Project Gutenberg's Das erste Wort der kleinen Elinontis, by Gustav Harders This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Das erste Wort der kleinen Elinontis und andere Indianergeschichten Author: Gustav Harders Release Date: February 17, 2020 [EBook #61431] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS ERSTE WORT DER KLEINEN *** Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net #################################################################### Anmerkungen zur Transkription Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen sowie Schreibvarianten bleiben gegenüber dem Original unverändert, sofern der Sinn des Texts dadurch nicht beeinträchtigt wird. Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter hinzugefügt. Besondere Schriftschnitte wurden mit Hilfe der folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet: gesperrt: +Pluszeichen+ Antiqua: _Unterstriche_ #################################################################### [Illustration: S. 27. Da konnte Ina schon die schöne Orange in die Hand des kleinen Indianermädchens legen.] Das erste Wort der kleinen Elinontis und andere Indianergeschichten von Gustav Harders. [Illustration] Konstanz. Buch- und Kunstverlag Carl Hirsch A.-G. Inhalt. Seite Das erste Wort der kleinen Elinontis 3 Der alte Norisso 72 Mein erster Schultag 86 In den Vereinigten Staaten von Nordamerika leben heutzutage noch viele Indianer. Die meisten derselben wohnen auf sogenannten Reservationen. Eine Reservation ist ein großes, großes Stück Land, das die Regierung den Indianern gibt. Hier müssen sie wohnen und das Land bebauen. Auf diesen Reservationen hat die Regierung Beamte, die dafür sorgen müssen, daß die Leute arbeiten lernen und auch wirklich arbeiten. Auf jeder Reservation ist auch eine Anzahl Schulen, dahin die Kinder gehen müssen, um Lesen und Schreiben zu lernen und vor allem die englische Sprache, die Landessprache in den Vereinigten Staaten. Außerdem arbeiten dort von der Regierung angestellte Damen, die man Feldmatronen nennt. Diese reiten alle Tage zu den Hütten der Indianer, um die Frauen zu unterweisen, wie man seinen Haushalt zu führen hat. Die meisten Indianer haben noch keine Häuser, wie die weißen Leute sie haben. Sie bauen sich Hütten aus Sträuchern, die sie mit Fellen oder mit Leinwand überspannen. In solch einer Hütte ist nicht Raum für Bett und Tisch, für Stuhl oder Schrank. Die Indianer sitzen, essen, trinken, schlafen auf dem Erdboden. Auf der Erde liegen ihre Bettdecken, auf der Erde steht ihr Koch- und Eßgeschirr umher -- kurz, es geschieht alles auf der Erde. Nun ist da aber eine sehr schlimme Sache. Die Indianer und besonders die Indianerfrauen sind in der Regel sehr faul und sehr unsauber. Sie haben keine Lust, ihre Kleider zu waschen und zu flicken. Sie tragen sie bei Tag und Nacht, bis sie so schmutzig und zerrissen sind, daß sie ihnen vom Leibe fallen und sie dieselben einfach nicht mehr tragen können. Dann kaufen sie sich neue Sachen. Männer, Frauen und Kinder treten den Tag über auf den Decken herum, unter denen sie bei Nacht schlafen. Die Frauen haben keine Lust, dieselben am Morgen zusammenzurollen und beiseite zu schaffen. Sie sind zu träge, die Decken einmal ins Freie zu bringen, um sie auszuklopfen und zu reinigen. Das Koch- und Eßgeschirr wird, wenn es hoch kommt, ein bißchen mit kaltem Wasser ausgespült, aber meistens nach dem Gebrauch einfach in einen Winkel gestellt und bei der nächsten Mahlzeit ungereinigt wieder benutzt. Die Indianerfrauen sind sehr geschickt im Nähen. Die meisten nähen mit der Hand, man findet aber auch etliche, die mit einer Nähmaschine nähen. Es gibt einige große Kaffeegeschäfte, die in jedes Paket Kaffee, das sie auf den Markt bringen, einen Schein legen. Wer diese Scheine sammelt und an die Firma einsendet, erhält je nach der Anzahl der gesandten Scheine ein bestimmte Geschenk. Etliche Hundert solcher Scheine bringen eine gute Handnähmaschine. Nun trinken die Indianer sehr vielen und sehr starken Kaffee. Sie trinken Kaffee zu jeder Mahlzeit und verbrauchen infolgedessen sehr viel Kaffee. Die meisten Indianerfrauen lassen sich für ihre gesammelten Scheine Ringe oder Armbänder kommen, denn sie lieben es, sich mit Gold und Perlen zu schmücken, aber gelegentlich findet sich einmal eine Frau, die so lange Scheine sammelt, bis sie sich dafür eine Nähmaschine bestellen kann. So kommen Nähmaschinen in die armseligen Indianerhütten. Wie gesagt, die Indianerfrauen sind fast ohne Ausnahme sehr geschickte Näherinnen. Haben sie ein Kleid für sich oder ihre Tochter, ein Hemd für ihren Mann oder Jungen fertig gestellt, so ist an der Arbeit nichts auszusetzen, aber sie halten die Sachen nicht in stand. Die Frauen waschen, flicken und stopfen nicht. So sieht es im Haushalt der Indianer aus. Da stellt nun die Regierung die vorher erwähnten Feldmatronen an. Diese haben die Aufgabe, die Indianerfrauen anzuleiten und anzuhalten, ihren Haushalt in ordentlicher Weise zu führen. Sie zeigen ihnen auch und helfen ihnen, wie man eine gesunde und schmackhafte Mahlzeit bereitet und dergleichen andere nützliche Dinge mehr. Diese Feldmatronen, meistens unverheiratete Damen im Alter von dreißig bis vierzig Jahren, sind ohne Zweifel die den größten Segen stiftenden Angestellten in dem großen Heer von Beamten, das die Regierung der Vereinigten Staaten unterhält, um Kultur unter die Rothäute zu bringen. Dies ist ganz besonders der Fall, wenn diese Betreffenden christliche Persönlichkeiten sind, die zugleich das Wort Gottes und die Kunde von dem Erlöser der Welt in die Hütten der armen Heiden bringen. Leider ist die Zahl der Feldmatronen, die die Regierung anstellt, nur eine sehr geringe, darum ist von einem eigentlichen Erfolg ihrer Arbeit noch nicht viel zu sehen. Der christlichen Feldmatronen sind noch weniger, denn häufig wird es ihnen noch von den sogenannten Agenten, den obersten Herrschern auf den Indianerreservationen, verboten, den Indianern etwas aus Gottes Wort zu erzählen. Von einer frommen, christlichen Feldmatrone, die sich um solches Verbot einfach nicht kümmerte und etwas von dem Sinn der Apostel hatte, die erklärten, daß sie sich das Reden von Christo nicht verbieten ließen, soll hier erzählt werden. Die Indianer nannten diese Feldmatrone Ina. So wollen auch wir sie nennen, obgleich Ina nicht ihr eigentlicher Name ist. Ina war dreißig Jahre alt, als sie auf die Reservation kam und ist dort viele Jahre geblieben. Sie stammte aus einem reichen, vornehmen Hause in Neuyork, wo ihr Vater Besitzer einer Bank war. Sie hatte eine sehr gute Erziehung genossen und viel von den Indianern gehört und gelesen. So war eine besondere Liebe zu den armen Leuten in ihrem Herzen entstanden und sie meldete sich bei der Regierung zum Eintritt in die Erziehungsarbeit unter den Indianern auf einer Reservation in Arizona. Ina wohnte in einem kleinen aus Lehm gebauten Hause. Dasselbe hatte nur zwei Zimmer. In dem einen kochte und aß Ina, in dem andern schlief und wohnte sie. Ina war aber eigentlich nur am Morgen früh und am Abend in ihrem Hause zu finden. Den Tag über hielt sie sich unter den Indianern auf. Ihre Hauptmahlzeit bereitete und aß sie am Abend, für den Mittag nahm sie sich etwas in ihrer Satteltasche mit auf den Weg. In der ersten Nacht, die Ina nach ihrer Ankunft auf der Reservation in ihrem kleinen Hause zubrachte, konnte sie nicht viel schlafen. Sie war noch nicht an das Geheul der Wölfe gewöhnt, die bei Nacht meistens in die Nähe der Wohnungen der Menschen kommen. Auch sangen und trommelten die ganze Nacht hindurch nicht weit von ihrem Hause in einer Indianerhütte etliche Medizinmänner. Dort lag ein krankes Weib, das nach dem Aberglauben der Indianer durch diesen wüsten, eintönigen, nächtlichen Gesang gesund gemacht werden sollte. Ina stand am Morgen früh auf, kleidete sich an und trat hinaus vor ihre Haustüre. Etwa siebenzig Schritt weit von dem Hause entfernt befand sich ein Ziehbrunnen. Ina hatte denselben schon am Tage zuvor gesehen, auch Wasser dort geholt und etlichen Indianerfrauen zugeschaut, die gekommen waren, um Wasser zu holen. Heute morgen stand da am Brunnen ein kleines Indianermädchen, struppig und schmutzig, in zerrissenen Kleidern. Die Kleine mochte etwa sechs Jahre alt sein. Sie wollte gerade den Eimer in den Brunnen hinablassen, als sie die aus dem Hause tretende weiße Frau erblickte. Schnell stellte sie den Eimer wieder an seinen Platz, ergriff ihren Krug, hängte sich denselben an einem Riemen über den Kopf, warf noch einen scheuen, bösen Blick auf die unbekannte, neu angekommene Weiße und lief, so schnell sie konnte, davon. Ina rief hinter ihr her: „Ich tue dir nichts, ich tue dir nichts,“ aber das Kind verstand ihre Sprache nicht, und hätte sie dieselbe verstanden, so wäre sie doch nicht stehen geblieben. Das kleine Mädchen hatte oft von seiner Mutter gehört, daß alle weißen Leute böse seien, daß man ihnen immer aus dem Wege gehen und nie mit ihnen reden müsse. Es wohnten Furcht und Haß in dem Herzen des Kindes, sie wollte gleich ihrer Mutter von den Weißen nichts wissen und nichts mit ihnen zu tun haben. Ina wußte, daß die Indianer so zu den Weißen standen. Heute machte sie die erste Erfahrung davon und, das tat ihr weh. Sie grollte aber dem kleinen Mädchen nicht, im Gegenteil nahm sie sich vor, alles zu versuchen, um mit Gottes Hilfe das Herz des kleinen Mädchens zu gewinnen. Während Ina noch mit ihrem Frühstück beschäftigt war, klopfte jemand an ihre Haustür. Sie stand auf und öffnete. Vor der Tür stand ein großer stattlicher Indianer. Er war in eine blaue, mit gelben Streifen besetzte Uniform gekleidet. Auf der linken Brust trug er einen großen silbernen Stern. Ina erkannte sofort, daß sie einen Indianerpolizisten vor sich hatte. Der Mann nahm seinen Hut ab und sagte, er sei vom Agenten gesandt, um sie auf ihren Ritten zu den Indianerhütten zu begleiten. Er würde jeden Tag kommen außer Sonnabends und Sonntags. Die beiden Tage seien Ruhetage. Er werde jetzt in den Stall gehen, das Pferd reinigen, füttern und satteln und in etwa einer kleinen Stunde alles fertig haben, um mit dem Fräulein fortzureiten. „Es freut mich, daß du alle Tage kommen willst,“ sagte Ina. „Ich hoffe, wir werden gute Freunde werden.“ Sie reichte dem Indianer die Hand. Der Mann schaute verwundert drein; er schien nicht gewohnt zu sein, daß Regierungsbeamte ihm die Hand reichten, ergriff aber Inas Rechte und drückte sie herzlich. „Ich sehe, daß du ein Polizist bist,“ sagte Ina, „das ist ja recht schön, aber wenn du mit mir gehst, darfst du nicht als ein Polizist mit mir gehen.“ „Das muß sein,“ fiel ihr der Indianer in die Rede, „die Indianerfrauen tun sonst nicht, was du ihnen sagst.“ „Ich denke anders darüber,“ sagte Ina, „ich will nicht, daß die Frauen tun, was ich ihnen sage, weil sie denken, sie +müssen+. Ich möchte nicht, daß sie gezwungenermaßen gehorchen, sondern daß sie tun, was ich ihnen sage, weil sie es tun +wollen+.“ „Sie werden nie tun wollen, was du ihnen sagst, wenn man sie nicht zwingt,“ meinte der Polizist. „Das laß meine Sorge sein,“ sagte Ina, „sie werden es lernen und gerne tun. Ich bringe Ihnen etwas, was sie willig macht.“ „Was ist das?“ fragte scheinbar sehr interessiert der Indianer. „Das wirst du schon ausfindig machen, wenn du erst eine Weile mit mir zusammen gewesen bist. Aber nun nimm deinen Polizistenstern ab. Du kannst ihn unter deinem Rock tragen, so daß ihn niemand sieht, aber nicht auf dem Rock. Du gehst mit mir, um mir mit deiner Kenntnis der englischen Sprache zu dienen, um mir zu zeigen, wo die Indianer alle wohnen, um mir zu helfen, wo ich Männerhilfe brauche, aber nicht als Polizist.“ „Du gefällst mir,“ sagte der Indianer, „ich will jetzt an meine Arbeit gehen.“ Aber zuvor löste er den großen silbernen Polizistenstern von seinem Rock, knüpfte letzteren auf und befestigte den Stern an seinem Hemde. Dann knöpfte er den Rock wieder zu. „So gefällst du mir auch,“ sagte Ina. Der Indianer lachte und ging. Er drehte sich aber noch einmal um und rief Ina zu: „Wie heißt du?“ Ina nannte ihren Namen und setzte hinzu: „Aber du mußt mir auch deinen Namen sagen, denn Herr ‚Polizist‘ werde ich dich nicht nennen.“ „Ich heiße Majull,“ sagte der Indianer und ging in den hinter dem Hause gelegenen Stall. Ina kehrte in ihr Zimmer zurück und machte sich reitfertig. Einen für den Westen, wo die Frauen nach Art der Männer reiten, passenden Reitrock hatte sie sich schon im Osten herstellen lassen, einen großen Sombrero hatte sie sich in El Paso gekauft, wo sie etliche Stunden Aufenthalt gehabt hatte, -- eine leichte seidene Bluse und ein buntes Band um den Hals vervollständigten den anmutigen Anzug der Dame. Als Majull mit den beiden Pferden zurückkam, betrachtete er Ina mit Wohlgefallen, und sagte wieder: „Du gefällst mir, du siehst auch hübsch aus, wenngleich du ein weißes Gesicht und blaue Augen hast. Alle andern weißen Frauen hier sind häßlich. Sie gleichen den Gänsen, die hier im Herbst vom Süden her durchkommen, sich in unserem Flusse baden und von uns geschossen und verspeist werden. Dabei denken wir der alten Zeiten, wo der rote Mann noch den weißen Mann und dessen Frauen niederschießen konnte. Heute können wir das nicht mehr; unsere Kraft ist gebrochen, des weißen Mannes Gewalt ist über uns.“ „Warum sagst du mir das?“ fragte Ina. „Damit du dich nicht vor uns fürchten sollst.“ „Ich fürchte mich nicht vor euch.“ „Aber die andern fürchten sich.“ „Wenn ich mich vor euch fürchtete, wäre ich nicht zu euch gekommen. Ich habe euch lieb. Aber ihr fürchtet euch vor mir.“ „Wieso?“ fragte Majull. „Heute morgen war ein kleines Mädchen am Brunnen. Sobald sie mich sah, lief sie davon. Sie hat nicht mal erst Wasser geschöpft. Da ist sie wieder,“ rief Ina hastig und sichtbar freudig überrascht. Sie wies auf ein kleines Mädchen, das aus einer Hütte gekommen war, der sie sich näherten. Sobald die Kleine Ina erblickte, lief sie schnurstracks davon und war schnell zwischen dem Gestrüpp, das dort reichlich wuchs, verschwunden. „Wer ist die Kleine?“ fragte Ina ihren Begleiter. „Sie ist das einzige Kind einer kranken Frau, einer Witwe, zu der ich dich eben führen will.“ „O das freut mich,“ sagte Ina. „Nicht daß die Frau krank und eine Witwe ist, sondern daß du mich zu ihr führen willst und daß ich dann gewiß auch die Kleine kennen lernen werde.“ „Was liegt dir an dem Kinde?“ „Viel. Besonders da sie von mir wegläuft, muß ich ihr doch zeigen, daß ich sie lieb habe und ihr nichts Böses tun will. Wie heißt das Kind?“ „Ihr Name ist Elinontis.“ „Elinontis,“ wiederholte Ina, „ein sehr schöner Name! Majull gefällt mir auch. Mir gefallen die Indianernamen. Sie klingen fast alle als wäre schon in dem Namen eine Seele.“ Die beiden waren an der Hütte angelangt, stiegen von ihren Pferden und Ina betrat zum ersten Male in ihrem Leben eine Indianerhütte. Eigentlich war es kein Betreten. Die kleine, durch ein Stück Leinwand verhängte Öffnung war so niedrig, daß man nur auf den Knieen hindurchrutschen konnte. In dem engen runden Raum lag auf schmutzigen zerrissenen Decken eine kranke, sehr abgemagerte Frau. Sie mußte schon lange krank gewesen sein und keinerlei Pflege gehabt haben. Ringsherum auf dem Erdboden lagen Lumpen, leere Blechkannen, schmutzige Papierstücke, Knochen usw. Ina hatte noch nie solchen Schmutz in einer menschlichen Behausung gesehen. „Zuerst müssen wir aufräumen und alles rein machen,“ sagte Ina, „du mußt mir helfen, Majull.“ Majull war bereit. „Sie hat niemand als das Kind, die Elinontis,“ sagte Majull, „und dasselbe ist noch zu klein, um viel Arbeit tun zu können.