einen Bengel säugend.
Es sind Neger, die hier arbeiten, des Fiebers wegen, das den Indianer gleich dem Weißen angreift. Hier beginnt die königreichgroße Finca des Sindicato Industrial, die erste Finca des Syndikats „Miguillo“. Der Weg zur Hacienda führt durch eine Allee von Sisalagaven, ungeheuern Pflanzen, die ihre harten, scharfen, spitzen Blätter wie Schwerter über den Weg strecken, so daß es schwierig erscheint, unverletzt dazwischen durchzukommen.
Von hier an beginnt das lichte Grün des Zuckerrohrs, sich in der Ferne wie eine unendlich frische, saftige Wiese von der dunklen Tönung des Waldes abzuheben.
Kreuz und quer über den Fluß, bis das Tal sich weitet, die Hügel zurücktreten und mitten im lichtesten Grün zwischen Palmen und Orangenbäumen die blanken Wellblechdächer der Hacienda Cañamina, des Hauptsitzes des Syndikats, in der Sonne blinken.
Wo sengende Sonne und Wasser im Überfluß zusammenkommen, da wächst die Caña, das Zuckerrohr. So viel Wasser braucht die Pflanze, daß selbst der reichliche Regen hier in den Yungas nicht ausreicht und zwischen den Reihen der bambusartigen Stauden ständig die Fluten künstlicher Bewässerung rinnen müssen, welche die von den Bergen herunterstürzenden Gießbäche speisen.
Einundeinhalbes Jahr braucht das Zuckerrohr bis zur Reife, bis die Neger oder Indianer tagtäglich mit ihren meterlangen, schweren, breiten Messern in die Cañaverales, die Zuckerrohrfelder, hinausziehen, um das Rohr zu schneiden.
Harte Arbeit; denn glühend sticht die Sonne, und unermüdlich umschwirren die Arbeiter Schwärme bissiger Moskitos. Aber immer gibt es Ruhepausen, in denen das süße Rohr eifrig geschält und gelutscht wird. Da sieht man überall die schmatzenden, kauenden Gruppen die dicken Stengel zerbeißen, und aus den Mundwinkeln trieft der schwere süße Saft.
Bald geht man über schwankendes Gewirr hochgehäufter Rohre, bis die Mulas kommen, um sie zur Mühle zu schaffen.
Auch für die Mühle ist der hundert Meter hoch herabstürzende Gießbach belebende und treibende Kraft, der in enge Röhre eingezwängt zum Peltonrad hinunterschießt, um die Trapiche, das Walzwerk, zu treiben, zwischen dem die Caña bis auf den letzten Tropfen ausgepreßt wird.
Während sich das trocken ausgelaugte Rohr in hohen Haufen stapelt, um später als Feuerungsmaterial unter den Kesseln zu dienen, rinnt der Huarapu, der durch die Trapiche ausgepreßte Saft, in große Bottiche, in denen er sich zum Most wandelt, bis auf mancherlei Umwegen durch Destillation und Rektifikation als Endprodukt der Alkohol gewonnen ist.
Auch hier ist es nicht Zucker, der aus der Caña erzeugt wird; Alkohol bringt mehr Geld. Er bringt viel Geld. Die Lata zu 20 Liter wird zu 43 Peso verkauft, mitunter steigt der Preis bis auf 75 Peso. Ein Hektar mit Caña bestellt, produziert etwa 130 Latas Alkohol. Es muß ein glänzendes Geschäft sein.
Der Administrator ist auch sehr zufrieden und er denkt daran, den Betrieb zu vervielfachen. Der Alkohol[S. 215]bedarf im Land nimmt auch ständig zu. Der Administrator ist ein außerordentlich liebenswürdiger Wirt, und so unterlasse ich denn, daran zu erinnern, daß ein ganzes ehemals gesundes, kräftiges Volk langsam am Alkohol zugrunde geht.
Tirata.
Das Wasser stieg höher und höher. Jetzt reicht es schon über den Gurt. Aber schlimmer war noch die rasende Gewalt, mit der es zwischen den Granitblöcken einherschoß. Schwer kämpfte das Tier. Jetzt glitt es, sank. Schon fühlte ich seinen Kopf neben dem meinen, schwamm frei im Strom.
Aber als, statt zu versinken, der Maultierkopf noch immer an meinem Gesicht schnupperte, erwachte ich langsam aus dem Traum. Schaukelnd lag ich in der zwischen einem Eukalyptus und einer Kaktee ausgespannten Hängematte, und „Jutta“, meine Maultierstute, die ich neben dem Lager angebunden hatte, stieß mich ärgerlich mit dem Kopfe, da sie augenscheinlich ihre abendliche Ration aufgefressen hatte und mehr haben wollte.
Über mir glitzerte am tiefdunklen Nachthimmel die ganze Überfülle des südlichen Sternhimmels, und langsam kam die Erinnerung zurück.
„Reiten Sie auf keinen Fall allein durch den Fluß. Sie kennen die Furten nicht, und dann: wir sind schon weit in der Jahreszeit, von einem Tag auf den andern können die Wasser kommen.“
So hatte der Administrator von Cañamina dringend abgeraten. Aber ich hatte mir nun einmal in den Kopf gesetzt, den Weg über den Rio de La Paz zu nehmen, der eigentlich gar kein Weg ist, sondern ein Wandern im Flußbett mit hundertfältigem Kreuzen des Flusses, und stellenweise führt der Weg überhaupt mitten im Fluß, weil rechts und links nichts ist als steile Felsmauern.
Beim Abreiten von Cañamina sah es auch wenig verlockend aus. Der Himmel überzog sich. Es fing an zu tröpfeln, und wir kamen ziemlich durchnäßt nach Miguillo. Hier fing es in der Nacht aber erst richtig an, und ich verstand, warum man hier nicht „Regenzeit“ sagt, sondern „Zeit der Wasser“, und nicht „Es regnet“, sondern „Wasser fällt“.
Da es aber am nächsten Morgen besser wurde, ritt ich, noch in der Dunkelheit, los. Es wurde rasch hell, als ich an den Fluß kam. Allein von der Spur, von der sie in Miguillo gesprochen, war bald nichts mehr zu sehen; sie verlor sich völlig zwischen den Steinen.
Also aufs Geratewohl los, und wenn steil an das Flußbett herantretende Felsen zum Kreuzen des Flusses zwangen, sorgfältig Breite, Tiefe und Stärke der Strömung geschätzt, und hinein ins Wasser. Ärgerlich nur, daß die Fluten des Flusses, der allerdings auch den ganzen Dreck und Unrat der Hauptstadt mit sich führt, unter dem schmutzigen Braun nie erkennen ließen, was sich unter den Wogen und Wirbeln verbergen mochte.
Das erstemal ging es ganz gut, wenn ich auch bis über die Knie ins Wasser kam. Aber dann wurde ich leichtsinnig, und beim Passieren einer nicht ganz unbe[S. 217]denklich scheinenden Stelle gerieten wir bis über den Sattel unter das gurgelnde Wasser. Einen Augenblick schien es, als sollte das Maultier seinen Halt verlieren und als würden wir beide von der Strömung fortgerissen. Aber dann faßte das starke Tier wieder Fuß und arbeitete sich mit ungeheuerer Anstrengung ans Ufer. Tropfnaß waren wir, doch es war wenigstens nur beim Schrecken geblieben.
Aber als die Mula dann auch noch in einer langgestreckten sandigen Mulde einmal bis zum Gurt in Schlamm einbrach und ich sie nur durch raschestes Abspringen wieder herausbrachte, wurde ich vorsichtiger: ich suchte die Spur, bis ich sie fand, und hielt mich von da an ängstlich an die wenigen Merkmale zwischen den Steinen: ab und zu die Spur eines Hufeisens oder eines nackten Fußes. Da aber auch Wind und Wasser stellenweise sonderbare Zeichen in den Sand gegraben hatten, die menschlicher oder tierischer Spur täuschend ähnlich sahen, segnete ich die Verdauung der Mulas und Esel, deren „Tierisches, allzu Tierisches“, von Zeit zu Zeit freudig begrüßt, unverkennbare Beweise bildete, daß ich mich auf dem richtigen Weg befand.
So war ich in zwölfstündigem ununterbrochenem Ritt nach Ornuni gelangt, der ersten Tagesstation, d. h. ganz Ornuni besteht nur aus einer windigen schiefen Bambushütte, in der zwei alte Indianerinnen hausen. Aber es gibt hier wenigstens frisches Wasser, ab und zu Futter und einige Bäume, die bei Unwetter bescheidenen Schutz gewähren, und so ist der Platz zum Übernachten immer noch besser als das steile, kahle, steinige Flußbett.
Am nächsten Morgen ging’s früh wieder heraus; denn[S. 218] die Tagesstrecke war wieder lang, und das Schwierigste stand noch bevor: die Angosturas, die Felsengen.
Das Flußbett wird enger und enger. Immer häufiger geht es in ständigem Zickzack kreuz und quer durchs Wasser. Aber der Pfad, der unter den Felsmauern hinläuft, wird immer schmaler, bis er sich völlig im Wasser verliert.
Man steht vor einem Schlund. Zwischen senkrechten Felswänden, die zum Himmel ragen, rauscht unheimlich gurgelnd und wirbelnd der Bergfluß herab. Es hilft nichts. Der Weg führt im Fluß, hinein ins Wasser.
Ich habe keine Ahnung, führt der Pfad im Wasser am rechten, am linken Ufer, in der Mitte, geht es erst links, dann rechts? Es hilft nichts... hinein!
Bis an die Bügel, bis an die Knie, bis zum halben Oberschenkel steigt die Flut. Unheimlich gurgelt und rauscht es. Mit aller Macht kämpft das Tier gegen den Strom. In Windungen führt die Klamm. Man sieht nichts als die alles einschließenden Felsmauern, und unter sich die reißende, schmutzige Flut.
So ging es hintereinander durch drei Schluchten. Dazwischen schwer passierbare Engen, wo man auf und ab über Granitblöcke und Felsgeröll klettern mußte. Kurz vor meiner Reise las ich den Roman eines bolivianischen Autors, Alcides Arguetas, in dem dieser Weg im Fluß die Hauptrolle spielt und seine Passage als gefährlichstes Abenteuer hingestellt wird. Freilich, wenn die Wasser fallen und wenn von den Felsen herunter die „Mazamorra“ hereinbricht, der gefährliche Bergrutsch, dann mag es eine verteufelte Lage sein in den Angosturas,[S. 219] in denen man gefangen ist wie in einem unentrinnbaren, tückischen Käfig.
Und trotzdem die Sonne schien, war auch ich im Grunde recht froh, als ich die letzte Enge passiert hatte und am Horizont des sich weitenden Tals das stark leuchtende Grün von Tirata vor mir sah, der ersten Finca am Fluß.
La Paz.
Allerseelen. Die Glocken läuten. Übervoll sind die Kirchen. Man ist fromm und gut katholisch in Bolivien. In der Mitte auf den Bänken die Frauen und Mädchen der „Weißen“, olivbraun, im dunklen, den Kopf einhüllenden Manto, die sonst auf dem Prado flirtenden Augen auf das Gebetbuch gesenkt.
Die Orgel erklingt. In Seide und Gold eifert von der Kanzel der Priester: „Denkt der Verstorbenen, betet für ihre Seelen!“ Ja, ja, es sind die Malquis, die Toten, die wiederkommen und in ihre alten Körper schlüpfen, wenn man an sie denkt, unsichtbar zwar, aber darum nicht weniger wirklich. Sie sind mächtige Geister jetzt, die schützen und strafen können. Man darf ihrer nicht vergessen. Auch der Priester sagt es.
Es ist ein großes Fest, das für die Toten. Seit acht Tagen ist der Markt übervoll, weit über die Straßen hinaus gequollen, die er gewöhnlich füllt. Zu den Gemüsen und Früchten, die sonst feilgeboten werden, zu den Ocas, Tuntas und Chunos, zu den Bananen, Orangen und Limonen, zu den Ananas, Paltas und Datteln, zu dem[S. 220] Charqui, dem getrockneten Hammelfleisch, und dem Aji, dem brennend scharfen roten Pfeffer, sind noch als Votivgegenstände hinzugekommen die goldbemalten, nackten Holzpuppen, weiß natürlich, mit hellblondem Haar, Lamas und Puppen aus Teig. Vor allem aber sind Kuchen aufgebaut, über das Pflaster ausgebreitet, Kuchen in Hunderten von Arten und Formen, runde und eckige, Kringel und Brezeln. Ein europäischer Weihnachtsmarkt ist armselig dagegen.
Es wogt von roten, grünen, blauen, orangenen und violetten Ponchos und Sayas, den bunten Überwürfen der Männer und Frauen. Und die Indianer kaufen und kaufen. Der Indianer, der sonst für einen „Bob“ stundenweit die schwerste Last schleppt, der für ein Zehncentavostück als Draufgabe eine Viertelstunde lang in der demütigsten, jämmerlichsten Weise betteln und winseln kann, wirft heute mit den Fünf- und Zehnpesoscheinen nur so um sich. Er, der sonst armseliger vegetiert als ein Hund, lebt und arbeitet ja nur für seine Feste. Um wenige Tage zu schlemmen und zu prassen, darbt er ein Jahr lang.
Mit riesigen Körben kommen die Indianer und kaufen, kaufen, bis die Behälter übervoll sind und sie zu zweit, zu dritt und viert schleppen müssen. Aber man muß sich gut vorsehen. Die Toten kommen ja wieder, nehmen Gestalt an, essen und trinken mit. Sie sind tüchtige Esser und wackere Zecher, die Toten.
Wenn man feiert in Bolivien, tut man es nicht unter einer Woche. Am Tage vor Allerheiligen geht man zuerst auf den Friedhof, und erst sechs Tage danach verklingt die letzte Rohrflöte.
Natürlich ist das Fest auf dem Friedhof. Dort wohnen ja die Toten, und man muß zu ihnen kommen. Ist es entheiligend, zwischen Gräbern zu schmausen, zu zechen und zu tanzen? Ach nein, höchstens fremdartig für ungewohnte Augen; denn die Toten, der verstorbene Vater, der verschiedene Gatte, das tote Schwesterchen sitzen ja mitten darunter, essen und trinken mit, lachen, scherzen und freuen sich mit den Lebenden.
Ein lebensgefährliches Gedränge herrscht vor dem Friedhof, der hoch über der Stadt liegt und einen Blick auf das Eis- und Felspanorama der Anden bietet, der sich mit dem schönsten in der Welt messen kann. Auto auf Auto rattert heran. Wo kommen sie nur alle her? Und in ihnen leuchtet es in bunten Farben. Was sonst barfüßig, lastenschleppend über das holperige Pflaster trottet oder von früh bis spät auf dem Markt oder in den kleinen Kramläden auf dem Boden hockt, kommt heute im Auto daher. Besonders die Cholas, die Mischlingsfrauen, prangen in ihrem ganzen Staat. Seidene Tücher über weit abstehenden, kurzen Brokatröcken, graue oder lichtgelbe elegante Schnürstiefel, die bis über die halbe Wade reichen, die Ohrläppchen heruntergezogen von den schweren Perlengehängen. Auch die Indianerinnen, die sonst von Schmutz starren, sind heute in neuen, bunten Tüchern. Es flimmert, leuchtet und flammt in allen Farben.
Kaum kann die Kette der Schutzleute vor dem Gittertor des Friedhofes die Masse bändigen. Man ist zivilisiert in La Paz und duldet die tollsten Orgien nicht auf dem Friedhof. So trifft man eine Auswahl unter denen, die hineindürfen.
Diese Glücklichen lassen sich zwischen den Gräbern nieder. Erst ein Gebet, dann werden die Körbe ausgepackt. Wie riesige farbige Blumen sehen die kauenden, schmausenden Frauen in ihren bauschigen Röcken zwischen den niederen Miniaturgewölben auf den Gräbern aus.
Das andere Volk aber lagert sich rings um den Friedhof. Er wäre ja auch viel zu klein, all die Tausende aufzunehmen. Bis weithin an den Rand der Puna, der Hochfläche, leuchtet es bunt wie Frühlingsblumen in den Wiesen und in den Gerstenfeldern.
In zwei in spitzem Winkel aufeinanderstoßenden Reihen sitzen sie, auf der einen Seite die Männer, auf der andern die Frauen. In der Mitte zwischen den Vorräten die einladenden nächsten Angehörigen der Verstorbenen. Eine alte Frau teilt aus. Sie häuft die Teller: Kuchen, Früchte, Zuckerrohr. Die bereits Bedachten warten mit dem Teller auf den Knien, bis alle versehen sind. Dann ein Gebet und ein Kreuzschlagen, und mit einem Ruck werden als erste die Schnapsgläser geleert, die zwischen Kuchen und Früchten standen.
Ja, Schnaps! Das ist ja das Wichtigste. In mächtigen Blechkannen wurde er heraufgeschleppt. Und ein Mädchen steht auf, macht die Runde mit solch einem Blechtopf und schenkt immer wieder ein.
Lallen und Rufen, Schwelgen und Lallen, und dazwischen das monotone Murmeln von Gebeten. Bis irgendwo die erste Flöte erklingt, und der erste Tanzrhythmus anhebt. Einer steht auf: „Unser Toter war fröhlich in seinem Leben, und er will, daß auch wir es sind.“ Das ist das Zeichen zum Tanz. Freilich die[S. 223] hauptstädtische Polizei schließt früh die Friedhofstore. So zieht sich der zweite Teil des Festes immer mehr auf die Felder, die Umgebung und in die Häuser zurück.
Hier aber tönen jetzt in der Dämmerung überall die Rohrflöten zu den großen Trommeln. Und wer es hat, leistet sich noch ein paar Blechinstrumente dazu.
Inkamusik! Uralte Melodie. Sie kennt nicht mehr als fünf Noten. Es ist ein monotoner, aber unheimlich aufreizender Klang. Ein Rhythmus, der das Blut peitscht.
Sie tanzen. Ein einförmiges Stampfen und wildes Drehen. Die Röcke fliegen. Die Köpfe schaukeln im Takt. Nicht Ordnung noch Regel gibt es bei diesem Tanz. Da tanzen Mann und Weib, erhitzen sich immer mehr, greifen sich, fassen sich bei den Händen, wirbeln eng aneinandergepreßt. Da tanzt ein Mann allein oder eine Frau. Oder einer greift sich zwei Frauen oder ein Mädchen zwei Männer.
Die Nacht fällt. Unermüdlich quäkt die Rohrflöte, dröhnt die Trommel. Das Blut brennt, die Leiber taumeln. Aus dem lehmgestampften Hof schwankt ein Paar hinaus. Männer werfen Mädchen zwischen den grünen Halmen der jungen Gerste zu Boden. „Ya bailó“, „sie tanzte schon“, sagt man von dem Mädchen, das seine Jungfernschaft verlor. Es ist keine Schande, im Gegenteil. Es ist Bestimmung und Wunsch der Toten. Tod fordert Zeugung. Die Flöte quäkt. So sproßt aus dem Fest der Toten neues, junges Leben.
Copacabana (bolivianisch-peruanische Grenze).
Sobald der Dampfer die Enge von Tiquina hinter sich hat, beginnt der Tag zu sinken. Wie eine dunkle Masse hebt sich bald über die Flut die Sonneninsel des Titicacasees, deren Zacken eben noch scharfe Konturen in den Horizont schnitten.
Dämmer und Nebel weben. Es ist, als stiegen Gestalten aus dem See, dessen Inseln und Ufer Sitz und Wiege der Urvölker des Kontinents waren. Seine Wasser spülen an die Kaimauern der längst versunkenen Metropole Tiahuanacu. Von der Sonneninsel aus traten die Inkas ihren Eroberungszug an. Schatten vergangener Zeiten umwallen das Schiff. Das Herz klopft lauter.
Plötzlich erklingen Glocken hell und stark. Der volle Mond steigt auf, die Nebel versinken, die Schatten zerreißen. Unmittelbar aus dem See erheben sich steile Felsen, dazwischen öffnet sich ein weites Tal, aus dem die Glocken tönen. Licht schimmert.
Copacabana, die Wallfahrtskirche, die als kostbaren Schatz die „heilige Jungfrau vom See“ birgt, nimmt jetzt den Platz ein, wo ehemals Inkapriester opferten. Die Glocken klingen lauter, der Spuk versinkt.
Wie ein mächtiger Tempel hebt sich der kuppelreiche Bau über die sich tief duckenden niederen Lehmhütten. Eine sauber gepflasterte Straße führt mitten hindurch. Plötzlich[S. 225] treten die Häuser zurück, ein weiter Platz öffnet sich. Hinter zinnenreichen Mauern liegt die Kirche. Geheimnisvolle Feuer flackern an ihrem Fuß. In dem ungewissen Dämmer erscheint der Bau wie eine phantastisch-gewaltige Burg.
