Anmerkungen zur Transkription
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Felicitas Rose · Das Lyzeum in Birkholz
Roman
von
Felicitas Rose
78. bis 85. Tausend
Berlin/Leipzig
Deutsches Verlagshaus Bong & Co.
Alle Rechte, auch das der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten
Copyright 1918 by Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin
Druck der Graphia Akt.-Ges. vorm. C. Grumbach in Leipzig
Mit Gott! steht auf der ersten Seite des alten Folianten, den ich beim Umzug in Großvaters Kasten fand.
Die wurmstichige Lade brach zusammen, als ungeschickte Packerhände sie hoben und stießen, das Buch, dick und groß wie eine Dorfbibel, fiel heraus und polterte vor meine Füße.
Gelbe, leere Seiten, soweit ich auch blätterte. Stockfleckig und rauh. Aber auf der ersten Seite mein Name. Mit Gott, Erne Sörensen!
Das ist ein guter Zuruf für die neue Stadt, die neue Wohnung und das neue Amt.
Buch und Lade müssen dem Großvater gehört haben, dem Schulmeister mit den fünfzehn Kindern. Denn er ist der einzige Erne Sörensen in der langen Reihe der Jens Sörensen. Und nach ihm hat man mich benannt.
Ich sollte werden wie er, ein bodenständiger Mann, kein Grübler und Spintisierer wie Vater.
Vielleicht wollte der Ahn das Leben seiner fünfzehn Kinder auf den leeren Seiten des Folianten buchen, aber die Müdigkeit nach all dem heißen Ringen ums liebe Brot hat ihm die Feder aus der Hand gewunden.
Soll ich sie aufnehmen?
Es klingt so ermunternd: Mit Gott, Erne Sörensen!
Zwei Tagebücher wies meine Bücherei auf, ein altes und ein neueres. Das neuere zeigte meine eignen Schriftzüge. Ich hab’s verbrannt. — Und doch wäre ich jetzt so weit, es ganz objektiv zu betrachten.
Die Zeit und die Selbstzucht haben mich über all das Schwere, das in den Blättern eingesargt lag, hinausgehoben. —
Das alte Tagebuch von der streitbaren Großmutter Sörensen, zweimal verwittibten Lorns und Sebus, geborenen Witt, ist aber gut zu lesen. Es hat mir über manche garstige, vergiftete Stunde hinausgeholfen. Meinen Dank, Großmutter Gesine!
Wenn ich darin lese, stehen alle meine Vorfahren und Verwandten fest umrissen vor mir. Die einfache Großmutter hat Familiengeschichte studiert, wie nochmal ein Professor. Und bei der verbürgten strengen Wahrhaftigkeit ihres Wesens hat sie wohl alle gut gezeichnet, und so wählte ich mir schon als junger Schwärmer und Stürmer mein Vorbild aus diesen Blättern.
Wer mag sie dereinst in Händen haben und dann bezeugen, es sei mir gelungen? — —
Großmutter Gesine schreibt:
Von 1700 an weiß ich’s genau. Von vorher ist auch noch manches da. Soll aber viel Schnackerei dazwischen sein. Und wo Kirchenbücher verbrunnen sind, haben die Pfarrers und Küsters dazugesetzt. Sind Menschen und kann nicht alls stimmen. Ich halte mich an die Wahrheit.[S. 3] Ist ein feiner, vornehmer Herr gewesen der Ahn Jens Sörensen. Oberamtmann in Arnis und seine Gemahlin eine Hochwohlgeborene aus Thüringen. Soll eine gute Mischung sein Thüringer und Holsteiner. Werden aber selbst im Himmel noch lachen der feine Herr und die Hochwohlgeborene, wenn sie ihre Sippe betrachten, die so bei klein achter ihnen ankümmt. — Der Herr Urvater sind schon 40 Jahr alt gewesen, als der Adebar den Lütten gebracht hat und die Hochwohlgeborene hat die schwere Geburt nicht abkönnen und ist auf den Gottesacker gekommen. Danach hat sich der Herr Oberamtmann dem Kaffeepunsch und die Melancholei ergeben, ist aber sehr alt geworden, 95 Jahr. Denn die Sörensen können viel ab. Der Lütt-Jens hat Pastor werden wollen, ist ein rechten Spintisier gewesen. Oll-Jens aber, der Herr Oberamtmann, hat sich nach dem Tode der feinen Frau mit dem Herrgott verzürnt, und Lütt-Jens mußt auf dem Gute bleiben, wo niemalen ein Pastor sich durfte sehen lassen. — Wo kein Herrgott aufpaßte, ist das Gut verkommen und nirgends ein Segen. Hat Lütt-Jens um schieres Gold ein Weib genommen, brav und reich ist sie gewesen, was nicht immer beisammen kommt. Um 1770 wieder ein Jens geboren und alles noch leidlich. Dann aber das Geld verspekuliert und sein armes Weib im gachen Jähzorn Tag für Tag gemißhandelt. Bis der Tag gekommen, da die Frau in ihrem Schoße das Kind von einem andern Manne trug, den sie in ihrer grimmen Not und Verlassenheit allzu sehr geliebet. Mathäus 7, Vers I: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Hat der Mann sie[S. 4] und das unschuldig, ungeboren Kind verstoßen, sind beide bald gestorben. Sein eigen Fleisch und Blut ist auf dem Gut geblieben, bis dies vergantet wurde. Drauf ist Jens gestorben und der Sohn Jens ins Waisenhaus und dann Schuhmacher geworden. Tüchtig und brav. Hat ein Weib aus Husum genommen, Luise Sörrine geborene Rasmussen. Die konnt mehr als Brot essen und hatte Gedankens wie ein Doktor. Las zweimal die ganze Heilige Schrift durch und sah in der Schusterkugel absunderliche Sachen, die andere Menschen nicht sehen. — Wurde ihnen 1800 ein Sohn geboren, hat die Wehmutter selbst gesagt, es sei ein Goliath. Aber nur von Statur. Inwendig drin ist er ein David gewesen, hat nur statt der Harfe eine Gitarre gehabt und die auch erst später. Und weil die Wöchnerin mehr konnte als Brot essen, litt sie nicht, daß das Kind wieder Jens genannt wurde, sondern machte einen Erne draus, damit mal eine neue Reihe anfing. Dieser Erne ist mein Mann geworden. Gott sei ewig Lob und Dank! — Habe ihn oft den Rattenfänger von Hameln genannt, weil er einem das Herz aus der Brust singen und fläuten und gitarrespielen kunnt. — Und ist er neben dem Arniser Sprüchwort her: „Groß und breit und jähzornig und langlebig wie ein Sörensen“, auch noch ein Schulmeister von Gottes Gnaden und nach Gottes Herzen gewesen. Wie die Heilige Bibel dartut: Die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. Hatten mich meine Eltern als halbes Kind zweimal verheuert vordem. Und war der selige Lorns ein Schneider und der selige[S. 5] Sebus ein Schreiber. Beide klein und arg dünn, so daß ich allzeit in Sorge war, der starke Ostenwind kunnt sie davontragen.
Dann tat’s die Influenz, die man damals Grippe hieß. Und ich war frei, und kunnt in allen Ehren den Goliath-Schulmeister kennen lernen. In der weiten Heide bauten wir’s Nest in aller Einsamkeit. Und der starke Gott segnete uns und ich konnte meinem Manne fünfzehn Kinder schenken. Jedes einzelne voller Herzensfreude und mit Jauchzen. Hatt’ ich auch oft nur Schwarzbrot und Wacholderbeersaft und für’s Wiegenkind die Mutterbrust, — eine Träne hat keins von mir gesehen. Gelacht hab’ ich, jahraus, jahrein, damit nur ja nicht die Kinder merken sollten, daß der Gottessegen einer Mutter könnt zu viel werden. Später freilich, da sind die Tränen wie reißende Bäche dahergekommen. Das war, wie die Kinder groß waren... Das ist Mutterlos und Kinderart. Gott segne sie dennoch. Für jedes Leid ein Segen! So viel Schmerz, wie einem die Kinder zufügen, könnt ja auch kein irdischer Mensch sonst verzeihen. Da hat unser Herrgott extra das Mutterherz erschaffen. — Ein braver guter Jung war uns der Jens, der Älteste. Hieß freilich wieder Jens, und ich mein, der Name bracht ihn wieder zum Spintisieren. Wir hätten gern einen Lehrer, oder gar etwas Höheres aus ihm gemacht, wenngleich ich nicht meine, daß es etwas Höheres gibt, als Schulmeister sein. Aber das Kind saß von klein auf beim Heideschuster und half mit flicken, und schaut in die Kugel und sinnierte. Schlug also der Großvater bei ihm durch.
Sein Pate wußte ein gutes Geschäft in der Stadt, wo der Junge hätte einheiraten können, aber ein Sörensen und Geld, das paßt nun mal nicht zusammen.
Nahm sich der Jens denn auch ein ganz armes Mädchen, aber gut und brav war sie. Konnte auch alle Worte gut setzen, und hatte bei ihrer Herrschaft durch zehn Jahre hindurch beinahe fünf dicke Bücher ausgelesen. Es waren schöne Sachen, die sie uns immer noch recht ausmalte. Und ich mein, sie hätte mir auch den Schluß von dem fünften Buch mal erzählt, als ich so krank war. Trotzdem sie es doch gar nicht zu Ende gelesen hatte. Aber als ich sie fragte, ob sie sich denn wahrhaftig so was Schönes selbst ausdenken könnte, da lachte sie, und stickte sich rot an und lief fort. —
Ja, die Dorette. Die ist was Besonderes, wenn sie auch nur für fremde Leute wäscht und ihr Mann Flickschuster ist und bleibt. Nun strampelt bei ihnen auch schon so’n lütten Sleef in der alten Holzwiege, und letzten Sonntag hat er mit dem heiligen Taufwasser den Namen Erne bekommen, so daß ich wieder Gott Lob und Dank sagen kann. Er ist auch wieder ein Goliath.