“ Nun wurde all der Unrat hinausgeschafft. Dann wurde das Geschirr und darnach die kranke Frau gewaschen. Die Bettdecken wurden hinausgetragen und ausgeschüttelt. „Das ist nur für heute,“ sagte Ina, „später machen wir es besser; es geht nicht alles mit einem Male.“ Ina untersuchte hierauf die Kranke, gab ihr Medizin und bereitete ihr etwas zu essen und zu trinken. Als sie damit fertig war, schaute sie nach ihrer Uhr. Es war bereits elf Uhr. „Unsere Morgenarbeitszeit ist jetzt vorüber,“ sagte Ina zu Majull, „aber willst du mir noch ein paar Minuten helfen?“ „Gewiß,“ antwortete Majull. „Dann komm und setze dich her zu mir neben die Kranke. Nachher gehen wir hinaus und essen zusammen.“ Ina zog ein Neues Testament aus der Tasche. „Was ich in meiner freien Zeit tue, geht niemand etwas an, selbst den Herrn Agenten nicht,“ sagte sie zu sich selber, „Regierungsbeamte sollen zwar keine Religion treiben, aber in meiner freien Zeit kann ich tun, was ich will. Da kann mir niemand wehren, von Christo zu zeugen.“ Ina las der Kranken einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift vor und Majull mußte die Worte in die Sprache der Indianerin übertragen. Ehe die beiden fortgingen, ließ Ina der Kranken noch verdolmetschen, sie solle der kleinen Elinontis sagen, daß sie sich nicht vor ihr zu fürchten brauche, sie sei ihre Freundin und täte ihr nichts zuleide, sie solle nur getrost kommen und ihr Wasser holen. Die Frau antwortete nicht, sie hatte überhaupt noch kein Wort gesprochen. Sie hatte nur halb verwundert halb unwillig der weißen Unbekannten zugeschaut, die sich in ihrem Hause betrug, als ob alles was darin war, ihr gehöre. Ina wollte ihr zum Abschied die Hand reichen. Die Indianerin tat aber, als sähe sie es nicht. Das ließ Ina sich nicht gefallen, sie nahm einfach die Hand, die ihr verweigert wurde, und drückte sie herzlich und die Indianerin ließ das geschehen. Es war von nun an Inas erste Arbeit an jedem Morgen, wenn sie mit Majull ausritt, daß sie die kranke Mutter der kleinen Elinontis mit allem versorgte, dessen sie bedurfte. Die Zeit vor ihrem Frühstück aber widmete sie der Kleinen. Ina hatte sich ja vorgenommen, sie wolle alles tun, um das Vertrauen und die Liebe dieses Kindes zu gewinnen. Am nächsten Morgen stand sie zeitig auf und setzte sich mit einem Buch auf die kleine Steintreppe vor der Tür ihres Lehmhauses. Ina meinte, Elinontis würde sich weniger fürchten, wenn sie sie schon dort sitzen sähe, wenn sie käme, als wenn sie plötzlich aus dem Hause träte wie gestern. Ina brauchte nicht lange zu warten. Sie hatte noch keine Seite in ihrem Buch gelesen, da sah sie die Kleine kommen. Ina tat, als sähe sie das Kind nicht. Sie las ruhig weiter, beobachtete aber, über den Rand des Buches hinüberblickend, das Indianerkind. Elinontis ließ die weiße Frau keinen Augenblick aus dem Auge. Sie näherte sich langsam und in einem großen Bogen dem Brunnen. So schnell sie konnte, schöpfte sie Wasser, füllte ihren Krug, hängte sich denselben über den Kopf und eilte, nachdem sie noch einen scheuen Blick auf die eifrige Leserin geworfen, davon. Das wiederholte sich eine Zeitlang jeden Morgen. Dann aber dachte Ina, sie wolle es nun doch einmal versuchen, sich der Kleinen zu nähern. Sie meinte, dieselbe müsse sich nun doch allmählich an sie gewöhnt haben und könne sich nicht mehr fürchten, daß sie, Ina, ihr etwas zuleide tun werde. Elinontis hatte ihren Krug auf den Boden gestellt und griff gerade nach dem Eimer, als Ina sich langsam erhob und dem Brunnen zuwendete. Da aber stieß das Kind einen leisen Schrei aus und sprang davon, garnicht daran denkend, ihren Krug zu füllen oder denselben doch wenigstens wieder mit sich zu nehmen. Ina sagte nichts, sie rief dem Kinde auch nichts zu, ging aber zum Brunnen. Sie hatte einen Plan, den sie ausführen wollte. Elinontis lief nicht nach Hause, sondern sie lief nur eine Strecke weit fort, dann blieb sie stehen, um zu sehen, wohin Ina ging und was sie vorhatte. Wie gesagt, Ina ging zum Brunnen. Dort angelangt, nahm sie den Eimer, ließ ihn in den Brunnen hinab und füllte den Krug der kleinen Elinontis mit Wasser. Dann ging sie wieder an ihren Platz vor dem Hause zurück. Zuvor aber winkte sie dem Kinde zu kommen und seinen Krug zu holen. Elinontis rührte sich nicht vom Fleck. Sie schaute nur starr auf die Frau. Wohl zehn Minuten mochten vergangen sein. Elinontis kam nicht, ihren Krug zu holen. Ina ging in ihr Haus zurück, beobachtete aber das Kind durch das Fenster. Da sah sie nun, wie Elinontis langsam, immer hin und wieder stillstehend und nach der Haustür schauend, herankam. Jetzt war sie am Brunnen angelangt. Elinontis bückte sich über ihren Krug und schaute in denselben hinein. Eine kleine Weile stand sie still, als ob sie überlege. Dann blickte sie auf, ballte und schüttelte ihre kleine Faust nach dem Hause zu, gab dem Krug einen Stoß mit dem Fuß, so daß er umfiel und alles Wasser, das Ina eingeschöpft hatte, auf den Erdboden floß. Eilig schöpfte das Kind neues Wasser und ging dann mit dem Kruge davon. Ina stand sprachlos. Was war das für ein Gebahren von einem sechsjährigen Kinde? War es Furcht, die Weiße möchte ihr das Wasser vergiftet haben, oder war es ein solcher Haß, daß sie keinen Liebesdienst von ihr annehmen wollte? Wahrscheinlich beides. Ina wollte Majull den Vorgang erzählen und ihn fragen, was er denn wolle. Das tat sie auch, als Majull bald darauf kam, um seine Herrin zu den Besuchen bei den Indianern abzuholen. Wie alle Tage ritten die beiden zuerst zum Hause der kranken Mutter der kleinen Elinontis. „Majull,“ sagte Ina, „ich muß dir etwas erzählen.“ „So erzähle,“ erwiderte Majull. Ina erzählte und als sie zum Schluß fragte, ob Majull denke, daß Elinontis aus Haß oder aus Furcht so gehandelt habe, lachte Majull laut auf. „Die Kleine haßt dich gar nicht mehr und hat auch keine Furcht vor dir,“ sagte Majull. „Aber sie ist doch nie da, wenn wir zu ihrer Mutter kommen,“ entgegnete Ina. „Das kann sie nicht,“ erwiderte Majull, „sie muß jeden Morgen zur Agentur gehen und Lebensmittel holen. Kranke und Arme erhalten gratis Mehl, Kaffee, Fleisch und Zucker von der Regierung. Sie läuft nicht deinetwegen fort.“ „Aber heute morgen lief sie fort.“ „Du hast sie wahrscheinlich erschreckt.“ „Aber warum hat sie denn das Wasser ausgegossen und nach meinem Hause hin mit der Faust gedroht?“ „Ich kann mir schon denken, was die Ursache war,“ sagte Majull. „Wenn die Kinder gehen, um Wasser zu holen, nehmen sie sich gewöhnlich eine Handvoll geröstetes Welschkorn mit auf den Weg. Das tun sie in den Krug und nehmen es heraus, ehe sie letzteren mit Wasser füllen. Sie essen dann das Korn auf dem Heimwege. Das ist ihr Frühstück. Das Korn war sicherlich noch im Kruge, als du das Wasser hinein gossest. Du hast dem Kinde sein Frühstück verdorben. Darüber war die Kleine böse. Kannst du ihr das verargen?“ „Nein, gewiß nicht, wenn sich die Sache so verhält,“ erwiderte Ina. Nach einer Weile setzte sie nachdenklich hinzu: „Ich wollte, es wäre wie du sagst, daß das Kind mich weder haßt noch fürchtet.“ „Es ist so, glaube es nur. Aber vom Nichtfürchten und Nichthassen zum Vertrauen ist noch ein großer Schritt. Du kannst nicht erwarten, daß die Kleine dir bereits vertraut. Du hast ja noch nicht einmal mit ihr geredet.“ „Sie läßt mich ja gar nicht an sich herankommen, daß ich zu ihr reden könnte,“ sagte Ina. „Das wird sich schon finden,“ meinte Majull, und sie stiegen von ihren Pferden, um in die Hütte der kranken Frau einzutreten. Am nächsten Morgen saß Ina wie an den vorhergehenden Tagen vor ihrer Hütte. Neben ihr lag ein großes Stück weißes Brot, dick mit Honig bestrichen. Sie wollte das nicht selber essen, sondern versuchen, es der kleinen Elinontis zu geben, um ihr das Frühstück von gestern zu ersetzen, was sie ihr verdorben hatte. Elinontis kam. Wie gewöhnlich stellte sie ihren Krug hin und schöpfte dann Wasser. Heute aber bemerkte Ina, die ihr genau auf die Finger schaute, daß sie bevor sie den Krug füllte, in denselben hineingriff und die Hand geschlossen wieder herausnahm. Es war also wie Majull gesagte hatte. Elinontis hatte etwas in dem Kruge. Als Elinontis gleich darauf zu Ina hinüberblickte, hob diese das schöne Stück Brot auf, zeigte es dem Kinde und winkte, es solle kommen und sich es holen. Elinontis schüttelte sehr energisch mit dem Kopf. Ina ließ sich dadurch nicht abschrecken. Sie wiederholte mit freundlichem Lächeln die Aufforderung. Elinontis schüttelte wieder mit dem schwarzen Strubbelkopf. Ina machte nun mit Geberden und Zeichen dem Kinde klar, wie gut das Brot schmecke. Das schien Eindruck auf Elinontis zu machen. Sie steckte einen Finger in den Mund und schaute verlegen, begehrlich und nachdenklich zu Ina hinüber. Plötzlich zog sie den Finger aus dem Munde, streckte den rechten Arm aus und wies auf einen großen Stein, der weit abseits, ungefähr in gleicher Entfernung von ihr und Ina lag. Ina wußte nicht, was Elinontis wollte. Diese aber ließ nicht nach. Sie wies auf den Stein, auf Ina, auf das Brot in ihrer Hand und machte dann eine Bewegung, die anzudeuten schien, daß Ina zum Stein gehen sollte. Jetzt verstand Ina. Sie stand auf und ging langsam zum Stein hinüber. Dort blieb sie stehen und wartete. Aber es war noch nicht richtig. Elinontis wies wieder auf das Brot, das Ina mitgenommen hatte, dann auf den Stein und schließlich auf das Haus. Endlich wußte Ina Bescheid. Sie sollte das Stück Brot auf den Stein legen und dann wieder zum Hause zurückgehen. Dann wollte Elinontis hingehen und sich das Brot holen. Ina war glücklich, daß sie verstand, glücklich, daß das Kind das Brot nehmen wollte, und die Art, wie sie, die Geberin dabei zu verfahren hatte, kränkte sie gar nicht. Sie legte das Brot auf den Stein, nachdem sie denselben zuvor mit der Hand von Staub gereinigt hatte und ging dann zu ihrem Sitz vor dem Hause zurück. Kaum hatte Ina sich gesetzt, da sprang auch schon Elinontis leichtfüßig zu dem Stein hinüber, ergriff das Stück Brot, leckte gleich zweimal am Honig und lief dann zum Brunnen zurück. Schnell füllte sie ihren Wasserkrug und ging, ohne noch einmal zu Ina hinüberzusehen, ihrer Hütte zu. Ina schaute ihr glücklich nach. Siehe da, gerade an der Ecke, wo das Kind umbiegen mußte und wo es den letzten Blick auf Inas Haus werfen konnte, drehte es sich noch einmal um. Als es aber sah, daß Ina ihr mit ihren Blicken folgte, wandte es den Kopf schnell wieder ab. „Ja, drehe deinen Kopf nur schnell um,“ sagte Ina vor sich hin und lächelte, „das wird schon noch anders werden. Jetzt haben wir einen Anfang.“ Ina war sehr glücklich über diesen Morgen. Als Majull kam, sah er sie verwundert an. „Was ist dir begegnet?“ fragte er, „du machst ja ein so fröhliches Gesicht und in deinen Augen strahlt es, als scheine die Sonne hinein, und du stehst doch ganz im Schatten.“ „Elinontis hat mein Brot genommen,“ sagte Ina. „Dein Brot genommen? Was du sagst!“ Er ging, um das Pferd zu besorgen. „Ein wunderliches Weib,“ murmelte er in seiner Indianersprache vor sich hin, so daß Ina ihn schon darum nicht verstand, „sie ist ganz anders wie die andern.“ Am nächsten Morgen dachte Ina: Heute bleibe ich einmal im Hause und gehe gar nicht hinaus. Ich will vom Fenster aus sehen, ob sie mich vermißt oder sie sich gar nicht um meine Abwesenheit kümmert. So machte sie es. Elinontis kam. Wie alle Tage setzte sie ihren Krug hin, griff nach dem Eimer und fing an, Wasser aus dem Brunnen heraufzuziehen. Sie tat das alles aber heute viel langsamer als sonst, und beständig flogen die schwarzen Augen zu der Tür des Lehmhauses hinüber, in dem die weiße Frau wohnte. Ina schaute sehr aufmerksam zu. Sie hätte gar zu gern gewußt, ob das Kind wieder nach einem Stück Honigbrot verlangte oder ob sie die Frau vermißte, die sie sonst jeden Morgen vor der Tür angetroffen hatte. Endlich war Elinontis fertig, sie ging aber auch dann noch nicht gleich, sie machte sich noch an ihrem Krug und an dem Riemen zu schaffen und warf noch einen langen fragenden Blick nach dem Hause, ehe sie schließlich ihren Krug aufhob und von dannen ging. Majull erzählte an diesem Morgen der Feldmatrone, daß seine Ehefrau, seine Klaschimba, gestern abend bei Elinontis Mutter gewesen sei. Die kranke Frau habe ihr erzählt, die Kleine sei gestern morgen mit einem großen Stück Honigbrot heimgekommen, habe ihr die größere Hälfte davon abgegeben und gesagt, die weiße Frau habe das Brot auf den Stein gelegt für sie, und sie sei nicht böse. Da leuchtete es wieder in Inas Augen, und sie stand doch wieder im Schatten. Es mußte etwas anderes sein, was das Leuchten in ihre lieben Augen brachte, als die Sonne. Majull sah nichts davon, Ina hatte sich nämlich schnell umgewandt. So konnte er auch keine Bemerkungen über das Leuchten machen. Noch eine andere Freude hatte Ina an diesem Tage. Während sie an Elinontis Mutter Bett kniete und die kranke Frau wusch, wie sie das alle Tage tat, tupfte die Frau mit ihrem Zeigefinger auf einen schönen goldenen Ring, den Ina an einem Finger ihrer rechten Hand trug. Freudig überrascht über diese Annäherung, streckte Ina ihr die Hand hin und sagte: „Ein schöner Ring, nicht wahr?“ sagte sie, „den hat mir meine Mutter geschenkt und selbst an den Finger gesteckt, als ich ein Mädchen von sechzehn Jahren war.“ Majull übersetzte der Kranken, was Ina gesagt hatte. Diese nickte und sagte, nachdem sie ihre Pflegerin eine Weile prüfend angesehen hatte: „Du mußt eine gute Mutter gehabt haben. Nicht alle Mütter sind gut. Gute Mütter haben gute Kinder, schlechte Mütter haben schlechte Kinder. Du mußt eine gute Mutter gehabt haben,“ wiederholte sie. Es war das erstemal, daß die Frau sprach, seit Ina angefangen hatte, sie regelmäßig zu besuchen und ihr zu dienen. Was sie sagte gab Ina Gelegenheit, die Sprache auf die kleine Elinontis zu bringen. Sie sagte zu der Frau: „Du bist auch eine Mutter. Du hast ein liebes kleines Mädchen. Du willst auch eine gute Mutter sein, das weiß ich. Da will ich dir etwas sehr Gutes sagen, was eine gute Mutter für ihr Kind tun muß. Ich lese dir immer Geschichten vor, wenn ich hier bin. Diese Geschichten sollst du der kleinen Elinontis erzählen. Ich möchte sie ihr auch gern erzählen, kann aber nicht. Sie läuft vor mir fort, und wenn ich hierher komme, ist sie nicht da. Der Sohn Gottes, von dem ich dir immer vorlese, hat die Kinder sehr lieb und er will, daß alle Kinder ihn kennen lernen. Die Mütter müssen dafür sorgen, daß die Kleinen von dem Sohn Gottes hören. Du bist sehr krank, du könntest eines Tages sterben. Dann ist Elinontis ganz allein; wenn sie aber den Sohn Gottes kennt, dann ist Er immer bei ihr und sorgt, daß ihr kein Unheil zustößt und daß sie einmal in den Himmel kommt, wohin du auch gehst. Ich weiß, der Sohn Gottes bringt dich dorthin, er hat alles für dich gut gemacht.“ So sprach Ina zu der Kranken. Diese hörte aufmerksam zu. Sie sagte aber nichts, doch wandte sie sich an Majull, als Ina mit ihm fortgehen wollte und sagte etwas zu ihm. Als Ina nachher Majull fragte, während sie nebeneinander dahinritten, was die Frau gesagt habe, erwiderte er: „Sie hat gesagt, so etwas Gutes wie das, was du ihr aus dem Buch vorlesest, könne keine Mutter für sich behalten; sie erzähle jeden Tag ihrer Elinontis, was sie von dir gelernt habe.