Die Feuer vor der Kirche sind Garküchen, die köstlichen heißen Kaffee schenken. Die darumhockenden Indianerinnen weisen den Weg in die Pilgerhäuser, wo die gastfreien Padres den Wallfahrern kostenfreie Unterkunft gewähren.
Copacabana weist dieses Jahr nicht den sonst üblichen Massenbesuch auf. Der Dampfer war fast leer. Mitfahrer erzählen mir, daß sich in früheren Jahren die Passagiere Kopf an Kopf drängten. Revolution, Indianerunruhen, Kriegsdrohung mögen die Ursache sein, und vielleicht nicht zum mindesten die Verdoppelung der Tarife durch die Dampfergesellschaft. Teuerung auch hier.
Aber man genießt den Zauber dieses Ortes, der sich an landschaftlicher Schönheit mit den berühmtesten Wallfahrtsstätten des alten Kontinents messen kann, vielleicht noch mehr, wenn nicht alle Plätze von Menschen überfüllt sind. Und die Kirche wird trotz des geringeren Besuches nicht leer. Unermüdlich ertönt hier die Huldigung an die Jungfrau. Blumengeschmückt hebt sie sich auf ihrem Tragsessel über die Menge, im Blumenschmuck prangt die ganze Kirche. Das Braun und Gold der alten Altäre verschwindet völlig unter Rosen und andern Blumen.
Andächtig liegt die Menge auf den Knien, Indios und Cholas in bunter Anzahl. Dazwischen die Frauen, die ihre Kinder vom Rücken herabgenommen und vor sich gelegt haben. Die grellen Farben der Ponchos und[S. 226] Frauentücher leuchten wie bunte Flammen. Die Orgel tönt. Unermüdlich geht der Gesang: „Heilige Jungfrau Maria, Mutter Gottes, bitt für uns.“
Hinter der Kirche träumt der stille Frieden des Konvents. Die Inkablume läßt ihre roten Glocken hängen. Ein Brunnen rauscht.
Vor dem Tor hockt noch immer der zerlumpte Bettler, der sich, wenn jetzt der Tag zur Neige geht, enger in seinen zerrissenen Poncho wickelt.
Der Weihrauchduft hängt noch in den Kleidern, die Hymnen klingen nach im Ohr, als ich den Hügel hinansteige. Einen intensiven Goldglanz breitet die sinkende Sonne über die Landschaft. Wie sie jetzt in den See taucht, färbt sich seine Flut blutrot. Ein glühendes Kohlenbecken, liegt der See zwischen den Felsen. Krieg, Krieg, ruft das flackernde Rot, aber da tönen von unten herauf wieder Glocken. Das allzu grelle Licht verblaßt zu sanftem Rosa, und in stillem Frieden verscheidet der Tag. —
In seinem bekannten Werke über Südamerika bringt Jakob von Tschudi die Nachbildung einer Darstellung einer Prozession zur Ehre der Muttergottes von Copacabana. Die Originalzeichnung rührt von einem einheimischen indianischen Künstler her, und sie ist so eigenartig in ihrer naiven und doch bezeichnenden Schilderung, daß ich die Leser meines Buches mit ihr bekannt mache.
Copacabana.
Das Maschinengewehrfeuer war verhallt, die Revolution hatte gesiegt. Bewaffnete Aufständische an allen Straßenecken, die Gefängnisse voll von Ministern und Beamten der gestürzten Partei. Auf der Plaza von La Paz wollte das Viva-Rufen auf die neuen Machthaber kein Ende nehmen.
Aber mit sinkendem Tag legte sich der Jubel. Gerüchte rannten durch die Stadt, Gespenster. Begegnende tauschten hastige Worte: Was werden die Indios machen?
Die Indianer! Gewiß, die neue Revolutionsregierung hatte sich ja auch an sie gewandt. Recht und Freiheit allen Unterdrückten! Aber man konnte nie wissen. Auch als Bundesgenossen konnten sie gefährlich werden. War es nicht in der Revolution der neunziger Jahre, als die Konservativen gestürzt wurden? Damals hatte man die Hochlandsindianer bewaffnet; aber schließlich kannten sie weder Freund noch Feind, nur noch Blancos, Weiße, gegen die jahrhundertelang gebändigter Haß endlich Rachemöglichkeit fand. Eine ganze Schwadron, die sich, von den Indios gejagt, in eine Kirche geflüchtet, wurde dort abgeschlachtet, daß Fliesen und Pfeiler im Blut schwammen....
Die Nacht verging ohne Störung; — auch die folgenden Tage. Aber die Gerüchte blieben. Auf der Puna, dem Andenhochland, waren die Indianer aufgestanden.
In graubrauner Monotonie dehnt sich die grandios-[S. 228]traurige Unendlichkeit des Hochplateaus. Auf den Stationen Militär, Gendarmen, Gefangene. Es sind nur einige Fincas, heißt es, auf denen die Indianer sich empörten, die Gutshäuser angezündet und die Verwalter niedergemetzelt haben. Man wird mit ihnen bald fertig sein. —
Hinter der Kühle des Kreuzgangs des Klosters am See, den blutrot die Inkablume umrankt, liegt das Zimmer des Priors. Wir sitzen beisammen und plaudern. Neben der Bettstatt steht ein Gewehr. Auch in den Zellen der Mönche sah ich die Waffe.
„Warum?“
„Man kann nie wissen“..., über das kluge, faltenreiche Gesicht huscht kaum merkbares Lächeln, „— freilich, die Jungfrau von Copacabana ist unser bester Schutz. An sie werden sich die Indianer nicht wagen. Aber immerhin — es ist besser so.“
Die heilige Jungfrau von Copacabana ist mehrere hundert Jahre alt. Die ersten bekehrten Indianer schufen sie. Vielleicht wollen sie kommen, sich ihr Eigentum wiederzuholen.
Längs des gegenüberliegenden Seeufers dehnen sich kilometer-, meilen-, königreichweit die Fincas Goytias. Ein typisch amerikanisches Schicksal: vom indianischen Maultiertreiber brachte er es zum vielfachen Millionär und einflußreichsten Manne im Staat. Heute liegen die Fenster seines Palastes in La Paz in Scherben. Er selbst ist landflüchtig.
Die Hörigen auf seinen Gütern, die er mehr bedrückte als jeder Weiße, trotzdem er oder vielleicht weil er eines Stammes, einer Rasse mit ihnen ist, witterten Freiheit.[S. 229] Sie standen auf und schlugen ihre Sklavenhalter nieder. Die Revolution hatte doch Freiheit und Gerechtigkeit gebracht!
Aber keine Revolution kann an den Grundlagen ändern, auf denen dieser Staat ruht. Es ist die harte Herrschaft über die Masse der Farbigen, die eine kleine Schicht ausübt, die sich Blancos nennt, in deren Adern aber viel Indianerblut fließt. Und so schickt auch die neue revolutionäre Regierung Truppen gegen die Empörer, muß es tun, um ihrer eigenen Existenz und Sicherheit willen.
Die Truppen tun ihre Arbeit wie immer. Kurz, blutig, grausam. Sie tun es, obwohl ihre Haut die gleiche Farbe aufweist, ihre Züge den gleichen Schnitt wie jene, auf die sie ihre Maschinengewehre richten, sie tun es, obwohl sie selbst auf eisig kalter, winddurchbrauster Puna auf dem Lehmboden armseliger Hütten das Leben empfingen und aufwuchsen.
Gefangene überall, an allen Stationen, auch in La Paz. Offen werden sie über den Markt geführt. Die grauen Uniformen säumen die bunten Ponchos ein, aber die Gesichter sind dieselben. Eigentlich ist es nur eine dünne Decke, die die Herrschaft der „Weißen“ trägt, fatalistischer Glaube an die Macht der Blancos und die Uneinigkeit der Ureinwohner.
In dem Bündel eines der Indianer, das dieser heimlich fortzuwerfen versuchte, fand man noch einen mit Chunos zusammengekochten menschlichen Arm.
Es ist ein uralter, unerbittlicher Haß, der sich unter sklavischen Formen verbirgt und der unter der Decke glüht.
La Paz.
Eines schönen Tages wird nach Bolivien ein findiger Yankee kommen, dessen Sinnen nicht nur auf Minen und Bergwerke, auf Kupfer und Zinn eingestellt ist, wie es bisher bei allen seinen Landsleuten war, sondern der auch einen Blick für die unendliche Schönheit der Landschaft übrig hat. Er wird zu seiner Überraschung finden, daß dieses von Fremden und Touristen noch kaum berührte Land dicht aneinanderreiht: eine Eis- und Bergwelt, gegen die die Schweizer Berge klein und ärmlich erscheinen, die Tropenwunder Indiens und die gesunde, trockene Hitze Ägyptens. Und dieses alles ist von New York aus — sind erst einmal die Verbindungen ausgebaut — nicht schwerer erreichbar als Europa. Dann werden sich dort, wo bisher nur ärmliche Indios ihre Lamas trieben, Kurhäuser, Hotels und Sanatorien erheben. In weniger als Tagesfrist wird man im bequemen, bald zu heizenden, bald zu kühlenden Aussichtswagen durch alle Klimate der Welt fahren können, und auf die bisher unersteigbaren Eisberge werden bequeme Bergbahnen leichten Zutritt ermöglichen.
Doch halt! Eine Schwierigkeit vergaß ich, eine Sperre, die die Natur zog und die vielleicht doch verhindert, daß hier auf dem Dache Südamerikas einmal der bevorzugteste Luftkurort der New Yorker „Upper Ten“ ersteht. Die bolivianische Hochebene, von der aus die Bergwände gen Himmel streben und von der schluchtartig abstürzende[S. 231] Täler unmittelbar in die subtropischen und tropischen Provinzen hinunterführen, liegt 4000 Meter hoch. Nur ein ganz gesundes Herz vermag diese Höhe zu ertragen, und selbst den Gesunden, Kräftigen fällt in der ersten Zeit oft genug die Soroche, die Bergkrankheit, an. Obwohl ich selbst ohne allzu fühlbare Beschwerden von Antofagasta aus diese Höhe erreichte, so bekam ich doch die ganze Gewalt der Bergkrankheit zu spüren, als ich allzu leichtsinnig bereits am ersten Tag auf den Vulkan Ollague zu klettern versuchte. Von seinem Krater trieb mich in 5000 Meter Höhe die Soroche zurück.
Später lernte ich auch die 5000-Meter-Zone ohne Atemnot und Herzbeklemmung erreichen. Allein die Beschwerden und Schwierigkeiten der dünnen Luft steigen im quadratischen Verhältnis mit jedem Meter weiterer Höhe, und so ist noch ein weiter Schritt von den 5000 bis zu den 6000 und 6600 Meter Höhe, die die Eisspitzen des bolivianischen Bergmassivs erreichen und überschreiten.
Hierin und in dem Mangel jeglicher alpiner Hilfsmittel, in dem Fehlen von Schutzhütten und Stützpunkten, in der Unmöglichkeit, Führer oder Träger zu beschaffen, liegt der Grund, daß die ganze Bergwelt der bolivianischen Fels- und Eisriesen bis heute so gut wie unerschlossen ist; der Anfang zu einer alpinen Erforschung wurde erst vor einigen Jahren gemacht.
Ein Unternehmen wie die geplante Besteigung des Mount Everest beschäftigte monatelang die ganze Welt. Aufsätze und Bilder von dieser Expedition gingen, trotzdem sie nicht zum Ziele kam, durch die Presse aller Länder. Von den erfolgreichen, kaum weniger schwierigen[S. 232] Versuchen aber, die ein paar junge, unternehmende Deutsche an die Eroberung der Eisspitzen des „amerikanischen Himalajas“ wagten, ist kaum über Bolivien hinaus Kunde gedrungen.
Vier Deutsche, Adolf Schulz, Rudolf Dienst, Eduard Overlack und Bengel, waren es, die während des Krieges auf dem 6405 Meter hohen Illimani die deutsche Fahne aufpflanzten. Rudolf Dienst und Lohse bezwangen außerdem den um ein weniges niedrigeren, aber noch schwerer ersteigbaren Huaina Potosi, während sich den Anstrengungen des unermüdlichen Rudolf Dienst im Verein mit Schulz schließlich selbst der höchste Berg Boliviens, der Illampu, beugen mußte, an dessen steilen Eiswänden im Jahre 1898 der englische Bergsteiger Sir Martin Conway gescheitert war.
Monatelang hatte ich in La Paz von meinem Häuschen aus, das wie ein Nest am Berghang hing, das Massiv des Illimani vor mir. Ich sah es morgens in dem intensiven Rot des Rosenquarzes aufleuchten und sah es über das schimmernde Weiß seiner Schneefelder und Gletscher und über den Purpur des Abendglühens bis in die tiefen Schatten der blauen Stunde verdämmern. Einmal umritt ich in tagelangem Ritt das ungeheuere Massiv dieses Bergblockes und erlebte, zwischen Palmen und Bananen reitend, das Märchenwunder, aus blauem und grauem Felsgetürm die blendend weiße Eisspitze des Berges in den tiefblauen Himmel stoßen zu sehen.
Um einen Begriff von den Schwierigkeiten der Besteigung des Illimani zu bekommen, muß man sich klarmachen, daß die indianischen Träger in blinder Gespenster[S. 233]furcht vor den Berggeistern sich weigerten, die Gletscher zu betreten, daß Decken, Schlafsäcke und Lebensmittel unter der Firngrenze zurückgelassen werden mußten. Ohne genügende Mäntel, nur mit dem nötigsten Proviant wurde die Eisregion angegangen, nachts hockten die Bergsteiger frierend auf dem blanken Eis, tagsüber erklommen sie die Felsgrate und schleppten obendrein die schwere Fahnenstange mit der deutschen Flagge in der eiskalten, dünnen Luft.
Dabei empfingen die kühnen Besteiger, als sie nach ungeheueren Anstrengungen und Mühen schließlich wieder heruntergestiegen waren, zunächst nur Angriffe, Hohn und Spott. Es war mitten im Krieg, und man war um diese Zeit in Bolivien nicht sehr deutschfreundlich.
Die Behauptung der Bergsteiger, den Illimani bezwungen zu haben, wurde zunächst glatt als Lüge abgetan. Man suchte den Gipfel des Berges nach der angeblich dort aufgepflanzten Fahne ab, und als man sie nicht entdeckte, wurde von der Geographischen Gesellschaft von La Paz ein Dokument aufgesetzt, das das Nichtvorhandensein der Fahne feststellte und die Behauptung von der Ersteigung als unwahr zurückwies. Dieses Dokument sollte gerade im Observatorium der Jesuiten unterzeichnet werden, da stürzte einer der Herren, der nochmals mit dem großen Teleskop die Bergspitze abgesucht hatte, aufgeregt in das Beratungszimmer und schreckte die dort Versammelten mit dem Rufe: „Die Fahne ist da!“ Die Beleuchtungsverhältnisse hatten sich geändert, und tatsächlich konnte man deutlich die Flagge sehen.
Nun brach aber erst recht ein Sturm der Empörung[S. 234] aus, und unter Führung der alliiertenfreundlichen Presse entrüstete sich das ganze Land, daß man gewagt habe, die deutsche Fahne auf dem bolivianischen Berg aufzupflanzen.
Wochenlang dauerten diese Schmähungen und Angriffe. Die kühnen Bergsteiger ließen sich dadurch nicht anfechten. Es kam ihnen nicht auf den Ruhm, sondern lediglich auf die alpine Leistung an, und sie gingen darum nur noch unauffälliger an die weiteren Erstbesteigungen, die sie vorhatten. In der Folge wurde der unersteigbar scheinende Grat des Huaina Potosi bezwungen und endlich auch der höchste Gipfel Boliviens, der 6617 Meter hohe Illampu.
Diese letzte Besteigung war die kühnste von allen. Nach den ersten abgeschlagenen Versuchen, die Spitze zu erreichen, kehrten die beiden Männer, Dienst und Schulz, erschöpft in das letzte Lager zurück, das in einer Eishöhle aufgeschlagen war. Der Proviant war bis auf geringe Reste verzehrt. Die Träger, Bergarbeiter, konnten in ihrem Bergwerk nicht länger entbehrt werden, und man hatte sie mit den Decken und Schlafsäcken hinuntergehen lassen müssen. Die beiden gaben trotzdem den Versuch nicht auf. Da man noch eine Nachtrast im Eis ohne die Gefahr des Erfrierens nicht wagen durfte, ruhten sie den Tag über in der Sonne aus und gingen daran, mit Anbruch der Nacht beim Scheine des Mondes die Eisspitze zu erklettern. Nachdem sie Tag und Nacht geklettert, erreichten sie um 4 Uhr nachmittags in rasendem, eisigem Sturm die Spitze. Mit frosterstarrten Händen pflanzen sie eine kleine Fahne auf und müssen[S. 235] dann eilen, wieder hinunterzukommen. Vor sich haben sie keinerlei Stützpunkte mehr. Die Träger sind schon unten im Bergwerk. Da Gefahr besteht, daß sie in ihrem erschöpften Zustand den ganzen, auf dem Anstieg eingeschlagenen Weg nicht mehr leisten können, beschließen sie, auf gut Glück eine neue kürzere Linie zu versuchen, durch den großen Eisschlund, der sich zwischen dem Illampu und seinem 6560 Meter hohen Zwillingsgipfel Ancohuma auftut. Das Wagnis ist ungeheuerlich. Ist auf dieser Linie der Abstieg unmöglich, so fehlt den Erschöpften die Kraft, umzukehren und die Anstiegslinie wieder zu erreichen. Allein das tollkühne Wagnis gelang, und in etwa elf Stunden führten sie den Abstieg aus von den 6600 Metern des Gipfels bis zu 3260 Meter, wo das rettende Bergwerk sie aufnahm.
Arica.
Arme Mädel gibt’s, so unglückliche gibt’s... (Hay pobres mujeres, hay tan desgraciadas!) Mit Begeisterung sangen die Soldaten im Kupee, aber was dann folgte, konnte ich nicht verstehen, so laut kicherten die Indianermädel; es mußte wohl sehr unpassend sein, denn sie wurden rot, soweit das bei ihrer braunen Haut überhaupt möglich war, und stolz und triumphierend sahen sich die Soldaten um und fingen das schöne Lied immer wieder von vorne an.
Allein mit einemmal stockten sie mitten im Vers, es gab einen furchtbaren Ruck, alles purzelte durcheinander,[S. 236] der Zug stand. Die Gleise entlang liefen Leute, bauten einen Apparat auf, warfen einen Draht über die Telegraphenleitung und fingen an zu telegraphieren.
Ich stieg aus und ging nach vorn. Sehr weit über die Lokomotive hinaus kam ich nicht. Eine Mazamorra war heruntergebrochen. Ein unheimliches Bild: ein breiter, wandernder Strom zähen Lehmes, der sich die Hänge herunterwälzte. Fast sah es aus wie eine Heerschar von Ameisen oder wimmelnden Würmern, endlos, unaufhaltsam, unabsehbar.
Arbeiter kamen angelaufen, Scharen von Indianern, Spaten und Hacken über den Schultern, telegraphisch heraufgerufen von La Paz, das man noch unten im Grunde im Abendlicht verdämmern sah. Sie gruben und hackten, zogen Kanäle, daß das Wasser abfloß, und stauten den erhärtenden Schlamm beiderseits der Schienen. Ein Aufseher probierte, um den Weg abzukürzen, über die Morastdecke zu kommen; bis über die Knie sank er ein. Der Schlamm wollte ihn nicht wieder freigeben, wie mit Fesseln hielt er ihn gebunden. Grauenhaft, wenn einen auf einsamem Ritt in engem Tal die Mazamorra überfällt ...
Am folgenden Morgen passierten wir fröstelnd die dichtverschneite chilenisch-bolivianische Grenze. Dann ging’s hinunter in rasender Fahrt, eine Spirale hinunter, in die brennend heiße Wüstenzone der Provinz Tacna.
Sand, Stein, Staub. Nackter Fels, glühend, in sengender Sonne. Keine Pflanze, kein Tier und im Gegensatz zu den Salpeterprovinzen weiter im Süden auch kein Mineral. Tacna ist das Symbol der Unfruchtbarkeit,[S. 237] und dennoch kämpften drei Nationen blutig um den Besitz dieser Provinz, heute noch streiten sie sich darum. Noch war keine Einigkeit um ihre endgültige Zugehörigkeit zu erzielen, und jeden Augenblick kann neu der Krieg ausbrechen, der die kaum zur Ruhe gekommene Wirtschaft dieser jungen, unruhigen Länder wieder auf Jahrzehnte vernichten würde. — Mazamorra.