Wenn er mit den kleinen Beinen angelt und strampelt, dann ruft Vater Jens: Höger rup, höger rup! Und ich weiß wohl, was das heißen soll. Aber wenn der Junge höger rup soll, dann muß auch Vater Jens sorgen, daß die Holzwiege auf den öbersten Boden kommt. Hätt’ ich nicht partuh fünfzehn Kinder haben wollen, wär mein Jens vielleicht General oder gar Stadtsekretär. — Aber zu tausend Malen habe ich schon meine Hände über dem[S. 7] Kind gefaltet, denn der Erne ist ein klein süßen, gescheiten Jung und soll mal......
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Ja, hier endet Großmutter Gesines Tagebuch und der Enkel sitzt und grübelt, ob er wohl den heimlichen Wunsch der treuen Alten hat erfüllen können.
Weder General noch Stadtsekretär bin ich geworden. Meine Behörde berief mich als Direktor an das Lyzeum in Birkholz.
Mit Gott, Erne Sörensen!
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Nun möchte ich wohl den alten Folianten füllen.
Die Winterabende sind lang und heimelig.
Und ich darf meinen mächtigen Kamin mit Buchenscheiten heizen, und für die hungrigen schwarzen Öfen liegt Torf in Hülle und Fülle bereit.
Meine Dienstwohnung ist einst ein Patrizierhaus gewesen, man hat die Speicher, die sich rings in einem großen Block angliederten, abgerissen und das Lyzeum hingebaut. Es ist durch einen überdachten Gang mit meinem Hause verbunden.
Uralt das einstige Patrizierhaus, hochmodern der Lyzeumsbau, es paßt gar nicht zusammen. Äußerlich.
Innerlich umfasse ich mit viel guter Liebe die jungen Menschlein, die sich tagsüber da drüben tummeln.
Ach, die erstaunten, frohen, sonnigen, ernsten, fragenden Augen: wer bist du, plötzlich Hereingeschneiter? Und[S. 8] was hast du mit uns vor??? — — Es ist ein reiches Glück, was mir da in den Schoß gefallen ist. „Der rechte Mann am rechten Ort,“ sagte mir zum Abschied mein alter, gütiger Provinzialschulrat.
Man wächst unter einem solchen Wort. —
„Nicht vergraben, Kollege,“ war sein zweites. „Wer fremde Kinder erziehen will, muß ihre Umgebung studieren.“ Diese Mahnung werde ich mir oft vorhalten müssen. Denn ich dürste nach Einsamkeit.
Hätte ich doch das Buch nicht verbrannt!
Es war eine kindische Tat, und ich glaubte mich gereift durch Arbeit und Leid.
Stünde das Buch noch in dem kleinen Mahagonischrank, ich hätte die Kraft, es verschlossen zu halten.
Jetzt blättere ich in schlaflosen Nächten in den Seiten meines Gedächtnisses, vergesse nichts, schlage jede Seite auf, durchlebe, durchgrüble alles aufs neue.
Und der Ärger grinst, und die Schadenfreude lacht und das Leid weint ätzende Tränen, die jede Lebensfreude mir zerfressen.
Nichts ist tot von der Vergangenheit — — nichts als meine zwei goldlockigen Buben...
Ich rufe nach ihnen, meine Hände greifen ins Leere —
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Der Wunsch der streitbaren Großmutter Gesine war nicht in Erfüllung gegangen.
Die Wiege in Vaters kleiner Kate hörte nicht auf zu schaukeln. Aber ich blieb der einzige Goliath.
Verhutzelt, braun, greisen- und zugleich zwerghaft erschienen mir alle meine Geschwisterchen, und sie verabschiedeten sich so grausam regelmäßig von dieser Welt, daß ich die Wehmutter bei jedem Neugeborenen gefragt habe: Wann stirbt’s? Und bei jedem der jämmerlichen Kindchen weinte die Mutter doch schmerzlich, wenn sie es hergeben mußte, weinte wohl auch über mich, der ich nie Geschwisterliebe kennen lernen sollte. —
Lebte da ein Verwandter mütterlicherseits in Erfurt, dem Herzen Thüringens. Der kam zum Viehkauf nach dem Norden und besuchte die Freundschaft.
„Das ewige Gesterbse baßt nich for son Jungen,“ erklärte er. Und obgleich ich mich heftig sträubte als dickköpfiger Holsteiner, so verpflanzte er mich trotzdem.
Damit mich das Heimweh nicht auffresse, warf ich mich auf die Bücher. In den Ferien kam ich ein- oder zweimal nach dem Elternhaus zurück. In der Erinnerung daran sind aber nur drei Punkte haften geblieben: die jedesmalige Besohlung meiner Stiefel durch Vaters Hand, eine schaukelnde Wiege und eine ganze Reihe kleiner Gräber auf dem verfallenen Gottesacker.
Doch so wenig mein Elternhaus mir bot, es muß doch die „Größeste unter ihnen“ darinnen gewohnt haben, denn das Haus meines Thüringer Ohms dünkte mich liebeleer, wenn ich Vergleiche zog.
Der kleine scheue Vater daheim in seiner stillen Besinnlichkeit, die fleißige, behende Mutter mit ihrem feinen, guten Humor...
Man hätte mich bei ihnen lassen sollen. Wer hat das Recht, Kinder von ihren Eltern zu nehmen?
Man hat mir Steine statt Brot gereicht.
Elternliebe ist das köstlichste Brot. Nun werde ich mein Lebtag hungrig sein.
In den Osterferien, bevor ich ins Erfurter Seminar eintrat, machte ich eine frohe Burschenfahrt ins Tal der wilden Gera.
Gerade im gesegneten Dörrberger Hammer sangen und tranken wir, da fing mein Herz schmerzhaft an zu zucken und zu schlagen...
Und eh ich mich’s recht versah, lag mein Felleisen in einem Abteil 4. Klasse, und ich überzählte meine paar Pfennige, ob sie wohl auch zur Rückreise von der nordischen Heimat nach Erfurt reichen würden.
Gerade recht kam ich.
„Immer hat der Vater nach dir gerufen,“ weinte leise die Mutter. — Guter Vater! Du erkanntest mich noch. Mein Kommen rief ein Lächeln auf dein liebes Gesicht, dessen ich eingedenk bleiben werde. Weil es schön und seltsam war, und noch heute mein einsames Leben hell macht in der Erinnerung.
Dann streicheltest du meine Hände, mein Gesicht, das sich über dich neigte. Rührend unbehilflich tatest du es, denn du mußtest eine äußere Zärtlichkeit gegen deinen Sohn erst in der Sterbestunde lernen.
Und während du mich liebkostest, sagtest du leise und dringlich. „Nur fein deine Kinder das 4. Gebot lehren.“
Das war dein letztes Wort. Du schliefst hinüber und[S. 11] sahst auf dem Totenbett nicht mehr klein und scheu aus, sondern wie jemand, dem eben der Herrgott zugerufen hat: „Ei du frommer und getreuer Knecht, sei mir willkommen!“
Die Mutter nahm ich mit mir. Jetzt erst weiß ich, was sie mir für ein Opfer brachte. Sie aber tat, als sei das Thüringer Land ihres Herzens Sehnsucht gewesen. Lachend mit hellen Augen entsagte sie der nordischen Heimat und ließ ihre alten Wurzeln umpflanzen. Immer aber, wenn der Mond aufstieg oder die Sterne funkelten, fragte sie angstvoll: Gelle, das sind doch dieselben wie oben bei uns?
Dies „Gelle“ war das Einzige, was sie sich von den neuen Landsleuten angenommen hatte, es klang wunderlich weich neben ihrer scharf abgesetzten Holsteiner Sprache. —
So hielt sie der Gedanke froh und aufrecht, daß Sonne, Mond und Sterne auch über Schleswig-Holstein leuchteten, und jeden Abend trug sie dem Mond Grüße auf. Fast wie eine verliebte Deern. Sie galten aber den Gräbern droben im Norden, galten auch ol Pastor Truelsen oder Mudder Jensen, die unserer Familie früher in allen Nöten beigestanden hatten. —
Nun müßte ich das Buch schließen. Müßte einen Riesensprung tun von der Vergangenheit bis auf den Marktplatz von Birkholz, da das alte Patrizierhaus steht und das neue Lyzeum.
Wie ein besorgter Vater dem zaudernden Sohne, redet mir das verwitterte Wappen zu, das über dem einen[S. 12] Mauerflügel steht. Immer muß mein Blick es treffen, sobald ich mich zur Arbeit niederlasse, sei es in der Schule oder an meinem Schreibtisch: Nun aber lasset alles hinter euch... Wer diesem steinernen Spruche folgen könnte!
Über mich hat er keine Macht.
Und noch kann ich den Sprung nicht wagen, der in die Ruhe führt. —
Einundzwanzig Jahre war ich alt.
Ein Seminarist mit bestandenem Examen, einem eigenen Instrument im Arm und außerdem den Zukunftshimmel voller Geigen.