“ Ehe Ina an diesem Tage nach Hause ritt, sprach sie bei dem Kaufmann vor, bei dem die Indianer und die weißen Angestellten der Reservation ihre Waren kauften. Sie kaufte dort eine Orange, und zwar suchte sie die größte und schönste aus, die der Mann in seinem Laden hatte. Diese Orange lag am nächsten Morgen neben Ina auf der Steintreppe vor ihrem Hause, wohin sie sich wieder mit ihrem Buche gesetzt hatte und las. Ina ließ das Kind erst seinen Krug füllen. Dann zeigte sie ihm die Orange und winkte. Elinontis schaute Ina verwundert an, als wollte sie sagen: Wie kannst du nur so etwas denken, daß ich zu dir kommen sollte! Ina winkte noch einmal. Da schüttelte Elinontis den Kopf, ging aber nicht fort, sondern blieb mit dem Krug auf dem Rücken stehen und schaute bald Ina, bald die Orange in ihrer Hand an. Ina stand jetzt auf. Da zuckte Elinontis zusammen, es schien fast, als wolle sie davonlaufen, -- sie tat es aber doch nicht, sondern zog den Fuß, den sie schon angesetzt hatte, wieder zurück. „Es ist etwas viel verlangt, wenn das Kind gleich hierher kommen soll,“ dachte Ina, „gehe ich aber zu ihr, so läuft sie mir sicher wieder fort.“ Da kam ihr ein Gedanke. Ina wies auf die Stelle, die ungefähr mitten zwischen ihr und Elinontis war und machte mit Zeichen dem Kinde klar, daß es bis zu dieser Stelle gehen und daß sie, Ina, auch dorthin kommen wolle. Elinontis wollte aber noch nichts davon wissen. Statt aller Antwort wies sie wieder auf den Stein, auf den Ina zwei Tage vorher das Honigbrot gelegt hatte. Sie sollte es wieder so machen wie damals. Das wollte Ina aber nicht. Sie schüttelte sehr bestimmt den Kopf, so daß Elinontis sofort merken konnte, daß daraus nichts werden würde. Ina wies wieder auf die Stelle halbwegs zwischen sich und Elinontis, winkte und zeigte die Orange. Elinontis streckte die schmutzige kleine Hand aus. Da machte Ina einen Schritt vorwärts und bedeutete Elinontis, daß sie nun das gleiche zu tun habe. Noch zögerte das Kind, da winkte Ina noch einmal und -- welche Freude -- Elinontis hob den rechten Fuß und machte einen kleinen Schritt vorwärts, wie Ina getan hatte. Nun ging Ina einen Schritt weiter und zeigte Elinontis, daß sie nun an der Reihe sei, wieder einen Schritt zu tun, und wirklich, Elinontis machte einen Schritt. Dieses Mal war letzterer nicht mehr so klein, es war schon ein ordentlicher, richtiger Schritt, wie ihn kleine sechsjährige Mädchen machen. Wieder machte Ina einen Schritt. Diesmal mußte sie noch winken und locken, aber das nächste Mal folgte Elinontis ganz von selbst, und nach ein paar weiteren Schritten von beiden Seiten, da konnte Ina die schöne Orange in die Hand des kleinen Indianermädchens legen. Aber, sobald das Kind die Orange in seinem Besitz hatte, drehte es sich auch um und lief, so schnell es laufen konnte, davon, so daß das Wasser aus ihrem Krug herausspritzte und es über und über naß wurde. Gerade kam Majull angeritten. Er sah das laufende Kind und reimte sich wohl zusammen, warum es so lief. Er sprang von seinem Pferde und hielt die kleine Elinontis auf. „Warum läufst du so?“ sagte er, „sie kommt nicht hinter dir her, sie tut dir nichts. Schau dich doch mal um, da steht sie ganz ruhig. Du mußt nicht vor ihr weglaufen. Sie ist eine gute weiße Frau.“ Elinontis schaute sich um. Sie machte ein ganz beschämtes Gesicht. Richtig, da, ganz weit weg von ihr, stand Ina, und sie, Elinontis, hatte gedacht, sie sei hinter ihr her. Sie hatte gemeint, ihre Schritte hinter sich zu hören, zu fühlen, daß sie ihren Kleiderrock gepackt hatte. Wie dumm sie doch gewesen war. Als Majull die Kleine wieder los ließ, ging sie ruhig und langsam nach Hause zu ihrer Mutter. Die Orange drückte sie letzterer in die abgemagerte Hand, die Mutter sollte sie ganz allein haben. Diese wollte aber nicht, ein Stückchen nahm sie, den Rest aber bekam die kleine Elinontis. Und dann sprach die Mutter mit ihr ganz leise, denn sie konnte nicht sehr laut mehr reden, aber Elinontis hörte es, und auch die Engel im Himmel hörten, was die Mutter ihrem Kinde sagte, und es war etwas, woran sie ihre helle Freude hatten. Es waren Worte, die dazu beitrugen, den Haß, die Furcht, die Feindschaft, die die Mutter in das Herz des Kindes gesät hatte, zu brechen, wie diese in ihrem eigenen Herzen mehr und mehr gebrochen worden waren durch die warme, selbstverleugnende Liebe, die die fremde weiße Frau ihr in ihrem Elend hatte zuteil werden lassen. Ina legte sich an jenem Abend früh zur Ruhe. Sie war müde, denn sie hatte einen sehr weiten Ritt mit Majull machen müssen. Gegen Mitternacht aber wurde sie geweckt durch lärmenden Gesang und wüste Trommelmusik. Ina setzte sich auf in ihrem Bette und horchte. Das waren wieder Medizinmänner, wie sie solche in der ersten Nacht ihres Aufenthalts auf der Indianerreservation gehört hatte. Es waren Quacksalber und viele andere Leute, die zusammengekommen waren, um mit Singen und Trommeln eine Kranke gesund zu machen. Ina horchte wieder auf. Aus welcher Richtung kam wohl der Lärm? Kein Zweifel, er kam aus der Richtung her, wo die Hütte der kranken Mutter der kleinen Elinontis stand. Die Quacksalber und andere Sänger bemühten sich um die Frau. Nein, so etwas durfte und wollte Ina sich nicht gefallen lassen. Elinontis Mutter stand jetzt unter ihrer Fürsorge und Behandlung. Die Medizinmänner hatten mit ihr nichts zu tun. Sie sollten der Kranken nicht die zu ihrer Genesung so nötige Ruhe durch Singen und Trommeln rauben. Ina war entschlossen, das nicht zu dulden. Sie stand auf und kleidete sich an. Ein Licht brauchte sie nicht anzuzünden. Es war heller, klarer Mondschein, der es so schön hell in dem kleinen Zimmer machte. Es war nur eine kleine halbe Meile Weges zu der Hütte. Ina ging zu Fuß, sie sattelte nicht erst ihr Pferd, obwohl sie gelernt hatte, es im Notfall selber zu tun. In der Regel kam ja Majull und besorgte alle Arbeit mit dem Pferde. Also Ina ging zu Fuß. Sie ging sehr schnell. Es war ihr um jede Minute zu tun, um der Kranken Ruhe zu schaffen. Der Gedanke, daß die Indianer ihr etwas zu Leide tun möchten, kam ihr nicht, obwohl sie wußte, daß sie bei solchen nächtlichen Gesängen auch immer berauschende Getränke zu sich nahmen. Sie trinken dann die ganze Nacht, Männer, Frauen und Kinder, und gegen Morgen sind meistens alle betrunken. Häufig gibt es auch Schlägereien und Streitereien, und zuweilen kommen auch Leute ums Leben. Ina, die wie gesagt, das alles wußte, dachte gar nicht daran, und hatte darum auch keine Furcht. Sie dachte nur wie die kranke Frau unter dem Lärm leiden mußte und wie gern sie doch ruhen und schlafen mochte, und hatte nur den einen Gedanken, der Frau zu helfen und ihr Gutes zu tun. So war keine Furcht in ihrem Herzen. Überdies wußte Ina ja, daß sie auf Gottes Wegen ging, und wer auf Gottes Wegen geht, braucht sich nicht zu fürchten; der hat immer einen allmächtigen Beschützer bei sich und die heiligen Engel zu seinem Dienst. Die Engel sind ja dienstbare Geister, ausgesandt zum Dienst derer, die ererben sollen die Seligkeit. Zu diesen Leuten gehörte Ina auch. In zehn Minuten war sie an Ort und Stelle. Etwa dreißig Indianer lagen und saßen um die Hütte herum. Ganz dicht beim Eingang standen zwei große Trommeln. Diese hatten die Indianer selber gemacht. Sie bestanden aus alten eisernen Töpfen, die mit gegerbten Hirschfellen überspannt waren. Bei jeder Trommel saßen drei Indianer, ältere Männer, die mit langen dicken Stöcken dreinschlugen. Sie schlugen in schnellem Takt, immer einer nach dem anderen, während sie wie auch die übrigen anwesenden Indianer einen eintönigen lauten Gesang dazu ertönen ließen. Es war ein ohrenbetäubender Lärm. Ina besann sich nicht lange. Sie ging zu den Trommlern, packte mit jeder Hand einen der Stöcke, hielt sie fest und ließ die Männer nicht weiter trommeln. Als die andern sahen, was vor sich ging, hörten sie auch auf zu trommeln. Und als die Männer aufhörten zu trommeln, hörten auch die Leute auf zu singen. Es wurde mit einem Male ganz still, und alle schauten überrascht und unwillig auf den Störenfried. Ina ließ nun die Trommelstöcke los und begann so gut sie das konnte, den Leuten mit Zeichen klar zu machen, daß die Frau in der Hütte schlafen müsse und daß der Lärm, den sie machten, ihr schade. Das erstere verstanden sie bald, aber mit dem letzteren wollte es nicht so recht gehen. Ina aber ließ nicht nach in ihren Bemühungen, und schließlich merkten die Leute, daß sie ihnen sagen wollte, daß ihr Singen und Trommeln etwas Schlechtes sei. Da wurden sie böse. Das wollten sie nicht hören. Die meisten von ihnen sprangen auf; etliche näherten sich der Feldmatrone. Sie machten aber nur wenige Schritte, dann blieben sie wieder stehen, es schien, als wagten sie doch nicht recht, etwas zu tun. Ina stand unbeweglich, sie hatte ihren Blick fest und furchtlos auf die Ankömmlinge gerichtet. Freilich in ihrem Innern sah es nicht so aus, wie es nach außen hin den Anschein hatte. Da war doch ein leises Beben und Bangen, was wohl kommen mochte. Aber sie hatte den Kampf aufgenommen und mußte ihn ausfechten und mit Gottes Hilfe den Sieg davontragen. Als die Leute wieder stillstanden, sagte Ina, mit der Rechten auf die umliegenden Hütten deutend, sie sollten nun alle nach Hause gehen. „Geht nach Hause,“ die Worte konnte sie in der Sprache der Indianer sagen. Sie hatte sich dies einmal von Majull sagen lassen, als etliche Kinder den beiden immer von einer Hütte in die andere folgten und sie nicht verlassen wollten. Damals hatte Majull ihr lehren müssen, wie man „Geht nach Hause“ in der Sprache der Indianer sagt. Diese Worte rief sie den Leuten nun zu. Die Wirkung war aber nicht die von Ina erwartete und erhoffte. Sie gingen nicht. Es entstand ein allgemeines Gemurmel und ein paar der Männer machten wieder ein paar Schritte, auf Ina zu, als wollten sie ihr zu Leibe rücken, um die lästige Friedensstörerin, wofür sie sie hielten, zu verdrängen. Da stand plötzlich, wie aus dem Erdboden gesprungen, ein kleines Mädchen zwischen Ina und den drohenden Indianern. Ihre beiden kleinen Fäuste hatte sie geballt und redete laut und scheltend auf die Männer ein. Dabei wies sie bald auf Ina, bald auf die Hütte, wo die kranke Frau, ihre Mutter, lag -- denn das kleine Mädchen war niemand anders als Elinontis. Während sie sprach, blickten die Männer das Kind erst fragend an, dann begannen sie mit den Köpfen zu nicken, als wollten sie ihre Zustimmung zu dem Gesagten ausdrücken und schließlich wandte sich erst einer, dann ein zweiter, ein dritter und bald gingen alle langsam davon. Ina stand allein in der mondhellen Nacht. Auch Elinontis war fort. Wie sie gekommen war, so war sie verschwunden. Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust des Mädchens, es war ein Dankesseufzer, der aufstieg zu Dem, der die Seinen nie verläßt und auch jetzt in der Stunde drohender Gefahr ihr einen Engel in Gestalt dieses kleinen braunen Mädchens gesandt hatte. Jetzt räusperte sich jemand hinter Ina. Erschrocken blickte sie sich um. Da stand ein junger Indianer, den sie schon etliche Male gesehen, wenn auch noch nicht gesprochen hatte. „Du kannst nun wieder nach Hause gehen,“ sagte er, „die Leute sind alle in ihre Hütten gegangen und werden sich schlafen legen. Sie werden nicht wieder kommen, und die kranke Frau kann schlafen. Ich will dich nach Hause begleiten, denn ich glaube, du fürchtest dich, allein zu gehen.“ „Ich fürchte mich nicht,“ sagte Ina, „wenn ich mich fürchtete, wäre ich nicht allein hierher gekommen. Aber, wenn du mit mir gehen willst, danke ich dir. Komm.“ Und der junge Mann ging mit Ina. „Wie heißt du?“ fragte Ina. „Ich heiße Kodaggo.“ „Es ist lieb von dir, Kodaggo, daß du mich nach Hause bringst, ich muß dir nämlich sagen, ich habe ganz die Richtung verloren, in der ich gehen müßte. Ich bin noch nie bei Nacht hier gewesen. Am Tage hätte ich mich schon zurecht gefunden.“ „Du bist eine weiße Frau,“ sagte Kodaggo und lachte, „wir Indianer verlieren nie den Weg. Einen Weg, den wir einmal gegangen sind, und wäre er noch so weit, finden wir immer wieder, wir fühlen uns wieder zurecht. Ihr weißen Leute seid anders. Ihr fragt immer nach den Wegen. Wir tun das nie.“ „Kodaggo, was hat Elinontis zu den Männern gesagt? Bitte, erzähle mir das. Ich habe ja kein Wort davon verstehen können und ich möchte doch gern wissen, was sie sagte und was die Männer bewegte, auf sie zu hören und fortzugehen. Was hat Elinontis gesagt?“ „Sie hat nicht viel gesagt,“ antwortete Kodaggo. „Zuerst hat sie die Männer gescholten und gedroht, sie würde ihnen die Augen auskratzen, wenn sie nicht fortgingen. Dann aber hat sie angefangen zu bitten und gesagt, ihre Mutter wolle nicht, daß sie noch weiter sängen, wenn die weiße Frau das nicht haben wolle, sie habe die weiße Frau lieb, ihre Mutter habe gesagt, alles, was die weiße Frau sage und tue, sei gut. So hat Elinontis gesagt, und da waren die Männer zufrieden und sind fortgegangen. Die Leute haben auch Elinontis gern. Sie ist nicht wie die andern Kinder. Sie läuft nicht den ganzen Tag in den Bergen umher. So klein und jung sie ist, arbeitet sie immer für die kranke Mutter und läßt sie nicht länger allein als sie muß. Sie ist ein sehr kluges, gutes Kind.“ Ina erzählte Kodaggo, daß sie Elinontis kenne, sie sähe sie jeden Morgen am Brunnen, wenn sie Wasser hole, das Kind habe aber noch nie mit ihr gesprochen, und sie möchte so gerne einmal mit dem Kinde reden. „Warte nur,“ erwiderte Kodaggo, „die Zeit wird schon kommen. Heute nacht hat sie für dich geredet, es wird nicht lange dauern, dann wird sie auch mit dir reden.“ Mittlerweile waren die beiden in die Nähe von Inas Haus gekommen. Ina blieb stehen und reichte Kodaggo die Hand. „Die letzte kleine Strecke kann ich nun allein gehen,“ sagte sie zu ihrem Begleiter, „habe Dank, daß du soweit mit mir gekommen bist. Ich hoffe, ich sehe dich bald einmal wieder. Ich freue mich über jede neue Bekanntschaft, die ich unter euch lieben Leuten mache.