In Arica, der Hafenstadt der Provinz, wächst ein bißchen Grün, auf das man sehr stolz ist, und das blauende Meer hilft mit, die Trostlosigkeit der Landschaft zu überwinden. Vom Dampfer aus sieht man noch lange den Morro, den Steilfels, den die Chilenen im Pazifikkriege stürmten.
„Um des Morro willen, um des chilenischen Blutes willen, das diesen Fels gefärbt, können wir Tacna und Arica niemals wieder aufgeben“, hatten mir die Chilenen gesagt.
„Von diesem Fels“, erzählten mir die Peruaner, „stürzten die Chilenen die Gefangenen ins Meer hinunter. Diese Schmach wird erst gesühnt sein, wenn das rot-weiß-rote Banner Perus wieder über dem Morro flattert.“
Wer den Weltkrieg mitgemacht, kann nur traurig die Achseln zucken, kein Volk lernt vom andern.
Die schwarzen, feinen Striche der Langrohrkanonen heben sich noch lange vom klaren Himmel ab. Der Südchilene, der unverkennbar die Spuren deutschen Blutes im Antlitz trägt, streckt den hageren Arm aus und zeigt seiner Frau den Fels; als sechzehnjähriger Junge hat er ihn mitgestürmt. Die Frau an seiner Seite ist klein, zierlich, gazellenhaft, mit der pfirsichweichen, bronzebraunen Haut[S. 238] der Peruanerin. Um sie herum auf der auf dem Deck ausgebreiteten Matratze spielen drei blonde Kinder.
Auch die Frau an meiner anderen Seite ist bildschön. Einen Mann hat sie nicht, nur zwei schwarzlockige, schmutzige Kinder. Die Matratzenlager der beiden Familien pressen mein Feldbett so eng zusammen, daß kaum Raum daneben bleibt. Übervoll ist das Deck. Hier sagt man nicht „Zwischendeck“, geschweige denn „Dritte Klasse“, sondern einfach „Deck“. Die Schiffsgesellschaft gibt nicht mehr als das Recht, sich irgendwo auf dem Deck einen Platz zu suchen und dazu mittags und abends einen Löffel Bohnen. Dafür verlangt sie, für die Strecke von Arica nach Valparaiso, 85 chilenische Peso. Für den Gegenwert in Mark fuhr man im Frieden von Hamburg dorthin erster Klasse.
Ich fahre mit auf „Deck“ mitten unter den Rottos, den chilenischen Salpeterarbeitern. Es ist der beste Weg, sie kennenzulernen und zu erfahren, welche Strömungen die Massen bewegen. Immerhin, auf die Dauer ist das Vergnügen zweifelhaft. Wir fahren fast acht Tage, der Dampfer schlingert stark, alles ist seekrank. Auch alles übrige wird auf Deck erledigt. Meine Nachbarin, die ohne Mann, ist so seekrank, daß sie sich kaum rühren kann. So bleibt mir als Kavalier und schon im eigenen Interesse nichts anderes übrig, als ihr beizustehen. Dazu gehört auch, das Töpfchen über Bord zu gießen. Unter uns ist die erste Klasse. Manchmal weht der Wind stark schiffwärts. Dann werden die da unten von meiner Tätigkeit nicht sehr erbaut sein. Macht nichts, in der ersten Klasse können sie auch einmal etwas abbekommen.
Oben auf Deck ist alles rot, sozialistisch, maximalistisch. Man lebt nicht umsonst jahrelang in der Hölle der Salpeteroficinen. Sobald der Dampfer auf der Reede eines Hafens hält und es mit der Seekrankheit etwas besser geworden ist, wird eifrig diskutiert: Für und gegen Alessandri. Oder es wird gesungen, mit wahrer Inbrunst und Andacht. Die Frauen singen mit. Mitschiffs liegt neben ihrem Mann ein starkes, breithüftiges Weib. Die mächtigen Schenkel deckt nur ein dünner Rock. Sie hält ein schmutziges, abgegriffenes Heftchen in der Hand und sie läßt keine Strophe aus. Zu ihren Füßen spielt der Säugling. Als er zu schreien anfängt, knöpft sie die Bluse auf, legt die starken, gelblichbraunen Brüste frei und zieht, ohne die Stellung zu verändern, den Säugling heran, daß er daran liegt wie ein kleines Tier. Keinen Augenblick stockt dabei ihr Gesang, und in dem langgedehnten „Socialiii-sta“ liegt unendliche Hingegebenheit und inbrünstige Hoffnung.
Mit dieser Hoffnung und Inbrunst sahen sie Alessandri den Präsidentenstuhl besteigen. Noch trägt ihn dieser Glaube. Wird er ihn sich bewahren können?
Am Tage nach der Landung in Valparaiso bin ich in Santiago bei Alessandri im Präsidentschaftspalais. Er ist derselbe geblieben, der er als Kandidat des Volkes war. Ich wohne einer öffentlichen Audienz bei. Hunderte von Anliegen muß er in einem Nachmittag erledigen. Dabei liegt schon ein voller Arbeitstag auf ihm. Man merkt ihm weder Ermüdung noch Nervosität an; zu der ärmlichen Frau im zerrissenen Rock spricht er in gleicher Weise wie zum hohen Beamten.
„Sind noch viele Besucher da?“ fragt er den Adjutanten.
„Der ganze Saal ist voll.“
Aber Alessandri findet doch noch eine halbe Stunde für mich. Ich gehe von ihm mit dem gleichen Eindruck, den ich schon vor Monaten hatte, als er noch ein von allen besitzenden und führenden Schichten der Gesellschaft heftig befehdeter „Bolschewist“ war.
Die Aufgabe, die er sich gestellt, ist fast übermenschlich. Sie ist: einer kurzsichtigen, zäh an ihren Vorrechten festhaltenden oligarchischen Adelsclique soziale Reformen und Zugeständnisse rechtzeitig abzuringen, um zu vermeiden, was sonst unvermeidlich scheint: die Mazamorra, die anarchische, blutige, soziale Revolution.
Montevideo.
„Es gibt drei vollkommene Dinge in der Welt,“ meinte der Brasilianer, „die englische Flotte, das deutsche Heer und den Karneval in Montevideo.“
Wir standen auf dem Oberdeck der „Ciudad de Montevideo“. Pechschwarz waren Meer und Himmel, über die die Lichtzeilen der flammenden Straßen von Buenos Aires wie leuchtende Perlenschnüre auf schwarzen Samt gelegt waren.
Vorn am Bug rauschte das Wasser. Es dauerte eine Weile, bis ich antwortete. „Gibt? — Gab!“
„Nun ja,“ meinte er, „es ist lange her, daß ich drüben war, vielleicht wird ‚es gab‘ auch noch einmal für die beiden anderen gelten.“
Es waren nicht allzuviel Passagiere an Deck. „Noch vor ein paar Jahren“, sagte mein Gegenüber, „mußte man sich um die Faschingszeit viele Tage vorher einen Platz sichern; aber heute bei den Preisen und den Paßschwierigkeiten merkt man den Ausfall.“
Aber am folgenden Abend auf der Plaza de Independencia war im treibenden Menschenstrom kaum durchzukommen. In der Mitte des Platzes blendete der Brunnen mit den wasserspeienden Seetieren, von tausend Glühbirnen überkuppelt. Und weiterhin die Avenidas auf und ab, Wappen, Girlanden, Ketten farbiger Glühbirnen von Haus zu Haus über die Straßen gespannt.
Vierzigtausend Peso hatte diese Illumination der Stadt gekostet. Vierzigtausend uruguaysche Goldpeso![S. 244] Und darunter zog auf und ab die endlose Kette der Wagen, Reiter und Autos, Kostüme, Masken, phantastische Aufbauten, das unablässige Spiel von Dutzenden von Musikkapellen und das Kreischen der Frauen und Mädchen.
Knöcheltief watet man in Konfetti und Papierschlangen, mit Parfüm und Wasser bespritzt, einer zweifelhaften Errungenschaft südamerikanischen Karnevals, und man sieht dem Bemühen dieser Massen zu, sich krampfhaft zu amüsieren; denn im Grunde ist dieser südamerikanische Fastnachtsspuk unglaublich langweilig. Das geht nun schon Tage so, und dauert noch viele Tage, denn wenn der Südamerikaner feiert, dann feiert er gründlich, womit freilich nicht gesagt ist, daß er selten feiert, und so beginnen Umzüge und Bälle bereits vor Faschingsonntag und dauern lange über Aschermittwoch hinaus.
Um nichts zu versäumen, fangen die großen Maskenbälle erst um Mitternacht an, um die Stunde, zu der der Korso auf den Straßen endet. Auch auf diesen Bällen ist es nicht viel lustiger als auf der Straße, und ich gehe bald gelangweilt aus dem Teatro Solis, dessen Maskenbälle etwa den Münchener Bal parés im Deutschen Theater oder den Gürzenich-Festen in Köln entsprechen sollen.
Freilich eins kommt hinzu, der Fasching fällt auf der anderen Seite des Ozeans in den Sommer, ausgerechnet in die Hundstage, und auch die schönste Winterlandschaft, die man im Teatro Solis aufgebaut hatte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Thermometer über dreißig Grad zeigte.
Man hängt drüben merkwürdig zäh an Traditionen, wo man solche hat, und so muß auch das ganze Faschings[S. 245]treiben sich in den glühheißen Straßen des Stadtinnern abspielen, statt draußen an der See, auf den wunderbaren Strandpromenaden, die Montevideo zu einer der reizvollsten südamerikanischen Metropolen machen.
Im Gegensatz zu Buenos Aires, das die Lehmflut des La Plata von der offenen See scheidet, liegt Montevideo am, fast möchte man sagen im, freien Meer. Ein sanft ansteigender Rücken schiebt sich in den Ozean vor, auf dem die Stadt errichtet ist, und von mancher Straßenkreuzung hat man gleichzeitig nach drei Seiten den Blick auf das strahlende Blau, das, — mit dem Himmel sich verschmelzend, wie ein Kuppelhorizont die Stadt einschließt.
Montevideo ist nur die Hauptstadt der kleinsten der südamerikanischen Republiken, allein es ist gleichzeitig Weltbad, und darum die Anstrengung, seinen Fasching, seine Sommerfeste, seine Spielsäle zu Attraktionen für den ganzen Kontinent auszubauen.
Unmittelbar an die innere Stadt, an das eigentliche Geschäftsviertel grenzen denn auch die ersten Badehotels und Strandpromenaden; wunderhübsche große Gärten, weite Strecken feinen gelben Sandes mit Badehütten und mit Hunderten von Männern und Frauen in farbigen Badekostümen wechseln ab mit malerischen Felspartien, auf denen ein Einsamer in zerlumpter Kleidung nach Austern und Seemuscheln scharrt.
Wenn der offizielle Fasching auch noch im Stadtinnern tobt, so ist der inoffizielle doch schon an den Strand vorgedrungen, und in Pocitos, dem eleganten Badestrand, flaniert der Strom jener, die sich von der misera plebs zu trennen wünschen.
Man ist hier demokratisch in Südamerika, trotz aller Oligarchie und trotz aller Grenzen, die übermäßiger Reichtum aufrichtet. Aber da die Form gewahrt werden muß, kosten beispielsweise Strandkorb und Badekabine zu Füßen der Milliardärhotels von Pocitos und Carasco auch nur die gleichen zehn Cent wie auf dem Volksstrand von Ramires, und um sich zu separieren, bleibt den Reichen nichts anderes übrig, als die Badeorte immer weiter hinaus zu verlegen. Wer den weiten Weg nicht scheut, kann dort mit den hochgezüchteten Frauen aller Nationen baden und für die kurze Spanne am Strande als ihren Kreisen sich zugehörig wähnen. Denn um dort auch nur kurze Zeit zu wohnen, reicht mitteleuropäische Valuta nicht aus; das einfachste Zimmer ist nicht unter 20 Goldpeso für den Tag zu haben.
Die hell erleuchteten Fenster der Spiel- und Ballsäle werfen glitzernden Widerschein auf die pechschwarze Flut. Die breite, jetzt leere Autostraße schimmert violett, und der Schein der Bogenlampen sticht wie mit Dolchen in unergründliche Tiefen.
In der Stadt fahren noch die letzten buntgeschmückten Autos durch die Felder bunten Papiers. Die Masken drängen in die Ballsäle. Die Zeitungsjungen kommen angelaufen und schreien die ersten Ausgaben aus: „Blutiger Karneval in Buenos Aires. Die Höllenmaschinen im Ballsaal. Dutzende von Verwundeten.“
Noch druckfeuchtes Zeitungspapier gleitet aus achtloser Hand zu dem Wust von Papierschlangen und Konfetti, das die Straßenkehrer mit stumpfer Gleichgültigkeit zu großen Haufen zusammenfegen.
Rivera.
Nach durchfahrener Nacht war der Schnellzug von Montevideo nach Rivera an der Nordgrenze der Republik Uruguay immer leerer geworden. Trotzdem seit einigen Jahren die ununterbrochene Bahnlinie von Montevideo wie von Buenos Aires nach Rio de Janeiro fertig ist, gibt es zwischen den Hauptstädten der drei Staaten doch keinen durchlaufenden internationalen Verkehr. Frachten und Passagiere nehmen den Seeweg, der unverhältnismäßig rascher und billiger ist, von der größeren Annehmlichkeit ganz zu schweigen.
So gab es, nachdem wir Rio Negro und Tacuarembo passiert haben, nur geringen Lokalverkehr: Estancieros, Gauchos und Händler, die ein paar Stationen weit fuhren. Da man mir trotz eines anderthalbjährigen Aufenthalts in Südamerika und trotz aller Anpassung an die Landessitten den Gringo, den Fremden, doch immer noch ansah und solche auf dieser Strecke selten sein mochten, suchte jeder der Neuankömmlinge Anknüpfung und Gespräch. Es war immer die gleiche Frage, ob ich nicht von einem Frigorifico käme, um Vieh zu kaufen. Auch in Uruguay haben magere Jahre den fetten zu folgen begonnen. Die Viehpreise, die während des Weltkriegs schwindelnde Höhen erklettert, sind auf die Hälfte gefallen; und die Frigorificos, die großen Fleischgefrieranstalten, haben seit einiger Zeit die Käufe ganz eingestellt. Mit einiger Ungeduld wartet man auf dem Lande auf die Käufer.
Von den Viehpreisen glitt dann mit großer Regelmäßigkeit das Gespräch über die allgemeine wirtschaftliche Lage zu den politischen Verhältnissen im Lande hinüber. Draußen zog die Unendlichkeit der Pampa an den staubigen Scheiben vorüber. Seit ein paar Stationen hatte die endlose Steppe angefangen sich leicht zu wellen. Man sah Buschwerk und hie und da Bäume, ein bisher wie auch in der ganzen argentinischen Pampa nie erlebter Anblick. Im übrigen sind ja Argentinien und Uruguay nach Landschaft und Bevölkerung eine Einheit, wie ursprünglich die kleine Republik am Uruguay auch politisch ein Bestandteil der größeren Schwester am La Plata war. Aber die Rivalität Brasiliens machte sie zu einem selbständigen Pufferstaat, der in der Sorge, seine Selbständigkeit wieder zu verlieren, vor dem stammverwandten Nachbar Anlehnung an die große Republik im Norden sucht. An einer Kleinigkeit fällt diese politische Einstellung auf: man reitet in Uruguay nicht den argentinischen Sattel, sondern den brasilianischen, einen silberbeschlagenen Bocksattel mit darüber gelegter Schabracke aus schwarzem Schaffell. Wer weiß, welche Rolle der Sattel im Leben der Einheimischen spielt, wird auf solche Kleinigkeiten achten.
Aber diesmal sprachen wir nicht von der Animosität gegenüber Argentinien. Die Wahlen und der im Zusammenhang mit ihnen drohende Generalstreik waren erst seit kurzem vorüber, und die innerpolitischen Probleme beherrschten noch restlos die Gemüter. Mein Gegenüber erleichterte sich das Herz durch Schmähungen gegen die „Colorados“, die sich an der Macht behauptet hatten.
„Nun haben wir die deutschen Schiffe“, meinte er, „und könnten eine eigene nationale Dampferlinie damit einrichten, aber die unfähige Regierung weiß nichts damit anzufangen. Zuerst haben wir keine Kohle und, wenn wir Kohle haben, ist niemand da, der die Schiffe fahren kann. Es ist ein Skandal!“
„Sie sind also ein Blanco?“ — so heißt die andere, bei den Wahlen unterlegene Partei —, warf ich ein.
„Ich bin weder ein Blanco noch ein Colorado“, war die Antwort, „die einen sind nicht besser als die andern.“
Der Schaffner war zu uns getreten und mischte sich in das Gespräch: „Es ist ganz einerlei, wen man wählt, die Mißwirtschaft ist unter allen Parteien die gleiche.“
Wie verloren stand das Vieh auf der Weide. In weiten Abständen voneinander spärliche menschliche Behausungen. Land und Bewegungsraum noch für Millionen. Hier bedarf es keines der Probleme, unter denen Europa sich zerfleischt. Wie reich ist dieses Land, niemand muß hier Not noch Sorge kennen.
Ich nahm das Gespräch wieder auf: „Aber wer wird denn aufräumen mit der Mißwirtschaft? Wer wird’s denn ändern?“
Der Schaffner stand vor mir, breit und massig, sehr adrett in peinlich sauberer Uniform, sehr honett und sehr bürgerlich.
„Wer es ändern wird, Herr“, er sprach sehr langsam, jedes Wort betonend, „wer es ändern wird? Die Bolschewiken werden es ändern!“
Das Wort stand einen Augenblick im Raum, ihn ganz erfüllend, unheimlich und unheilschwanger. Dann ging[S. 250] der Schaffner weiter, sehr ruhig, sehr honett und sehr bürgerlich. Mein Gegenüber sah aus dem Fenster. Auf der nächsten Station stieg er aus. Ein deutscher Farmer stieg an seine Stelle. Laut und lärmend begrüßte er in mir den Landsmann. Er hatte ein prachtvoll frisches, offenes Gesicht.
„Sollen nur recht viele rüberkommen aus Deutschland,“ meinte er, „zu kaufen ist ja allerdings schwer, aber zu pachten gibt es Land genug. Gutes Land, und billig.“ Er wies aus dem Fenster. „Hier die Chacra können Sie gleich pachten. Sollen nur recht viele kommen!“
Und er erzählte von dem Käse, den er nach Rivera brachte, und von dem Geschäft, das damit zu machen ist.
Wir liefen in Rivera ein. Die übliche Station, das übliche Bahnhofspublikum. Nur die angelsächsischen Gesichter der Angestellten des nordamerikanischen Frigorifico und ihrer Frauen brachten eine fremde Note hinein. Die Schatten standen kurz und schwarz auf grellweißem heißem Sand. Sonne, Wohlleben, Lebenlassen. Die Frigorificos kaufen wieder Vieh.
Santa Anna do Livramento.
Die Grenze führt mitten durch die Stadt. Es ist nur eine einzige, aber die eine Hälfte heißt Rivera, die andere Santa Anna do Livramento, und beide scheidet eine unsichtbare Mauer. Der Wagen, der in müdem Trott durch die sonnenheiße Stadt einen verzerrten Schatten nachschleift, hält. Im Türrahmen eines weißen Hauses lümmelt ein Neger mit Beamtenmütze. Grenzkontrolle.
Auch Brasilien hat angefangen, seine Grenzen zu sperren. Man braucht alle möglichen Visa und Zeugnisse. Der deutsche Konsulatsbeamte in Buenos Aires wollte mir unbedingt einen neuen Paß ausstellen. Ich wollte nicht; denn das kostet 56 Peso.
„Dann gebe ich Ihnen kein Visum.“ Er war sehr förmlich.
„Danke, brauche ich nicht.“
„Aber dann gibt Ihnen das brasilianische Konsulat auch keines.“ Er war sichtlich empört.
„Doch, wetten?“
Er wandte sich ab. Ich konnte froh sein, ohne Rüge fortzukommen.
Ich ging zum brasilianischen Konsulat und schickte dem Generalkonsul meine Karte hinein. Es war ein reichlich verfetteter, reichlich schwarzer Brasilianer. Hier[S. 254] unter den Argentiniern fällt einem der Rassenunterschied zwischen den beiden Völkern stärker auf.
Wir plauderten. Die Unterhaltung war sehr angeregt, über Brasilien, die beste Reiseroute, meine nächsten Pläne. Dann zeigte ich meinen Paß.