„Nun bist du ein gemachter Mann,“ sagte meine kleine, behende Mutter, und in jedem frühen Fältchen ihres Antlitzes leuchtete der Stolz. Sie sagte auch der Frau Rätin am Anger 67 in der Post die Wäsche ab und schuftete dafür am nächsten Morgen von drei Uhr an. Denn Pflichtversäumnis kannte sie nicht.
Aber heute an dem Ehrentage meines bestandenen Examens zog sie ihr schwarzes Gottestischkleid an, während sie sonst nur in schwarzseidener Schürze um meinen Vater trauerte.
Wie ein Bild saß sie da und schaute durch das Fenster in das verglimmende Abendrot, die Hände unter der schmalen Brust gefaltet, und ein Leuchten lag auf ihrem Gesicht, als sähe sie in eine strahlende Zukunft. Als ich mich zu ihr setzen wollte, sprang sie behende auf und wischte den Sitz meines Stuhles eifrig ab für den „Herrn“ Sohn.
Solche Mütter, wie die meine, sucht sich der Teufel aus, um sie durchs eigene Kind in den Staub zu ziehen.
Die Mutter wußte, daß der Abend nach der Prüfung den Kameraden und dem fröhlichen Kommers draußen auf der Milchinsel gehörte.
Rippenbraten und rohe Kartoffelklöße standen auf der Speisefolge und Erlanger Bier hieß der süffige Stoff, der unsere jungen Köpfe verdrehen sollte.
Die Mutter lag schon im Bett, als ich ihr um 8 Uhr gute Nacht wünschte. Sie hatte mir nie etwas in den Weg gelegt, wenn ich abends ausging, es kam selten genug vor. —
Damals richtete sie sich aus dem ersten Halbschlummer erschrocken hoch und rief angstvoll: „Och bliew doch to Hus!“
Ich lachte, wie man mit einundzwanzig Jahren lacht, wenn das Leben lockt und der erste überwundene Berg hinter einem liegt. Gab ihr noch einen ungewohnten, unbehilflichen Kuß auf den ergrauenden Scheitel und stürmte fort...
Um Mitternacht war mein Kopf wüst und heiß.
Verschiedene Bürger, Handwerker, die für das Seminar arbeiteten, waren aus der Stadt gekommen und tranken mit ihren Frauen einen Schoppen, während wir zu den Klängen eines Leierkastens, dessen Besitzer wir mit Bratwürsten, Kartoffelsalat und etlichen Seideln verpflichtet hatten, mit den Töchtern gefühlvolle Walzer tanzten.
Die schwarze Balianslisette war dabei.
Das Mädchen war schön, üppig und dreist.
Der verwitwete Vater, Schmied Balian, hielt sein einziges Kind sonst jeder Freude fern. Man sagte, es seien ihm schon zwei Töchter verdorben. Er bewachte sie mit Späheraugen, und manch einer hatte eine harmlose Fensterpromenade schwer büßen müssen.
An jenem Tage hielten ihn Freunde fest hinter seinem Stammseidel und die Lisette gehörte uns.
Die Luft im mäßig großen Zimmer war unerträglich, schwül, voll Staub. Lisette saß dicht an mich geschmiegt, und ihre schwarzen Beerenaugen trieben ein tolles Spiel mit mir. —
Wir liefen hinaus in den dunkeln Garten, haschten uns, schrien, lachten...
Dann plötzlich war ich allein mit der Lisette in der Kegelbahn... Wir küßten uns rasch, leidenschaftlich, wild. —
Ein Streichholz glühte auf, eine Hand lag fest auf meinem Arm, und Schmied Balian sagte geruhig: „Ich wußte nicht, daß Sie der Lisette gut sind, bin’s aber zufrieden. Jetzt nach Haus, morgen komme ich zu Ihrer Mutter, ist ’ne brave Frau.“
Er zog Lisette mit sich fort und ich taumelte nach Hause, ohne Hut, ohne Zahlung, ohne klare Gedanken.
Am andern Morgen um 10 Uhr war der Alte mit der Tochter schon da. Meinen Kopf zersprengte der ödeste Katzenjammer. Lisette war blaß wie der Tod.
Der Mutter konnt ich gar nicht in die Augen sehen.
„Lassen wir das Pärchen mal allein,“ rief der Schmied[S. 15] lustig, aber in seiner Stimme war ein tiefer, grollender Unterton, und seine Augen drohten. —
In der schmalen Schrankkammer umklammerte mich Lisette: „Sörensen, um Gottes willen, er schlägt mich tot, wenn du mich nicht nimmst...“ Ich stand zornig vor ihr.
„So ein Frevel! Wir kennen uns ja gar nicht. Es war ein verdammter Rausch! Und wenn du weißt, wie dein Vater ist, mußt du die Leute nicht verrückt machen.“
„Sörensen, er schlägt mich tot.“
Nicht einmal meinen Vornamen wußte das Mädel. Ich lachte laut auf, und dabei schlugen meine Zähne im Frost zusammen.
„Es ist doch nichts geschehen,“ rief ich. „Ein Kuß oder ein paar. Nimm doch Verstand an.“ —
„Für mich ist’s die größte Strafe,“ knirschte sie, „— ich hab einen andern gern...“
„Schäm dich — o schäm dich!“
Das war unsere Verlobung! —
**
*
Wenn ich in der Zeit meine Mutter nicht gehabt hätte...
Mütter sind Helden...
Kleines, versorgtes, vergrämtes Mutterchen, du warst der Heldinnen größte.
Gabst mir Sonne und Wärme und Zuversicht.
Gabst so viel Liebe für mich her, daß sie die ganze, weite Welt hätte füllen können, schafftest und sorgtest, als[S. 16] seist du eine junge Deern, die für das eigene Glück arbeitet.
Mutter, Mutter!
Und deinen großen Jungen trugst du auf betendem Herzen. So ist er nicht verzweifelt.
Einmal an einem regennassen Novembertag stürmt ich zum alten Balian.
Ich wollt ihm sagen, daß ich den Schritt nicht tun könne. Daß ich es kläglich fände, zwei Menschen zusammenzusperren für Zeit und Ewigkeit, die nichts Gemeinsames haben als die unreife Jugend. — Niemals wollt ich mich verheiraten. Was ich verdiene, solle die Lisette haben, bis für sie einmal der Rechte käme...
Der alte Balian lag schwer an Lungenentzündung. Er fieberte, war in einer andern Welt. Was wir von seinen leisen Worten aber verstehen konnten, war Freude über die Versorgung seiner Tochter.
Dann starb er uns, und ich konnte die Verwaiste nicht verlassen. Denn es war nichts da.
Die guten Erfurter schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, daß ein blühendes Geschäft so hatte vor die Hunde gehen können. Die schlechten Kinder waren der Rost gewesen, der an dem ehrlich erarbeiteten Gelde des Vaters fraß, und heimliche Wege war Schmied Balian gegangen, damit die Nachbarn und die Kundschaft nichts von seinem Verfalle merken sollten. — Was noch irgendwie ein Ansehen hatte von seinen Sachen, war verpfändet. Ein paar wurmstichige Möbel nahmen wir mit. Ich habe sie zu Brennholz zerhackt, und sie spendeten die einzige[S. 17] Wärme, die ich dem Hause Balian zu verdanken hatte. Von Mutterchens armseligen Ersparnissen richteten wir die neue Lehrerwohnung ein. Sie lag in Einingen, tief in der Lüneburger Heide.
Die Heide kann nur ganz Glückliche, kann nur selige, jauchzende, lachende Menschenkinder brauchen, oder ganz Unglückliche, von ihrem Gott Verlassene. — Ihre Riesenweiten muß man füllen können mit Liebe oder Haß, mit Jauchzen und Zittern, mit einer Welt von innerem Erleben. Gleichgültige Menschen oder solche, die nur Erdenschwere und Dumpfheit kennen, gehören in die Großstadt. Die Heide tötet ihnen Seele und Leib.
Ein Unglücklicher war ich.
Weil ich so jung war.
Weil das Leben so ewigkeitslang vor mir lag. —
Als die Wasser der Verzweiflung über meinen Kopf zu schlagen drohten, stand ich eines Abends vor der Studierstube von Pastor Verden. Manche Predigt, die schön gesprochen und herzlich gemeint war, hatte ich von ihm gehört, aber der Lehrer Erne Sörensen war unaufmerksamer als der zerstreuteste Schuljunge und jeglich Wort fiel daneben.
Ich entsinne mich aus jener Zeit, daß in Kopf und Herz nur die Fragen brannten: Was soll ich? Wohin? Wo ist Hilfe? Und keine Antwort fand.
Nicht am Tage und nicht des Nachts. Nicht in Kirche und Schule. Nicht daheim, noch in weiter Heide.
Mein Mutterchen war auf dem Posten.
Damals ist ihr Gebet gewesen: „Lieber Gott, der[S. 18] Erne, mein großer Jung, will uns entlaufen. Jawohl, dir und mir. Da heißt’s aufpassen. Und fein gesund mußt du mich bleiben lassen, das siehst du wohl ein, du lieber Herrgott. Denn der Erne hat jetzt nur mich.“ —
Vor des Pfarrers Studierstube stand ich und wollte irgendeine Dorfangelegenheit mit ihm besprechen. —
Es war garstiger Schneesturm, und jeder andere wäre daheim geblieben. Denn die Dorfangelegenheit war nicht wichtig. Aber mein ödes Zuhause und darinnen die junge, faule, zänkische Frau trieben mich häufig in die Weite der Heide oder auch in die Enge des Dörfleins.