“ Kodaggo erwiderte nichts; er lüftete nur seinen Hut und ging eilig dahin zurück, woher er gekommen war. Ina trat in ihr Haus, entkleidete sich und legte sich wieder zur Ruhe. Sie konnte aber nicht einschlafen. Teils war sie noch zu erregt von ihrem nächtlichen Erlebnis, teils war es so drückend heiß in dem kleinen Zimmer, daß sie meinte, kaum atmen zu können. Sie stand auf und öffnete die Haustür, auf daß mehr Luft ins Haus dringe. Ina dachte, sie werde so bald nicht einschlafen und wollte die Tür wieder schließen, sobald sie spüren würde, daß Müdigkeit sich einstellte. Letzteres geschah aber, ohne daß Ina es merkte, und sie schlief ein, ohne dazu gekommen zu sein, die Haustür wieder zu schließen. Als Elinontis am nächsten Morgen kam, um ihr Wasser zu holen, fand sie ihre Freundin nicht an dem gewohnten Platze, sie bemerkte aber die weit geöffnete Haustür. Das fiel der Kleinen auf. Ina hielt die Tür immer geschlossen den Tag über, damit ihr die lästigen Fliegen, von denen es in Arizona so viele gibt, nicht in das Haus kämen. Erst am späten Abend, nachdem die Fliegen sich ihre Schlafplätze gesucht, pflegte sie die Haustür zu öffnen. Elinontis kam aber nur am frühen Morgen und in der Nachmittagsstunde, so daß sie nie die Tür geöffnet gesehen hatte. Die Kleine stand am Brunnen und überlegte. Wo mochte wohl Ina sein? Warum stand die Tür so weit geöffnet? Sie kam zu dem Schluß, daß Ina nicht im Hause sei und auch nicht in der Nähe, denn sonst müßte sie sie doch sehen können. Das Kind reckte seinen Hals und schaute umher. Ina war nirgendwo zu erblicken. Sie kletterte behende auf den Rand des Brunnens, um weiter sehen zu können. Nein, die weiße Frau war nirgendwo in weitem Umkreise. Glücklich wie einer, der eine erfreuliche Entdeckung gemacht, sprang Elinontis wieder von dem Brunnenrande auf die Erde. Sie stand noch eine Weile und überlegte. Ob sie es wohl wagen konnte? Sie hätte gar zu gern einmal aus nächster Nähe in das Haus hineingeblickt, um sich Rechenschaft zu geben, wie es darinnen aussehe und was die weiße Frau alles darin habe. Ein schelmisches, verschmitztes Lächeln stahl sich über die sonst so ernsten Züge des Kindes. Sie ließ ihren Krug am Brunnen stehen. Sie schien ganz und gar zu vergessen, daß die Schritte, die die kleinen, bloßen Füße in dem weichen Sande machten, kein Geräusch verursachten. Auf den Zehenspitzen, die anmutig gekrümmten Ärmchen bei jedem Schritt hebend, schlich sie vorsichtig an das Haus der weißen Frau heran. Zuweilen blieb sie stehen, lauschte und schaute umher. Nein, es war niemand zu hören oder zu sehen. Jetzt war sie an der Ecke des Hauses angelangt. Noch ein paar Schritte, und das Kind stand an der breiten hohen Steinstufe, der einzigen, die vor der Tür war, und auf der Ina sonst immer am Morgen saß. Elinontis stützte sich mit den Armen auf die Stufe, bog sich weit über und blickte in das Haus hinein. Es war das erstemal, daß das Kind der Wüste, die Bewohnerin der elenden Sträucherhütte, in das Haus eines zivilisierten weißen Menschen schaute. Starr blickten die großen leuchtenden Augen. O, was sie da alles zu sehen hatten, das schönste von allem aber war doch das große, weiße Bett, in dem Ina lag. Sie schlief, Elinontis sah dies sofort. Nun brauchte sie ja gar keine Angst und Unruhe zu haben. Sie konnte sich ganz ruhig all die schönen Sachen, die in dem Hause waren, ansehen. Einige der Indianerkinder, die in Inas Nähe wohnten, gingen in die Schule. Die brachten zuweilen Bücher und Bilder mit heim. Elinontis hatte auf diesen Bildern gerade solche Dinge gesehen, wie Ina sie hier in ihrem Hause hatte, Stühle, Tische, Schränke, einen großen Spiegel usw., aber in Wirklichkeit sah das Kind dieselben heute zum ersten Male. Kein Wunder, daß Elinontis ganz stumm und starr war. Aber plötzlich lachte sie leise vor sich hin und hielt sich den kleinen Mund zu, damit ja kein Laut über ihre Lippen käme, der die Schläferin wecken könnte. Elinontis erblickte auf einem der Tische ein Glas, und in dem Glase stand ein großer Strauß gelber Blumen. Wie komisch das doch war! Die Blumen, die die Kühe fressen, hatte die weiße Frau sich in ihr schönes Haus geholt und auf den Tisch gestellt. Was sie wohl damit wollte? Sie konnte sie doch nicht essen, sie war doch keine Kuh. Wieder mußte sie lachen und die zweite Hand zu Hilfe nehmen, um den Mund fest zuhalten zu können. Das Kind konnte sich garnicht satt sehen, aber immer wanderten ihre Blicke zu dem Bett und der Schläferin zurück. Das schönste in dem ganzen Hause war doch die große weiße Decke, mit der Ina sich zugedeckt hatte. Wie mochte die so warm und weich sein! In dem Herzen der kleinen Elinontis regte sich der Wunsch, sie möchte einmal die schöne Decke anfassen, ein bißchen drücken und streicheln. Wie waren die Decken, die in ihrer Hütte auf der Erde lagen, unter denen sie schlief, so hart, so schmutzig, so zerrissen! O, wie ganz anders erschien die Decke, die die weiße Frau hatte!! Der Wunsch, das Ding einmal ganz aus der Nähe zu sehen und anzufassen, war so stark in dem Herzen des Kindes, daß es alle Furcht und Scheu verlor und schon den Gedanken gefaßt hatte, in das Haus und an das Bett heranzuschleichen, als die Schläferin plötzlich eine Bewegung mit dem einen Arme machte. Hei, wie Elinontis davonflog! Hätte Ina in demselben Moment die Augen aufgeschlagen, sie hätte doch nichts mehr von der Besucherin zu sehen bekommen, die sie vor ihrer Haustür gehabt hatte. Ina wachte aber noch nicht auf. Sie schlief ruhig weiter, während Elinontis, so schnell sie konnte, ihren Krug mit Wasser füllte und damit nach Hause eilte. Sie warf noch einen Blick nach der geöffneten Tür. Ina kam nicht heraus. Wie froh war das Kind! Majull war sehr aufgebracht, als er kam. Ina war noch beim Kaffeetrinken. Er kam zu ihr in die Küche und schalt sie gehörig aus. Die Indianer hatten ihm erzählt, daß Ina mitten in der Nacht bei den Hütten gewesen sei, und was sich da alles zugetragen habe. „Weißt du nicht, daß es gefährlich ist, mit einem betrunkenen Indianer zusammen zu kommen?“ fragte er. „Ein solcher ist nicht wie ein betrunkener weißer Mann. Wenn ein weißer Mann betrunken ist, dann beträgt er sich wie ein Narr. Ist ein Indianer betrunken, so ist er wie ein wildes Tier. Er beißt, schlägt, sticht, schießt, und ist gefährlich für jeden, der ihm in den Weg kommt. Darum verbietet auch die Regierung, den Indianern berauschende Getränke zu verkaufen. Wenn einer unserer Leute betrunken ist, gehen wir ihm aus dem Wege, bis er wieder nüchtern geworden ist -- du aber gehst ohne Schutz mitten in der Nacht zu einer Schar betrunkener Indianer. Es hätte dein Tod sein können.“ „Sie waren garnicht betrunken, wenigstens noch nicht, als ich hinkam,“ verteidigte Ina sich. „Das konntest du nicht wissen, sie hätten es gerade so gut schon sein können. Es sind fast immer etliche betrunken, wenn sie die Nacht hindurch singen. Sie wissen sich das verbotene Getränk zu verschaffen, trotz aller Wachsamkeit der Polizei. Und wenn sie nichts kaufen können, verstehen sie es, sich selber etwas zu bereiten. Du darfst das nie wieder tun,“ sagte Majull und drohte mit dem Finger. Ina lachte. „Du weißt ja, ich fürchte mich nicht,“ sagte sie. „Du sollst dich auch nicht vor den Indianern fürchten,“ entgegnete Majull, „solange sie nüchtern sind, aber wenn sie betrunken sind, mußt du es wohl. Wenn du es nicht tust, wirst du eines Tages dafür zu leiden haben. Und ich will nicht, daß dir etwas zuleide getan wird.“ „Du magst recht haben,“ sagte Ina und reichte dem Indianer die Hand. In den nächsten Tagen kamen Ina und Elinontis einander nicht viel näher. Sie hatte noch kein Lächeln, kein Nicken, keinen Händegruß von dem Kinde bekommen, so reichlich sie auch dem Kind davon hatte zuteil werden lassen. Hatte Ina etwas für die Kleine, einen Apfel, ein Stück Brot, einen Kuchen oder sonst etwas Außergewöhnliches, so blieb es bei der einmal begonnenen Art der Verabreichung. Die beiden begegneten sich auf halbem Wege. Es wäre vielleicht besser gewesen und Elinontis wäre schon zutraulicher geworden, wenn das Kind nicht ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Sie dachte immer daran, wie sie an jenem Morgen in das offene Haus geschaut hatte und hineingehen wollte, um die Decke anzufassen. Es kam ihr vor, als habe sie etwas Unrechtes tun wollen. Dazu war sie nicht sicher, ob Ina sie nicht vielleicht gar möchte gesehen haben. Sie mußte jeden Morgen wieder daran denken, wenn sie die weiße Frau sah. Da kam ihr bei dem Zartgefühl, das in ihrem Kinderherzen wohnte, der Gedanke, sie wolle versuchen, wieder gut zu machen, was sie getan hatte. Sie wollte der weißen Frau etwas geben. Damit wäre wieder ausgeglichen, was sie ihr an jenem Morgen mit den Augen weggeguckt hatte. Das Kind machte sich dies nicht so klar, wie es hier geschrieben steht, aber es fühlte so, und aus diesem Gefühl heraus kam ihm die Frage, was sie Ina wohl geben könne. Aber was hatte Elinontis? Was konnte sie geben? Sie dachte diesen Morgen wieder daran, als sie gerade ihr Frühstück, das geröstete Welschkorn, aus dem Kruge herausholte. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Ohne sich lange zu besinnen, lief sie zu Ina hin, die auf der Steintreppe saß und las und warf der aufs höchste Überraschten alle braunen Welschkornkörner, die sie in ihrer kleinen schmutzigen Hand hatte, in den Schoß. Ehe Ina ein Wort sagen konnte, war die Kleine schon wieder auf und davon, füllte ihren Krug und eilte nach Hause. Eine ganze Weile saß Ina stumm und schaute auf die Körner in ihrem Schoß. Dann fing sie an, sie ganz behutsam, als wären es wertvolle Goldkörner, zu sammeln. Dabei flüsterte sie: „Mein erstes Geschenk aus Indianerhand und dazu noch aus der Hand dieses Kindes,“ und während sie diese Worte sprach, fielen Tränen, dicke, helle Tränen auf die kleinen Körner. Siehe, da warf die aufgehende Sonne ihre ersten Strahlen in diese Tränen, und die Tränen leuchteten wie Gold, aber nicht wie irdisches sondern wie himmlisches Gold. So vorsichtig, als trüge sie einen Schatz, einen großen Schatz -- und es war auch einer -- trug Ina die Welschkornkörner in ihr Haus. Sie legte sie nicht aus der Hand, sondern ging an ihre Kommode, zog eine Schublade aus derselben heraus und fing an darin zu kramen. Nach einigem Suchen schien sie gefunden zu haben, was sie wollte. Sie brachte eine kleine mit rotem Leder überzogene Schachtel zum Vorschein. Mit dieser setzte sie sich an ihren Tisch. Sie öffnete dieselbe und ein prächtiges, goldenes mit Perlen besetztes Armband lag darin. Ina nahm das Armband heraus und warf es, als sei es etwas ganz Wertloses, auf den Tisch. Dann öffnete sie die Hand, in der sie das Geschenk der kleinen Elinontis hatte, und nahm behutsam die Körner, eins nach dem andern aus der Hand und bettete sie in den weichen feinen Sammet, mit dem das Kästchen, das vor ihr stand, gefüttert war. Wie war doch Ina so glücklich und froh bei dieser Beschäftigung! Wieder kamen die dummen Tränen. Ach, hätte sie nur jemanden gehabt, zu dem sie sich hätte aussprechen, der ihre Freude hätte teilen können, aber da war niemand! Dem guten Majull konnte sie doch nichts von dem Welschkorn erzählen, der hätte kein Verständnis für die Freude der weißen Frau gehabt, er hätte jedenfalls nur ein Lachen für sie. Ina war so ganz in Gedanken versunken gewesen, daß sie garnicht gehört hatte, daß Majull vor ihrer Tür angehalten und vom Pferde gestiegen war. Jetzt klopfte er. Ina fuhr zusammen. Schnell schloß sie die Schachtel und barg dieselbe in der Kommodenschublade. Hierauf öffnete sie die Tür und Majull trat ein. Er hatte kaum ein paar Worte geredet, da fielen seine Indianeraugen, denen nie etwas entging, auf das Armband, das auf dem Tische lag. In Indianersprache kam ein Ausruf der Bewunderung und des Erstaunens über seine Lippen. Er trat näher an den Tisch heran und betrachtete das Armband ganz genau. „Das ist etwas sehr Schönes,“ sagte er, „woher hast du das bekommen? Wer hat es dir geschenkt?“ „Das hat mir niemand geschenkt,“ sagte Ina, „ich habe es mir vor vielen Jahren einmal gekauft, als ich noch in Neuyork lebte und noch ein junges Mädchen war.“ „Darf ich das Armband einmal anfassen?“ fragte Majull. „Gewiß darfst du das,“ sagte Ina, „du darfst es sogar behalten und deiner Klaschimba mitnehmen; ich schenke es ihr,“ setzte Ina hinzu, glücklich, einen Weg gefunden zu haben, wie sie in ihrer Freude jemand anders eine Freude bereiten konnte. „O, du willst dies gute, goldene Armband meiner Klaschimba schenken? Was fällt dir denn ein? Dir muß etwas sehr Freudiges begegnet sein.“ „Das ist es auch, Majull,“ sagte Ina. „Was denn?“ fragte der Indianer. „Das sage ich dir nicht.“ „Das willst du mir nicht sagen? Warum nicht?“ „Weil du es nicht verstehst. Aber nun geh und sattle mir mein Pferd; wir haben heute viel zu tun.“ Majull bedankte sich für das Armband und ging. Als er im Stall bei dem Pferd angelangt war, murmelte er, wie er das oft tat, vor sich hin: „Sollte mich nicht wundern, wenn es etwas mit dem Kinde zu tun hat! Sie ist anders als die andern alle. Wer von all den andern würde sich so um ein Kind bemühen, wie sie?“ Dann nahm er das Armband aus der Tasche und betrachtete es prüfenden Blickes von allen Seiten. „Es ist echtes Gold,“ sagte er, „Klaschimba wird sehr stolz darauf sein. Keine der Indianerfrauen hat ein so gutes Armband.“ Auf ihrer gewohnten Rundreise zu den verschiedenen Indianerhütten sagte Ina plötzlich zu Majull, während die beiden langsam nebeneinander ritten: „Majull, wie sagt man in deiner Sprache „ich habe dich lieb“, ich möchte das gern wissen.“ „Warum willst du es wissen?“ „Ich will das einer Freundin in einem Brief schreiben. Sie hat mich gebeten, ich solle ihr doch einmal ein paar indianische Worte schreiben.“ Es war die volle Wahrheit, die Ina sagte. Es hatte wirklich eine Freundin diese Bitte in einem Brief ausgesprochen. Daß aber Ina gerade die Worte „Ich habe dich lieb“ übersetzt haben wollte, hatte seinen besonderen Grund. Majull schien so etwas zu ahnen. Die Indianer fühlen fast immer richtig heraus, wie Worte gemeint sind, die jemand zu ihnen spricht. Majull sagte aber nichts, er sah seine errötende Begleiterin nur ein wenig argwöhnisch von der Seite an. Dann sagte er: „Ich liebe dich, heißt in unserer Sprache _nilchnscho_!“ „Das kann doch nicht recht sein,“ meinte Ina. „Gewiß, ich werde dir doch nichts Verkehrtes sagen, wenn du mich fragst? Ich sage dir immer die Wahrheit.“ Ina meinte einen tadelnden Ton herauszuhören, als Majull die letzten Worte sprach, sie hatte nämlich den argwöhnischen Blick aufgefangen, den Majull kurz zuvor auf sie geworfen hatte. „Du hast mir aber nur +ein+ Wort gegeben, und ich habe dich nach drei Worten gefragt. Ich -- liebe -- dich; wie übersetzt man diese drei Worte in eure Sprache?“ „Ich liebe dich, heißt _nilchnscho_. In diesem einen Worte sind deine drei Worte enthalten.“ Ina war noch nicht zufrieden. „Wie heißt ich?“ fragte sie. „Ich heißt _schi_.“ „Und wie heißt dich?“ „Dich heißt _ni_.“ „Und wie heißt liebe?“ „Das kann man nicht alleine sagen. Wir denken und reden anders als ihr. Es muß doch jemand da sein, der liebt, und auch etwas, was man liebt. Darum gehören nach unserm Gefühl die drei Worte zusammen. Man darf sie nicht auseinander reißen. Ich liebe dich heißt _nilchnscho_. Ein Wort für deine drei Worte.“ Nun war Ina zufrieden. „Jetzt habe ich es verstanden,“ sagte sie, „es gefällt mir, wie ihr da denkt und redet.“ Hierauf versuchte sie, das Wort nachzusprechen und sich einzuprägen. Majull mußte es noch etliche Male wiederholen, dann hatte Ina es fest in ihrem Kopfe. „Nun werde ich es nicht wieder vergessen,“ sagte sie. „Ich liebe dich“ „_nilchnscho_.“ Als Ina sich an jenem Tage von Majull verabschiedete, sagte sie: „Majull, _nilchnscho_. Ich meine aber nicht dich, sondern jemand anders.“ „Das weiß ich, du meinst die Freundin, die den Brief bekommen soll.“ Er lachte. Ina merkte, daß er Nebengedanken bei diesen Worten hatte. Das wurmte sie, deshalb sagte sie: „Ja, die meine ich, ich denke aber auch noch an jemand anders, wenn du es durchaus wissen willst, du neugieriger Mann.“ Majull lachte laut auf, es lag aber nichts Kränkendes in seinem Lachen sondern nur etwas Versöhnendes, und es klang geradezu herzlich, als er sagte: „Ich weiß, wen du meinst, du brauchst mir den Namen garnicht zu nennen.“ Majull zog seinen Hut vom Kopf -- er hatte in der Schule gelernt, daß man zum Gruß den Hut abnehmen müsse, wenn man mit einer Dame zu tun habe -- und ritt zu seiner Klaschimba. Er hatte es mit einem Male sehr eilig. Ihm war das goldene Armband eingefallen, das er in der Tasche hatte, und die Freude war wieder wach geworden, es seiner Klaschimba bringen zu dürfen. Am nächsten Morgen erschien Majull in Begleitung seiner Frau bei Ina. Sie saß hinter ihm auf dem Pferde. „Das ist meine Frau,“ sagte er zu Ina, die dieselbe bisher nicht gesehen hatte, „sie will dir zeigen, wie schön das Armband an ihrem Arm aussieht.