„Der genügt doch?“
„Selbstverständlich.“ Er sah gar nicht hinein. „Morgen können Sie das Visum holen.“
Mir liegt wenig daran, recht zu behalten. So schenkte ich mir einen zweiten Gang aufs Konsulat, um dem Beamten den trotzdem vidierten Paß zu zeigen. Vielleicht tue ich dem Mann auch unrecht, vielleicht haben die deutschen Konsulate Weisung, nach Möglichkeit Paß- und Visumgebühren einzunehmen. Schön, aber manchmal fällt es einem schwer, den Ausdruck „Wurzerei“ zurückzuhalten, besonders wenn sich dies Verfahren gegen frisch Herübergekommene wendet, die sich nicht zu helfen wissen und für die zehn oder zwanzig Peso ein Vermögen bedeuten. So traf ich später in Brasilien einen jungen Deutschen, der nach Argentinien ausgewandert war. Er fand keine rechte Arbeit und wollte nach Brasilien. Aber das deutsche Konsulat gab ihm kein Visum, da der Paß nicht auch für Brasilien ausgestellt war. Er mußte sich einen neuen Paß ausstellen lassen. Das kostete ihm seinen letzten Notpfennig.
Inzwischen war der Neger bei meinem Wagen angelangt und begann die Koffer abzuladen. Drinnen saß ein zweiter, nicht viel hellerer Brasilianer hinter einem Tisch. Er sah mich und dann meine Koffer an und nickte. Die Neger begannen das Gepäck wieder hinauszuschleppen.[S. 255] Ich wollte meinen Paß ziehen, aber er winkte nur zur Tür. Die Störung seiner Siesta hatte ihm augenscheinlich bereits lange genug gedauert.
Als das Pferd wieder anzog, war ich eigentlich etwas enttäuscht. Also auch das brasilianische Visum wäre überflüssig gewesen und das neue Impfzeugnis dazu, das ich mir in Buenos Aires besorgt hatte, nachdem ich mich zuletzt noch in dem chilenischen Hafen Arica hatte impfen lassen müssen.
Eigentlich ist es lächerlich. Kommt man zur See in Rio oder Santos an, so braucht man alle möglichen Führungszeugnisse und Atteste, auf dem Landwege aber wird nicht einmal nach einem Paß gefragt. Dabei ist Montevideo eine offene Einfallspforte, denn die Republik Uruguay kennt noch keinerlei Paßzwang.
„Wir sind sehr freiheitlich und sehr demokratisch“, hatte mir der uruguayische Konsul in Buenos Aires stolz gesagt.
Nach Passieren Dutzender von Grenzen bin ich über den Nutzen von Paßkontrollen ein wenig skeptisch geworden. Ich glaube nicht, daß durch sie unerwünschte Elemente tatsächlich wirksam ferngehalten werden; es kommt nur auf eine Belästigung der Harmlosen heraus. Aber die Einnahmequelle für den Staat dürfte nicht unerheblich sein, und so wird es einstweilen bei der Notwendigkeit von Pässen bleiben.
Der Weg zum Bahnhof, am andern Ende der Stadt, dehnte sich. Die niederen Häuser standen in übermäßig breiten Straßen so weit auseinander, daß es nicht den mindesten Schatten gab. Dazu ging es hügelauf, hügelab.[S. 256] Aber wenn man aus dem völlig flachen Argentinien kommt, ist schon das Sensation, und auf den Hügeln, die die Stadt säumen, stand sogar ein wenig Wald.
Aber die weite Fahrt war vergeblich. Der Zug ging erst am andern Morgen. Nicht einmal mein Gepäck konnte ich nach São Paulo aufgeben. Ich hatte es vorausschicken wollen, um, von ihm nicht beschwert, nur mit ein wenig Handgepäck zu reisen. Im Staate Santa Catharina hatte es eine Überschwemmung gegeben. Der Regen hatte den Bahnkörper weggerissen. Wann er wieder hergestellt sein würde? Ein Achselzucken. Man kann mit Booten passieren, meinte ein dritter.
„Überhaupt, es gibt nur Karten bis zur Landesgrenze“, erklärte der Stationsvorstand. —
Brasilien ist Bundesstaat; man merkt erst, wenn man im Innern reist, wie sehr sich die einzelnen Staaten voneinander abschließen und wie stark die Rivalitäten zwischen ihnen sind.
Das Hotel war eine Bretterbude. Es gab ein besseres, aber ich wollte landesüblich reisen. Ich mochte wohl als der vornehmste Gast gelten; so erhielt ich das letzte Fremdenzimmer in der Reihe. Um dorthin zu gelangen, mußte man durch alle andern hindurch. In dem ersten lagen ein paar Gauchos gestiefelt und gespornt auf den Betten, im zweiten saß eine Familie mit kleinen Kindern zu Tisch, im dritten stand ein junges Weib mit aufgelösten Haaren mitten im Raum. Das Haar war ein wenig fett, aber lockig und von einem ins Blaue spielenden Schwarz. Es fiel in Ringeln um ein ebenmäßiges, olivbraunes Gesicht. Wie zwei lebendige, verwunderte Fragen standen dunkle[S. 257] Augen darin. Daneben lag hinter einer löcherigen Tapetenwand mein Zimmer. Ich stieß die Fensterläden auf, um die schwüle stickige Luft hinauszulassen. —
Nach dem Abendessen bummelte ich noch ein wenig durch die nachtdunkle Stadt; vor allem wollte ich eine Gelegenheit für ein alltägliches, unvermeidliches Bedürfnis suchen; in solch kleinen Orten haben nur die vornehmsten Häuser ein eigenes Lokal dafür. Eine stockdunkle Straße war gerade geeignet. Zur Seite schien, ein wenig tiefer, eine buschbestandene Wiese zu liegen. Ich wollte schon hinabspringen, als ich plötzlich anhielt und erst mit dem Stock sondierte. Er fand keinen Grund. Ich warf einen Stein und hörte erst nach einer Weile ein klatschendes Aufschlagen. Es war ein Sumpf. Die Straße fiel in steilem Sturz jäh dahin ab. Ich überlegte, wie ich wohl wieder herausgekommen wäre. —
Später traf ich den Spanier, den ich auf der Station kennengelernt. Wir bummelten über die Plaza. Aus dem Café drang Musik. Das Kino warf einen frechen Lichtkegel auf die Straße. Einen Augenblick glaubte ich das olivbraune Profil meiner Nachbarin zu sehen. Dann spazierten wir wieder unter den dunklen Bäumen.
„Ach, Sie sind Deutscher!“ rief er aus, „ich hielt Sie für einen Engländer.“ — Mit einemmal war er wie ausgewechselt. „Muy amigos los alemanes!“ Er schloß mich in die Arme.
„Die Deutschen sind unsere Freunde! Wen sollten wir sonst haben? Die Engländer? Die Franzosen? Die alle wollen nur etwas von uns, aber die Deutschen — Und schließlich werden die Deutschen doch noch siegen.“
Um uns flanierte eine müßige Menge.
„Sehen Sie nur die Leute hier; hier und überall. Aber die Deutschen arbeiten. Ein Volk, das arbeitet, kann nicht zugrunde gehen, nie!“
Die zerfetzten Töne des letzten Operettenschlagers aus Rio wehten vom Café her über die Plaza.
Santa Maria.
Gaucholand — die südliche Hälfte von Rio Grande do Sul, des südlichsten Staates der brasilianischen Union, ist damit gemeint. Die Brasilianer selbst nennen sie so, halb verächtlich, halb anerkennend. In jedem Fall heißt es etwas Fremdes. Gaucho, Pampa, das ist argentinisch, nicht brasilianisch. Und argentinisch ist fremd, fast feindlich.
Auch in Brasilien gibt es unendliche Flächen, unzählbare Herden, aber das ist im Innern, in Matto Grosso, in Gegenden, die dem Brasilianer in Rio oder São Paulo fremder sind als Europa. Brasilien heißt Urwald, Plantage, Reis und Baumwollfeld, Kaffeepflanzung.
In Kurven schmiegt sich die Bahnlinie den Hängen an. Es ist ein Paktieren mit der Landschaft. In Argentinien ist der schnurgerade Schienenstrang darüber gelegt wie ein Befehl. In Brasilien fehlt die grandiose Eintönigkeit der Pampa. Diese kahlen, grasbewachsenen Hügel sind eigentlich nur langweilig.
Gaucholand, Uruguay und Zentralargentinien, das ist geographisch eine Einheit. Ihre Vereinigung der gegebene Zielpunkt imperialistischer Politik am La Plata,[S. 259] zumal Gaucholand sich auch ethnographisch assimilieren ließe, denn hier fehlt das Negerblut, das der Bevölkerung der nördlichen brasilianischen Staaten seinen Stempel aufdrückt. Und selbst die Sprache zeigt Ähnlichkeit. Das Portugiesisch, das man hier spricht, ist dem Spanischen viel verwandter als das in Bahia oder Pernambuco gesprochene. In jedem Fall — sollte je die argentinisch-brasilianische Rivalität um die südamerikanische Vorherrschaft in einem Krieg zum Ausbruch kommen, hier werden die ersten Entscheidungen fallen.
Argentinien hat Tanks in England bestellt. Nein, schnellfahrende Panzerautos wären das Richtige auf diesem Gelände, dessen feste Grasnarbe überall gute Fahrbahn bietet. — Auf der Bank mir gegenüber sitzen Soldaten. Groß, blond, die deutsche Abstammung ist unverkennbar. Es sind Söhne deutscher Kolonisten aus dem Urwald.
Das kompliziert das Problem. Die dem Zentral- und Nordbrasilianer eigentlich wesensfremden Estancieros und Gauchos, die Viehzüchter und Viehhirten, bilden hier das nationale Element. Die Urwaldbevölkerung, die Kolonisten, die als eingesessene Bauern das wirtschaftliche Rückgrat von Rio Grande wie von Paraná und Santa Catharina bedeuten, sind fremdstämmig, sind deutschen, italienischen, polnischen, skandinavischen Ursprungs.
In welcher Richtung wird dieses zähkonservative Bauerntum politischen Einfluß nehmen, wenn es einmal zum Bewußtsein seiner Macht gelangt? — Die Vereinigten Staaten von Brasilien, wie sie offiziell heißen, sind kein organisches Gebilde. Wenig Gemeinsamkeit besteht zwischen[S. 260] dem tropischen, fieberheißen Norden mit seiner Negerbevölkerung und dem gemäßigten Süden, in dem infolge des Fehlens der früheren Sklaven und der starken europäischen, insbesondere auch deutschen Einwanderung eine ganz andere Rasse im Entstehen ist. Immer wieder reiben sich die Rivalitäten aneinander, immer wieder tauchen Gerüchte auf, die von den Loslösungsbestrebungen der Südstaaten erzählen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn in den drei Südstaaten, die kulturell wie wirtschaftlich weitaus am höchsten stehen, das Gefühl entstände: wozu sollen wir mit unserer Arbeit, unsern Steuern die lethargischen Nordstaaten mit finanzieren und die Hauptlast der Bundesfinanzen tragen? Vielleicht liegt hierin mit ein Grund dafür, daß die Regierung in Rio de Janeiro die jetzt von Europa herüberkommenden Einwanderer möglichst nach den Staaten Bahia und Pernambuco zu lenken sucht. —
Kurz vor Santa Maria stieg ein Bauernbursch ein, so blond, so urwüchsig, so deutsch, daß ich ihn anreden mußte. Man hätte meinen können, er sei unmittelbar auf einer Station in der holsteinschen Marsch oder der Lüneburger Heide eingestiegen. Und nicht anders antwortete er, kurz, wortkarg, in keiner Weise Überraschung oder Freude äußernd, hier einen Landsmann zu treffen. Wie anders hatte doch vor wenigen Tagen der deutsche Pächter im nördlichen Uruguay auf ein deutsches Gesicht reagiert.
Aber hier ist deutsch ja das Alltägliche, das Normale. Die Pampa, das Gaucholand ist zu Ende, und die Waldberge haben begonnen. Ihre Bewohner sind Deutsche. Seit drei Generationen in Brasilien ansässig, aber immer[S. 261] noch Deutsche. Oft genug sprechen sie nicht ein einziges Wort portugiesisch, und ich habe öfters in Bahn oder Hotel für Deutschbrasilianer den Dolmetsch machen müssen.
Vor 60, 80 Jahren kamen die Großeltern der heutigen Generation als Siedler in den Urwald. Der reichte damals bis an die Küste. Und dort in der Gegend des heutigen Porto Alegre, Blumenau und Joinville fingen sie an. Meile für Meile haben sie mit der Axt den dichten Wald geschlagen. An seiner Stelle stehen heute große Städte, dicht besiedelte Dorfgemeinschaften, intensiv bebautes Feld. Die Kinder und Enkel wurden reich. Das einst wertlose Land wertet heute nach Zehntausenden von Milreis.
Die zuerst durch die Einsamkeit des Urwalds und den Mangel an Verkehrsmitteln bedingte Isolierung der fremden Siedler blieb bestehen, auch als von Urwaldeinsamkeit längst keine Rede mehr war und ein dichtes Bahn- und Straßennetz die einstige Wildnis durchzog. Die Brasilianer taten nichts, die Kolonisten zu assimilieren. Sie schließen auch die Kinder und Enkel der Einwanderer nach Möglichkeit von Politik und Anteilnahme an der Regierung aus, stören sie aber nicht in ihrem eigenen kulturellen Leben. So entstanden völkische Fremdkörper, Sprachinseln, nicht anders als die von Maria Theresia im ungarischen Banat angelegten deutschen Kolonien. Die deutschen Kolonisten bauten und unterhielten, nachdem sie die Anfangsschwierigkeiten überwunden hatten, ihre eigenen Schulen und Kirchen, sehr prunkvoll mitunter, stellten Lehrer und Pfarrer an und schlossen sich in sozialer Hinsicht ganz von den angestammten Bevölkerungselementen ab. Auf ihren[S. 262] Dörfern duldeten und dulden sie keine „Fremden“, wie sie die Brasilianer nennen, nicht einmal als Wirt oder Kaufmann, und wo sie stark genug und genügend viele das volle politische Bürgerrecht erlangt haben, dringen sie auch auf deutschstämmige lokale Behörden. Aber damit erschöpft sich, auch in den ältesten Kolonien, das politische Interesse. Dorfkirchturmspolitik.
So beruht denn auch alles Gerede und Geschreibe von einer großdeutschen Politik in Südbrasilien auf einer völligen Verkennung der wirklichen Verhältnisse. Ich glaube, die Deutschbrasilianer dachten in ihrer Masse nicht im entferntesten an eine politische Verbindung mit dem alten Mutterboden, und von einer eventuellen Annektion von Südbrasilien durch das Deutsche Reich wären sie, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit einer derartigen Angliederung, am allerwenigsten entzückt gewesen. So hat alles, was darüber geschrieben und gesprochen wurde, nur dazu gedient, böses Blut zu machen, die Feinde des Deutschen Reiches zu mehren, und es hat letzten Endes nicht wenig dazu mitgewirkt, daß Brasilien so rasch und willig in die Reihe unserer Gegner im Weltkrieg eingetreten ist.
Die Deutschbrasilianer sind Zwitterwesen. Sie sind keine Brasilianer im Sinne wie etwa die Deutschchilenen Chilenen sind, deren flammendes chilenisches Nationalgefühl mit dem der reinblütigen, alteingesessenen Nachkommen der spanischen Conquistadoren und araukanischen Indianer wetteifert. Aber sie sind noch viel weniger Deutsche. Sie hängen an der alten Heimat aus Tradition und aus einer sentimentalen Liebe heraus. Die wenigsten[S. 263] von ihnen würden dort überhaupt leben mögen oder können. Bei der großen Unbildung der Urwalddeutschen machen sich diese von den Verhältnissen in Deutschland, besonders nach der großen Wandlung des Krieges, kein auch nur entfernt richtiges Bild. Wie schlecht sie teilweise über die Lage in Europa unterrichtet sind, erfuhr ich erschreckend und doch wieder rührend durch die erstaunlich naive Frage eines Urwaldkolonisten, der mir folgendes sagte:
„Sagen Sie, Sie kommen doch jetzt aus Deutschland? Ist es wirklich wahr, was die Zeitungen hier immer wieder schreiben, daß Deutschland im Krieg verspielt hat?“
So konnte denn auch ein Aufstand der Deutschbrasilianer während des Weltkrieges zugunsten Deutschlands ernsthaft nicht in Frage kommen. Und wenn auch eine Weile die Möglichkeit bestand, daß die deutschen Bauern aus São Leopoldo bewaffnet nach Porto Alegre, der Hauptstadt des Staates Rio Grande do Sul, marschierten, so doch nicht im Interesse Deutschlands, sondern nur um die deutschen Landsleute dort vor den Ausschreitungen des Mobs zu schützen.
Die deutschen Kolonisten in diesem südlichsten Staat Brasiliens sind keine Brasilianer, aber sie sind Rio Grandenser oder vielmehr San Leopoldiner, oder Novo Hamburger, oder wie ihre Kolonie-Gemeinde heißen mag. Zäh wurzeln sie auf der Scholle, die sie dem Urwald abgerungen haben.
So gering ihr politischer Einfluß, so groß ist ihr wirtschaftlicher. Ihre Arbeitskraft und ihre wirtschaftliche[S. 264] Tüchtigkeit ist dem eingeborenen Element gegenüber so groß, daß sie dieses selbst auf seinem eigensten Gebiet, der Pampa, zurückzudrängen beginnen. Eine ganze Reihe deutscher Bauern hat angefangen, auch in der Pampa Land zu kaufen, um dort rationelle Viehzucht und Milchwirtschaft zu treiben. Ebenso sind die industriellen Betriebe in den Städten wie die Export- und Importhäuser zu einem großen Teil in den Händen von Deutschen.
Für die brasilianische Regierung besteht die große Schwierigkeit, sich dieses wirtschaftlich so außerordentlich wertvolle Element einzugliedern. Daß es auf dem nach der Kriegserklärung an Deutschland eingeschlagenen Weg der gewaltsamen Unterdrückung nicht geht, hat man bald eingesehen. Damals wurden deutsche Schulen, deutsche Zeitungen, deutsche Sprache überhaupt verboten. Allein dieses Verbot war, besonders was die Sprache anbelangt, von vornherein undurchführbar. Und andrerseits war es der Regierung selbst nicht so ernst damit; sie bemühte sich, die Deutschen gegen Ausschreitungen zu schützen. Schließlich hing alles von den lokalen Verhältnissen ab. Und während mancherorts die Deutschen böse Tage mitmachten, hat an anderer Stelle mancher Brasilianer, der sich abfällig über die Deutschen zu äußern gewagt hatte, ungesühnt seine gehörigen Prügel bezogen.
Nach dem Krieg wurden auch offiziell alle Beschränkungen aufgehoben, dagegen wurde die Bestimmung eingeführt, daß in den deutschen Schulen auch portugiesisch unterrichtet werden muß. Ich habe einmal einer Unterrichtsstunde in einer Urwaldschule angewohnt. Es war Rechenstunde, und der Lehrer stellte seine Fragen erst[S. 265] auf deutsch, dann auf portugiesisch. Allein da die Kinder zu Hause nur deutsch hören, und die Lehrer oft genug selbst nur mangelhaft portugiesisch sprechen, kann bei diesem Unterricht nicht viel herauskommen.
Eine wirksame Assimilierung der deutschen, ebenso der fast gleichstarken italienischen Kolonisten würde nur bei Vermischung durch Heiraten untereinander eintreten. Allein gerade in dieser Hinsicht schließen sich die Deutschen streng ab. Wie sie auf ihren Festen und gesellschaftlichen Veranstaltungen keine Brasilianer dulden, heiraten sie auch nur untereinander. Die Ehe mit dem brasilianischen Element ist verpönt; wie die wenigen vorliegenden Erfahrungen zeigen, übrigens mit Recht. Die brasilianische Frau stellt an den Mann Ansprüche, denen der kühler veranlagte Deutsche ohne Gesundheitsschädigung auf die Dauer nicht zu entsprechen vermag.