Und noch auf der hallenden Estrichdiele des Pastorats gellten die Fragen meines arbeitenden Hirns: Warum? Wohin? Wo ist Hilfe?
Pastor Verden las laut sein Abendlied, und die schlichten Worte übertönten den Jammer meines Herzens:
Da lehnte der lange Goliath Erne Sörensen seinen Kopf an die Tür und weinte bitterlich.
Zum erstenmal seit der Kinderzeit und den kindischen Knabentränen. Ei, ei, ei!
Der heraustretende Pfarrer schüttelte bedächtig den Kopf, und meine beiden Hände hielt er fest in den seinen.
Und die Frau Pastorin mit dem gütigen Matronengesichtchen rief: „Du lieber Gott, der junge Herr Lehrer![S. 19]“ Und raunte dann: „Ob ich Essen bringe? Ob er Hunger hat?“
Denn junge Lehrer und Hunger gehörten für sie zusammen. An diesem Abend fanden meine Hilferufe und wirren Fragen ihre Antwort. Ein großes Sorgenbündel ließ ich in dem altväterischen Ohrenstuhl der Studierstube zurück, und eine Freundschaft für Lebenszeit nahm ich mit mir. —
Ich begann jetzt erst mein „Haus einzurichten“. Es ist ein tiefer Unterschied, ob man sich sein „Nest baut“ oder sein „Haus einrichtet“.
Das erstere hatte ich verscherzt, als ich ein Mädchen ohne Liebe wählte.
Aber ich hatte viel ehrlichen Willen, dies Unrecht gutzumachen. In meinen Freistunden bastelte ich allerhand Zierrat für unsere Stuben zusammen, ich handhabte die Axt und ersparte den Zimmermann. Die Mutter bekam von der Pastorin Blumenzwiebeln und -samen. An unsern Fenstern blühten Geranien und fleißige Liesel. Der Pfarrer führte mich feierlich bei den Dorfältesten und der Gemeinde ein, und da er sehr angesehen war, wurde ich’s auch, weil er seine Hand über mich hielt. —
Und nichts schaffte ich an, ohne Lisette um Rat zu fragen. War ich des Hauses Haupt, so sollte sie das Herz sein. Meinen Jähzorn, das unselige Erbteil der Sörensen, bezwang ich und strebte danach, daß das Versöhnlichsein uns beiden zur lieben Gewohnheit würde.
Dem toten Hause wollt’ ich unsern Atem geben. —
Aber es war kein Segen dabei.
Lisette hatte für alles ein Lachen, an dem das meine langsam starb. Gern las ich abends den beiden Frauen vor, denn ich war stolz auf meine Bücherei. Diesen hochtönenden Namen gab ich meinen zwanzig Bänden, wobei ich Bibel und Gesangbuch noch mitrechnete. Mutter bekam helle und blanke Augen, wenn ich den Hungerpastor vorhatte, sie lachte wie ein frohes Kind über Fritz Reuter und konnte sich für Hans Krischan Andersen begeistern. Lisette aber gähnte und schlief ein, ohne sich doch durch Tagesarbeit den Schlaf verdient zu haben.
Wir ließen sie vor uns das Bett aufsuchen, und kam ich dann ins Schlafzimmer, fand ich sie in kleinen schmutzigen Heften lesend... Als ich die Sachen verbrannte, erntete ich Schimpf und lodernden Zorn.
Es kam eine Zeit, da ich die Hölle im Hause hatte.
Die Mutter wurde ganz kümmerlich und weinte des Abends an meinem Halse.
Sie hatte schlechte Tage unter Lisettens Herrschaft und tat doch allein alle Arbeit des Hauses.
Und wieder danke ich es Pastor Verden, daß ich meinen Zorn niederrang und mich nicht vergaß. Denn die Dorfgemeinde schaute aufmerksam auf das Beispiel des Lehrerhauses.
Lisette fühlte sich Mutter.
Diese Zeit mag wohl in anderen Ehen etwas Köstliches bedeuten. Zwei, die Eins sind in Hoffen, Lieben, Glauben, in Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Werdenden, im Stolz auf die Zukunft.
Herrgott! Und bei uns nichts, nichts, was Herz und Sinn hätte erheben können.
Hie und da brach eine jähe Zärtlichkeit bei Lisette hervor. So wild und ungestüm und zügellos, daß ich mich vor der Mutter schämte...
Einmal küßte sie mich mit derbem Lachen, als gerade zwei Bauern bei mir waren, um sich Rat für ihre Kinder zu holen.
Sie sahen scheel und ohne Verständnis auf die Lehrersfrau und entfernten sich eilends.
Der Rat blieb ungesprochen, aber das Seltsame und Häßliche meiner Ehe trugen die Leute ins Dorf.
Dann aber ward es Licht.
Gott schenkte mir zwei Knaben. Einen großen Goliath — Erne und einen feinen, kleinen Jens.
Außer mir war ich vor Glück. —
Mir schien alles klein und gering, was ich früher erlebt, gegen das unfaßlich Herrliche der Gegenwart.
Ich war Vater. Vater von zwei Söhnen. Auch die Zukunft war wieder hell, denn ich hielt ja an jeder Hand einen Knaben und brauchte keinen Weg mehr einsam zu wandern.
Und meine Jugend jubelte laut ihr Glück hinaus, bis Mutterchen ängstlich mahnend rief: „Du groten Jung! Swieg still! Du büst jo ganz ut Rand un Band. Süh de beiden Lütten! Wo se di ankiken. As ob se dien Öllern wiern un nich du.“
Laut und fröhlich lachte ich und küßte beide Mütter.[S. 22] Die, die mich geboren, und die, welche mir meine Knaben schenkte.
Und in der Nacht träumte mir, der Erne sei Kultusminister und der Jens Volksschulmeister. Und es war ein köstlich Zusammenarbeiten der beiden Brüder, und die ganze Welt und alle Schulen waren voll Glück. —
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Was nun ein schweres, grausames Geschick mir wuchtend auferlegte, das werde ich nur ganz kurz und sachlich buchen können. Einst schrieb ich es in das kleine Heft hinein, das nun verbrannt ist. Einst — damals als ich jung war.
Damals wünscht ich mir „Flügel der Morgenröte“, um dem Herrgott zu entfliehen „und wanderte im finstersten Tal“...
Jetzt weiß ich, daß er mich nie verlassen, noch verloren hat.
Heute ist der Geburtstag meiner Knaben.
Das wären jetzt aufgeschossene schlanke Bürschchen, wie ich selbst es war mit vierzehn Jahren.
Sie würden mir bis an die Schulter reichen und zu mir sagen: Vater, wie sind deine Brauen und dein Bart so dunkel und deine Schläfen so weiß. —
Das kommt, weil ihr mich verlassen habt, meine Jungens...
Nun, so bekomme ich diese Seiten nie zu Ende...
Die Kinder gediehen und wuchsen wie die Bäumchen. Trotzdem Lisette ihnen die Mutterbrust verweigerte. Im[S. 23] Anfang war ich zornig, dann freute ich mich darüber. Ich bereitete fast jede Nahrung selbst für sie.
So wurden sie ganz mein Eigen. Von der Schule lief ich zu den Knaben und von ihnen zur Schule.
Und die allerbeste Kindsmagd hatten sie außerdem an der Großmutter. Die wurde noch einmal jung in der Kinderstube und besann sich auf Märchen, wie sie schöner nie ein Mund erzählt.
Und der große und der kleine Erne saßen mit dem feinen, zarten Jens zu Füßen der Scheherezade und lauschten...
Lisette aber war auch glücklich auf ihre Art. —
Sie entlief oft tagelang dem „langweiligen“ Manne, den „langweiligen“ Kindern, der „furchtbaren Öde“ der großen Heide.
Sie vergnügte sich in der nahen Stadt, fand Freundinnen und Versucher...
Ich wachte erst aus meiner Vater- und Kinderseligkeit auf, als Pastor Verden mich gewaltig rüttelte. Er nannte die Dinge, wie das Dorf sie besprach...
Bis ins Herz erschrak ich.
Und zwang mit eisernem Willen die junge, pflichtvergessene Mutter in mein Haus.
Es wurde zur Hölle für uns alle.
Nur eine hielt dieser Hölle stand. Sie war die verkörperte Liebe. Sie betreute das Haus, die Kinder, mich selbst, ja auch um die mürrische, zänkische Schwiegertochter warb sie täglich aufs neue. Nimmermüde war das Mut[S. 24]terchen. Ich selbst lief allein oder später mit meinen Buben in die Heide.
Lieben und verstehen lehrte ich sie die unendliche Weite und Stille. Die rote Blütenpracht im Sommer wurde ihnen zum Himmelsteppich, und alle Blumen der Welt reichten nicht heran an Holler und Ginster.
Mit drei Jahren sprachen die Knaben ein reines gutes Hochdeutsch, und mit dem „Grodeli“, wie sie die Großmutter nannten, „snakten sie Platt“.
Meine Buben waren mir alles und ersetzten mir alles, woran sonst ein junger Mensch sein Herz und seine Sinne heftet. Ich lachte, tollte, lernte und spielte mit ihnen, und wenn sie mir ihre Händchen hinhielten und ernsthaft meine Koseworte wiederholten: „Ja, Erne, wir sind zusammengeßmiedet“, dann dünkte ich mich der Königssohn im Märchen. —
Nun rasch weiter und zu Ende.
Es war Schützenfest in der Kreisstadt.
Lisette war in fieberhafter Aufregung. Sie erzählte sogar den beiden Kindern von all den verlockenden Schaubuden, von Karussels und Löwen und drolligen Affen.