“ [Illustration: S. 48. „Dies ist meine Frau“, sagte Majull zu Ina.] Klaschimba, eine noch junge hübsche Frau, glitt anmutig vom Pferde. Sie näherte sich ohne Scheu der weißen Frau und zeigte ihr das Armband an ihrem Arm. Majull hatte ihr so viel Gutes von der Frau erzählt, daß sie ihr mit vollem Vertrauen entgegentrat. Sie bedankte sich aber nicht. Das verstand sie nicht. Sie war nicht in der Schule gewesen wie Majull, der das Dankesagen gelernt hatte. Das heißt nun aber nicht, daß Klaschimba kein Gefühl der Dankbarkeit in ihrem Herzen hatte. Sie sprach es nach Indianerart nur nicht aus, daß sie dankbar war, sie zeigte es aber der weißen Frau durch ihren Besuch. Ina empfand das und freute sich. Sie lud die beiden ein, ehe Majull zu den Pferden gehe, ins Haus zu kommen und eine Tasse Kaffee mit ihr zu trinken. Sie taten es, und während nachher Majull seine Arbeit im Stall verrichtete, saß Klaschimba wie eine alte Bekannte bei Ina, die ihr Bilder zeigte und sich ihr mit Zeichen verständlich zu machen suchte. Klaschimba ritt nicht mit den beiden. Sie ging zu Fuß wieder nach Hause, als Ina und Majull fortritten. Sie waren eine kleine Strecke Weges schweigend dahingeritten, als Majull fragte: „Ina, hast du gestern abend den Brief an deine Freundin geschrieben?“ „Ja,“ sagte Ina, „das habe ich getan, und es steht auch „_nilchnscho_“ darin, „ich liebe dich“, denn du mußt wissen, ich habe diese Freundin sehr lieb.“ Als Ina das Wort _nilchnscho_ aussprach, fiel ihr die kleine Elinontis ein. Elinontis war heute morgen nicht am Brunnen gewesen und sie hatte doch Majull gleich nach dem Kinde fragen wollen und es über dem so ganz unerwarteten Besuch der Klaschimba vergessen. „Majull, Elinontis war heute morgen nicht am Brunnen, um Wasser zu holen. Weißt du etwas von dem Kinde?“ „Ja, sie ist gestern abend von einem Baum heruntergefallen und hat sich den linken Arm verletzt. Das wird wohl die Ursache sein, weshalb sie nicht gekommen ist.“ „Und das sagst du mir jetzt erst?“ erwiderte Ina tadelnd. „Das ist doch nichts Besonderes,“ meinte Majull, „so etwas ereignet sich alle Tage. Wo Kinder sind und herumspielen, fallen sie auch hin und verletzen sich.“ „Aber es war Elinontis.“ „Ja, ja,“ sagte Majull, „es war Elinontis, ich habe garnicht daran gedacht, Elinontis _nilchnscho_.“ Ina schaute den Indianer vorwurfsvoll an. Dann sagte sie: „Majull, wir müssen heute sehr schnell reiten,“ und sie trieb ihr Pferd zu schnellerer Gangart an. Majull folgte ohne ein Wort der Erwiderung ihrem Beispiel. Im Galopp ritten die beiden dahin bis sie zu der Hütte der kleinen Elinontis und ihrer Mutter kamen. Elinontis kauerte am Fußende des Lagers ihrer kranken Mutter. Mit der rechten Hand hielt sie den linken Arm an die kleine Brust gepreßt. Als Ina und Majull eintraten blickte das Kind auf. Ina meinte den Schmerz, den die Kleine fühlte, in ihren Augen lesen zu können. Langsam näherte sie sich dem Kinde. Heute würde und konnte es ja nicht vor ihr davonlaufen. Elinontis machte auch gar keinen Versuch, aufzustehen und das Weite zu suchen. Sie blieb ruhig sitzen und duldete, daß Ina vorsichtig den verletzten Arm anfaßte und anfing, denselben zu untersuchen. Zu den Kenntnissen, die eine Feldmatrone haben muß, die Anstellung auf einer Indianerreservation haben will, gehört auch, daß sie in Unglücksfällen die erste Handreichung tun kann. So hatte Ina bei ihrer Ausbildung für ihre Arbeit hierin Unterweisung erhalten. Obwohl der Arm des Kindes bereits etwas angeschwollen war, fühlte Ina doch bald mit ihren feinen Fingern, daß der eine Knochen des Unterarms gebrochen war. „Majull, du mußt mir helfen,“ wandte Ina sich an den Indianer, „hole mir ein Stück Pappe.“ „Hier ist keine Pappe.“ Ina sann eine Weile nach. Dann sagte sie: „Ich sah gestern abend einen Indianer an meinem Hause vorbeireiten. Ich weiß nicht, wer er war, er war zu weit fort, und es dunkelte bereits. Aber ich habe deutlich gesehen, daß er eine Pappschachtel unter seinem Arm hatte.“ „Das war Kodaggo,“ unterbrach Majull sie, „er hat sich gestern ein paar neue Schuhe gekauft, die hatte er in der Schachtel.“ „Wo wohnt Kodaggo?“ fragte Ina. „Er wohnt hier auf dem Hügel.“ „Dann geh zu ihm und bitte ihn um die Schachtel. Sage ihm nur, ich wolle sie haben. Ich kenne Kodaggo und er kennt mich.“ „So?“ fragte Majull, „seit wann kennst du Kodaggo?“ „Das sage ich dir ein andermal. Jetzt ist dazu keine Zeit. Eile und bringe mir die Schachtel.“ Nach einigen Minuten kehrte Majull zurück und brachte das Gewünschte. Ina nahm die Schachtel Sie war schwer. Als sie dieselbe öffnete, sah sie, daß die Schuhe noch in der Schachtel lagen. „Majull,“ rief Ina, „ich will doch nur die Schachtel, nicht auch die Schuhe.“ „Das habe ich Kodaggo gesagt. Kodaggo aber meinte, du wollest die Schuhe, die Schachtel sei doch nichts wert, mit der könnest du nichts anfangen. Er sagte aber, du könntest die Schuhe haben, weil du ihn darum gebeten hättest. Er war gleich bereit, sie herzugeben.“ Ina lächelte gerührt. „Hier,“ sagte sie und reichte Majull die Schuhe hin, „bringe sie dem guten Kodaggo zurück und sage ihm, ich brauche nur die Schachtel und ließe ihm schön dafür danken. Dann aber komm gleich zurück und hilf mir.“ Als Majull zurückkehrte, hatte Ina bereits mit ihrem Taschenmesser zwei Streifen aus der Schachtel herausgeschnitten. Mit Hilfe derselben wurde nun der Arm geschient, und als alles fertig war, in eine Schlinge gelegt. Majull hielt das kranke Glied. Ina besorgte das weitere. Elinontis verzog keine Miene, ihre Augen hingen an der Frau, die ihr diente; sie schaute mit keinem Blick auf die an ihrem Arm arbeitenden Hände. Die kranke Mutter, die sich heute, wie schon seit etlichen Tagen etwas wohler fühlte, saß aufrecht in ihrem Bett und schaute ebenfalls aufmerksam zu. Aus ihren Augen sprach Befriedigung. Als alles fertig war, ließ Ina der Mutter und ihrem Kinde durch Majull sagen, der Arm werde nur noch kurze Zeit weh tun, dann werde sich der Schmerz legen und in etwa zwei oder drei Wochen werde alles wieder gut sein. Sie dürften aber nicht an dem Verbande rühren und Elinontis solle den Arm nicht aus der Schlinge nehmen. Hierauf wurde die kranke Frau besorgt. Als Ina an den Wasserkrug trat, fand sie ihn gefüllt. „Wer hat heute das Wasser geholt?“ fragte sie. „Kodaggo,“ entgegnete Majull. „Ist Kodaggo ein Verwandter dieser Frau?“ „Noch nicht,“ erwiderte Majull, „aber er will eines Tages die kleine Elinontis heiraten.“ „Elinontis heiraten?“ fragte Ina ganz entsetzt „sie ist ja ein kleines Kind.“ „Aber sie wird größer und älter werden,“ sagte Majull, „Kodaggo sagt, er sei noch jung, er könne warten. Es sei hier kein zweites so gutes Mädchen wie Elinontis, er warte noch etliche Jahre, dann werde er sie heiraten. Seine Eltern und die Mutter der Elinontis sind damit zufrieden. Das ist schon alles ausgemacht. Wäre Elinontis älter und stärker, so könnte sie jetzt schon seine Frau werden. Sie hat Verstand genug dazu. So sagen alle Indianer.“ Ina war entsetzt; sie sagte aber nichts, sondern nahm sich nur vor, das Kind umsomehr im Auge zu behalten. Mit Kodaggo wollte Ina am nächsten Morgen ein Wort reden, wenn er kommen würde, um Wasser zu holen. Wer aber beschreibt ihr Erstaunen, als nicht Kodaggo sondern Elinontis zum Brunnen kam! Elinontis hatte, wie es ihr geheißen war, den kranken Arm in der Schlinge, den Krug trug sie wie immer an dem Riemen, den sie über die Stirn gelegt hatte. Ina sah die Kleine durchs Fenster, sie war noch mit dem Ankleiden beschäftigt. „Es ist das Blut der Wilden,“ dachte sie, „das noch in den Adern dieser Leute rollt. Welches weiße Kind würde an solche Arbeit denken, welche weiße Mutter würde ihr Kind zu solcher Arbeit aussenden, nachdem es sich am Tage zuvor den Arm gebrochen hat.“ Ina warf sich schnell ein Tuch über die Schultern und eilte hinaus. Elinontis war gerade am Brunnen angelangt, als sie kam. Heute lief das Kind nicht fort. Sie schaute aber die weiße Frau fragend an und ließ es ohne Widerstreben geschehen, daß Ina ihr den Krug von der Schulter nahm, denselben füllte und ihr dann ein Zeichen machte, sie solle ihr ins Haus folgen. Ina trug den Krug zu der Haustür und stellte ihn dort auf den Erdboden. Dann ging sie hinein und kam bald darauf mit einem Stück Brot und einem Becher Kaffee zurück. Als sie herauskam, hatte Elinontis den Krug wieder auf dem Rücken und wollte gerade fortgehen. Als Ina ihr aber den dampfenden Kaffee auf die Steintreppe stellte und das schöne Stück Brot daneben legte, folgte sie doch der mit Zeichen gegebenen Einladung, setzte sich auf die Steintreppe und fing an zu essen und zu trinken. Um das Kind nicht zu stören, zog Ina sich in ihr Haus zurück, sah aber noch, daß Elinontis die größere Hälfte ihrer Honigbrotschnitte abbrach und beiseite legte. Sie wollte sie ohne Zweifel wieder der Mutter mitnehmen. Ina setzte sich in der Küche an ihren Tisch und verzehrte ihr Frühstück. Wie gern hätte sie das Kind neben sich sitzen gehabt! Daran durfte sie jetzt aber noch nicht denken. Es wäre noch nicht dazu zu bewegen gewesen, und hätte Ina es erreicht, daß Elinontis in die Küche gekommen wäre, so hätte die Kleine sicher nicht in ihrer Gegenwart gegessen. Ina sah aber im Geiste den Tag kommen, wo das Kind anfangen würde, neben ihr zu sitzen und mit ihr zu essen und zu trinken. Als Ina nach Beendigung ihrer Mahlzeit wieder an die Haustür ging, war Elinontis verschwunden und mit ihr der Becher, aus dem sie den Kaffee getrunken hatte. Nein, so etwas! Das Kind war also nicht ehrlich. Das wußte Elinontis, daß Ina ihr den Becher nicht hatte schenken wollen. Ina war betrübt über diese unerwartete Entdeckung! Langsam drehte sie sich um und kehrte in ihr Zimmer zurück. Sieh da, welche Überraschung! Der Becher stand auf dem Tisch. Das Kind war im Zimmer gewesen und hatte ihn auf den Tisch gestellt. Es hatte wohl befürchtet, daß irgend ein Vorübergehender den Becher möchte stehen sehen, nachdem sie fortgegangen war, und auf den Gedanken kommen könnte, denselben zu stehlen. Anstatt zu stehlen, hatte Elinontis, gerade als ob sie die Erklärung zum siebenten Gebot gelernt hätte, daran gedacht, ihrer weißen Freundin ihr Gut und Nahrung „helfen bessern und behüten.“ Ina fühlte sich betrübt und beschämt, daß sie so arge Gedanken wider das liebe Kind in ihrem Herzen hatte haben können. Bald darauf kam Majull. Ina hatte eine längere Unterredung mit ihm über Kodaggo. Aus diesem Gespräch lernte sie folgendes. Kodaggo war sechzehn Jahre alt. Ina hatte ihn für bedeutend älter gehalten. Er war vor einigen Monaten aus der Regierungsschule auf die Reservation entlassen worden. Bei dieser Gelegenheit hatte der Superintendent der Schule ihm geraten, er solle auf eine der höheren Indianerschulen im Osten gehen. Es solle alles von der Regierung bezahlt werden. Der Superintendent hatte gemeint, Kodaggo habe sehr gute Anlagen und könne genug lernen, wenn er fleißig wäre und genügend Zeit opfere, um eines Tages Lehrer in einer der für seine Stammesgenossen gegründeten Schulen zu werden. „Hat Kodaggo Lust, auf eine solche Schule zu gehen?“ fragte Ina. Majull erwiderte: „Ich habe nicht mit ihm gesprochen, aber ich habe von anderen Indianern gehört, daß er einerseits möchte, andererseits nicht. Seine Eltern haben nichts dawider, wie mir meine Brüder gesagt haben.“ Jetzt sah Ina ihren Weg klar vor sich. Kodaggo mußte auf die hohe Schule, und zwar auf die Schule, wo ihre Freundin Lehrerin war, jene Freundin, der sie kürzlich das Wort „_nilchnscho_“ geschrieben hatte. In zwei Wochen war Schulanfang. Es war also Eile vonnöten; noch heute wollte Ina mit Kodaggo reden. Der junge Mann hatte ihr in jener Nacht, da sie die Sänger zur Ruhe gebracht hatte, Vertrauen bewiesen, und Ina zweifelte nicht, daß ihr Wort bei ihm etwas gelten werde. Noch an demselben Tage hatte sie eine längere Unterredung mit Kodaggo. Als der junge Mann hörte, daß er noch etwa sechs bis sieben Jahre würde lernen müssen, wurde er stutzig und wollte nichts davon wissen. Ina setzte ihm aber auseinander, daß das Lernen und Leben auf der hohen Schule ein ganz anderes sei als das auf der Reservationsschule, und daß viele junge Indianer von allen möglichen Indianerstämmen auf dieser Schule zusammenkämen und froh wären, dort sein zu können und zu lernen, schwanden nach und nach seine Bedenken und schließlich sagte er, Ina solle alles für ihn bei dem Agenten und dem Schulsuperintendenten ordnen, er wolle gehen. Am Abend schrieb Ina einen Brief an ihre Freundin und legte ihr den jungen Mann, der in nächster Zeit auf ihre Schule kommen werde, warm ans Herz, erzählte ihr auch viel von Elinontis, seiner ihm nach Indianerbrauch bereits zugesprochenen zukünftigen Ehefrau. Am nächsten Tage ordnete Ina die Angelegenheiten bei dem Agenten. Dieser sprach ihr ein sehr freundliches Lob darüber aus, daß sie in so kurzer Zeit sich das Vertrauen der Indianer erworben habe. Es seien ihm schon allerlei Gerüchte über ihre Tätigkeit zu Ohren gekommen und besonders freue es ihn, daß sie sich auch um die jungen Leute bekümmere und sie in der rechten Weise zu beeinflussen suche. Kein Menschenherz ist unempfänglich für Lob und Anerkennung. Wer wollte es Ina verdenken, daß sie sich über die Worte ihres Vorgesetzten freute! Mit Elinontis schien seit dem Tage, da Ina ihr den Arm verbunden hatte, eine Veränderung vorgegangen zu sein. Das Kind wurde zusehends zutraulicher und dreister. Elinontis kam nun schon unaufgefordert ins Haus, ging darin umher und beschaute sich all die schönen Dinge aus der Nähe. Sie faßte nichts an, nur wenn sie an dem Bett vorbeiging, streichelte und befühlte sie die schöne weiche Decke. Das tat sie jedesmal, wenn sie ins Haus kam. Aber eins tat das Kind nicht. Es sprach nicht. Ina hatte noch kein Wort aus seinem Munde gehört. Elinontis schaute ihre Freundin wohl zuweilen mit ihren großen schwarzen Augen an, aber nicht einmal in den Augen war etwas zu lesen, was das Kind zu sagen sich scheute. Sie nickte auch nicht mit dem Köpfchen, sie schüttelte den Kopf nicht. Es hatte fast den Anschein, als könne das Kind weder hören noch reden. Das war aber nicht so. Ina wußte ganz genau, daß die Kleine sehr scharf hörte, und als sie Majull einmal fragte, ob das Kind etwa nicht reden könne, hatte er gelacht und sie daran erinnert, daß er ihr eines Tages gesagt habe, daß die Zeit schon kommen werde, da Elinontis mit ihr spreche, sie solle nur warten. So wartete denn Ina von einem Tage zum andern. Elinontis konnte reden. Wenn das Kind, wie heute, mit seiner Mutter zusammensaß, dann waren die kleinen Lippen fast immer in Bewegung, und die süße kleine Stimme hatte der Mutter beständig etwas zu sagen. Letztere war auf dem besten Wege zu völliger Genesung. Heute saß sie mit Elinontis vor ihrer Hütte im Sonnenschein. Die Indianer lieben die Sonne, sie sitzen lieber in der Sonne als im Schatten. Die Mutter konnte bereits wieder kleine Arbeiten verrichten. Ihre Hände beschäftigten sich mit einer Perlenarbeit. Es sollte ein Halsband werden. Sie reihte Perle an Perle. Elinontis reichte ihr die Perlen aus einer kleinen irdenen Schüssel, die sie in ihrem Schoß hatte. In derselben waren Perlen von allen denkbaren Farben. Elinontis wußte ganz genau, ob jetzt eine rote oder eine blaue, eine weiße oder eine gelbe Perle kam. Neben der irdenen Schüssel in Elinontis Schoß lag ein fertiges Halsband. Auf blauem Grunde zeigte es buntfarbige Wüstenblumen und grüne Blätter. Dieses Halsband diente der Mutter zum Muster, danach sie ihre Arbeit anfertigte. Die kleine Elinontis verstand nach diesem Muster der Mutter immer die richtige Perle zuzureichen. Sie machte nie einen Fehler. Die Mutter konnte ohne Bedenken die Perle, die Elinontis ihr mit der kleinen Hand reichte, auf ihre Nadel nehmen und damit weiterarbeiten. So ging die Arbeit schnell und fröhlich voran. Die Mutter brauchte keine Zeit damit zu versäumen, die Perlen auszusuchen, und Elinontis war froh, daß sie helfen konnte und durfte, denn das Halsband sollte -- Ina bekommen. Heute war Elinontis besonders froh, denn es war Aussicht vorhanden, daß das Halsband heute fertig werden würde. Es war Sonnabend. Ina hatte den freien Tag dazu benutzt, gleich nach Mittag zu der zehn Meilen weit entfernten Agentur der Regierung zu reiten. Majull war nicht bei ihr. Ina war ganz allein. Elinontis kannte weder Zeit noch Uhr, aber das Kind konnte es fühlen, wann Ina etwa wieder zurück sein könne. Wenn das Halsband bis zu der Stunde fertig sein würde, wollte Elinontis von der Höhe des Hügels aus Umschau halten und wenn sie Ina kommen sah, wollte sie hinlaufen und ihr das Geschenk der Mutter übergeben. So hatten die beiden, Elinontis und ihre Mutter, sich die Sache ausgedacht. „Was willst du denn zu der weißen Frau sagen, wenn du ihr das Halsband gibst?