Trotzdem werden natürlich mit der Zeit, wenn nicht dauernd starker Zuzug kommt, deutsche Sprache und Kultur immer mehr verlorengehen, schon weil sich die starken klimatischen Einflüsse mit der Zeit geltend machen müssen. Wie diese auf die Dauer wirken, ist eine noch umstrittene Frage. Wenn die Deutschbrasilianer auch durchweg einen gesunden kräftigen Eindruck machen, so wird von ärztlicher Seite doch behauptet, daß sich bereits gewisse Entartungserscheinungen zu zeigen beginnen. Was besonders auffällt, sind die schlechten Zähne, denen man allerdings in ganz Südamerika begegnet. Die besser Bemittelten zeigen ähnlich den Nordamerikanern den Mund voll Goldplomben, während die Ärmeren bereits in jungen Jahren nur mehr bräunliche Stummeln haben. In jedem[S. 266] Fall besteht die Gefahr einer gewissen Inzucht; aus diesem Grund sind Reichsdeutsche bei den töchterreichen Kolonisten als Schwiegersöhne sehr beliebt, da sie — wie man dort sagt — „besseres Blut“ haben. —
In São Pedro steigt eine Negerin ein. Sie trägt schreiend bunten Kattun, lange Ohrgehänge, ihr Nacken ist wie aus Holzkohle geschnitten. Die Fülle ihrer Leiblichkeit droht durch die engen Wagenfenster aus dem Kupee zu quellen. Sie setzt sich unmittelbar neben die blonden, schlanken Soldaten. Beide sind gleichberechtigte Staatsbürger ein und desselben Landes.
Santo Angelo.
Im Hotel „Stadt Hamburg“ hatten mich und meinen Reisekameraden die Wanzen gemeinsam fast aufgefressen. Das verbindet immer. Nun kamen wir im Zug zufällig wieder zusammen. Wir plauderten daher bereits als alte Bekannte miteinander.
Das Hotel „Stadt Hamburg“ war übrigens geeignet, meine bisherigen guten Ansichten über das Deutschbrasilianertum wieder aufzuheben. Im Vertrauen auf deutsche Sauberkeit hatte ich mich zu Bett gelegt. Sehr lange dauerte es nicht. Dann hatten mich die Wanzen derart zugerichtet, daß ich trotz aller Müdigkeit wieder aufwachte. Der Lokalaugenschein beim Kerzenlicht veranlaßte mich, das Schlachtfeld zu räumen. Ich zog mich an, um mich draußen auf den ziegelsteingepflasterten Hof zu legen. Einen neidischen Blick warf ich noch auf meinen fest[S. 267] schnarchenden Schlafgenossen. Die fettesten Wanzen krochen ihm übers Gesicht, daß es eine Lust war; er wachte aber davon nicht auf.
Ich hatte diese Gleichgültigkeit und Immunität gegen Ungeziefer trotz all meiner Reisen auf dem Balkan, in Galizien, Rußland und Polen noch immer nicht erreicht, und so jagten mich auf dem Hofe die Moskitos alsbald wieder hoch. Ich ging zurück ins Zimmer, um das Moskitonetz zu holen, das ich erst von Wanzen säubern mußte. Als ich glücklich soweit war und in das Netz eingewickelt auf den Fliesen lag, ging ein derartiger Platzregen los, daß ich schleunigst wieder ins Haus mußte. Mein Reisekamerad schnarchte immer noch unentwegt.
Im Zug erzählte er mir dann, daß man in ganz Südbrasilien kaum ein Haus finde, einerlei welcher Nationalität sein Besitzer, das nicht verwanzt sei; nach meinen späteren Erfahrungen mußte ich ihm darin recht geben. In dieser Hinsicht haben die Deutschen von der Lethargie der Einheimischen angenommen; schließlich ist es auch zum Verzweifeln, wenn keine noch so gründliche Säuberung hilft. Ist ein Haus glücklich ungezieferfrei, so ziehen die lieben Tiere nach wenigen Tagen aus dem Nachbarhaus wieder ein.
Mein Reisekamerad war vor dreiviertel Jahren eingewandert. Er war ein junger Bursch, der seine vier Jahre im Feld gewesen war und dann hinüberging, ohne jemand zu kennen, ohne von dem fremden Land viel mehr zu wissen, als daß dort Deutsche wohnen. Bei ihnen dachte er Arbeit und Brot zu finden.
Aber beinahe wäre er dabei verhungert. Die deutsch-[S. 268]brasilianischen Kolonisten sind wie alle Bauern gegen Fremde mißtrauisch und gegen deutsche Landsleute sind sie es ganz besonders. Die „Deutschländer“ gelten bei ihnen als arbeitsscheu und anspruchsvoll; es ist schwer zu sagen, wer schuld daran ist, einzelne Bauernfänger und Schwindler, die sich kurz nach Kriegsende in den deutschen Kolonien herumtrieben, sich als Kriegsteilnehmer ausgaben und die teilnahmsvolle Gutmütigkeit der Deutschbrasilianer für sich ausnützten, oder die deutschnationale Propaganda, die drüben mit allen Mitteln gegen das heutige Deutschland und insbesondere seine Arbeiter hetzt.
Genug, der junge Einwanderer zog vergeblich von Hof zu Hof, überall abgewiesen, bis er schließlich am Ende seiner Kräfte und seiner Mittel Arbeit und Unterkommen fand. Von da an war er gesichert; denn sein erster Arbeitgeber empfahl ihn weiter, und so zieht er jetzt, immer an Hand von Empfehlungen, von einer Kolonie zur andern.
An sich wäre Arbeit genug vorhanden, so daß es nicht erst einer Empfehlung bedürfen sollte, um sie zu bekommen. Am liebsten arbeitet allerdings der deutschbrasilianische Kolonist nur mit seinen Familienmitgliedern. Wenn von einem besonders reichen Bauern die Rede ist, so kann man oft genug hören: ja der, der hat auch fünfzehn Kinder!
Kinder sind hier eben noch Segen, auch im wirtschaftlichen Sinne. Jedes Kind mehr bedeutet bereits nach kurzer Zeit eine wertvolle kostenlose Arbeitskraft. Volkswirtschaftler, die die Ursache für Kinderreichtum oder Kinderbeschränkung ausschließlich in wirtschaftlichen Grün[S. 269]den suchen, werden in Südbrasilien die volle Bestätigung ihrer Theorie finden; denn hier ist Kinderreichtum die Regel. Familien mit einem Dutzend Kinder sind nichts Seltenes, und auch solche mit 15, 16 und 18 Kindern kommen häufig genug vor.
Aus diesem Grund zahlt der deutschbrasilianische Bauer auch ungern und nur möglichst niedrige Löhne, wenn er schon fremde bezahlte Arbeitskräfte beschäftigen muß. Bei freier Unterkunft und Verpflegung gibt es nicht mehr als 2 bis 2½ Milreis für den Tag. Um bei diesen Löhnen und den hohen Kosten, die Bahnfahrt und Hotel ausmachen, das zum Ankauf eigenen Landes erforderliche Kapital in absehbarer Zeit zu ersparen, muß man schon die eiserne Energie meines Reisekameraden haben, der mir voll Stolz erzählte, daß er noch niemals auch nur einen einzigen Centavo für Tabak oder Bier ausgegeben habe.
Inzwischen waren wir in Cruz Alta von der Hauptlinie abgezweigt und hielten nun in Ijuhy. Von der hochgelegenen Station sah man auf dem nächsten Hügel die sanft ansteigende breite Straße mit den sauberen Häusern, auf dem höchsten Punkt die große Kirche. Vor wenigen Jahren war noch alles Urwald.
Von hier aus wird von Pionierbataillonen die Bahn gegen das angrenzende argentinische Misiones vorgetrieben. Die bisher fertiggestellte Strecke bis Santo Angelo wird noch von Militär betrieben. Aus diesem Grund müssen wir jetzt nochmals umsteigen, trotzdem der Zug auf dem gleichen Geleise weiterfährt.
In den Wagen sind jetzt lediglich Deutschbrasilianer, alles Landsucher, Landkäufer, Neusiedler.
In Neuland fahren wir ein, als der Zug endlich mit sinkendem Tag sich wieder in Bewegung setzt. Links und rechts der Bahn kaum gerodeter Urwald, dazwischen gestreut schmale Parzellen von Mais und Tabak.
Von hier bis an den Grenzfluß Rio Uruguay ist noch jungfräuliches Land, die letzten Ländereien, über die Rio Grande do Sul verfügt. Kurz vor dem Krieg wurden hier noch deutsche Einwanderer angesiedelt, mit allen Vorteilen, welche die „Immigração“ gewährt. Heute hat man die Einwanderung gesperrt, d. h. nicht offiziell, nicht formell. Wer einwandern will, erhält Land zu den gleichen Bedingungen wie die Eingeborenen auch, nur Vorteile und Vergünstigungen werden nicht mehr gewährt.
Rio Grande will das noch verfügbare Land für seine eigenen Landeskinder vorbehalten. In erster Linie sind dies die deutsch-brasilianischen und italienisch-brasilianischen Kolonisten; diese brauchen viel Land. Der väterliche Hof wird ja nicht unter die Kinder geteilt oder einer erbt ihn und die andern ziehen in die Stadt, sondern jeder Sohn erhält zur Hochzeit einen Besitz mindestens in der Größe des väterlichen. Zu diesem Zweck kaufen die Bauern frühzeitig in den frisch vermessenen Urwaldgebieten Lose für ihre Kinder, auf denen diese nicht anders anfangen, als es ihre Eltern getan, es sei denn der väterliche Wohlstand bereits so groß, daß den Nachkommen unter Kultur stehende Kolonien aus zweiter Hand gekauft werden können.
Im ganzen Wagen — es ist ein großer, durchgehender amerikanischer Wagen — hört man nur von Landpreisen und von Bodenbeschaffenheit sprechen, von Gegenden, wo[S. 271] noch Land zu haben und von den Bedingungen, zu denen es abgegeben wird. Dazwischen reden die Frauen untereinander leise von der Wirtschaft, von Schweinen und Mais. Man hört unverfälschte schwäbische, hessische und norddeutsche Mundart. Aus Bündeln wird gute alte deutsche Wurst geholt und Kuchen, wie ihn die Bauernfrauen in Deutschland auch backen. Es ist ein eigentümlicher Eindruck, deutsche Bauernschaft um sich zu haben, die in immer dichter werdenden Urwald hineinfährt.
Bald wird es allerdings so dunkel, daß der Mais wie die Wellen eines geheimnisvollen Wassers den Bahndamm umspült und die alten lianenumrankten Bäume sich wie Gespenster über ihn neigen. Schließlich hockt alles auf harten Bänken und schläft, bis der jähe Ruck in Santo Angelo uns weckt.
Unergründliche Nacht und unergründlicher Schmutz. Wir fragen nach der Witwe Schirach, die man uns als Quartiermutter empfohlen. In der Ferne schimmern ein paar ungewisse Lichter. Sie weist man uns. Wir schultern den Rucksack und treten den Marsch an, der eine Expedition durch Sumpf und Schlamm ist.
Guarany.
Wir ritten die Linie entlang. Linien heißen die breiten Straßen, die schnurgerade durch den Urwald führen und von denen die Nebenwege abzweigen, an denen die Kolonien liegen.
Die Linien sind die Hauptverkehrsadern der Kolonien. Alle Augenblicke begegnet uns denn auch ein Wagen, ein[S. 272] Reiter oder ein Viehtrieb. Erst nach ein paar Stunden Reiten wird es einsamer.
An den Linien liegen die Venden, ferner die Schulen, dann Brauerei- und Limonadefabriken, Schneide- und Mahlmühlen und was man sonst noch hier an kleingewerblichen Betrieben braucht, sowie die bevorzugten Kolonielose: manche Musterwirtschaft, aber auch mancher heruntergekommene Betrieb, in denen ein paar Polen oder ein Weißer mit einer Farbigen in einer Hütte hausen, die nicht mehr als gerade das zum Leben Nötige anbauen.
Beiderseits der Linie Mais. Dann Tabak, der mit Maniok wechselt, und wieder Mais. Mais ist die Hauptfrucht, die wichtigste Nahrung für Mensch und Vieh. Aus ihm bäckt der Kolonist sein Brot. Erst der Wohlhabende nimmt Weizen dazu. Weizen ist hier Luxus. Für seinen Anbau ist es bereits zu heiß. Er muß von der Serra, dem kalten Hochland, hergeschafft oder aus Argentinien importiert werden.
Um die Häuser steht Obst, vor allem Pfirsich, der ähnlich wie in Argentinien auf diesem Boden gleich Unkraut wuchert und bereits im ersten oder zweiten Jahr Frucht trägt, Yerba — Bäume, deren Blätter den Mate-Tee liefern, und wo Italiener siedeln, eine Weinlaube oder Weinberg.
Die Häuser selbst sind fast sämtlich aus Holz, von hübschen soliden Bauten bis zu einfachsten Bretterbuden. Daneben ein Schuppen für die geerntete Frucht und ein Pferch für das Vieh.
Je länger wir reiten, desto häufiger unterbrechen Waldpartien die Felder, und schließlich geht’s eine ganze[S. 273] Strecke lang durch ungerodeten Urwald. Lianenverfilzt schließen die alten Bäume gleich Mauern beiderseits die Straße ein. Es sind noch nicht kultivierte Kolonielose, deren Besitzer auf die Konjunktur warten, um sie mit hohem Nutzen weiterzuverkaufen. Wo eine neue Staatskolonie vermessen wird, macht sich alsbald die Spekulation breit. Wenn auch dem Gesetz nach jeder Bodenwucher vermieden und Land nur an jene abgegeben werden soll, die es tatsächlich bebauen, so ist doch unvermeidlich, daß der und jener, von den Koloniechefs und Vermessungsingenieuren angefangen, durch Mittelsmänner eine größere Anzahl von Losen in seine Hand bringt, die er erst zum Verkauf stellt, wenn alles Land in der Gegend vergeben und durch die Arbeit der Kolonisten auf den Nachbargrundstücken ein erheblicher Wertzuwachs eingetreten ist.
Eine Pforte in der Mauer steht offen. Ein schmaler Weg führt in den Wald. Ein schmales Spitzgewölbe aus Zweigen und Blättern. Grünliches Dämmern. Treibhausluft. Hintereinander gehen die Pferde.
Wo sich der Weg senkt, öffnet sich eine Lichtung. An den Hängen liegen noch geschlagene Stämme. Verkohlte Stumpen, zwischen denen sich handhoch Asche breitet, zeigen, daß hier frische „Roce“ gemacht wurde. Unten im Grunde steht zwischen hochtreibendem Mais an einem kleinen Wässerlein eine einfache Bretterhütte: der Anfang einer Kolonie. Es ist vollendete Urwaldeinsamkeit, aber lange nicht gleich der, in der Väter und Großväter der heutigen Deutschbrasilianer anfingen. Ein kurzer Ritt bringt bis an die Linie, nur ein paar Stunden sind bis zur nächsten Venda und nicht mehr als zwei Tagereisen[S. 274] bis an die Bahn. Man kann leicht und billig alles kaufen und heranschaffen, was nötig: Gerät und Lebensmittel, Nägel und Bretter. Und Freunde und Nachbarn sind nicht weit, die einem im Notfall helfen können.
Trotzdem bleibt genug an Einsamkeit und Härte des Lebens. Die Frau kommt uns aus der Küche entgegen. Die Küche ist ein offenes Feuer zwischen zwei Feldsteinen. Darüber hängt ein Kessel. Das ist alles.
Sie nötigt uns ins Haus. Es ist einfach aus Brettern zusammengeschlagen, vielleicht fünf Meter im Geviert. Eine Bettstatt und ein Tisch mit einigen Hockern, selbstgezimmert, bilden das ganze Mobiliar.
Das Haus stellt ein Minimum an Wohnung dar, und trotzdem ist es ein Palast gegen die Anfangszeit, als man in einer Laubhütte hauste und bei jedem Regen im Wasser lag.
Der Anfang, das war das Schlimmste; damals, als erst ein Pfad durch den Wald geschlagen werden mußte, um auf den eigenen Grund zu kommen, und dann das Roden begann. Bis Breschen für Luft und Licht hineingeschlagen sind, steckt der Urwald voll Moskitos und Schlangen, von anderem Ungeziefer nicht zu reden. Dann heißt es mit dem Fäustel das Unterholz buschen, darnach werden die großen Bäume geschlagen. Nach ein paar Wochen, wenn alles gut trocken, wird angezündet.
In den durch die Asche gedüngten Urwaldboden, der frischen Roce, wird der erste Mais gesät. Zwischen den Stumpen und halbverkohlten Stämmen werden reihenweise mit dem Stock Löcher gestoßen. Ein paar Maiskörner in ein jedes hinein, und nach ein paar[S. 275] Wochen steht der Mais bereits mannshoch. Hat man im September Roce gemacht, im Oktober gepflanzt, so kann man im März die erste Ernte einbringen.
Der Kolonist kommt aus der Roce herunter und begrüßt uns. Er erzählt, daß er von der ersten Ernte immerhin bereits 35 Sack verkaufte. Für den Sack 5 bis 6 Milreis. Aber das ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist, daß man jetzt nicht mehr von gekauften Nahrungsmitteln leben muß, daß man seinen eigenen Bedarf selbst baut und daß man jetzt daran gehen kann, sich Vieh zu halten.
Bisher hatte man nur ein Pferd oder Maultier, das im Wald weidete. Jetzt kann man sich Schweine kaufen und damit vor allem die eintönige Nahrung aufbessern, die bisher nur aus Mais und schwarzen Bohnen bestand.
Dicht neben dem Haus ist ein Pferch, in dem bereits ein paar Dutzend schwarzstruppiger Borstentiere grunzen. Schweinehaltung ist die große landwirtschaftliche Industrie in ganz Rio Grande. Jeder Kolonist, der nur ein wenig Glück mit ihnen hat, wird seinen Mais nicht verkaufen, sondern damit Schweine großziehen. Das Wichtigste an ihnen ist das Fett, das ausgelassen und in Blechbüchsen in die Hafenstädte verkauft wird. Was übrigbleibt, ißt man selbst oder verkauft es an die Nachbarn; denn hat man’s erst, so lebt man auch üppig.
Aber das dauert noch ein paar Jahre, und bis dahin heißt’s harte, schwielentreibende Arbeit. Auf dem Fußboden spielen die Kinder. Es sind im zweiten Ehejahr bereits ihrer zwei. Pro Jahr ein Kind. Auch Wald und Urwaldboden strotzen ja von Fruchtbarkeit.
Im Dach sind Löcher. Der Kolonist folgt unserm Blick. „Ja, das muß ich auch noch machen. Man kommt kaum zu allem.“ Im Urwald heißt es alles selbst machen, alles selbst können.
Die Frau bringt das Essen: schwarze Bohnen, Brot und etwas ausgelassenes Schweinefett. Wie wir abreiten, gehen die beiden zusammen in die Roce. Das Ein- und das Zweijährige bleiben allein zuhause. Die Schweine grunzen im Pferch.
Die Sonne steht hoch. Mann und Weib jäten nebeneinander im jungen Mais. Mann und Weib allein im Wald und nur aufeinander angewiesen. Es ist wie bei der Erschaffung der Erde.
Guarany.
Mein Freund in Guarany war der Tischlermeister. Er war fast seit Gründung der Kolonie dort und kannte alle Kolonisten in der Umgebung. Er hatte den nötigen Lokalstolz, um nicht zu ruhen, bis ich alles gesehen. Das war recht interessant, aber auch ein wenig strapaziös; denn diese Ritte und Besuche gingen nicht ohne erheblichen Alkoholkonsum ab. Lag eine Venda an der Linie, so gehörte es selbstverständlich zum Geschäft, daß man abstieg und einen Schnaps nahm, und gar wenn mein Besuch einer Brauerei oder Schnapsfabrik galt; ich war froh, wenn wir einmal eine Limonadefabrik besuchten.
Diese vielen gewerblichen Kleinbetriebe sind ein besonderes Merkmal der deutschen Kolonien in Südbrasilien und[S. 277] ein Zeichen für die Rührigkeit der Siedler. Es wird dort eine Menge handwerksmäßig betrieben, wie z. B. Brauerei oder Brennerei, was wir längst nur mehr als Industrie- und Großbetrieb kennen. Man staunt, wie einfach man alles erzeugen kann. Eine Sudpfanne und ein Gärbottich, und die Brauerei ist fertig. Oder ein einfachster Destillationsapparat für die Brennerei oder ein, zwei Maschinen für die Limonadefabrik. Die Produkte dieser Kleingewerbsbetriebe im Urwald stehen recht hoch im Preis, für die Flasche Bier ein bis zwei Milreis. Aber nicht nur die Kleingewerbetreibenden dieser Art werden reich durch das Geschäft, sie beziehen auch Maschinen und Rohstoffe aus den Hafenstädten zu phantastischen Preisen. Ein Limonadefabrikant nannte mir die Preise, die er für Fruchtessenzen bezahlen muß. Darnach verdient das deutsche Exporthaus in Porto Alegre, von dem er bezieht, daran einige hundert Prozent.