Die aufgeweckten Bübchen horchten erstaunt und erfreut, die Mutter war so selten freundlich mit ihnen.
„Laß mich doch mit den beiden hin!“ drängte Lisette. „Die Kinder werden ja hier ganz überspönig, sie müssen einmal unter andere Kinder. Ein großer Umzug mit brennenden Laternen soll da sein, — ich hab’s der Frau Diedrichsen so gut wie versprochen.“ —
Lehrer Diedrichsen war mir ein unlieber Kollege, seine[S. 25] Frau als Freundin für Lisette durchaus ungeeignet. Ich schüttelte den Kopf, ein zorniger Blick traf mich.
„Grad als ob mir die Kinder nicht auch gehörten,“ schrie sie mich an. Da fingen Erne und Jens an zu weinen, und ich trug sie hinüber zur Großmutter, damit ihre jungen Augen nicht das entstellte Gesicht der Mutter sehen sollten und das furchtbarste Schauspiel für Kinder: Uneinigkeit der Eltern. Dann ging ich zurück zu Lisette und versuchte noch einmal mit Freundlichkeit und Ruhe ihr meine und ihre Stellung klarzulegen.
Daß ein Lehrer würdigere Freuden kennen müsse als den Jahrmarkt in der fremden Stadt, und daß es einfach unsere Verhältnisse nicht erlaubten, das Geld so unnütz hinzuwerfen. Und die Kinder, die jungen zarten Knaben im Gewühle eines solchen Umzuges!
Sie tobte, aber ich blieb ruhig und fest.
Andern Tags hatten beide Bübchen starkes Fieber. Es war ein kalter, häßlicher November.
Ich mußte mit dem Pfarrer und dem neuen Kreisschulinspektor über Land und trennte mich schwer von den Kindern. Aber Lisette schien selbst in Sorge um die beiden, das konnte ich wohl sehen. Sie gab sich auch Mühe, freundlich mit mir zu sein, es war wie Reue in ihr und mir war’s der Schimmer einer lichteren Zukunft...
So ließ ich meine Frau am Bett der Kleinen und Mutter schlummernd im Lehnstuhl, was nicht oft vorkam. Aber sie kämpfte schon lange gegen eine böse Erkältung.
Spät abends kam ich heim.
Ich ging zuerst in Mutters Stube, um nicht mit der[S. 26] ganzen Nässe und Kälte der Novembernacht an die Bettchen der Kinder zu treten.
Mutter schrak aus Fieberschlaf empor.
„Die gute Lisette,“ lallte sie. „Warm eingepackt hat sie mich. Nicht rühren sollt ich und konnt ich mich. Und gut zugeredet hat sie mir. Daß ich sollt endlich einmal liegen bleiben und an mich denken. Den Bübchen geht’s besser. Schlafen alle zwei in die Gesundheit hinein. Und die Lisette hat sich auch hingelegt.“
Ich kühlte der Mutter die brennende Stirn und dann ging ich ins Schlafstübchen.
Herrgott! Herrgott!
Die Betten waren leer.
In der Kreisstadt fand ich nachts um drei Uhr meine Kinder wieder im Hause des Lehrers Diedrichsen.
Der kleine Jens kannte mich schon nicht mehr. Am andern Tag zwang ihn die Bräune nieder. Die Fahrt über Land in schneidendem Novemberwind...
Mein Erne wehrte sich länger. Er erzählte mir noch mit heiserer Stimme von den Löwen und Äffchen, von dem rasenden Karussel, wo man so übel drauf werde, von den brennend roten Stocklaternen. Diese ängstigten ihn furchtbar und verfolgten ihn. —
Den ganzen nächsten Tag erzählte er mir noch...
Dann reichte er mir das kleine heiße Händchen: Wir beide sind zusammengeßmiedet......
— — — — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — —
Das war vor zehn Jahren. Ich habe Lisette nicht wiedergesehen. Was ich verdiene, schicke ich ihr bis auf wenige Abzüge. —
Die Mutter blieb vorerst bei mir. Gott ewig Lob und Dank. Ihr rastloser Fleiß, ihre Liebe, ihre nimmermüde Fürsorge und ihr Vertrauen zu mir haben mir geholfen. Sie zeigten mir den Weg zur ernsten Arbeit. So konnte ich ein Jahr nach dem Heimgang meiner Knaben die Reifeprüfung am Gymnasium ablegen.
In Kiel studierte ich, war dann in Lüneburg Kandidat und Oberlehrer.
Da war Mutterchens Mission zu Ende.
So meinte sie. Und sie packte ihre Sachen und zog wieder in unser Heidedörfchen. Dort sitzt sie in ihrem alten Hause, darinnen sie mich geboren, und wo unser guter Vater starb. In ihrem feinen Herzenstakt glaubte sie, die ehemalige Waschfrau könnte meiner Laufbahn im Wege sein. Und all mein beredtes Werben um sie und ihr Bleiben konnten ihren Entschluß nicht erschüttern.
Der schwerwiegendste und letzte Beweggrund: „Mutter, ich brauche dich und deine Gegenwart wie das liebe Brot“, habe ich nicht ausgesprochen. Zu viel Opfer hatte mir schon die liebe Unersetzliche gebracht. Ich sah, wie ihr Herz und ihre Hände nach der engen Heimat, nach der alten, schwer entbehrten Arbeit verlangten. Eine tüchtige, alte Magd trat an ihre Stelle. Mein Körper war immer gut versorgt, die Herzspeise fand ich in Mutters kärglichen Briefen. Ich selbst schreibe zu ihr jeden Sonntag. Komme[S. 28] mir beinahe wie ein Pfarrer vor, der seine Sonntagspredigt und Sonntagsstimmung vorbereitend genießt.
Von Lisette erwähnen wir beide nichts.
Ich weiß, daß Mutter meine Not begriff...
Aber sie wurzelt auch wieder mit allen Fasern in den göttlichen Geboten. Der alte Lutherkatechismus vom Großvater her lag immer auf ihrem Bettischchen. Ich sah einmal, daß sie das vierte und das sechste Gebot mit leuchtend rotem Stift angestrichen hatte. —
Daß ich ihr den Schmerz meiner unglücklichen, häßlichen Ehe zugefügt habe, wird mich immer brennen...
Von Lüneburg aus konnte ich oft die beiden kleinen Heidegräber aufsuchen, die Frau Pastor Verden mir betreut.
Schlaft wohl, Erne und Jens Sörensen! —
**
*
Auf dem Schulhof vom Birkholzer Lyzeum wirbelt und tost es, lacht es und schreit.
Fräulein Nissen hat die Aufsicht.
Sörensen, der an seinem Schreibtisch im Direktorzimmer sitzt, sieht gar nicht erst nach dem Stundenplan. Er weiß es sofort, als der ohrbetäubende Lärm auf dem Schulhof losbricht, und sagt es geruhig vor sich hin: „Natürlich die Nissen.“
Dann erst tritt er ans Fenster und schaut kopfschüttelnd hinunter auf das Gewühl.
Wie eine Henne, die Enten ausgebrütet, flattert die Lehrerin zwischen den Mägdlein umher, und wo sich eine[S. 29] ruhige Gruppe bildet, wird sie aufgescheucht. Dabei scheint denn einige Disziplin in die Brüche zu gehen.
Prachtvoll jung ist sie, die Bande da unten. Eben meint Sörensen, die Siebenjährigen stießen diese hellen Juchzer aus, es sind aber die Backfische aus der zweiten Klasse.
Telse Lüders kräht wie ein junger Hahn.
Fauchend steht Fräulein Nissen vor ihr, das Sündenregister scheint endlos zu sein.
„Ei, so laß sie doch krähen!“ denkt Sörensen unpädagogisch.
Denn der Schulhof ist ja eigentlich kein Hühnerhof. Aber der Direktor weiß, daß Telse Lüders das einzige junge Kind alter Eltern ist, der die Schule viel Freude und Jugendübermut ersetzen muß.
Jetzt lächelt er. Denn er sieht, wie sich die zweite Klasse, der Telse Lüders angehört, zusammenrottet und augenscheinlich die Gemaßregelte flammend gegen die Vorwürfe der Lehrerin verteidigt...
Sörensen weiß guten Korpsgeist zu schätzen.
Fräulein Nissen geht diese Schätzung völlig ab. Sie regt sich ungeheuer auf, und der Zuschauer runzelt die Stirn ob ihrer Würdelosigkeit. Sprecherin der zweiten Klasse ist ein braungebranntes, schlankes, rassiges Mädel mit kurzgeschnittenem, aschblondem Lockenkopf, der von Zeit zu Zeit eine in die Stirn fallende „Tolle“ energisch zurückwirft. Stahlblaue Augen blitzen die Lehrerin an.
Und doch ist die Haltung der Schülerin nicht unehr[S. 30]erbietig. Direktor Sörensen stellt dies sofort bei sich fest, denn Sörine von Heidekamp ist ihm bereits von mehreren Lehrern als „schwarzes Schaf“ der zweiten Klasse vorgemerkt worden. Sörensen aber verläßt sich gern auf seine eigenen Augen und diese sahen jetzt auch, daß Sörine ein kleines, schreiendes, blutendes Mädel aus der neunten Klasse aufhebt, das im raschen Lauf auf dem scharfen Kies hingefallen ist und sich das Näschen arg zerschunden hat. —
Der Direktor stellt ferner fest, daß Sörinens Taschentuch zwar nicht einwandfrei ist, doch sie läuft blitzgeschwind damit zum Brunnen und bald darauf liegt es kühlend auf dem blutenden Näschen der Kleinen.