“ fragte die Mutter. „Nichts.“ „Garnichts?“ „Nein, garnichts.“ „Aber du mußt doch etwas sagen.“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Sie versteht mich ja doch nicht.“ „Sie würde sich aber freuen.“ „Sie kann meine Sprache nicht verstehn.“ „Das schadet nichts.“ „Wenn ich in der Schule ihre Sprache gelernt habe, werde ich mit ihr reden.“ „Du willst in die Schule gehen?“ „Ja.“ „Die Schulen mögen gut sein für weiße Leute, aber sie sind es nicht für Indianer. Sie mögen etwa gut sein für die Knaben, aber sie sind nicht gut für die Mädchen.“ „Ich will aber so schöne Bücher haben, wie die weiße Frau.“ „Was willst du damit?“ „Das weiß ich nicht. Aber Bücher müssen etwas Gutes sein.“ „Warum?“ „Weil die weiße Frau Bücher hat.“ „Darum brauchen die Bücher nicht notwendig gut zu sein.“ „Die weiße Frau sitzt jeden Morgen früh vor ihrer Tür und schaut in die Bücher hinein. Ich habe Kodaggo gefragt, warum sie das tut. Er hat geantwortet, sie lese darin.“ „Was ist das, lesen?“ „Das weiß ich nicht. Aber man lernt es in der Schule. Kodaggo hat es gesagt. Ich will es lernen. Es ist etwas Gutes. Ich will in die Schule gehen.“ „Ach ja, du wirst wohl müssen,“ seufzte die Mutter. „Du bist jetzt schon im siebenten Jahre. Wenn die Schule wieder anfängt, wird wohl eines Tages ein Polizist kommen und dich holen.“ „Ich werde nicht warten bis der Polizist kommt. Ich lasse mich nicht von dem Polizisten in die Schule bringen. Ich gehe in die Schule, weil ich will.“ „Weil du willst?“ Die Mutter schüttelte den Kopf, während sie diese Worte sagte. „Wie töricht du redest! Kein Kind geht in die Schule, weil es will; sie gehen alle, weil sie müssen.“ „Ich aber nicht. Ich gehe, weil ich will. Kodaggo auch. Kodaggo geht ganz weit weg in eine große Schule. Und wenn er zurückkommt, bin ich schon groß und Kodaggo ist dann gerade so klug wie die weiße Frau. Er hat mir das gesagt.“ „Und du willst mich ganz allein lassen?“ „Nein, ich komme jeden Abend nach Hause, und jeden Morgen, ehe ich fortgehe, hole ich dir Wasser.“ „Es wird sich finden,“ sagte die Mutter. „Es wird sich finden,“ wiederholte Elinontis, sie wußte aber nicht, was diese Worte für eine Bedeutung hatten. „Erzähle mir, was du im Hause der weißen Frau siehst, wenn du am Morgen hineingehst,“ sagte die Mutter. Das Kind erzählte ihr das alle Tage. Die Mutter wußte aber, wie gern es davon erzählte, darum ward sie nicht müde, ihm immer aufs neue zuzuhören. Dazu kam auch, daß Elinontis alle Tage neue Entdeckungen und Beobachtungen in dem Hause Inas machte. „Sage mir, was sie alles in ihrem Hause hat,“ sagte die Mutter. Und Elinontis hub an. Sie zeigte der Mutter ihre fünf Finger der rechten Hand und sagte: „So viele Dinge hat sie, die sie Stuhl nennt. Kodaggo hat mir gesagt, daß ein solches Ding Stuhl heißt. Wir haben kein Wort dafür, weil wir solche Dinge nicht haben. Es sieht aus wie eine Spinne, hat aber nur vier Beine, vier lange Beine. Auf diesen Dingern sitzt Ina. Heute sitzt sie auf dem einen, morgen auf einem andern. Sie müssen wohl müde oder schwach werden, wenn sie immer auf ein und demselben sitzen würde. Mitten im Hause steht so ein Ding mit vier sehr langen Beinen. Darauf liegt eine Decke. Ich weiß nicht, ob das Ding friert. Ich glaube aber nicht, denn es ist tot und ist von Holz gemacht. Auf der Decke liegen Bücher und andere Sachen, die ich nicht kenne. In dem andern Zimmer hat sie einen großen schwarzen Kasten. Darin steckt sie Holz und zündet es an. Der Kasten selbst aber brennt nicht. Auf demselben stehen viele Töpfe. Darin kocht sie Fleisch und anderes. Sie hat auch eine Kaffeekanne. Die wäscht sie jeden Morgen und sie sieht so blank aus wie das silberne Armband an deinem Arm.“ So erzählte das Kind und wurde nicht müde, von all den Herrlichkeiten zu berichten, die Ina in ihrem Besitz hatte, am meisten aber sprach sie von dem Bett und der schönen weichen Decke. Wenn sie dann fertig war, schloß sie immer mit den Worten: „So ein Haus will ich auch einmal haben, wenn ich groß bin, und lauter solche Sachen und so ein schönes Bett mit einer weichen warmen Decke.“ Dann lächelte die Mutter, als wollte sie sagen, sie wisse besser, wie das kommen werde, aber sagte nichts dagegen. Plötzlich sprang das Kind auf, klatschte in die Hände und jubelte laut: „Fertig, fertig!“ Die Mutter hatte die letzte Perle an das Halsband gereiht. Elinontis konnte die fertige Arbeit noch diesen Abend der weißen Frau übergeben. Mutter und Kind betrachteten das Halsband noch einmal aufmerksam von allen Seiten, dann steckte Elinontis es in ihre Tasche und verließ die Hütte. Sie ging an den Abhang des Hügels, an dessen Fuß die Landstraße sich entlang zog, auf der Ina heimgeritten kommen mußte. Während sie dahinging, hob sie hier und dort einen Stein auf, den ihr suchend und prüfend Auge gewählt hatte. Als sie am Rande des Hügelabhanges ankam, setzte sie sich und begann mit den Steinen zu spielen. Sie warf sie in die Höhe und fing sie wieder auf, gerade wie weiße kleine Mädchen es machen. Nur war Elinontis weit geschickter als jene. Es kam fast nie vor, daß sie einen der in die Höhe geworfenen Steine nicht auffing. Passierte es aber doch einmal, so murmelte sie Scheltworte über ihre Ungeschicklichkeit vor sich hin. Dabei warf sie gelegentlich einen Blick zur Sonne hinauf. Die Sonne war ihre Uhr. Mit der Zeit wurden diese Blicke häufiger, schließlich stellte sie das Spiel mit den Steinen ganz ein und ihr Auge wandte sich dem Platze auf der Landstraße zu, wo sie wußte, daß sie die heimkehrende Ina und ihr Pferd zuerst würde sehen können. Dann war es Zeit, zu der Landstraße hinabzusteigen, um der Vorüberreitenden das Halsband einzuhändigen. Jetzt wirbelte Staub auf. Elinontis springt in die Höhe, um genau sehen zu können. Ja, es ist Inas Pferd, das sie da in der Staubwolke sieht. Was hat das aber zu bedeuten? Sie kann ja gar keine Reiterin auf dem Pferde sehen. Und wie wild kommt das Pferd dahergejagt! Doch! Jetzt sieht sie! Ina sitzt auf dem Pferde! Aber die Zügel sind ihren Händen entglitten. Sie liegt mehr auf dem Rücken des Tieres, denn daß sie darauf sitzt. Sie hat sich an den Sattelknopf angeklammert. Sie hat keinen Hut auf dem Kopf. Wild fliegt das aufgelöste Haar im Winde. Ohne Zweifel hat das Pferd gescheut und ist mit seiner Reiterin durchgegangen. Einen Moment legt sich ein lähmender Schrecken auf das Kind, aber nur einen Moment. Das Kind der Wüste und Berge, dem kein Pferd zu wild ist, daß es sich nicht auf dessen Rücken setzen und es reiten könnte, schüttelt schnell den Schrecken ab. Springend und laufend eilt Elinontis, so schnell eben nur ein Indianerkind das kann, zwischen dem Steingeröll und Dorngestrüpp den Hügelabhang hinab. Noch eher als das wild jagende Pferd ist Elinontis zur Stelle. Mit weit geöffneten Augen, ausgestreckten Armen, ausgespreizten, gekrümmten Fingern, vornüber gebeugt, schier wie ein Raubtier, das auf seine Beute lauert, steht sie da an der Hügelwand, etwa zwei Fuß über der Landstraße. Näher und näher kommt das wild dahinjagende Tier. Jetzt ist der rechte Augenblick gekommen. Lautlos, wie eine Wildkatze, wie ein junger Löwe, springt das Kind dem Pferde an den Hals und reißt seine Arme fest um des Tieres Schlund und Gurgel. Das Pferd schrickt zusammen. Es macht nur noch ein paar tanzende Schritte, dann steht es still. Elinontis läßt mit dem Druck ihrer Arme etwas nach, legt den Kopf an des Tieres Maul und bläst ihm in die Nüstern, leise und sanft. Das beruhigt das Tier. Bald läßt Elinontis den einen Arm ganz los und hängt nur noch mit dem andern an des Pferdes Hals. Sie klopft letzteren und schließlich läßt sie ihn ganz los und gleitet hinab. Das Tier stand vollkommen beruhigt. Jetzt kann Elinontis sich nach Ina umsehen. In dem Augenblick, da Elinontis ihren Kopf wandte, um sich nach der weißen Frau umzusehen, sank diese vom Pferde. Das Kind sprang hinzu und wollte die Freundin auffangen, aber es war bereits zu spät. Ina fiel bewußtlos auf den Erdboden. Elinontis löste schnell den rechten Fuß, der noch im Steigbügel steckte. O, was wäre geworden, wenn das Pferd im Laufe geblieben wäre! Es hätte Ina zu Tode geschleift. Jetzt beugte das Kind sich über die bewußtlose Frau. Das Naturkind stand nicht ratlos. Es liegt ihm im Gefühl, was in derartigen Fällen zu tun ist. Elinontis rieb Ina die Schläfen, bewegte ihre Arme, blies ihr in die Nase, wie sie es zuvor bei dem Pferde getan hatte. Und dann fing sie an, zu ihr zu sprechen, sie sprach ihr ins Ohr und rüttelte sie. Und wieder sprach sie. O, Ina mußte doch hören, was das Kind sagte, und wäre sie schon halb tot gewesen, sie hätte es hören müssen und hätte es gehört. Langsam, leise kam das Bewußtsein zurück. Gerade, als Ina die Augen aufschlug, gerade, als die Sinne zurückkehrten, gerade, als ihr Ohr wieder fähig wurde, den ersten Laut aufzunehmen, sagte die kleine Elinontis noch einmal, was sie schon etliche Male gesagt, ohne daß Ina es gehört hatte. Aber jetzt hörte Ina es ganz deutlich, und es klang ihr wie Engelsang und wie ein Lied aus höherem Chor, dieses einzige Wort, das Ina in der Indianersprache verstehen konnte, das jetzt der liebe kleine Mund sprach, der so lange verschlossen gewesen war. Ina hörte, wie Elinontis ihr ins Ohr rief: „_Nilchnscho._“ „Ich habe dich lieb.“ Da war aber das Bewußtsein voll und ganz zurückgekehrt. Ina nahm das Kind in ihre Arme, herzte, drückte und küßte es. Und Elinontis? Wehrte sie sich? Nein, sie wehrte sich nicht, sie ließ es ruhig geschehen, ja schließlich schlang sie sogar ihre kleinen Arme um Inas Hals und wiederholte noch einmal: „_Nilchnscho_, ich habe dich lieb.“ * * * * * Hiermit ist nun eigentlich unsere Geschichte zu Ende, denn sie heißt: „Das erste Wort der kleinen Elinontis.“ Die kleine Elinontis hat ihr erstes Wort gesprochen. Sie hat _nilchnscho_ zu Ina gesagt. Weil nun aber die kleinen Leser und Leserinnen auch Ina und Elinontis lieb gewonnen haben, so möchten sie gewiß gern wissen, was später aus ihnen geworden ist. So soll das denn hier noch kurz zum Schluß gesagt werden. Elinontis hat nicht gewartet, bis sie in der Schule die Sprache Inas gelernt hatte. Sie hat seit jenem Abend angefangen, in ihrer Indianersprache mit der Freundin zu reden. Ina hat ihr in ihrer Sprache geantwortet, und ehe etliche Monate vergangen waren, konnten die beiden einander ganz gut verstehen. Ina lernte ein Indianerwort nach dem anderen und Elinontis behielt mit seltener Geschwindigkeit, was Ina ihr in ihrer Sprache beibrachte. Als Elinontis dann im Herbst in die Schule kam, konnte sie schon so viel Englisch verstehen, daß die Lehrerin sie bereits am zweiten Tage in die Abteilung der Kinder einreihte, die eine Fibel hatten. Die Freude der kleinen Elinontis war groß. Acht Jahre lang ist Elinontis dann in die Schule gegangen. Wenn sie am Abend nach Hause kam, ging sie zuerst zu ihrer Mutter. Es verging aber kein Tag, ohne daß sie zu Ina kam. Je älter sie wurde, desto mehr lernte sie in der Schule und besonders von Ina. Bei letzterer lernte sie nähen, stricken, stopfen und flicken, kochen und waschen. Sie lernte aber auch das Beste und Wichtigste, was ein Mensch lernen kann und was man in den Regierungsschulen in Amerika nicht lernt, weil die Gesetze des Landes es verbieten. Ina unterwies ihre kleine Elinontis in allem, was die Heilige Schrift lehrt. So lernte Elinontis Jesum kennen und lieben. Als sie nach acht Jahren aus der Schule entlassen wurde, kam auch Kodaggo aus der hohen Schule, die er im Osten besucht hatte, zurück. Er hatte die kleine Elinontis nicht vergessen. Nach einigen Wochen wurde sie seine Frau. Kodaggo erhielt eine Anstellung als Indianerfarmer. Dies bedeutet, daß er die Indianer im Ackerbau unterweisen mußte. Kodaggo hatte auf der hohen Schule die Ackerbaukunst gründlich studiert und ein Zeugnis der Reife mitgebracht, das ihn zu einer Ackerbaulehrerstelle auf einer Indianerreservation berechtigte. Kodaggos Stellung brachte ihm außer einem schönen monatlichen Gehalt auch ein Wohnhaus. Es war gerade so ein Haus, wie Ina es bewohnte, nur war es geräumiger, weil es für eine Familie berechnet war. Elinontis Freude war groß. Nun bekam sie Stühle und Tische, einen Kochofen, Bilder, Spiegel und lauter Sachen, wie Ina sie hatte. Kodaggo mußte das alles kaufen. Eins brauchte er aber nicht zu kaufen. Ein Bett, gerade so eins, wie sie selber hatte, mit einer eben solchen schönen, weichen weißen Decke, wie Elinontis sie so gerne hatte, schenkte Ina dem jungen Paare zur Hochzeit. Ina blieb nach Elinontis Vermählung noch etliche Jahre auf der Reservation, dann aber zog sie in ihre ferne östliche Heimat zurück. Bis zu ihrem Lebensende machte sie jedoch jeden Sommer einen Besuch bei ihrer Elinontis. * * * * * Kodaggo und Elinontis sind keine Heiden geblieben. Eine Missionsgesellschaft sandte einen Missionar auf die Reservation. Der hat die beiden bald kennen gelernt. Sie wurden an ein und demselben Tage, samt ihrem ersten Kinde, getauft. Das Kind erhielt den Namen Ina. Deren Patin kam aus dem fernen Neuyork, um das Kind über die Taufe zu halten. Es war eine große Freude, denn Kodaggo und Elinontis waren lange Jahre ohne Kinder gewesen. * * * * * Kodaggo bekleidet noch heute die Stellung als Indianerfarmer. Er ist hoch geachtet bei den übrigen Indianern. Elinontis hat Freundschaft mit Inas Nachfolgerin geschlossen. Wenn sie Zeit hat, begleitet sie die Feldmatrone auf ihren Ritten zu den Indianerhütten und hilft ihr, das Zutrauen der Indianerfrauen zu gewinnen. An Kodaggo und Elinontis hat sich das Wort der Schrift erfüllt: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.