Diese gewaltigen Zwischen- und Unternehmergewinne trägt der Kolonist, ebenso den Riesenverdienst des Handels, der jeden Gebrauchsgegenstand übermäßig verteuert. Trotzdem kommt auch der Siedler zu Wohlstand, selbst Reichtum, wenn er sich nur einigermaßen daran hält; so fruchtbar ist das Land.
„Wenn Sie sehen wollen, was wir in ein paar Jahren aus einem Stück Urwald machen können, müssen Sie unbedingt einmal zu Schirach hinaus“, sagte der Tischler.
So ritten wir eines Morgens los. Gegen Mittag waren wir auf der Schirachschen Kolonie. Sie lag in einem schmalen Tal, das von der Linie abzweigte. Unten bildete ein Bach die Grenze, dann ging es 250 Meter lang am[S. 278] sanften Hang hoch. Das Ganze war ein Kilometer lang, es war nur eine kleine Kolonie.
Aber jeder Fleck war ausgenützt. Zuerst kamen 400 Meter Pferch, in dem 23 Stück Rindvieh und 3 Pferde weideten. Zwischen den Grasenden standen noch die langsam verwitternden Stumpen der gefällten Urwaldbäume, und die verhältnismäßig kleine Weide genügt für den Sommer vollkommen; im Winter kommt noch ein Zuschuß von Salzcaña hinzu, die als Viehfutter regelmäßig angebaut wird.
Neben dem Weideplatz lag das Haus mit Schuppen, Scheune und Schweinestallungen. Davor Rasen, Blumen und dahinter ein großer Obstgarten. Der Boden lag voll von Pfirsichen, die der letzte Wind heruntergeschüttelt. Aber auch Birnen und Äpfel fehlten ebensowenig wie ein Bananengebüsch und eine große dichte Weinlaube, unter deren dichtem Blätterdach man herrlich kühl ging, während einem die reifen blauen Trauben nach Art des Schlaraffenlands in den Mund hingen.
Das Haus war, was selten ist, ein Ziegelbau mit Fachwerk; sauber und fest. Der Besitzer kam uns von der Veranda entgegen. Er konnte sich jetzt schon ab und zu ein Mußestündchen leisten. Mit Ausnahme von etwa fünf Hektar Wald, den er zur Deckung seines Holzbedarfs stehenließ, war alles gerodet und angebaut. Mais, Tabak, Maniok, Reis, Zuckerrohr — nichts fehlte. Wir liefen uns in der heißen Mittagssonne müde, bis wir alles angesehen hatten.
Man hört so oft, daß nur Landwirte es wagen sollten, in Übersee als Kolonist anzufangen, allein ich habe[S. 279] viel Nichtlandwirte drüben angetroffen, die es als Kolonisten zu etwas gebracht. Auch Schirach war Fabrikarbeiter gewesen, nicht einmal jung, 34 Jahre, desgleichen seine Frau. An Kapital hatte er ein Conto — das sind 1000 Milreis —, nach heutigem Geldwert etwa 10000 Mark, mitgebracht. Dafür hatte er das Haus gebaut. Er wollte sich gleich ein behagliches Heim schaffen. An Betriebskapital blieb ihm also nichts übrig. Heute, nach acht Jahren, wertet seine Kolonie etwa 14 Contos, mit totem und lebendem Inventar etwa 22. Sein jährlicher Reingewinn beträgt, abgesehen von dem sehr reichlichen Leben, das ihm seine Kolonie bietet, mindestens ein Conto. Unter Umständen können die Erträge auch viel höher sein. Beispielsweise kann ein Mann im Jahr auf einem halben Hektar 20000 Tabakpflanzen anbauen. Sie werden im Frühjahr gepflanzt, im Spätsommer wird geerntet. Bei einem guten Jahr gibt das einen Ertrag von zwei Contos.
Schirach sagte uns nicht, was er an seinem Tabak verdiente. Aber er zeigte uns die Stangen, an denen büschelweise die breiten Blätter zum Trocknen hingen, und die schwarzen Rollen fertigen Tabaks — die Kolonisten bereiten meist selbst ihren Tabak. Er besteht aus festgedrehten, ein wenig fettigglänzenden Rollen, die wie große Blutwürste aussehen. Sich daraus eine Zigarette zu drehen, ist keine Kleinigkeit. Erst schneidet man wie bei einer Wurst eine Scheibe ab, dreht und zerdrückt sie zwischen den Händen, rollt und zerkleinert dann den Tabak und wickelt ihn schließlich in ein trockenes Maisblatt ein.
Es liegt ein besonderer Reiz darin, sich seinen gesamten Lebensbedarf selbst herzustellen. Es kommt nichts auf den[S. 280] Tisch, was nicht auf eigenem Grund und Boden gewachsen, und als wir uns zum Essen setzten, war alles eigenes Erzeugnis, bis zu dem selbstgekelterten Wein und dem Zucker zum Kaffee.
Wir saßen in patriarchalischer Weise mit den drei hübschen Mägden und dem schwarzen Knecht zu Tisch. Schirachs hatten keine Kinder, und ihr Wohlstand schlägt eigentlich aller Theorie ins Gesicht, daß es nur der Kolonist mit vielen Kindern zu etwas bringt.
„Ach, wenn wir Kinder hätten!“ meinte die Frau. Sie war Ungarin, gleich ihrem Mann, und noch immer hübsch.
Als wir nach Tisch bei Wein und Zigaretten in Schaukelstühlen auf der Veranda lagen, mußte ich unwillkürlich daran denken, wie sich wohl das Leben dieses Mannes gestaltet hätte, wäre er als ungelernter Arbeiter in der Heimat geblieben. Er hätte es wohl nicht über den besitzlosen Proletarier gebracht.
Trotzdem er jetzt einen wohlhabenden Bauer vorstellt, war er noch immer Sozialist. Er konnte sich nicht genug von den Vorgängen in Europa seit dem Kriege erzählen lassen. Eine starke Unruhe war in ihm. „Ich hätte wohl drüben sein mögen!“
„Ach Gott!“ fiel die Frau ein, „denken Sie nur, er will alles verkaufen, und wieder woanders neu anfangen, jetzt, wo wir uns endlich etwas leichter tun können!“
„Ja, es freut mich nicht mehr“; er schaute gelangweilt über seine herrlich stehenden Felder. „Wenn ich jemand finde, der sie mir gut abkauft, gebe ich meine Kolonie gleich her. Vielleicht gehe ich auch wieder nach Europa zurück.“
Ich mußte an die Tausende denken, die über den Ozean ziehen, die hier im Urwald unter schwersten Entbehrungen neu anfangen und denen ein Besitz wie der Schirachsche wie ein fast unerreichbares Ideal in der Ferne vorschwebt.
„Na, vielleicht überlegen Sie es sich noch,“ sagte ich ihm zum Abschied, „das Land hier scheint mir dem Tüchtigen doch noch immer die besseren Chancen zu geben.“
Ehe ich heimritt, machte ich noch seinem Nachbar einen kurzen Besuch. Er hatte gleichzeitig mit Schirach angefangen, aber es noch immer zu nichts gebracht, trotzdem er zwei große Söhne hat. Er schimpfte auf das Land und erzählte dann von seiner Zeit als Potsdamer Garde du Corps. Es war ganz augenscheinlich, daß er auf seine ehemaligen Unteroffizierstressen auf dem weißen Kragen auch heute noch immer stolzer war als auf seinen Hof und Feld und auf all seine Freiheit und Selbständigkeit als brasilianischer Bauer.
Porto da União.
Noch bei Morgengrauen fuhren wir bei Marcelino Ramos über den Fluß, der hier flußauf Rio Pelotas, flußab Rio Uruguay heißt. Dann ging’s quer durch Santa Catharina, fast einen Tag lang im Tal des Rio do Peixe entlang.
Die Bahn war erst seit kurzem wieder hergestellt, nachdem der Fluß den Damm unterspült und einen Personenzug von den Schienen heruntergeholt hatte.[S. 282] Reißend sah er noch immer aus, aber es war eine herrliche Fahrt an den tobenden, in Fällen und Stromschnellen sich überstürzenden Wassern entlang, die fast schmerzhaft blinkten und glänzten, sobald die Sonne auf ihnen lag.
Beiderseits des Flusses Wald. Wald in unendlicher Ausdehnung. Größtenteils brasilianische Koniferen. Mit ihren hohen, geraden Stämmen, die nur an der Spitze einen Kranz horizontal abstehender, spärlich mit Nadeln besetzter Äste tragen, sehen sie aus wie riesige Regenschirme, in deren Bezug ein Sturmwind bös gewütet hat.
An allen Bahnstationen Schneidemühlen und mächtige Stapel von Blockholz und Brettern. Aber so dicht stand der Wald noch, daß man sich fragte, woher denn all dies Holz eigentlich stamme.
An dieses Tal grenzen die Ländereien der wichtigsten brasilianischen Kolonisationsgesellschaft, der Kompanie Hacker. Und alsbald liegen in allen Waggons die Prospekte und Pläne dieser Kompanie, die zum Kauf ihrer Ländereien einladen.
Überall in Südbrasilien, in Hotels, auf den Bahnen trifft man die Propaganda dieser Landgesellschaften, und man begegnet so vielen ihrer Agenten, daß man sich fragt: „Woher nehmen diese Gesellschaften all das Geld nur allein für ihre Propaganda; wie teuer muß der Kolonist schließlich das Land bezahlen, oder wie billig muß der Kompanie seinerzeit die Konzession zu stehen gekommen sein!“
Die Frage der Einwanderung ist nicht zu trennen von der der Landgesellschaften, insbesondere da bei weiterem Anschwellen des Einwandererstromes die Kolonisation der[S. 283] brasilianischen Staaten keineswegs reicht, alle Landsuchenden mit geeigneten Ländereien zu versorgen. Dazu kommt ein anderes. Die am günstigsten gelegenen Ländereien an den Bahnen und Strömen sind zu einem großen Teil in den Händen von Kolonisationsgesellschaften, die sich häufig diese Komplexe sicherten, als sie durch einen mit ihnen liierten einheimischen Politiker von bevorstehenden Bahnkonzessionen erfuhren.
Es ist der Fall möglich, daß der kapitalkräftige Siedler vorteilhafter ein teueres Los bei einer Landgesellschaft erwirbt, als Land vom Staate zu geringerem Preis. Der Anteil der Transportkosten ist sehr groß. Der Sack Mais in Kolonien an der Bahn, mit kurzen Frachten zu den Hauptabsatzgebieten, ist beispielsweise etwa 11 Milreis wert, bei schlechteren Verkehrsverhältnissen kann er bis zu 7 Milreis und weniger heruntergehen, während in tagereisenweit von der Bahn abgelegenen Urwaldkolonien mit obendrein schlechten Wegverhältnissen der Händler dem Kolonisten nicht mehr als 2 Milreis für den Sack bietet.
Man braucht nicht lange in Brasilien zu reisen, um von den verschiedensten Seiten die widersprechendsten Urteile über ein und dieselbe Gesellschaft zu hören. Nach dem einen sind ihre Leiter sämtlich die gemeinsten Betrüger und Blutsauger, nach dem andern sind sie die reinen Wohltätigkeitsanstalten, und die Einwanderer können gar nichts besseres tun, als sich ihnen sofort und blindlings anzuvertrauen. Man wird ja sehr rasch lernen, ungerechte Erbitterung und Verärgerung auf der einen wie Interessenverknüpfung auf der andern Seite zu erkennen. Allein trotzdem[S. 284] ist nichts schwerer, als sich über die Qualitäten der einzelnen Gesellschaften ein zutreffendes Bild zu machen.
Die Preisunterschiede zwischen den Ländereien der Kolonisationsgesellschaften und des Staates sind sehr erheblich. Während staatliche Kolonielose von 25 Hektar in Paraná für 350 Milreis zu haben sind, und selbst in Rio Grande mit seinen hohen Landpreisen Staatskolonien nicht mehr als 1000, allerhöchstens 1500 Milreis kosten, muß man an Kolonisationsgesellschaften 2–3000 zahlen, es sei denn, daß es sich um Kolonien in ganz abgelegenen Gegenden handelt, wo schon Land für 5–800 Milreis zu haben ist.
An Kosten hat die Landgesellschaft im allgemeinen nur die für Vermessung und Wege hineingesteckt. Die in den Prospekten enthaltenen Angaben über Kirche, Schule usw. bleiben allzu häufig nur auf dem Papier.
Im Gegensatz zu den Staatskolonien wird aber streng auf Trennung von Nationalität und Konfession geachtet. Brasilien sucht gleich allen andern südamerikanischen Staaten in seinen neuen Kolonien möglichst die verschiedenen Nationalitäten zu mischen, allerdings überall mit dem gleichen Mißerfolg — national geschlossene Kolonien kommen wirtschaftlich stets rascher voran. Dagegen halten die auf rein privatwirtschaftlicher Grundlage basierenden Privatkolonien größtenteils auf Scheidung. So hat zum Beispiel die Hackergesellschaft nicht nur streng voneinander geschiedene Kolonien für Deutsche und für Italiener, sondern auch Kolonien für protestantische und katholische Deutsche. Ebenso wie in Südchile ist ja die Gegnerschaft der beiden Konfessionen gerade unter den[S. 285] deutschstämmigen Elementen unvergleichlich größer als in Europa. Wo man auf möglichst alle Landinteressenten spekuliert, wie es bei neuen, abgelegenen Kolonien geschieht, legt man wenigstens die verschiedenen Nationen auseinander. So siedelt beispielsweise die Petri-Meiersche Kolonisationsgesellschaft in ihrer neuen großen Kolonie Affonso am Paraná im Nordteil nur Italiener, im Südteil nur Deutsche an. Für beide Nationen ist auch von vorneherein ein eigener Stadt- und Hafenplatz vorgesehen. In dieser Kolonie hat sich übrigens ein Teil der mit der „Argentina“ in Buenos Aires eingetroffenen deutsch-ostafrikanischen Pflanzer angesiedelt.
Das Haupttätigkeitsfeld der Kolonisationsgesellschaften liegt in Santa Catharina und Paraná, teilweise auch in São Paulo. Neuerdings wird eine wachsende Propaganda für Matto Grosso gemacht. Nach den Prospekten ist Land und Klima überall herrlich, und viele mögen auch zufriedenstellende Käufe gemacht haben. Die Rio Grandenser Bauern kaufen z. B. viel von Kolonisationsgesellschaften. Allein für Unerfahrene bestehen doch große Gefahren. Es gibt gewissenlose Landgesellschaften, deren Geschäft hauptsächlich darin besteht, den Käufer um die Anzahlung zu bringen. Das verkaufte Land liegt dann entweder in einer Fiebergegend, oder hat keinen Absatz. Der Käufer muß es aufgeben, und die Anzahlung, meist ein Drittel des Kaufpreises, verfällt.
Überhaupt ist in bezug auf Fieber die größte Vorsicht geboten. Von Kolonisten wurde mir gegenüber beweglich geklagt, daß ihnen selbst eine so alte und renommierte Kolonisationsgesellschaft wie die Hanseatische Fieberland[S. 286] verkauft habe. Auch Hacker erlebte mit Fieberland ein böses Fiasko. Er hatte eine riesige Konzession am Paraná-Panema erworben. Aber das Fieber wütete dort so schlimm, daß bereits der größte Teil der Vermessungskolonne hinsiechte und sich nur ein kleiner Teil retten konnte.
Mit mir im Kupee saß ein junger Rio Grandenser Bauer, der sich auf der Staatskolonie Cruz Machado Land ansehen wollte. Hatten es ihm die lockenden Prospekte angetan, oder war er anderer Einwirkung erlegen, jedenfalls sah ich ihn in Capinsal, der ersten Hackerkolonie, mit einem andern Herrn aussteigen und Richtung landeinwärts nehmen.
So mag wohl etwas daran sein an der Mahnung an die Landsuchenden, die in allen Prospekten wiederkehrt, doch ja auch bis zu der empfohlenen Kolonie zu fahren und sich nicht etwa unterwegs von dem Agenten einer anderen Landgesellschaft beschwätzen zu lassen, um bei ihr sich Land anzusehen und zu kaufen.
Diese Mahnung sollten Einwanderer weitergehend dahin auslegen, überhaupt zunächst von keiner Landgesellschaft Land zu kaufen, ehe sie es nicht auf Grund eigener Erfahrungen über Bodenkultur- und Absatzverhältnisse zu beurteilen vermögen.
Porto Almede.
Wir standen am Ufer des Iguassu und warteten auf die Barkasse. Jeden Augenblick glaubte ich das Puffen des Motors zu hören und hoffte das Boot an[S. 287] der nächsten Flußbiegung auftauchen zu sehen, aber dann war es wieder nichts.
„Manchmal wird es 5 Uhr, bis sie kommt“, tröstete Karl.
Karl war bisher Kellner in einem deutschen Hotel von Porto da União gewesen und ging jetzt daran, sich selbständig zu machen. Er hatte sich ein paar tausend Milreis erspart und erborgt. Mit denen wollte er eine Venda in Cruz Machado aufmachen.
„Gibt es denn dort noch keine?“ fragte ich.
„Doch, schon drei, aber es wird schon noch für eine vierte etwas zu verdienen geben. Die Kolonie wächst.“
Karls Vertrauen stand in krassem Gegensatz zu allem, was man mir in der Stadt gesagt.
„Was, Sie wollen nach Cruz Machado?“ hatte der Wirt gemeint, als er von meiner Absicht gehört. „Das hat gar keinen Wert. Cruz Machado taugt nichts.“
„Der Boden ist schlecht“, sagte der Besitzer der größten Venda. „Alle Einwanderer, die dorthin gehen, kommen wieder zurück. Es ist ein Verbrechen, Einwanderer nach Cruz Machado zu bringen.“
Auch der sehr verständige Arzt meinte, es gebe so viele Kenner dieser neuen Staatskolonie in Porto da União, daß ich hier alle Auskünfte viel besser einziehen könnte als draußen im Wald.
Cruz Machado ist gegenwärtig die bedeutendste brasilianische Bundeskolonie, in die ein großer Teil der in Rio eintreffenden Einwanderer geleitet wird. Ich bestand also auf meiner Absicht.
„Wozu wollen Sie dahin? Der Beauftragte des deutschen Reichswanderungsamtes selbst, der vor einigen[S. 288] Monaten hier war, ist auch nicht hingefahren. Außerdem können Sie jetzt gar nicht hin. Die Wege sind aufgeweicht. Es gehen keine Autos.“
„Ich werde schon hinkommen.“
„Und wenn; Sie werden nichts anderes sehen, als wir Ihnen gesagt haben. Was haben Sie dann?“
„Dann habe ich mit eigenen Augen gesehen.“
Man war etwas beleidigt, und ich stand jetzt mit Karl am Iguassu. Es war wirklich nicht so leicht, nach Cruz Machado zu kommen. Bis Porto Almede ging gelegentlich ein Motorboot, aber von da war es noch eine tüchtige Strecke ins Land.
„Wie weit?“
„Oh, so 30 bis 40 Kilometer.“
„Sie reiten einen Tag.“
„70 Kilometer mindestens“, meinte ein Dritter.
Auskünfte über Weglängen sind im ganzen Innern Südamerikas immer sehr unbestimmt.
Wir warteten; die Barkasse kam nicht. Wir hatten um 11 Uhr ein wenig gefrühstückt und rannten dann eilig an den Fluß hinunter. Jetzt brannte brasilianische Sommersonne mit größter Kraft.
Neben uns im Gras glühten mächtige Eisenstücke in der Sonne, Maschinenteile, Zahnräder, ein Zylinder, ein in zwei Teile zerlegtes Schwungrad.
„Für die Papierfabrik“, sagte Karl.
„Wann wird die gebaut?“
Er zuckte die Achseln.
„Die Sachen liegen schon ein Jahr da.“ Sie waren rot von Rost.
Papierfabriken fehlen in ganz Südamerika. Das ist sehr sonderbar. Es gibt, vor allem in Brasilien, Holz und Wasserkraft dicht beieinander in beliebigen Mengen, dazu Zeitungen, die einen Papierbedarf haben, größer als die größte deutsche Zeitung, aber das Papier kommt so gut wie alles von Übersee, viel aus Nordamerika, einiges aus Europa.
Vor uns floß der Iguassu, ruhig, breit, mächtig. Sein Wasser war fast so grau wie Buschwerk, Sumpf und Schlingpflanzen, die seine Ufer säumten. Nur die Stelle, wo das Motorboot anlegen sollte, war etwas ausgehauen. Am andern Ufer, gerade uns gegenüber, warfen riesige Palmen ein leise zitterndes Spiegelbild.
Die Barkasse kam noch immer nicht. Es war sehr heiß. Ich warf die Kleider ab.