Fräulein Nissen aber schilt ergiebig mit der Patientin, und das veranlaßt Sörine von Heidekamp, die Lehrerin erstaunt und ungläubig anzusehen.
„Sörine, ich werde dich einschreiben,“ ruft Fräulein Nissen nervös. Die klaren Kinderaugen sind ihr unbequem. Dabei bebt jede Fiber in ihr und sie fühlt sich ganz „fertig“ und „wie aus dem Wasser gezogen“. Dem Weinen nahe, hastet sie die Treppe in die Höhe, die zum Lehrerzimmer führt. Dabei stolpert sie und tritt sich die Rockborte ab, die als ringelnde Schlange hinter ihr drein fegt. Im Lehrerzimmer läuft Oberlehrer Kahl mit Riesenschritten auf und ab. Die beiden Nervösen verstehen sich gut und laden gewohnheitsmäßig ihren Schulärger aufeinander ab. Er bleibt denn auch stehen, als Fräulein Nissen hereintobt und das Klassenbuch aus dem Katheder reißt. Wie ein verkörpertes Fragezeichen steht er vor ihr. —
„Ach, Kollege,“ stöhnt sie, — „diese Sörine Heidekamp ist noch mein Tod.“
Kahl lacht höhnisch auf. Aber gleich darauf vermag er verbindlich zu lächeln. „Das wäre doch schade um Sie. — Nein, Kollega, dies Getue allerneuesten Datums um Sörine von Heidekamp, — vergessen Sie ja nicht dieses schmückende Beiwort, — also dies Getue läßt mich kalt. Das tiefe Bedauern, daß die Prügelstrafe in Mädchenschulen abgeschafft ist, ist das einzige, zu dem ich mich aufraffen kann.“
Fräulein Nissen streckt ihm verständnisvoll die Hand hin. „Ich helfe mir mit Einschreiben,“ sagt sie mit hoher Befriedigung. „Die Seiten im Klassenbuch der Zweiten sind schwarz von Eintragungen. Aber meinen Sie wirklich, daß man Kotau vor dem Adel da draußen macht???“
„Na, wenn Sie das noch nicht gemerkt haben...“ Er zuckt ungeduldig die Achseln. „Früher nannte man die Steine, die der alte Freiherr den Lehrern in den Weg warf: ‚Unverschämtheiten‘. Jetzt auf einmal ist er zum ‚Original‘ avanciert und wird demgemäß hofiert. Mit seiner unbotmäßigen Range geht man um wie mit einem rohen Ei. ’ne ordentliche Jacke voll, dann wär’s besser. Aber unser verstorbener Direktor Klaßen hat die Disziplin mit ins Grab genommen.“
Draußen läutet schrill die Schulglocke, und Fräulein Nissen hastet wieder auf den Schulhof, um das Ordnen der Klassen zu überwachen. —
Als sie eben die Vierzehnjährigen in das Klassenzimmer gescheucht hat und die Plätze eingenommen sind,[S. 32] verkündet sie die neuen Tadel im Klassenbuch. Ganz gleichgültige Gesichter schauen sie an.
„Das rührt euch wohl gar nicht?“ fragt sie erbost. „Nun, es soll euch schon noch rühren. Ich habe mir allerhand Wirksames ausgedacht.“ Sie rast zur Wandtafel. Dabei pendelt die abgerissene Rockborte hin und her und die Kinder krümmen sich vor Lachen.
Aber jetzt wird es ernst. Ein Blatt flattert bei dem Tumult aus irgendeinem Buch heraus und gerade Fräulein Nissen vor die Füße. Es ist eine schwungvolle Ballade, die Telse Lüders vor einigen Tagen verbrochen hat. Sie bildet den Stolz der Dichterin und das Entzücken der ganzen Klasse. Aber für das Entzücken der Lehrerin war sie nicht berechnet. Fräulein Nissens zornige Augen haften durchbohrend auf der ersten Strophe:
„Empörend!!! Telse Lüders, ich schreibe dich jetzt noch einmal ein, hinterher die ganze Klasse und dann — melde ich euch dem Herrn Direktor.“
Fräulein Nissen kostet die Genugtuung, daß der letzte Hieb sitzt. Man hatte ja tausend gute Vorsätze gefaßt, um den verehrten, neuen Direktor nach und nach von der Grundlosigkeit sämtlicher Anklagen gegen die zweite Klasse zu überzeugen und nun mußte man so hereinfallen!
Agnes Asmus fängt an zu weinen. Sie ist die Tochter des Rechenlehrers aus der neunten Klasse und ihr Vater[S. 33] ein strenger Mann. Man munkelt, daß er den Bakel daheim über Frau und Tochter schwingt... Sörine von Heidekamp streichelt die Hand der Weinenden.
„Ich gehe nachher mit dir und sage deinen Eltern, daß du ganz unschuldig bist,“ raunt sie ihr zu. Aber im selben Augenblick wird sie auch wieder von Fräulein Nissen eingeschrieben. Sörine seufzt laut und schmerzlich.
„Woher kommen diese Töne?“ fragt die Lehrerin unpädagogisch.
Sörine meldet sich: „Ich habe nur geseufzt. Weil wir heute doch noch nichts von Friedrich dem Großen angefangen haben. Wir hatten doch alle so fein präpariert und nun sind wir gar nicht weitergekommen.“
Fräulein Nissen erstarrt vor der Frechheit, daß ihr eine Schülerin Vorwürfe über Nichteinhaltung des Pensums zu machen wagt. Sie nimmt sich gar nicht die Mühe, über die ganz ehrliche Trauer der jungen Heidekamp nachzudenken.
Sie ringt die Hände, ringt nach Worten und stolpert zweimal über die abgetretene Rockborte, so daß einige Schülerinnen es vorziehen, unter die Bank zu kriechen, woher dann mehrere bange Laute kommen, wie wenn jemand am Ersticken ist.
Endlich formen Fräulein Nissens Lippen einen Satz: „Wir wollen einen kurzen Überblick über die geistige Entwicklung unseres Volkes zur Zeit Friedrichs des Großen...“
Da läutet die Schulglocke.
Und mit einem Radau ohnegleichen geht die zweite[S. 34] Klasse von der geistigen Entwicklung zur leiblichen, zur Frühstückssemmel, über.
Fräulein Nissen rast ins Lehrerzimmer.
Hier ist vorläufig nur die wortkarge, mit trockenem Humor begabte Oberlehrerin Fräulein Dr. Stavenhagen anwesend. Sie schlürft eine Tasse Kakao und mustert über den Rand ihrer Tasse hinweg die Auf- und Abrennende.
„Was fehlt Ihnen, Nissen?“ fragt sie.
Fräulein Nissen haßt Verschiedenes auf dieser Welt, darunter auch die Eigentümlichkeit der Kollegin, sie mit dem Nachnamen anzureden.
Aber sie weiß, daß es nichts nützt, wider den Stachel zu löcken, und so entschließt sie sich zur raschen Antwort: „Die zweite Klasse ist noch mein Tod.“
„Das begreife ich nicht, Nissen. Ich würde der Bande gar nicht den Gefallen tun, mich durch sie töten zu lassen. Aber abgesehen davon, — Nissen, können Sie wohl ruhig bleiben, wenn ich Ihnen sage, daß mir diese verlästerte Zweite die liebste von allen Klassen ist?“
Nein, bei so einer hirnverbrannten Rede konnte Fräulein Nissen nicht ruhig bleiben. Sie schlug eine nervöse Lache auf und verdoppelte ihre Renngeschwindigkeit.
„Ehe Sie sich aber auf den Schragen ärgern, Nissen, lassen Sie sich von mir die Rockborte annähen, es macht sich würdiger im Sarg.“
„Fräulein Stavenhagen — — —!“
Diese hatte inzwischen ruhig einen Faden einge[S. 35]fädelt, hob die Nadel wie einen Feldherrnstab und rief der Rastlosen ein donnerndes: „Das Ganze haaalt!“ zu.
Und wirklich zwang ihre humorvolle Behaglichkeit der Lehrerin ein schattenhaftes Lächeln ab.
„Sehen Sie mal, Nissen“; sie hob mit dem abgerissenen Bortenende den Reformrock der Kollegin etwas in die Höhe und zeigte auf die dünnen mageren Stelzchen, — „das ist Selbstmord.“ Zugleich stellte sie vergleichend ihre eigenen festen Pedale daneben. „‚Immer mit die Ruhe‘, sagt der Berliner. Was haben Sie davon, wenn der Ärger Ihr Gebein abnagt und Sie eines schönen Tages auf der Straße umfallen. Droschken gibt es nur zwei in Birkholz, und die werden nicht für Sie eingespannt.“
„Was soll ich tun?“ stöhnt Hermione Nissen.
„Menschenskind, ich wüßte wohl allerhand, was Sie tun könnten, aber Sie vertragen ja so schwer ein offenes Wort...“
„Erlauben Sie mal.“
„Vor allen Dingen würde ich mir jeden Tag, wenn ich vor die zweite Klasse trete, ernstlich sagen: Du bist auch mal Kind gewesen, du bist auch mal Kind gewesen! Dieser Gedanke müßte das A und O des Lehrers sein. Zweitens,“ — Fräulein Stavenhagen schaute spitzbübisch-ängstlich, „zweitens würde ich die Reformkleider abtun und drittens würde ich mich umtaufen. Jawohl, in Auguste umtaufen. Auguste ist besser für die zweite Klasse als Hermione ....“
„Fräulein Oberlehrerin Stavenhagen — — —“
„Na ja, ich wußte es ja, daß Sie beleidigt sein wür[S. 36]den. Aber nun ist Ihr Röcklein fertig und wir wollen’s fein säuberlich über die Beinchen breiten, denn ich höre die Männerwelt kommen und die soll durch Ihre Reize nicht verwirrt werden.“
Sie biß den Faden mit ihren starken Zähnen ab, klopfte lachend und begütigend der Gekränkten auf die Schulter und trank ihren Kakao vollends aus.