“ Der alte Norisso. Die Indianer haben eine große Vorliebe für rote, wollene Bettdecken. Sie schlafen des Nachts darunter, und am Tage, wenn es kalt ist, wickeln sie sich in diese Decken ein und gehen damit umher. Die weißen Leute, besonders die Regierungsbeamten in Amerika, möchten den Indianern diese Gewohnheit gerne abgewöhnen. Die Indianer sollen Überröcke und Mäntel tragen, wie die weißen Leute. Die Indianer aber wollen nicht. Sie wollen nicht von den roten, wollenen Decken lassen, die sie so lieb haben. Sie haben aber noch einen anderen Gedanken dabei, wenn sie sich in die wollenen Decken einhüllen. Sie wollen nicht sein wie die weißen Leute, sondern Indianer sein und bleiben. Sie wollen etwas anderes sein als die weißen Leute und wollen dies letzteren auch durch die Art, wie sie sich kleiden, zeigen. Darum ärgern sich viele weiße Leute über die Indianer. Sie vergessen ganz, daß sie ihnen das vormachen. Besonders in den Regierungsschulen für Indianerkinder wird darauf hingearbeitet, daß die Kleinen sich kleiden lernen, wie die Weißen. Es hilft aber nur in sehr wenigen Fällen. Wenn sie aus den Schulen entlassen werden und zu den Hütten ihrer Eltern zurückkehren, leben und kleiden sie sich in der Regel sofort wieder so, wie die Alten. Die Mädchen machen sich die bunten weiten Kleider, die Jungen hängen sich Perlen, Federn und Silberstücke an Hals, Arme und Hut, und alle greifen zu der Wolldecke, um sich hineinzuhüllen, wenn kalte Tage kommen. Sie gehen ganz unbekümmert um das Gelächter und Gespött der weißen Leute mit ihren Wolldecken in die Städte, in die Kaufläden -- kurz, überallhin. Den weißen Mann ärgert das, aber der Indianer kümmert sich nicht darum. Es ist ihm eine Freude und eine Genugtuung, zeigen zu können, daß er ein Indianer ist und bleibt. Der alte Norisso hatte ein kleines Mädchen namens Nauchtlidolga. Als Nauchtlidolga sechs Jahre alt war, kam ein Polizist in seine Hütte und sagte ihm, sein Kind sei jetzt alt genug, es müsse in die Schule geschickt werden. Die Schule, dahin das Kind gebracht werden sollte, war eine Kostschule, in der die Kinder alles, was sie brauchen, auf Kosten der Regierung erhalten. Die Kinder werden gekleidet und gespeist; erhalten Bücher und Spielzeug; schlafen in guten, weichen, warmen Betten, wohnen in hellen, geräumigen, schön eingerichteten Räumen. Es ist alles so gut, wie man es sich nur denken und wünschen kann. Die Indianerkinder aber wollen nicht in diese Kostschulen. Sie wollen daheim bei ihren Eltern bleiben. Sie essen lieber das kümmerliche Brot, das die Mutter backt, schlafen lieber auf den schmutzigen Decken, die auf dem harten Erdboden liegen, tragen lieber die ärmlichen Kleider, die der Vater kaufen kann, wenn sie nur daheim bleiben können. Aber gegen Macht und Gewalt kann ein armer Indianer nichts ausrichten. Der Indianerpolizist nahm die kleine Nauchtlidolga auf sein Pferd und ritt mit ihr davon. In der Schule mußte das Kind zuerst seinen schönen Namen hergeben. Die Regierungsangestellten sind der Meinung, daß man so einen Indianernamen garnicht aussprechen könne. Daher erhalten alle Kinder, wenn sie in die Schule kommen, einen neuen, sogenannten zivilisierten Namen. Nauchtlidolga wurde als Lucile in die Register des großen Schulbuches eingetragen. Lucile wurde bald der Liebling der sämtlichen Lehrerinnen an der großen Schule. Sie war ein sehr hübsches Kind und ein kluges obendrein. Lehrerinnen haben kluge und hübsche Kinder in der Regel sehr gern. Lucile war aber auch lieb und freundlich, gesprächig und lernbegierig. Es war kein Wunder, daß sie bald von jedermann geliebt wurde. Die größte Liebe aber hegte ihr alter Vater zu ihr. Lucile war das einzige Kind seiner vierten Frau. Diese lag bereits unter der Erde, wie auch die drei, die er vorher gehabt hatte. Auch alle Kinder, die er gehabt hatte, waren nicht mehr am Leben. Der alte Mann hatte nur noch seine kleine Lucile. Diese war die Freude und der Trost seines Alters. O, mit welch schwerem Herzen sah er das Kind scheiden! Ein Indianer weint selten. Als aber sein letztes Kind mit dem Polizisten davongeritten war, hatte Norisso mit hellen Tränen in den alten Augen vor seiner Hütte gestanden und den beiden nachgeschaut. Es war ihm zu Mute, als werde das Kind nie wieder neben ihm am Feuer sitzen, nie wieder mit ihm in der Abenddämmerung plaudern, nie wieder mit ihm von seinem Teller essen und aus seinem Becher trinken. Drei Monate war das Kind in der Schule, dann wurde es krank. Der Arzt erklärte, es habe die Schwindsucht und müsse sterben. So wurde Lucile in das Hospital gebracht. Es sterben so viele Kinder, die in die großen Indianerschulen kommen. Sie können nicht vertragen, in Häusern zu leben. Sie sind an das Leben in der frischen freien Luft gewöhnt. In den Häusern werden sie schwindsüchtig und siechen dahin wie Vögel, die man einfängt und in einen Käfig steckt. Es ist ein großes Sterben unter den Indianerkindern, denen der weiße Mann, um sie zu erziehen, den blauen Himmel und die goldene Sonne raubt und ihnen dafür die düsteren Schulräume gibt. So packte die böse Schwindsucht auch die zarte kleine Lucile. Dem alten Norisso wurde die Nachricht gebracht, daß sein Kind krank sei und im Hospital liege. Es wurde ihm nicht gesagt, daß es mit dem Kinde zum Sterben gehe, aber als der alte Mann es zum ersten Male besuchte, merkte er, daß es sehr krank war, und sein Herz zitterte und bangte um seinen Liebling. Sieben Meilen war Norissos armselige Sträucherhütte von der großen Schule entfernt, und jeden Morgen und jeden Abend machte der alte Mann den weiten Weg, um nach seinem Kinde zu fragen und es zu besuchen. Wenn Norisso kam, sagte er: „Ich will das kleine kranke Mädchen sehen. Ich bin ihr Vater, müßt ihr wissen. Ich muß sie sehen.“ Dann wurde er an das Krankenbett geführt. Es war eigentlich gegen die Regel, daß ein Anverwandter eines kranken Kindes so oft kommen durfte, um eine Kranke zu besuchen. Mit dem alten Norisso wurde aber eine Ausnahme gemacht. Jedesmal, wenn er kam, sprach er die obigen Worte, als hätte er sie auswendig gelernt, aber in einem Ton, daß niemand es gewagt hätte, ihm seine Bitte abzuschlagen. Vor seinem „Ich bin ihr Vater, ich muß sie sehen“ beugten sich selbst die strengen Anstaltsregeln. Norisso kam nie mit leeren Händen. Er brachte immer etwas mit, um sein Kind zu erfreuen. Es waren oft recht wundersame Dinge, die seine Liebe zu dem Kinde ihn hatte suchen und finden lassen. Norisso war ein armer, sehr armer Mann. Er konnte nicht in ein Geschäft gehen und kaufen, was er seinem Kinde gern gegeben hätte, aber die Liebe ist erfinderisch, und Lucile war über nichts so froh als über das, was ihr der Vater brachte. Zuweilen kam auch eine der Lehrerinnen und besuchte die kranke Lucile. Die kam dann auch nicht mit leeren Händen, aber die Dinge, die die Lehrerinnen brachten, waren nichts gegen das, was der alte Vater brachte. Der alte Norisso zog bunte Steine, bunte Lumpen, bunte Blumen, bunte Papierstückchen aus der Tasche. O, wie dann die Augen des Kindes leuchteten, wie sie die alten Hände des Vaters streichelte, wie sie sogleich anfing, mit den mitgebrachten Dingen zu spielen! Die Wärterinnen waren meistens sehr ungehalten über all den Unrat, wie sie die Gaben nannten, die Norisso dieser auf die schönen reinen Bettdecken ausbreitete, aber sie mochten die Freude des Kindes nicht stören. Eines Tages kam der Alte mit einem jungen Hunde. Lucile hatte Hunde so lieb, wie überhaupt alle Tiere. Das ging aber doch nicht. Norisso durfte den kleinen Hund garnicht mit ins Haus nehmen, nicht einmal zeigen durfte er ihn dem Kinde. Er mußte ihn draußen lassen und ihn, nachdem er die Kleine besucht hatte, wieder mit nach Hause nehmen. Der Alte wußte sich aber zu helfen. Am nächsten Tage kam er und hatte ein totes Eichkätzchen in seiner Tasche. Das gab er dem Kinde. Die Freude und der Jubel der kranken Lucile waren so groß, daß die Wärterin sich nicht entschließen konnte, der Kleinen das tote Tier wegzunehmen. Erst als Lucile am Abend mit dem Eichkätzchen im Arm eingeschlafen war, nahm ihr die Wärterin das geliebte Geschenk des Vaters heimlich fort und schaffte es beiseite. Lucile meinte am nächsten Morgen, das Tierchen sei über Nacht wieder lebendig geworden und durch das offenstehende Fenster davongelaufen, freute sich darüber und gönnte dem Tier die wiedergewonnene Freiheit und das Leben. Lucile erzählte dem Vater, als er kam, was nach ihrer Meinung mit dem Eichkätzchen vorgegangen war. Der Alte wußte es natürlich besser, sagte aber nichts, sondern ließ das Kind bei seinem Glauben. Als aber gleich darauf eine der Wärterinnen durch den großen Saal ging, schaute er derselben sehr unwillig nach und ballte die Faust. Lucile merkte nichts davon, sie war heute sehr müde und hielt die großen schwarzen Augen fast immer geschlossen, was sie sonst nie tat, wenn der Vater bei ihr war. Einige Tage später hieß es eines Morgens: „Lucile ist tot, heute Nacht ist sie gestorben.“ Als der alte Norisso kam und sein gewohntes: „Ich bin ihr Vater, ich muß sie sehen“ sagte, führte man den alten Mann zur Leiche seines letzten Kindes. Sein Schmerz läßt sich nicht beschreiben. Sein Letztes, sein Alles war ihm genommen. Nun hatte er nichts mehr auf dieser Welt. Dazu war Norisso ein Heide. Er gehörte zu den Leuten, die keine Hoffnung haben. Er wußte nichts von Dem, der dem Tode die Macht genommen und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat. Von einer Auferstehung der Toten, einem ewigen seligen Leben, einem Wiedersehen und Wiederfinden bei Gott im Himmel hatte er noch nie gehört. Trostlos stand er an der Leiche seines Kindes und starrte dieselbe an. Es kam keine Träne in seine Augen, aber er zitterte und bebte am ganzen Leibe. Den Wärterinnen wurde ganz bange zu Mute in seiner Gegenwart, und als Norisso gar keine Anstalten machte, fortzugehen, riefen sie den Herrn Superintendenten der Schule, damit er dem Manne sage, daß er nun wieder gehen müsse. Sie hätten ihm das aber ganz getrost selber sagen können. Sobald Norisso hörte, daß er nun gehen solle, ging er. Es wurde ihm auch noch mitgeteilt, daß Lucile am nächsten Tage beerdigt werde, und daß er dem Begräbnis beiwohnen solle. Er nickte mit dem Kopfe und ging. Am nächsten Tage wurde denn Lucile beerdigt. Man kann in dem heißen Arizona eine Leiche nicht lange stehen haben, besonders in einer Schule muß sie so schnell wie möglich beiseite geschafft werden. Der alte Norisso kam schon zu früher Stunde. Er war in eine ganz neue wollene Decke gehüllt. Niemand wußte, wo der arme Mann das Geld mochte hergenommen haben, sich diese Decke zu kaufen. Wer aber auf seine Hand geblickt hätte, hätte den breiten goldenen Ring vermißt, den Norisso viele, viele Jahre beständig getragen hatte. Norisso hatte diesen Ring gestern verkauft und für den Erlös die neue Wolldecke erstanden. Es war alles sehr schön. Die sämtlichen Schulkinder, über dreihundert an der Zahl, gingen mit zur Beerdigung. Auch der Herr Superintendent war erschienen, seine Frau und alle die vielen Angestellten der großen Schule waren zugegen. Man hatte sogar einen Prediger aus der nächsten Stadt kommen lassen. Dafür hatte eine der Lehrerinnen gesorgt, die ein frommes Herz besaß und die kleine Lucile in ihrer Klasse gehabt hatte. Aus der Stadt war auch der hübsche weiße Sarg gekommen. Die Kiste aber, in die der Sarg gestellt werden sollte, ehe er in die Grube hinabgelassen wurde, hatten die großen Jungen unter Anleitung ihres Lehrers in der Schreinerschule gemacht. Die Jungen hatten diese Kiste sehr schön gemacht. Die Bretter waren glatt gehobelt und alle sauber und genau zusammengesetzt. Der Herr Superintendent sprach dem Schreinerlehrer einige anerkennende Worte über die Arbeit aus. Es war kurz zuvor der Sarg in die Grube hinabgelassen worden. Einige der andern Angestellten hörten diese Worte und beneideten den Schreinerlehrer um das Lob, das ihm gezollt wurde. [Illustration: S. 89. Zwei von ihnen hatten jeder zwei Kinder, der eine sogar ihrer drei.] Der Prediger hatte die letzten Worte seiner Rede und darauf ein Gebet gesprochen; die dreihundert Schulkinder sangen ein Lied, und dann wurde der Sarg noch einmal geöffnet, damit der Vater einen letzten Blick auf sein Kind werfen konnte. Da lag nun die Leiche vor ihm. Sie sah garnicht aus, als wenn sie sein Kind, als wenn sie ein Indianerkind wäre. Lucile war in ein feines weißes Spitzenkleidchen gekleidet. An den Beinen hatte sie weiße Strümpfe und weiße Schuhe an den Füßen. Ein Kranz von künstlichen weißen Blumen lag auf ihrem schwarzen Haar. Der Kranz war so breit und dick, daß von den Haaren fast nichts zu sehen war. Der Alte rührte sich nicht und kein Laut kam über seine Lippen. Der Sarg wurde wieder geschlossen, dann in die Kiste gestellt; diese wurde ebenfalls geschlossen, und dann mit dem schönen Sarg in die Grube hinabgelassen. Da stand nun letzterer in der dunkeln, kalten Erde, ganz allein, und die tote Lucile lag darin. In seine neue wollene Decke gehüllt, stand der alte Norisso am Grabesrande und schaute zu seinem Kinde hinab. Dicke große Tränen rollten dem Alten die braunen Wangen hinab. Er murmelte etwas vor sich hin, aber niemand konnte verstehen, was er sagte. Es schien auch nicht für die Ohren anderer Leute bestimmt zu sein, vielleicht für die der kleinen Lucile, die in der Ewigkeit weilte. Der Herr Supenintendent gab den größeren Schulknaben ein Zeichen, daß sie das Grab zuschaufeln sollten. Die Jungen ergriffen die bereitstehenden Spaten und begannen die ihnen angewiesene Arbeit. Dumpf dröhnend fiel der erste Spatenstich Erde auf den Sargkasten. Der alte Norisso fuhr zusammen. Er warf die wollene Decke von sich, riß den Jungen die Spaten aus den Händen und schleuderte sie fort. „Noch nicht,“ sagte er mit gebieterischer Stimme. Dann wandte er sich an den Herrn Superintendenten. Dieser sah den alten Indianer mit einer Miene an, als wolle er ihn daran erinnern, wen er vor sich habe. Norisso kümmerte sich nicht darum. Mit einer wahren Donnerstimme schrie er den Superintendenten an: „Noch nicht! Ich bin ihr Vater. Das mußt du wissen.“ Wer den Herrn Superintendenten in diesem Augenblicke sah, konnte merken, wie er zusammenzuckte. Ja, wirklich, er zuckte zusammen unter dem Wort des armen, verachteten Indianers, der doch so tief unter ihnen stand. Warum? Vielleicht kam dem Herrn in diesem Augenblick der Gedanke, daß auch ein Indianer Rechte hat, die sogar ein Regierungsbeamter unter Umständen respektieren muß. „Noch nicht!“ sagte Norisso zum dritten Male. Der Alte kniete nieder. Er zog die wollene Decke, die er kurz von sich geworfen hatte, zu sich heran, breitete dieselbe auf dem Erdboden neben dem Grabe aus, und kletterte dann in die Grube zu dem Sarge seines Kindes hinab. Da war niemand, der sich rührte, um ihn in seinem Tun zu hindern. Der Donner von seinem: „Ich bin ihr Vater, das mußt du wissen,“ rollte noch nach. Unten in der Grube angelangt, hob der Alte die Sargkiste auf. Er tat es vorsichtig, sehr vorsichtig und langsam, als fürchte er, sein darin schlafendes Kind zu stören. Höher und höher hob er sie bis über den Rand des Grabes. Dann setzte er sie sanft neben dem Grabe nieder. Hierauf stieg Norisso wieder aus dem Grabe heraus. Es wurde ihm schwer mit seinen müden, steifen, alten Gliedern, aber es ging. Oben angelangt, nahm er den Sarg und stellte ihn mitten auf die vorher ausgebreitete neue wollene Decke. Hierauf schlug er von den vier Seiten her die Decke über dem Sarg zusammen, ihn auf diese Weise ganz einhüllend. Nachdem Norisso damit fertig war, kletterte er wieder in das Grab hinab. Unten angelangt, zog er den in die wollene Decke gewickelten Sarg hinter sich her und stellte ihn an seinen alten Platz. Als der Alte nun aber wieder aus der Gruft heraussteigen wollte, versagten ihm die Kräfte. Er konnte nicht allein wieder in die Höhe kommen. Mehrere Hände streckten sich aus, um dem alten Manne zu helfen. Unter diesen Händen auch die der frommen, kleinen Lehrerin, die den Herrn Pastor auf ihre Rechnung hatte kommen lassen. Nicht ohne Mühe wurde Norisso wieder aus dem Grabe gezogen. Wie um Kräfte zu sammeln, setzte der Greis sich einen Augenblick an den Rand des Grabes. Dann stand er auf. Er winkte den Jungen, sie sollten ihre Spaten holen und ihre Arbeit vollenden. Dann wandte er sich ab und ging fort. Er kam aber noch einmal zurück, trat wieder an den Rand des Grabes, deutete mit der Rechten auf den in der Tiefe stehenden Sarg und sagte langsam, jedes seiner Worte scharf betonend: „Sie war eine Indianerin, das sollt ihr wissen. Und ich war ihr Vater, das sollt ihr wissen.