„Lieber nicht“, meinte Karl.
„Warum?“
Ich war schon im Wasser. Es war lau, aber doch herrlich erfrischend. Ich vergaß das Boot und schwamm, bis ich weit über Strommitte war.
Dicht neben mir kräuselte sich die Flut. Etwas sich Windendes, Schillerndes. Eine Wasserschlange. Ich erschrak und machte einen Bogen. Außerdem fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, nach Alligatoren zu fragen. Überhaupt die Barkasse. Es war Zeit umzukehren.
Ich wendete. Karl war nicht mehr zu sehen. Die Strömung war viel stärker gewesen, als ich geschätzt, und ich war weit stromab getrieben. So gut es ging, holte ich gegen den Strom auf, aber ich kam doch gut ein Kilometer weiter flußab ans Ufer. Vor einem[S. 290] Steilhang lagerte sich ein schier undurchdringliches Gewirr von Wasserpflanzen. Glücklich kam ich heraus und trabte zu meinen Kleidern. Als ich da war, legte eben die Barkasse an.
Bereits wenige Kilometer hinter der Stadt traten die Waldberge bis dicht an den Fluß heran, hohe, dichtbewaldete Kuppen. Nur ab und zu sieht man ein Stück Hang gerodet. Daneben liegt zwischen Mais, Wein und Pfirsichbäumen ein Haus. Eine einfache Bretterhütte, aber herrlicher gelegen als die schönsten Villen an mondänen Plätzen.
Die Kolonisten, die hier am Ufer wohnen, haben beste Absatzgelegenheit auf billigem Wasserwege nach Porto da União. So wundert man sich, daß noch nicht mehr Boden urbar gemacht ist. Allein das Land an beiden Ufern gehört Kolonisationsgesellschaften. Sie haben es nicht sehr nötig zu verkaufen, von Porto da União soll eine Bahn Iguassu abwärts gebaut werden. Dann verdoppeln sich die Preise.
Diese Bahn ist nötig; denn der Iguassu ist nur bis Porto Almede schiffbar; dann beginnen die Stromschnellen: ein Krescendo von über Felsen stürzenden Wassern, bis sie ihren Höhepunkt in den Fällen von Santa Maria erreichen, kurz vor der Mündung des Flusses in den Paraná in einer Phantasie tosender Wassermengen.
Die Iguassufälle sind ein Weltwunder. Sie sind die größten der Welt. An Höhe und Wassermenge übertreffen sie noch den Niagara und die Viktoriafälle des Sambesi. Die Energiemenge, die da verstäubt, genügte für ganz Südamerika; aber bisher ist noch nicht die beschei[S. 291]denste Pferdekraft gewonnen. Die Fälle liegen mitten im feuchtheißen, tropischen Urwald, Tausende von Kilometern von den industriellen Mittelpunkten der angrenzenden Länder Brasilien und Argentinien entfernt. Brasilien lenkt planmäßig seine Kolonisation Iguassu abwärts, und auch die projektierte Bahn von Porto da União bis an die Flußmündung soll der Erschließung dieser Region dienen, deren Wichtigkeit in absehbarer Zukunft vielleicht nicht hoch genug veranschlagt werden kann. In dem Augenblick, in dem der eine der beiden Besitzer der Fälle, Argentinien oder Brasilien, auch nur die bescheidenste Anlage an den Iguassufällen schafft, wird die Erschließung der Fälle in raschestes Tempo geraten, da dann Rivalität und Eifersucht auch den andern Staat zu fieberhaften Anstrengungen und großen Unternehmungen treiben werden. Aber bis heute blieb’s bei Studienkommissionen. —
Ab und zu legte das Motorboot an. Der Neger zog es dann mit einem langen Bootshaken unter die traumhaft überhängenden Weiden und Palmen, zwischen denen weiße und rote Blumen leuchteten und flammten wie eine Schar rastender bunter Vögel. Es ist nicht viel Verkehr flußab. Der bedeutendere geht stromauf: Mais, Schweine, Hühner, Eier und Früchte von den Kolonien in die Stadt.
Trotz der raschen Fahrt wurde es fast Abend, bis wir nach Porto Almede kamen. Die Waldhänge waren etwas stärker gelichtet, ein paar rote Dächer im Grün, das war der ganze Hafen. Hinter dem letzten Haus schien ein Strich über den Fluß gezogen, von da ab war das ruhige Grün des Stromes unruhig, gekräuselt, mit weißen Flecken durchsetzt: die Schnellen.
Das Motorboot, das nur selten verkehrt, fuhr am übernächsten Tag wieder nach Porto da União. Bis dahin mußte ich nach Cruz Machado und wieder zurück sein. Zunächst schien es allerdings hoffnungslos; denn, wo ich auch um ein Pferd oder Maultier anfragte, erhielt ich abschlägigen Bescheid.
Cruz Machado.
Wenn sich auf hoher See die großen Passagierdampfer begegnen, auf der einen Seite die Dampfer der Hoffnung, die sich neigen von den an die Reling drängenden Menschen, jubelnd, tücherschwenkend, von denen jeder einzelne eine Welt von Erwartung und Zukunftsglauben in sich trägt, auf der andern Seite die stillen Schiffe der Rückkehrenden, so hat solches Zusammentreffen immer etwas von dem Begegnen der Züge im Felde an sich. Die einen, die frisch an die Front fahren, laut und lärmend, voll Hoffnung, unbekümmerten Mutes und Leichtsinns, und die andern mit den roten Kreuzen und den stillen blassen Männern, beschattet vom harten Ernst bitterer Enttäuschung, aber auch starrer Entschlossenheit. Jeder Dampfer, der in die Heimat zurückkehrt, trägt unsichtbar solch rotes Kreuz, und jeder, der auf ihm fährt, die Narben der Enttäuschung, sei es sichtbar im Antlitz, sei es unsichtbar in der Seele. Auch jene, die die alte Heimat nur zeitweise aufsuchen, die nicht klagen können, auch jene, die erfolggekrönt zurückkehren. Irgendwie war es doch anders, bitterer, schwerer, zum[S. 293] mindesten anders. Und fast alle führte der Weg von der großen Hoffnung über die große Enttäuschung, zum schließlichen Erfolg, oder zum stillen Sich-Bescheiden, oder zum Zusammenbruch, aus dem nur das nackte Leben in die alte Heimat zurückgerettet wurde.
Wenn die Schiffe aus der Heimat drüben einlaufen, in der Bai von Rio, deren berauschender Zauber selbst Menschen trunken macht, die schon satt sind von der Schönheit der Welt, oder in dem Silberstrom, dessen braune Unendlichkeit grandios trostloser Wüste gleicht, aus der Buenos Aires gleich einer Fata Morgana aufsteigt, so zittert die Luft von all der ausströmenden Hoffnung und Erwartung. Jeder ist ein heimlicher König, auf den all die Reichtümer, die da am Strande ausgebreitet liegen, nur warten, daß er sie aufnehme.
Es soll niemand die Hoffnung genommen werden, der hinüberfahren will in das Land der Hoffnung. Aber ich sah doch Menschen, die bei der Landung die Welt in die Tasche steckten, die in der Einwandererbank der Hauptstadt noch den Kopf hochhielten, die in den verflohten, verwanzten Einwandererschuppen im Innern bereits klagten und dann im Urwald nach kurzer Zeit die Axt hinwarfen und wegliefen, um irgendwo unterzutauchen, oder andere, die in der Stadt am La Plata nur allzu rasch den Weg vom „Kaiserhof“ über den „Deutschen Bund“ zum Nachtquartier auf den Freitreppen des Colontheaters fanden.
Was ich in der neuen brasilianischen Staatskolonie Cruz Machado an Einwanderern vor mir sah, waren eben der Hundertsatz an Zähen, Energischen, die sich nicht[S. 294] abhalten ließen, den Weg ins Neue, in neue Heimat, auf jungfräulichem Boden zu versuchen. Der Weg ist nicht leicht.
Es ist unendlich schwer, eine solch junge, eben erst im Entstehen begriffene Kolonie zu beschreiben. Sie ist so, wie sie der einzelne Einwanderer als Vorstellung im Herzen trägt. Nur auf das Hoffen, Wünschen und Glauben kommt es an. Es ist ja nichts gegeben; alles existiert nur im Herzen, in der Phantasie. Auch Cruz Machado muß erst von der Summe der Willensenergien derer, die in ihr arbeiten wollen, geschaffen werden.
Die Auspizien sind gut. Das Einwandererhaus ist übervoll, und täglich kommen neue Familien an, voll Hoffen und Glauben. Die Kolonieverwaltung hat es übernommen, jeder Einwandererfamilie ein Haus auf ihrem, von ihr selbst gewählten Los zu bauen.
Hier beginnt die erste Schwierigkeit. Die Verwaltung kommt nicht nach. Der Andrang ist im Augenblick so groß, daß die Häuser nicht rasch genug gebaut werden können. So ist der Einwandererschuppen übervoll. Rechts eine Reihe Pritschen, links eine Reihe Pritschen. Darauf Männlein, Weiblein und Kinder in buntem Wechsel. Die Betten sind verwanzt, der Schuppen ist heiß, in den schmalen Gängen zwischen den Pritschen wimmelt es von Kindern. Zank und Streit ist nahe bei der Hand, wenn so viele Menschen so dicht beieinander wohnen. Die Neuankommenden nehmen wieder Platz weg. Die Unzufriedenheit der bereits Unzufriedenen trübt auch ihre Laune.
Da mag es nicht immer leicht sein, das Bild der[S. 295] Kolonie so froh und schön im Herzen zu tragen, wie es eben nötig ist, wenn man vorwärtskommen will.
Der brasilianische Staat übernimmt nicht nur die freie Beförderung der Einwanderer und ihres Gepäcks vom brasilianischen Hafen bis auf die Kolonie einschließlich Verpflegung (freie Überfahrt wurde in beschränkter Anzahl gewährt, ist aber gegenwärtig beinahe unmöglich zu erlangen) auf der Reise und in den Einwandererhäusern, er stundet auch die übrigens sehr niedrigen Sätze für Kolonielose und Häuser. Außerdem werden den Einwanderern ein Vierteljahr lang Lebensmittelkredite in Höhe von einem Milreis für jedes Familienmitglied gewährt, die durch Wegarbeiten abverdient werden müssen. Da auch Samen und Arbeitsgerät von der Kolonieverwaltung geliefert werden, ist theoretisch die Ansiedelung auf einer brasilianischen Staatskolonie ohne jedes Kapital mit Ausnahme des für die Überfahrt nötigen möglich. In der Praxis gibt es natürlich einige Schwierigkeiten, da doch für eine ganze Reihe von Bedürfnissen Geld erforderlich ist, und auch die Lebensmittelkredite zu völliger Sättigung bei der schweren Arbeit kaum ausreichen.
„Wir haben unsern Koffer verkauft,“ jammert mir die Frau, die vor dem Einwandererschuppen gerade ihre Sachen wäscht, „jetzt weiß ich nicht mehr, wohin mit den Sachen.“
„Und ich hab ihm Stiefel gegeben, dem Kerl“, fügt eine andere Frau hinzu und weint. „Keiner wollt’ was geben dafür.“ Sie halten zusammen, all die Schmeißfliegen, die den Mangel nutzend in jeder neuen Kolonie[S. 296] die Einwanderer umkreisen und ihnen für wahre Schandpreise ihre Sachen abnehmen. Aber nur durch Verkauf können sich viele Herübergekommene das nötige Bargeld verschaffen.
Die beiden Frauen weinen laut auf, als sie mir erzählen, was sie alles verkaufen mußten. Andere kommen hinzu und bringen andere Klagen vor. Jammern steckt an. Das ist das Gefährliche.
Sicher ist manche Klage berechtigt, und jeder, der Südamerika kennt, weiß, daß die zweifelsohne guten und praktisch durchdachten Einwanderermaßnahmen des brasilianischen Staates oft genug von Durchstechereien der untern Behörden durchkreuzt werden können. So erscheint mir glaubhaft, daß gewisse Beamte der Immigração auf Einwanderer, solange sie noch im Einwandererhaus auf der Blumeninsel bei Rio sind, einen Druck ausüben, sich auf Fazendas, auf Kaffeeplantagen, zu verdingen, statt auf eine Staatskolonie zu gehen. Die Kaffeefazendeiros brauchen dringend Arbeitskräfte, und wer will sagen, ob nicht der oder jener Beamte eine empfängliche Hand hat?
Aber auch in Cruz Machado selbst gab es mancherlei Klagen. Die Werkzeuge und der Samen würden in schlechtem Zustand und unvollständig geliefert. Der Lohn für die Wegearbeit werde nicht voll ausbezahlt, und dergleichen mehr. Klagen über Klagen von den einen, dann aber wieder Zufriedenheit und frohes Glück in den Augen bei andern, die sich schon durch die ersten Schwierigkeiten durchgebissen, denen der Mais schon Früchte trägt, die sich bald ein Schwein kaufen können, und die, wenn sie abends arbeitsmüde vor ihrer Hütte sitzen, im[S. 297] Geiste Wohlstand und Reichtum zwischen der frisch gemachten Roce emporsprießen sehen.
Auf der Kolonieverwaltung sah ich die Karten ein. Das ganze zur Verfügung gestellte, vermessene Land ist bis auf ein Zipfelchen vergeben. Doch sind bereits Vermessungskolonnen unterwegs, um weitere große Urwaldstrecken für Kolonisationszwecke zu vermessen. Urwald, nichts als Urwald, doch in nicht allzu ferner Zeit aller Voraussicht nach blühende, reiche Landstriche. Ich sah Kolonien, die fünf Jahre bestehen, nette kleine Dörfchen inmitten wogender, früchteschwerer Felder, zehn Jahre alte Kolonien, in denen es Vorangekommene schon zu kleinen landwirtschaftlichen Industrien brachten, wo schon ein Kirchturm zwischen Essen gen Himmel ragt. Und dann die großen, reichen Städte in Rio Grande, das große Vorbild und das Symbol der Hoffnung allen, die jetzt mit dem Einwandererbündel auf der Blumeninsel landen.
São Paulo.
Von dem feuchtheißen, ehemals so fieberschwangeren Santos führt in steiler Kurve die Bahn durch tropischen Urwald hinauf auf das kühle und gesunde Paulistaner Hochland, und hier, fast unter dem Wendekreis, liegt in 800 Meter Höhe São Paulo, die Hauptstadt des gleichnamigen Staates, die nur hinter der Bundesmetropole Rio de Janeiro an Größe und Einwohnerzahl zurücksteht, sie aber übertrifft an Rührigkeit und Energie ihrer Bewohner und an wirtschaftlicher Bedeutung.
Diese große, europäisch anmutende Stadt mit ihren[S. 298] breiten Boulevards, großen öffentlichen Palästen, großen Theatern ist ebenso wie der Hafen Santos und wie der ganze Staat São Paulo, der mit Minas Geraes zusammen den brasilianischen Bund regiert, eine Schöpfung des Kaffees.
Der Kaffee baute diese breiten Straßen, dieses dichte Bahnnetz, diese reichen Paläste und prächtigen öffentlichen Gebäude. Er zahlt die Seidenkleider und Florstrümpfe der Frauen und die Autos und mancherlei Passionen der Männer. Vom Kaffee lebt nicht nur der Staat São Paulo, von ihm lebt in der Hauptsache der gesamte brasilianische Bund. Er ist Hauptexportartikel, wirtschaftliches Rückgrat des ganzen Landes. Auch in der gegenwärtigen Krise richten sich aller Augen hoffend auf diesen Artikel, in dem die große südamerikanische Republik ein gewisses Weltmonopol hat. Wie wird die Ernte werden? Wie werden sich die Preise gestalten? Wird es den Valorisationskäufen der Regierung gelingen, die Preise so weit zu heben, daß trotz des erschreckenden Valutasturzes die Handelsbilanz des Bundes nicht allzu ungünstig abschneidet?
Abgesehen von den Verhältnissen auf dem Weltmarkt ist für São Paulos Kaffeebau zweierlei nötig: die Erschließung neuen Plantagenbodens und die ständige Zufuhr von Arbeitskräften.
Fährt man von São Paulo aus westwärts und nordwestwärts, so kommt man über Land, das ehemals Kaffeeboden war, das aber jahrzehntelanger Anbau der braunen Bohnen so ausgelaugt hat, daß man zu andern Kulturen überzugehen gezwungen war. So müssen sich die parade[S. 299]mäßig aufmarschierten Reihen der Kaffeebäume immer weiter nach Westen schieben, wo ein Stück jungfräulichen Urwalds nach dem andern zu fallen hat, damit die Kaffeeproduktion auf der Höhe erhalten werden kann.
Noch ist der unerschlossene brasilianische Urwald groß, schier unermeßlich. Darum droht hier noch keine Gefahr. Anders aber steht es mit den Arbeitskräften. Der eingeborene Brasilianer arbeitet in den Kaffeefazendas nicht oder nur sehr ungern — er wird seine Gründe haben —, und auch frisch Herübergekommene bleiben nur in Ausnahmefällen als Arbeiter auf den Plantagen, so daß die Fazendeiros, die Plantagenbesitzer, ständigen Bedarf an Arbeitskräften haben, den sie aus den Einwanderern decken: Portugiesen, Spaniern, Italienern und neuerdings auch Deutschen. Der Bedarf danach ist groß. Als ich in São Paulo auf der Immigração weilte, waren dort nicht weniger als 20000 Arbeitskräfte als verlangt angemeldet. Bei einer derart großen und derart lebenswichtigen Nachfrage mag es immerhin vorkommen, daß Bestechung eine Rolle spielt und daß von Einwanderungsbeamten ein unzulässiger Druck auf die Einwanderer ausgeübt wird, um sie auf die Fazendas zu bringen. Der Gerechtigkeit halber muß jedoch anerkannt werden, daß von seiten der zentralen Einwanderungsbehörde sehr energisch gegen solche Mißbräuche eingeschritten wird, sobald sie zu ihrer Kenntnis gelangen.
Das Leben und die Arbeit auf den Kaffeefazendas wird sehr verschieden beurteilt: von dem einen als sicherer Aufstieg zu eigenem Besitz, von dem andern als reine Sklaverei. Zweifelsohne ist die Arbeit dort schwer, und[S. 300] das Leben niemals leicht. Die Temperatur in den Kaffeefazendas ist hoch. Das Land ist kahl. Die mannshohen Kaffeebäume geben keinen Schatten. Es gilt, sie das ganze Jahr über unkrautfrei zu halten. Das ist nicht leicht, denn das Unkraut wuchert üppig. Man muß sich schon fest daranhalten, wenn man 3–4000 Bäume im Jahr rein halten will. Und diese Arbeit ist herzlich schlecht bezahlt, etwa 160 Milreis im Jahr für 1000 Bäume. Da ist es gut, wenn man eine recht zahlreiche Familie hat, die tüchtig mithilft.
Das Pflücken des Kaffees macht extra Arbeit, die allerdings auch extra bezahlt wird: für den Sack zu hundert Liter werden 2 Milreis gezahlt. Eine Familie zu sechs Personen vermag 1400 Sack zu ernten.
Zu diesem Barlohn tritt noch freie Wohnung und freies Holz. Außerdem wird in der Regel die Erlaubnis erteilt, zwischen den Kaffeebäumen eine Reihe Mais und zwei Reihen Bohnen zu ziehen, mitunter wird auch noch sonstiges Pflanzland gegeben, so daß sich die Fazendaarbeiter Hühner und Schweine halten können.
Unter solchen Bedingungen haben zahlreiche Einwandererfamilien es dahin gebracht, sich nach einer Reihe von Jahren erst Land zu pachten und später kleine Kaffeeplantagen zu kaufen und auf eigene Rechnung zu bewirtschaften. Aber äußerste Sparsamkeit in den ersten Jahren gehört dazu und Verzicht auf alle Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten. Außerdem darf man nicht krank werden; ein Unglücksfall kann alles ruinieren, und man darf nicht auf eine Fazenda kommen, wo der Besitzer für die Lebensmittel, die jeder besitzlose Arbeiter für den Anfang[S. 301] auf Kredit nehmen muß, Wucherpreise verlangt. Sonst ist die Gefahr der Schuldenwirtschaft gegeben, die leicht zu einer Schuldknechtschaft werden kann.
Als ich in São Paulo auf dem deutschen Konsulat war, traf ich dort einen Mann und eine Frau, die von einer Kaffeefazenda in die Stadt geflohen waren. Der Fazendeiro hielt sie über den Kontrakt hinaus auf der Fazenda unter geradezu grauenhaften Verhältnissen. Als sich der Mann dagegen auflehnte und fort wollte, ließ der Plantagenbesitzer ihn niederschlagen und sperrte ihn in den Schweinestall. Mit einem andern dort arbeitenden Deutschen floh daraufhin die Frau, um die Hilfe des Konsulats anzurufen.