Das Lehrerkollegium betrat ziemlich vollzählig das Zimmer.
Sie sprachen erregt durcheinander.
„Ne, erlauben Sie mal,“ rief Oberlehrer Kahl, setzte sich mit einem Ruck an den Tisch, schlug auf die Platte und sprang wieder hoch, „das is nich egal. Wenn ich was seit zwanzig Jahren in meiner Klasse eingeführt habe...“
„Dann ist es die höchste Zeit, daß es mal geändert wird.“
„Verehrteste Kollegin,“ rief Kahl spitz, — „ich pflege meine Sätze allein zu vollenden... Also, ich sage, wenn ich seit zwanzig Jahren was in meiner Klasse angeordnet habe, dann lasse ich es mir nicht von einem Neuerer einfach umstoßen.“
„Sehr richtig,“ sekundierte ihm Professor Traute.
„Ich weiß ja nicht, worum es sich handelt.“ Fräulein Stavenhagen blitzte Herrn Kahl ziemlich drohend an. „Ich höre nur immer meine Klasse und da wollt ich gehorsamst und submissest fragen, welche Klasse Sie meinen.“
„Na, natürlich doch die Erste.“
„So! Und mit welchem Recht?“
„Mit dem Recht, mit dem ich zwanzig Jahre lang die erste Klasse geführt habe.“
„Mit dem einundzwanzigsten Jahr fängt aber mein Recht und meine Klasse an,“ trumpfte Fräulein Stavenhagen.
„Spielen wir also mal meine Klasse, deine Klasse,“ lachte der junge Gesanglehrer Hansohm und seine Hände ahmten das Hasardspiel nach.
„Zum Ulken sind wir nicht hier,“ verwies ihn Oberlehrer Kahl.
Er kehrte mit Vorliebe den akademischen Standpunkt heraus und liebte es überhaupt nicht, wenn „Seminaristen“ sich einmischten.
„Worum es sich handelt?“ wandte er sich an die Oberlehrerin. „Seit zwanzig Jahren steht die erste Klasse auf, wenn ich herein komme, seit zwanzig Jahren sagt sie langsam, laut und deutlich ‚Gu—ten — Mor—gen, — Herr — Ober—lehrer — Kahl‘ und jetzt kommt dieser — — dieser — —“
„Seminarist,“ rief Lehrer Hansohm boshaft dazwischen.
„Dieser Herr Direktor,“ vollendete Kahl, „und führt Neuerungen ein.“
„Wir sitzen ja auch gottlob nicht mehr in der Arche Noah, sondern im neuen Lyzeum.“ Fräulein Doktor sprach sehr energisch. „Und da die erwachsenen Mädchen in der ersten Klasse Stühle und Tische bekommen haben, so ist’s wie eine Erlösung, daß sie sich das Aufstehen endlich abgewöhnen. Man kann auch Haltung zeigen ohne aufzustehen und Lächerliches zu plärren.“
„Fräulein Doktor, Sie drücken sich zum mindesten eigentümlich aus.“
„Na, ist das nicht lächerlich, wenn große denkende Menschen in die Höhe hampeln, wie von einer Strippe gezogen und unmündig stammeln: ‚Gu—ten — Tag‚? Als sie das erste und einzige Mal mich so empfingen, rief ich ihnen zu: Ach, ich glaubte, Sie wollten singen: Gu—ter Mond, du gehst so stille. Seitdem ist unsere Begrüßung würdig und schlicht.“
„Man merkt’s,“ entgegnete Kahl bissig. „Als ich vom Urlaub kam, kannte ich meine Klasse nicht wieder.“
„Das glaub’ ich,“ lachte Fräulein Doktor, wurde aber gleich wieder ernst. „Was waren das für frische Kinder in der fünften, vierten, dritten Klasse, als ich sie führen durfte. Wahrhaftig, da geben sie der jetzigen Zweiten nichts nach. Aber jetzt — Hampelmännchen — —“
„Ne, da hört doch aber Verschiedenes auf, Sie bedauern, daß diese Mädchen nicht mehr denen der zweiten Klasse gleichen? Der zweiten? Ausgerechnet der zweiten? Ach, Herr Hansohm, erzählen Sie doch mal gleich jetzt, was Ihnen gestern mit der zweiten Klasse passiert ist...“
„Ach nein,“ protestierte Hansohm mit flehend aufgehobenen Händen, und der Schalk tat, als ob er überaus schüchtern sei. „Ich bin ja doch nur dazu da —“ und nun leierte er die Dienstordnung ab: „Den Grundstein für die allgemeine musikalische Bildung der Kinder zu legen. Daraus erwachsen mir folgende Sonderaufgaben: a) Erziehung zum Musikhören, b) die eigentliche Gesanglehre, c) Aneignung der im geistlichen und weltlichen Liede...“
Oberlehrer Kahl sprang auf und verließ mit Protest das Lehrerzimmer.
„Sie sind unverbesserlich,“ raunte Fräulein Nissen verweisend.
„Ach nein, ich bin ja noch so jung,“ sagte Hansohm, „und ich fühl’s, unter Ihrer Leitung, Fräulein Kollega...“
Nun verschwand auch Fräulein Nissen und lachenden Antlitzes die anderen. Nur Fräulein Doktor und Lehrer Hansohm blieben zurück.
„Kollege Hansohm, ist’s ein Geheimnis, was Sie mit der zweiten Klasse haben?“
„Aber durchaus nicht. Die zweite Klasse hat mich in corpore bestürmt, mit ihnen die Müllerlieder von Schubert einzuüben. Als ich es ihnen abschlug, weil es nicht zum Pensum gehört (hier verdrehte Hansohm die Augen), baten sie mich flehentlich, und Sie wissen, wie die zweite Klasse fleht, daß ich ihnen die Müllerlieder wenigstens vorsänge, — und das habe ich getan. —“
„Die Glücklichen,“ sagte Fräulein Doktor leise, und ihr verblühtes Gesicht sah mit einem Male jung aus. „Menschenskind, warum sind Sie nicht Sänger geworden? Mit Ihrer herrlichen, gottbegnadeten Stimme...“
„Reden wir nicht davon,“ unterbrach er sie rauh. „Oder ja, — wenn es Sie interessiert, — das Geld fehlte, Freunde fehlten, Verständnis fehlte. Dazu kam die närrische Liebe zum Lehrerberuf, das glühende Verlangen, Kinderstimmen auszubilden, dieses zarte, gottgegebene Material nicht verschandeln zu lassen...“
Fräulein Doktor streckte ihm die Hand hin. „Gott[S. 40]lob, daß wir Sie hier haben. Und gestern, — da hätt’ ich dabei sein mögen...“
„Dann hätt’ ich Eintrittsgeld genommen.“ Der Ernst war schon wieder verscheucht. „Nur die zweite Klasse hat freien Zutritt. Meine Zweite! Das ist so ’ne Marotte von mir. Und sollt’ ich mal irgendwo singen, öffentlich, wohltätig oder verheerend, und der Herr Oberlehrer Kahl (um ja nicht ‚Kollege‘ zu sagen) sollte zuhören, dann knöpf’ ich ihm 25 Mark ab, jawohl, wie der Jadlowker in Berlin.“
„Aber gestern, gestern,“ drängte Fräulein Doktor und sah nach der Uhr, „wo steckt denn nun das Verbrechen der zweiten Klasse?“
„Haben Sie ’ne Ahnung!“ Hansohm sah sie komisch verweisend an. „Das ist doch eben meine Schmach und die dieser verdorbenen Kinder! Aus den Müllerliedern hat der Kahl ‚Liebeslieder‘ gemacht. Na, freilich sind’s Liebeslieder, es sind dank dem Göttersohn Schubert die Liebeslieder schlechthin. — Also des Pudels Kern ist: die zweite Klasse hat um Liebeslieder gebeten, und der Schurke Hansohm hat sie ihnen verzapft.“
Fräulein Doktor warf sprachlos beide Arme in die Luft.
„Gerade als Kahl am Singsaal vorbeiging, schmetterte ich: ‚Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben‘, meinte aber nicht Kahl...“
„Mein herzliches Beileid,“ brummte Fräulein Doktor. „Na und nun weiter? Was soll aus dem Quark werden?“
„’ne Konferenz. Ausgerechnet ’ne Konferenz.“
„Ich finde das auch richtig,“ fiel eine salbungsvolle Stimme ein. Die beiden drehten sich hastig um.
Professor Traute saß ganz zusammengedrückt hinter einem großen Schreibtisch mit hohem Aufsatz.
„Ach so!“ Fräulein Doktor lachte schneidend. „Na, da wissen wir ja Ihr Glaubensbekenntnis schon vor der Konferenz.“
Lehrer Hansohm sah ganz unglücklich drein.
„Mir ist es ja nur so schaudervoll, höchst schaudervoll, daß dem neuen Direktor gleich so ein Elektrizitätswerk über uns angeknipst wird,“ seufzte er. „Ich hätte dem Manne zu gern die Illusion gelassen, nicht die Spitze einer Schöppenstädter Kleinkinderbewahranstalt zu sein.“
Die Schulglocke klingelte.