“ Dann ging er. Er schaute sich nicht mehr um, aber alle Anwesenden schauten ihm nach. Bald war er ihren Blicken entschwunden. Auf dem Heimwege sagte einer der Angestellten zu einem der ihn begleitenden Herren: „Ich werde nie wieder über einen Indianer lachen, der in seine wollene Decke eingehüllt geht. Ich habe das oft getan. Ich habe mich auch oft darüber geärgert. Fortan werde ich weder lachen noch mich ärgern, sondern immer an das denken, was ich heute gesehen habe. Ich werde den alten Norisso nicht vergessen, wie er den Sarg, der sein Kind barg, aus der Erde holte und ihn in seine wollene Decke wickelte, um uns zu zeigen, wie lieb der Indianer letztere hat und wie viel ihm darum zu tun ist, ein Indianer zu sein und zu bleiben.“ Hätten das noch mehr Leute gesehen, so würden sie nicht mehr lachen und spotten über die wollenen Decken, die die Indianer so hoch schätzen. Mein erster Schultag. Im Jahre 1877 wurde ich nach dem Westen Amerikas auf eine der dortigen Indianerreservationen geschickt, um daselbst eine Schule anzufangen. Auf der Reservation, zu der ich gesandt wurde, war bis dahin noch keine Schule gewesen. Keiner der dort lebenden Indianer hatte eine Schulerziehung genossen. Keiner konnte die englische Sprache reden und verstehen. Man sagte mir dies alles, bevor ich meine Reise dorthin antrat. Der Verwalter der Reservation, Agent genannt, hatte kürzlich ein Schulhaus, sowie ein Wohnhaus für mich und meinen Gehilfen aufführen lassen. Ich war noch jung und hatte wenig Erfahrung im Schulehalten. Ich konnte nicht recht verstehen, wie man dazu gekommen war, mich für diesen Posten auszuersehen. Aber ich war gesund, kräftig und unternehmungslustig. Das war wohl der Grund, warum man gerade mich dahin schickte. Von meiner langen Reise, von Land und Leuten, die ich an meinem Bestimmungsorte antraf, will ich hier nicht erzählen, sondern nur von meinem ersten Schultage. Ein erster Schultag ist ja immer etwas besonderes. Ich werde ihn in meinem ganzen Leben nicht vergessen, obwohl schon etliche Jahrzehnte seit jenem Tage verflossen sind. In all den vielen Indianerhütten war angezeigt worden, daß die Erwachsenen am nächsten Morgen alle Kinder in das neue Haus bringen sollten. Das Schulhaus bestand aus einem großen Zimmer. Die eine Hälfte desselben war mit Tischen und Bänken besetzt, die andere war leer. Auf dieser freien Hälfte sollten die Kinder den Anweisungen entsprechend, die ich erhalten hatte, körperliche Übungen machen. Obwohl man zu den Indianern nur durch Zeichen hatte reden können, hatten sie doch alle verstanden, was vor sich gehen sollte. Der Indianer besitzt eine seltene Geschicklichkeit darin, sich durch Zeichen und Mienen verständlich zu machen, und wer sich die nötige Mühe gibt zu lernen, kann in kurzer Zeit von ihm lernen, sich ihm verständlich zu machen. Wie gesagt, die Indianer, die vom Hörensagen wohl wußten, was es mit einer Schule für eine Bewandtnis hat, hatten alle verstanden, daß auch sie nun eine Schule bekamen, und daß ihre Kinder dahin gehen sollten. Der Morgen, an dem ich meinen ersten Schultag halten sollte, brach an. Ich stand früh auf voller Erwartung der Dinge, die da kommen sollten. Die Hauptfrage war für mich zunächst, wie viele Kinder ich wohl erhalten würde. Zur festgesetzten Stunde läutete ich die neue große Schulglocke. Es dauerte auch nicht lange, so kamen die Indianer an. Sie kamen von allen Seiten, teils zu Fuß, teils auf ihren kleinen Pferden reitend. Aber, was war denn das? Ich sah nicht ein einziges Kind. Nur Männer und Frauen, junge und alte und ganz alte waren erschienen. Es waren ihrer etliche hundert, aber abgesehen von den Säuglingen, die die Mütter auf den Armen trugen, waren keine Kinder dabei. Die Leute kamen nicht ins Haus, sie setzten sich vor der weit geöffneten Eingangstür auf den Erdboden. Nun erschien auch der Herr Agent. In seiner Begleitung befanden sich einige der weißen Regierungsangestellten und ein Dutzend berittener Indianerpolizisten. Der Agent sah auf den ersten Blick, daß die Kinder fehlten. Wo waren letztere? Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis man der Sache auf den Grund kam. Die Indianer, die alle Mann für Mann von der neuen Schule nichts wissen wollten, hatten ihre Kinder in die Berge gejagt und ihnen Auftrag gegeben, sich zu verstecken. Sie selbst aber hatten es nicht gewagt, der Aufforderung des Agenten nicht nachzukommen und waren erschienen. Sie behaupteten freilich, die Kinder wären ihnen davongelaufen, sie wüßten nicht, wo sie seien, aber das war nicht der Wahrheit entsprechend, wie sich im Laufe der Verhandlungen herausstellte. Jetzt wandte sich der Agent an seine Polizisten. Diese waren verheiratete Männer und hatten alle schulpflichtige Kinder. Er wollte wissen, wo sie ihre Kinder hätten. Die Polizisten hatten es geradeso gemacht wie die übrigen. Auch sie hatten sie in die Berge gejagt. Nun machte der Agent der ganzen Gesellschaft klar, daß sie sich sofort auf die Suche nach ihren Kindern machen und dieselben, sobald sie sie gefunden hätten, in die Schule bringen sollten. Die Indianer schienen zu merken, daß es Ernst sei; sie erhoben sich einer nach dem andern und gingen und ritten davon. Bald waren sie den Blicken der Zurückbleibenden entschwunden. Der Agent ging mit seinen Angestellten wieder in sein etwa eine Meile entferntes Bureau, und mein Gehilfe und ich blieben allein zurück. Wir beide setzten uns auf die Schwelle der Haustür und warteten auf das, was kommen werde. Wir sprachen darüber, ob die Indianer wohl zurückkommen und ihre Kinder bringen würden und hatten so unsere Bedenken. Wir mochten wohl eine gute Stunde gewartet haben, da sahen wir etliche Reiter kommen. Es waren ihrer drei. Sie hatten es nicht sehr eilig. Jetzt kamen sie näher. Wir konnten erkennen, daß es Polizisten waren und sahen auch, daß sie nicht allein auf ihren Pferden saßen. Jeder von den dreien hatte ein paar Kinder hinter sich sitzen -- zwei von ihnen hatten je zwei Kinder, der dritte sogar drei. Im ganzen waren es sieben Kinder, zwei Mädchen und fünf Knaben. Einer der Polizisten hatte in dreijährigem Dienst auf der Agentur ein wenig englisch gelernt, vielleicht mehr als er zeigen mochte. Aus ihm bekamen wir so nach und nach heraus, daß die sieben Kinder den drei Polizisten gehörten, daß dies aber auch die einzigen Kinder seien, die kommen würden, die andern seien alle weit, ganz weit weg, sie kämen vielleicht nie wieder. Die Schule konnte ihren Anfang nehmen. Wir hatten auf mindestens siebenzig Kinder für den ersten Tag gerechnet und hatten nun ihrer sieben, aber es war immerhin ein Anfang. Ich winkte den Kindern, sie sollten in das Schulhaus kommen. Sie wollten aber nicht. Als ich mich ihnen näherte, verkrochen sie sich alle hinter ihren Vätern. Ich sagte darauf den Vätern, daß sie mit den Kindern in die Schule kommen sollten. Das half. Die Polizisten gingen hinein und die sieben Kinder folgten ihnen. Nun waren sie wenigstens drinnen. Die drei Männer setzten sich sofort in einer Ecke des freien Raumes auf den Fußboden. Die Kinder folgten ihrem Beispiel. Aber da konnten sie doch nicht sitzen bleiben; sie sollten ja auf den Bänken sitzen. Mein Gehilfe und ich setzten uns auf eine der Bänke, um es den Kindern vorzumachen. Wir zeigten ihnen dann durch Gebärden, wie schön es sich da sitze, viel besser als auf dem Fußboden. Dann standen wir wieder auf und erneuerten unsere Versuche, die Kleinen dazu zu bewegen, sich auf die Bänke zu setzen. Ein energisches Kopfschütteln von den sieben schwarzen Köpfen war die einzige Antwort. Sie wollten nicht. Da meinte mein Gehilfe, der sehr klug war, es sei doch auch garnicht nötig, daß die Kinder heute am ersten Tage gleich auf den Bänken säßen, das würde sich schon mit der Zeit finden. Ich stimmte ihm bei, und so gaben wir unsere Versuche, die Kinder auf die Bänke zu bringen, einstweilen auf. „Aber ihre Hüte sollten sie doch abnehmen,“ meinte mein Gehilfe. „Ja, da haben Sie recht,“ antwortete ich. „Versuchen wir es, die Jungen dazu zu bewegen.“ Wir gingen beide hin, holten unsere Hüte und setzten uns dieselben auf den Kopf. Dann winkten wir den Jungen, aufzupassen. Wir gingen nach der Stelle im Zimmer hin, wo an der Wand eine Reihe von Haken angebracht war, nahmen unsere Hüte ab und hängten sie auf. Darnach forderten wir die Jungen durch Zeichen auf, ein gleiches zu tun. Ihre Antwort bestand darin, daß sie sich ihre Hüte etwas fester ins Gesicht drückten. „Hier muß man Gewalt gebrauchen,“ sagte ich zu meinem Gehilfen. „Besser nicht,“ meinte dieser. Ich aber ließ mich nicht zurückhalten. Ich ging gemächlich zu den fünf Jungen hin, und ehe sie sich dessen versahen, hatte ich ihre fünf Hüte in meiner Hand und trug sie zu den Haken. Ehe ich aber dort anlangte, waren die Jungen aufgesprungen, mir gefolgt und hatten mir die Hüte entrissen. Noch zur rechten Zeit dachte ich daran, daß ich einen Fehler gemacht hatte. Ich hatte mich an dem Eigentum der Kinder vergriffen. Wie konnte ich bei diesen Naturkindern einen andern Ausgang der Sache erwarten, als er sich gezeigt hatte. Anstatt mich zu ärgern oder böse zu werden, drehte ich mich um und lachte. Da lachten auch die Jungen und setzten sich seelenvergnügt die zerlumpten Filzhüte wieder auf die dichten, schwarzen Haare. Aber siehe da, was machten die beiden Mädchen? Sie hatten wohl gleich gemerkt, daß die Hutgeschichte sie nichts angehe, weil sie keine Hüte auf den Köpfen hatten. So fühlten sie sich frei und unbelästigt. Woher sie die Tiere hatten, weiß ich nicht, sie mußten sie wohl unter ihren Umschlagetüchern mit hereingebracht haben. Die eine der beiden hatte einen, die andere sogar zwei kleine, junge Hunde in ihrem Schoß und spielten damit. Ganz entsetzt sagte ich zu meinem Gehilfen: „Sehen Sie nur die beiden Mädchen! Sie haben Hunde mitgebracht und spielen damit. Die müssen wir ihnen unbedingt fortnehmen. So etwas können wir hier nicht dulden.“ „Warum nicht? Wollen wir doch froh sein, daß die Mädchen sich beschäftigen! Es ist ein Zeichen, daß sie sich hier bereits ein wenig zu Hause fühlen. Täten sie das nicht, so würden sie die Hunde nicht hervorgeholt und mit ihnen zu spielen angefangen haben. Es ist immer schon etwas, wenn wir in dem Bericht, den wir nach Washington senden sollen, sagen können: Wir hatten zwei Mädchen. Dieselben haben mit Hunden gespielt.“ Ich fing an, in meinem Herzen dem lieben Gott zu danken, daß er mir diesen Gehilfen beschert hatte. Er war wirklich ein sehr verständiger Mann. Er wußte die Dinge, den Verhältnissen entsprechend, von der rechten Seiten anzusehen und anzugreifen. Die beiden Mädchen durften also mit den Hunden weiter spielen. Sie waren beschäftigt. Nun wieder zu den Jungen! Ich machte unwillkürlich ein paar Schritte zu der Ecke hin, in der sie saßen. Schnell griffen sämtliche Jungen nach ihren Hüten und hielten dieselben mit ihren schmutzigen Händen fest. Sie schienen zu befürchten, daß ich wieder einen Versuch machen wolle, ihnen die geliebte Kopfbedeckung zu entreißen. Ich ging noch ein paar Schritte weiter, da rissen sie ihre Hüte, wie auf ein gegebenes Zeichen, von den Köpfen und -- setzten sich darauf. Weg waren sie. „Hurra!“ rief mein Gehilfe, „nun haben wir die Hüte von den Köpfen weg! Großartiger Erfolg! Wird auch nach Washington berichtet! Ob sie an den Haken hängen oder ob die Jungen darauf sitzen, das ist ganz einerlei, solange sie nur nicht auf ihren Köpfen sind.“ „Aber das ist noch keine Beschäftigung, daß die Jungen sich auf ihre Hüte setzen.“ „Nein, das nicht, aber doch die Vorbereitung zu einer Beschäftigung.“ „Ich werde ihnen etwas an die Wandtafel zeichnen. Vielleicht schauen sie zu und nehmen Interesse daran.“ „Ja, tun Sie das,“ sagte mein Gehilfe. Ich ging an die große Wandtafel, nahm ein Stück Kreide und zeichnete einen Indianerkopf mit breiten langen Federn im Haar. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß sämtliche Jungen sich erhoben hatten und mit weit geöffneten Augen mir zuschauten. Jetzt kam mir mein Nebenmann zur Hilfe. Er hatte sich Papier und Bleifeder geholt, setzte sich auf eine der Bänke und fing an, den Indianerkopf, den ich an die Wandtafel machte, nachzuzeichnen. Die Indianerjungen wollten doch, neugierig wie sie sind, wissen, was der Mann tat. Auf den Zehenspitzen näherte sich erst einer, dann der zweite, der dritte, der vierte, der letzte der Jungen dem Zeichner. Der tat, als bemerke er es nicht. Er saß am Ende einer der langen Bänke, deren jede etwa zehn Kindern Platz bot. Wie gesagt, mein Gehilfe kümmerte sich nicht um die Jungen. Er zeichnete ruhig weiter. Als aber einer derselben dicht an die Bank herankam, rückte er ein wenig weiter, als wolle er dem Jungen Platz machen, daß er sich neben ihm setzen könne. Und wirklich, der Junge setzte sich! Nun wollten aber auch der nächste und die andern drei sitzen. Mein Gehilfe mußte rücken. Und wie gern tat er das! Bald saßen alle fünf Jungen neben ihm auf der Bank. Die am äußersten Ende Sitzenden konnten aber nicht recht sehen, wie der Mann zeichnete. Da sprang der letzte auf, lief um die Bank herum und rutschte vom andern Ende her in die Bank hinein, so daß er ganz dicht neben meinem Gehilfen saß und ihm genau auf die Finger sehen konnte. Noch zwei andere Jungen folgten seinem Beispiel. Nun saß mein Gehilfe mitten zwischen den Jungen, zwei hatte er an der einen, drei an der andren Seite. Jetzt war es an mir, ihm zu Hilfe zu kommen. Ich holte Papier und Bleifedern und gab jedem Knaben das Nötige. Es waren keine kleinen Knaben. Sie waren alle im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren, aber wie gesagt noch nie in einer Schule gewesen. Sie schienen zu verstehen, was sie tun sollten. Es währte auch garnicht so sehr lange, da saßen sie alle fünf und versuchten Indianerköpfe zu zeichnen. Sie taten das nicht ohne Geschick, und als ich nach einiger Zeit noch einen Indianerfrauenkopf zu dem Männerkopf zeichnete, gerieten sie geradezu in Eifer bei ihrer Arbeit. Mein Gehilfe spielte mit Schuljunge. Bessere Hilfe konnte er mir nicht leisten. Als ich nach einiger Zeit nach meiner Uhr sah, bemerkte ich, daß wir schon eine Viertelstunde länger Schule gehalten hatten, als vorgeschrieben war. So konnten wir denn unsern ersten Schultag schließen. Wir entließen die Kinder, die fröhlich und ausgelassen davonliefen, nachdem wir ihnen klargemacht hatten, daß sie morgen und alle Tage wieder kommen, auch die andern alle Kinder mitbringen müßten. In dem Bericht, den wir über unsern ersten Schultag nach Washington sandten, schrieben wir folgendes: Schülerzahl: Fünf Knaben und zwei Mädchen. Beschäftigung: Die Mädchen haben mit jungen Hunden gespielt. Die Knaben haben Indianerköpfe gezeichnet. Besondere Bemerkungen: Die Knaben haben ihre Hüte abgenommen und auf den Bänken gesessen. Dieser Bericht trug uns eine lobende Anerkennung für unsere Tätigkeit an unserem ersten Schultage ein. Die Leute in Washington haben nämlich ein Verständnis dafür, was es heißt, mit Indianerkindern, die noch nichts von einer Schule wissen, eine solche anzufangen. Die lieben Leser und Leserinnen möchten vielleicht ganz gerne noch wissen, wie es in der Schule am nächsten und an den folgenden Tagen weiter gegangen ist. Das kann ich ihnen aber in diesem Bericht nicht sagen, denn er trägt die Überschrift: „Mein erster Schultag“, und dieser war mit der Entlassung der Schulkinder zu Ende. End of the Project Gutenberg EBook of Das erste Wort der kleinen Elinontis, by Gustav Harders *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS ERSTE WORT DER KLEINEN *** ***** This file should be named 61431-0.txt or 61431-0.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/6/1/4/3/61431/ Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. 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