Solche Fälle mögen selten sein. Der geflohene Mann sagte mir selbst, daß er seit vielen Jahren auf Fazendas arbeite und daß er solche Verhältnisse bisher nie angetroffen habe. Allein, mögen sie auch noch so selten sein, Vorsicht tut doch bei jedem Vertragabschluß not. Wesentlich bessere Bedingungen würden sich erzielen lassen, wenn es gelänge, für die deutschen Einwanderer Tarifverträge durchzusetzen und eine Organisation zu schaffen, die dafür sorgt, daß solche Ausnahmefälle von Brutalitäten und Übergriffen nicht mehr vorkommen oder daß wenigstens ihre Ahndung auf dem Fuße folgt. Gar so schwer könnte das nicht sein; denn Brasilien lebt vom Kaffee, und ohne Zufuhr von Arbeitern für die Fazendas müßte es wirtschaftlich zusammenbrechen.
Rio de Janeiro.
„Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit.“
Wenn der Dampfer in die Bai von Rio de Janeiro einläuft, vorbei an den umgischteten Kaimauern der alten Forts und unter dem Schatten der unheimlichen Felssäule des „Zuckerhuts“, schaut man den Berg, auf den der Satan den Erlöser führte, um ihn zu versuchen. Wenigstens machen die Brasilianer Anspruch darauf, daß der Corcovado, die steil über Stadt und Bucht ragende Felsklippe, der Berg sei, von dem das vierte Kapitel des Matthäus-Evangeliums erzählt.
Es läßt sich gegen diese Legende wenig einwenden; denn der Versucher hätte in ganz Palästina, ja in der ganzen Alten Welt keinen Fels finden können, zu dessen Füßen so überreich alle Herrlichkeit der Welt ausgebreitet ist.
Brasiliens Hauptstadt ist vielleicht die schönste Stadt der Erde. Das ist so bekannt und so oft geschildert, daß es müßig wäre, darüber noch ein Wort zu verlieren. Mehr noch, man sollte gar nicht erst versuchen, ihre Schönheit zu schildern; denn sie ist derart, daß sie über Maß und Beschreibung hinausgeht. Wenn man über die grünen, palmenbestandenen, in Blüten brennenden Hügel streift, die wie vielfach gereihte Perlenschnüre Stadt und Bai umgrenzen, geht das Maß des Schönen selbst über das hinaus, was die Augen aufzunehmen vermögen. Ins[S. 303] Extrem überschlagend möchte man ausrufen: „Ja, weiß der Himmel, Rio ist schön; aber das weiß ich nun schon. Laßt mich in Dreiteufelsnamen in Ruhe, ich kann nicht mehr.“
Wenn irgendwo, braucht man in Rio Zeit und Muße, um die Schönheit zu genießen, die dort auf den Beschauer einstürmt. Denn sie ist immer da, ob die über die Bucht gespannte, schmerzhaft blaue Kuppel wolkenlos ist und alle Farben an Leuchtkraft miteinander wetteifern, oder ob die aus schwarzen Wellen und weißem Gischt ansteigenden, mit allen Tropengewächsen überwucherten Felsen in mystisch-geheimnisvolle Nebel sich verlieren. Mag man über die Hügel wandern oder die Bucht durchkreuzen, die endlosen Praias, die Strandpromenaden, im Auto oder in der Elektrischen entlang fahren, auf den Corcovado steigen oder auf den Zuckerhut, die Schönheit wird nie weniger. Immer eine neue Bucht, eine neue Klippe, aus Palmen und Blüten wachsend, immer ein neuer Ausblick. Geht die Sonne auf, brennen Bucht und Berge in dem tiefsten Rot einer ungeheueren Feuersbrunst. Senkt sich die Nacht, so laufen vielfache Lichterreihen jede Strandzeile entlang, jeden Hügel hinauf. Die Berge stehen wie phantastische Schatten am Himmel, bis auf den unheimlichsten, den Pão d’Assucar, der aus den Lichterkränzen aufsteigt wie die gespenstische Vision eines riesenhaften Symbols altheidnischer Phallusfeste.
Wenn ich jemand beneide, so sind es jene portugiesischen Seefahrer, die, als erste in die Bucht einlaufend, die ganze Tropenwelt um die blaue Bucht noch in ursprünglicher, unberührter Herrlichkeit antrafen.
Das heißt jedoch nicht, daß Rio als Stadt nicht auch seine schönen Teile hätte. Keineswegs will ich mir das boshafte argentinische Wort zu eigen machen, das von Rio, wie überhaupt von ganz Brasilien behauptet: „La naturaleza todo, los brasileros nada“; das heißt, daß alles die Natur geschaffen, die Brasilianer nichts.
Freilich, die Stadt ist entstanden und gewachsen wie alle südamerikanischen Städte. Wahllos und unorganisch wurden Häuser und Straßen über Hügel und Täler geworfen. Aber einen großen Vorzug hat sie vor fast allen übrigen Seestädten, die Lage des Hafens.
Freilich der mächtige Eindruck eines modernen Hafens soll nicht geleugnet werden, der immer gleich bleibt, mochte man an einem Nebeltag die Elbe hochfahren und in vergangenen Tagen den Mastenwald des Hamburger Hafens vor sich sehen, oder auf der Themse unter Tower Bridge hindurchgleiten, oder in den Hudson einlaufen zwischen Docks, Riesenschiffen und den phantastischen Wolkenkratzern New Yorks. Aber immer schließt doch der Hafen die eigentliche Stadt vom Wasser und der freien See ab, bleibt kein Platz für Bäder und Strandpromenaden. Rio dagegen stößt mit seinem Zentrum, mit seiner City, in breiter Front an die offene Bucht, und der Hafen, Arsenale, Docks und Werften, alles was raucht, qualmt und lärmt, ist nach hinten verlegt, tiefer in die Bucht hinein, gleichsam an die Rückseite der Stadt. Was man beim Einlaufen von der Stadt zunächst vor sich sieht, wirkt wie ein Palast, wie ein Garten.
Diesen Teil der Stadt so auszubauen, daß er den[S. 305] Vergleich mit jeder Hauptstadt der Welt aushält, hat die Brasilianer ein Vermögen gekostet, so viel, daß die Unzufriedenheit in den einzelnen Staaten, vor allem in denen des Nordens, groß wurde, weil so viel an den Prunk der Hauptstadt gehängt wurde, während es für ihre Bedürfnisse an Geld mangelte.
Wie Buenos Aires war die City von Rio ursprünglich ein Winkelwerk kleiner Gassen. Eine Bresche wurde hindurchgeschlagen, von einer Bucht zur andern, ein mächtiger Durchlaß für Luft und Licht, der den frischen Seewind bis ins Zentrum trägt. Die so entstandene Avenida Rio Branco grenzt auf der einen Seite an die Kais und die Hafenanlagen, auf der andern an die Praia, den freien Strand, die breiten palmenbepflanzten und beetumsäumten promenadeartigen Straßenzüge, die viele Kilometer weit die Buchten entlang führen.
Auf diesen Promenaden, sowie in den Straßen, die auf sie münden, sieht man am frühen Morgen ein eigenartiges Bild: Männlein und Weiblein wandern da, nur mit dem Badeanzug, höchstens noch mit Bademantel oder Badetuch bekleidet, an den Strand. Eine Badeanstalt in unserm Sinn gibt es in ganz Rio nicht; jeder badet, wo er gerade Lust hat, und an der Stelle, die seiner Wohnung am nächsten. In bestimmten Abständen führen Treppen oder schräge Rampen ins Wasser hinunter. Dieser Badebrauch beschränkt sich keineswegs auf die unteren Schichten. Auch die Damen der Gesellschaft baden hier, und man kann des Morgens häufig Damen sehen, die im Badeanzug ihr eigenes Auto an den Strand hinunterlenken.
Autos sieht man überhaupt in ungeheuerer Menge, kaum viel weniger als in New York oder Chicago. Pferde dagegen ziehen höchstens noch einen Leichenwagen. Nichts macht einen merkwürdigeren Eindruck als so ein schimmelbespannter Leichenwagen, hinter dem eine endlose Kette vielepferdestarker Automobile im langsamsten Tempo dahinschleicht.
Ja, die Stadt ist reich, und sie zeigt und verschwendet ihren Reichtum, sie, die kostbarste Blüte eines reichen Landes. Es war für sie keine Kleinigkeit, nicht nur zur schönen, sondern auch zur gesunden Stadt zu werden. Ursprünglich war Rio de Janeiro eines der schlimmsten Fiebernester an der brasilianischen Küste. So schlimm, daß zeitweise die Schiffe sich scheuten, es anzulaufen — man erzählte von Schiffsbesatzungen, die bis auf den letzten Mann dahingesiecht waren —, so schlimm, daß die brasilianischen Kaiser ihre Residenz aus dem Fiebersumpf heraus in die Berge verlegten, wo sie in Petropolis sich eine eigene Stadt bauten.
Heute aber ist Rio so gesund wie nur irgendeine Stadt der Welt. Hier, wo es bei einer Lage zwischen Wasser und Wald von Moskitos wimmeln müßte, kann man nachts im Freien ohne Moskitonetz schlafen.
Nur eines ist geblieben von den Lasten des Klimas: die Hitze. Kräuselt kein Wind die Wasser der Buchten, liegen sie da wie flüssiges Blei, dann lastet auch Tag und Nacht unerträglicher Druck auf allen Straßen, und man hebt sich morgens nicht erfrischt und müde von dem schweißnassen Lager.
Alles, was Geld hat, kann bis zu einem gewissen Grad[S. 307] auch der Hitze entfliehen. Man kann nach Leme oder Copacabana hinausziehen, wo die mächtigen Wellen des Atlantik an den Strand spülen, oder man kann auf den Bergen und Hügeln seinen Wohnsitz nehmen, die heute schon zahlreiche elektrische und Zahnradbahnen mit der Stadt an der Bucht verbinden. —
Es ist ein oft wiederholtes Phantasiebild, die City von New York oder Berlin in fünfzig oder hundert Jahren aufzuzeigen. Aber die Phantasie beschränkt sich bei diesem Bild auf die Übereinanderhäufung von Stockwerken und Verkehrsmitteln. Eine solche Phantasie auf Rio übertragen, böte ganz andere Möglichkeiten. Rio kann nicht nur die schönste, sondern auch die phantastischste und großartigste Stadt der Welt werden und gleichzeitig das wundervollste und eleganteste Seebad.
Es ist ja nur eine Frage des Ausbaus der Verkehrsmittel, um die ganzen Wohnviertel auf die frischen kühlen Berghügel zu verlegen, so daß am Hafen nur die Geschäftshäuser bleiben, die durch künstliche Kühlung und Ventilation vor der Hitze geschützt werden. Schnelle Verbindungen, in Tunneln laufende elektrische Schnellzüge würden an die Bucht, Badestrand und den offenen Ozean führen, so daß man von der Wohnung ebenso rasch zum Bad wie zur Geschäftsstadt gelangen könnte.
Wie heute schon eine Seilbahn freischwebend Hunderte von Metern weit auf den Zuckerhut führt, so ließen sich alle die einzelnen Bergkuppen miteinander verbinden, und auf einem zentral gelegenen würde eine Vergnügungsstadt mit Theatern, Kinos und Tanzpalästen sein.
Wer weiß, vielleicht!
Rio de Janeiro.
Tief innen in der Bucht von Rio de Janeiro, mehr als eine Stunde Motorbootfahrt von den Hafenkais, liegt die „Ilha das flores“, die Blumeninsel. Irgendwo versunken ist der Lärm des Hafens, das Kreischen der Krane, das Rasseln der Ketten, das Hämmern der Werften und Werkstätten, aber auch das Brausen der über die breiten Aveniden und Promenaden der Weltstadt sich drängenden Massen und der jagenden Autos. Eine einsame Insel in märchenstiller Bucht. Flache Dächer unter ragenden Palmen, die sich spiegeln in unwahrscheinlich blauer Flut.
Man könnte meinen, irgendein menschenscheuer Sonderling habe sich hier seine Zuflucht gebaut, oder die weitgestreckten Hallen bergen ein Sanatorium, eine Erholungsstätte für Menschen, die in vollkommener Stille und Einsamkeit kranke Nerven kräftigen wollen.
Auf diese Insel hat die brasilianische Regierung das Einwandererhotel verlegt, jene Stätte, die für die ersten Tage nach der Ankunft alle gastlich aufnimmt, die in Brasilien eine neue Heimat suchen. Es ist, als wolle man den Neuankömmlingen gleich das Schönste zeigen, was dieses an Schönheiten reiche Land bietet, als wolle man ihnen hier auf dieser stillen schönen Insel erst Muße gewähren, sich hineinzufinden in diese so ganz andere fremde tropische Welt, die jetzt das neue Vaterland werden soll.[S. 309] Als sollten sie hier erst noch einmal Kräfte schöpfen und Mut fassen, ehe sie hinausgeschleudert werden in einen unerbittlich harten Lebenskampf unter sengender Sonne. Wenige Tage hier in beschaulicher Muße, dann gehen die Transporte weiter, nach São Paulo, Santa Catharina und Paraná, wo blühende Kolonien aneifern und die Möglichkeiten aufzeigen, die der jungfräuliche Urwaldboden birgt, oder ins Innere des Landes, in jene unermeßliche, noch unerschlossene Steppe von Matto Grosso, in die Berge von Minas Geraes oder auch in den fieberheißen Norden von Bahia und Pernambuco. Wenige Tage der Ruhe und letzte reifliche Wahl; denn der einmal getroffene Entscheid ist nach viele Tage langer Fahrt am Bestimmungsort nur schwer noch zu ändern. Einmal nur gewährt die Einwanderungsbehörde freie Reise, freie Gepäckbeförderung und freien Unterhalt. Einmal an der selbstgewählten Arbeitsstätte heißt es, sich selbst weiterhelfen, wenn der Einwanderer nicht das findet, was er erhofft und erwartet.
Es ist gerade ein Dampfer des Brasilianischen Lloyd eingetroffen, der aus Hamburg viele Hunderte deutscher Freifahrer herüberbrachte, jene Glücklichen, denen es nach endlosen Laufereien, Plackereien und Scherereien mit Konsulaten und Behörden möglich war, die freie Überfahrt zu erlangen, die der brasilianische Staat für dreitausend deutsche Auswanderer auswarf.
Glückliche? — Heute sind sie es noch. Man sieht nur strahlende, leuchtende Gesichter. Auf dem Anlegeplatz spielen Kinder, im Wasser tummeln sich Schwimmer, deren weiße Leiber wie in durchsichtigen blauen Kristall gefaßtes[S. 310] Elfenbein wirken, in der offenen Wandelhalle unter den Palmen sitzen behaglich und zufrieden Männer und Frauen. Die Motorboote, die heute abgehen sollten, um die Einwanderer zur Stadt zu bringen, von wo mit Bahn und Schiff die Reise weitergehen sollte, sind nicht gekommen. Die Abreise ist um einen Tag verschoben worden. Man hat alles gepackt, alles erledigt, nun hat man noch einmal vierundzwanzig Stunden süßen Nichtstuns, noch einmal Frist auf der stillen Insel, ehe der Kampf beginnt.
Die wenigsten wissen, daß es ein Kampf ist, der ihrer harrt, zum mindesten wissen sie nicht, wie unerbittlich und hart er ist. Die schöne, üppige Insel in der von kühlen Winden umfächelten Bucht verführt dazu, alles ein wenig zu schön und zu leicht zu nehmen. Ich plaudere mit den nächsten. Als mein Name fällt, sammelt sich ein rasch wachsender Kreis um mich. Kaum einer unter den Einwanderern, der ihn nicht kennt, der nicht den einen oder andern der Aufsätze las, die ich seit anderthalb Jahren aus Südamerika geschrieben. Fast alle tragen ja schon seit Jahren den Plan in sich, jenseits des Ozeans sich eine neue Heimat zu suchen, und so haben sie gierig alles gelesen, was über die Länder geschrieben wurde, in die sie ziehen wollten.
Frage über Frage: Die meisten wollen das wiederholt hören, was sie sich zurechtgelegt haben über die Gegend, die Arbeit und Lebensweise, die sie sich aussuchten. Sie wollen das Bild bestätigt sehen, das sie gläubig hoffend im Herzen tragen. Es wird Enttäuschungen geben — für alle. Manche, die sie überwinden, werden nach schwe[S. 311]rem Anfang den Weg zu Glück und Wohlstand finden, aber auch manche werden elend zugrunde gehen, wie ich so viele zugrunde gehen sah!
Das Land, der ganze Erdteil ist reich, unermeßlich. Aber nicht umsonst blüht und wuchert und treibt es aus ihm in tropischer Fülle. Wer die Schätze heben will, zahlt hohen Preis mit Jahren voll Mühe und Arbeit, häufig mit Gesundheit und Leben.
Eine aufsteigende Welt! Man mag Südamerika durchziehen, wo man will, durch die argentinische Pampa, über die chilenische Kordillere, durch die bolivianische Puna oder den brasilianischen Urwald, überall wird sich der Gedanke aufdrängen, daß hier eine neue machtvolle Welt in der Bildung begriffen ist, eine Welt, die gestützt auf überreiche natürliche Hilfsmittel einmal darangehen wird, sich ihren Platz als ausschlaggebender Faktor im weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Ringen zu sichern. Eine gewaltige Welle rasend schneller Entwicklung wird einmal auf diesem jungen und noch immer so wenig bekannten Kontinent sich erheben, und sie wird alle hochtragen, die den rechten Augenblick erfassen.
Freilich, auf den rechten Augenblick kommt es an; denn auf diesem seit Jahrzehnten durch Krieg, Revolution, Parteistreitigkeiten, Anarchie und Diktatur erschütterten Erdteil geht in raschem Wechsel die Entwicklung auf und ab, und ehe der große jähe Anstieg anhebt, mag mancher, der hoffnungsfreudig und arbeitswillig hinauszog, in den Wellentälern niedergehender Konjunktur, wirtschaftlicher Depression, politischen Streites und sozialer Unruhen begraben werden.
Aber einmal kommt der Aufstieg. Und während vielleicht einmal die Alte Welt zugrunde geht und versinkt, wird eines Tages neben Yankees, Mongolen und Russen die aus indianischem und europäischem Blut in der Bildung begriffene südamerikanische Rasse in die Geschichte eintreten. Von Europa aus nahmen die Schiffe der Konquistadoren ihren Weg, um die durch uralte Kultur dekadenten Reiche der Azteken und Inkas zu stürzen. Vielleicht geht einmal die Geschichte den umgekehrten Weg.
Druck von F. A. Brockhaus, Leipzig.
Reisen und Abenteuer
Jeder Band in sich abgeschlossen und einzeln käuflich.
Bisher erschienen:
Bd. |
1.
|
Sven Hedin, Abenteuer in Tibet. |
Bd. |
2.
|
Sven Hedin, Transhimalaja (Neue Abenteuer in Tibet). |
Bd. |
3.
|
Kapitän Scott, Letzte Fahrt (Scotts Tagebuch). |
Bd. |
4.
|
Georg Schweinfurth, Im Herzen von Afrika. |
Bd. |
5.
|
Henry M. Stanley, Wie ich Livingstone fand. |
Bd. |
6.
|
Kapitän Scott, Letzte Fahrt (Die Abenteuer der Gefährten). |
Bd. |
7.
|
Sven Hedin, Durch Asiens Wüsten. |
Bd. |
8.
|
Sven Hedin, Zu Land nach Indien. |
Bd. |
9.
|
A. E. Nordenskiöld, Die Umsegelung Asiens und Europas. |
Bd. |
10.
|
Henry M. Stanley, Im dunkelsten Afrika. |
Bd. |
11.
|
Georg Wegener, Erinnerungen eines Weltreisenden. |
Bd. |
12.
|
Gustav Nachtigal, Sahara und Sudan. |
Bd. |
13.
|
Ernest Shackleton, Im sechsten Erdteil. |
Bd. |
14.
|
Walter v. Rummel, Sonnenländer. |
Bd. |
15.
|
W. H. Gilder, Der Untergang der Jeannette-Expedition. |
Bd. |
16.
|
Slatin Pascha, Feuer und Schwert im Sudan. |
Bd. |
17.
|
Ejnar Mikkelsen, Ein arktischer Robinson. |
Bd. |
18.
|
Henry M. Stanley, Mein erster Weg zum Kongo. |
Weitere Bände in Vorbereitung.
Verlag F. A. Brockhaus, Leipzig.