Professor Traute schob sich eilends auf den Vorsaal. Hier prallte er unsanft mit Direktor Sörensen zusammen, welcher rasch etwas aus dem Lehrerzimmer holen wollte. Traute entschuldigte sich wortreich unter tiefen Verbeugungen und trat dann zu Oberlehrer Kahl, dem er zuraunte: „Dieser Hansohm ist ein Fuchs und ein Schwätzer dazu, werde Ihnen auf dem Nachhauseweg erzählen, Kollege... Und der neue Direktor — hm — — merkwürdig, hä hä — wenn mich nicht alles täuscht, hat der am Lehrerzimmer gehorcht vorhin, — — als ich die Tür aufriß, stießen wir förmlich aufeinander...“
„Ist die Möglichkeit! Ei ei — sieh, sieh...“
Die beiden Biedermänner gingen in ihre Klassen.
**
*
Der Singsaal im neuen Lyzeum von Birkholz war ein prächtiger Raum.
Wenn man darinnen saß und seine Augen wandern ließ, dann dachte man wohl, der Baumeister müsse zugleich ein rechter Jünger der heiligen Cäcilie gewesen sein.
Und man dachte recht.
Baurat Steinbrück stammte aus Thüringen und war in dem architektonisch reichen Städtchen Birkholz „hängengeblieben“. Er spielte alle bekannten Instrumente und noch ein paar darüber, er sang im Chor der Martinskirche und in der Birkholzer Singakademie und hätte es gern gesehen, wenn die Magistratssitzungen, denen er als Stadtverordneter beiwohnte, im Opernstil getagt hätten. Seinem unablässigen Werben und Wirken verdankte Birkholz den akkustisch vollendeten Raum, in dem die Kinderstimmen der Stadt von dem feinsinnigen Musiker Hansohm geschult wurden.
Ein guter Stern leuchtete über dem Singsaal.
Denn während alle anderen Räume des Lyzeums kahl und schulmäßig dreinschauten, bekam der Singsaal bei der Einweihung drei Paten, die segnend die Hände über ihn hielten.
Der eine war der Inhaber des großen „Spezerei- und Gemischtwarenladens Dingelmann und Sohn“, der, wie er von sich selbst sagte: „Längst zum größten Delikateßgeschäft und zur bekanntesten Wurstfabrik gediehen“, doch noch aus Pietät die wunderliche Geschäftsbezeichnung über seiner Tür beibehielt. Der zweite war der „Kammer[S. 43]herr“, wie man kurzweg den alten Sonderling Freiherrn von Heidekamp auf Heidekamp-Birkholz nannte, und der dritte Pate war eine Patin, ein altes Fräulein Tingleff, das seit vierzig Jahren im zweiten Stockwerk des Hauses Dingelmann und Sohn wohnte. Seit vierzig Jahren, man sagte, seit dem Tage, da sie dem alten, damals sehr jungen und sehr blonden Dingelmann ihre begehrte Hand verweigerte, zankte sie sich mit ihrem Wirt und konnte sich doch nicht von ihm fortfinden.
Und seit vierzig Jahren überboten sich die beiden „Feinde“ im Wohltun für die Stadt Birkholz.
Da nun das wunderliche Fräulein Tingleff fand, der neue Lyzeumsingsaal sei viel zu hell und werde all die sonnigen Kinderaugen in Grund und Boden verderben mit seinem kalten Licht, so „stiftete“ sie ein buntes Fenster, das die heilige Cäcilie darstellte.
Der Chef der Firma Dingelmann und Sohn konnte darüber auch nicht eine einzige Nacht schlafen, sondern ging stracks zu Herrn Lehrer Hansohm, um ihn um Rat zu fragen. Und so stand schon nach vierzehn Tagen ein von Dingelmann gestifteter Bechsteinflügel im Saal. Und nach weiteren vierzehn Tagen begann man mit der Aufstellung einer wunderschönen Estay-Orgel, die Freiherr von Heidekamp für den Singsaal notwendig hielt. Und Lehrer Hansohm war darüber so glückselig, daß ihm die Augen naß wurden.
Die scharfen Blicke des Orgelstifters, welcher der Aufstellung beiwohnte, entdeckten die verleugneten und rasch beseitigten Tränen.
Sie gefielen ihm inmitten der öden Trockenheit, mit der die große Schule bisher geleitet wurde.
Und der Mann gefiel ihm auch.
Das sagte er ihm freilich echt heidekampisch:
„Lieber Herr Schulmeister, Lehrer müssen sein, weil sie der Herrgott als eine der sieben Landplagen auf der Erde vergessen hat. Mir kommt keiner über die Schwelle, aber Sie...“
Und nach einer längeren, für Hansohm halb peinlichen, halb interessanten Pause hatte der Kammerherr ihn ohne weiteres am Rockknopf zu sich herangezogen.
„Meine Enkelin, die Sörine, der lüttje Katheiker, hat mir viel, viel Liebes von Ihnen erzählt, Herr Schulmeister, ich — ich danke Ihnen.“
„Aber, Herr Baron, ich weiß nicht...“
„Sie brauchen auch gar nichts zu wissen, — setzen Sie sich lieber hin, und spielen Sie mir ‚Ein’ feste Burg ist unser Gott‘, den Choral der Choräle. Ich muß doch etwas von meiner Stiftung haben.“
Und Klaus Hansohm hatte die Register der neuen Orgel gezogen, und alle Heimchen am Herde des neuen Lyzeums waren aufgewacht und lauschten, und die heilige Cäcilie im Buntfenster lächelte.
Und auf den Schwingen des mächtigen Liedes fanden sich ein wunderlicher Alter aus dem Uradel des Landes und ein junger Stürmer aus dem Volke zu einer seltsamen, guten Freundschaft zusammen. —
Das war vor Wochen gewesen.
Heute war der neue Singsaal, die heilige Cäcilie[S. 45] und der Bechsteinflügel schon eine alte Sache, und man sah sich nicht mehr danach um.
Die Kränze und Girlanden waren verwelkt und abgenommen, und die weißen Festkleider mit den schwarz-weiß-roten und blau-weiß-roten Schärpen hingen längst wieder in den Schränken. Aber etwas seltsam Feierliches und Festliches war dem Singsaal doch verblieben.
Darüber hatte noch niemand gesprochen, aber die jungen Seelchen spürten es, und es steckte sicherlich in den Pfeifen der Orgel und den Saiten des Flügels und in dem Lächeln der heiligen Cäcilie.
„Nun wollen wir recht schön die Tonleitern singen,“ sagte Lehrer Hansohm zur zweiten Klasse, „und wenn die so recht perlend fließen, dann...“
„Schubertlieder! Schubertlieder!“ zwitscherte es flüsternd durch die Reihen, und Sörine Heidekamp machte sich zum Mund der ganzen Klasse, hob den Finger und sagte laut und selbstverständlich: „Dann singen Sie uns wieder Schubert.“
Hansohm wehrte entsetzt ab. „Aber, meine Damen, wo denken Sie hin,“ rief er pathetisch.
Dann wurde er mit einem Male ganz ernst: „Wir wollen den schönen Tag der Schubertlieder in lieber Erinnerung behalten, aber ihr müßt nicht wieder quälen.“
Die Kinder sahen sich ängstlich und verstohlen an und schauten arg verstört auf den Lehrer, der ihnen heute unverständlich schien.
Sörine Heidekamp, die am wenigsten vermochte, mit[S. 46] unverstandenen Geschehnissen heimzugehen, stand wieder auf und fragte eindringlich: „War es etwas Unrechtes?“
„Nein, Sörine, dann hätte ich es ja nicht getan.“
„Großvaterli sagt, Sie hätten uns etwas außerordentlich Wertvolles gegeben, und wir dürften es nie vergessen.“
Dem jungen Lehrer stieg etwas in der Kehle hoch und er brauchte ein paar Augenblicke, um die Stimme zu meistern. Dann aber rief er fröhlich: „Ja, mein liebes Kind, wenn wir lauter Großvaterlis auf der Welt hätten.“ Da wär’ es leicht, Singlehrer am Lyzeum zu Birkholz zu sein. Den letzten Satz dachte er aber nur. Und nun sangen sie eine halbe Stunde Tonleitern und übten dann an einem kunstvollen Singspiel, die Maienkönigin genannt. Sörine Heidekamp sollte Maienkönigin sein, und es war niemand unter den vielen Mädels, das ihr die große schöne Rolle neidete.
Eine so wunderschöne Singstunde wurde es, daß man sogar das Läuten der Schulglocke überhörte.
Da steckte auf einmal der neue Herr Direktor Dr. Sörensen den Kopf zur Tür herein und rief ganz lustig: „Feierabend, Herr Kollege.“
Und er trat ein und gab jedem Mädchen die Hand und ließ sich den Namen nennen. Und er betrachtete Sörine Heidekamp, die ihm als schwarzes Schäflein genannt worden war, sehr eindringlich mit seinen scharfen, grauen Augen, und sie gab ihm den Blick sehr eindringlich und forschend zurück. Zum Schlusse mußten sie ihm noch ein dreistimmiges Lied vorsingen, ein Heidelied wünschte er sich und lauschte mit gefalteten Händen:
Man fühlte, so hatte man dieses Lied noch nie gesungen, und man war stolz, wie sich der Herr Direktor darüber freute.
Bis der Schuldiener Harks gelaufen kam.
Der war ein Original und fürchtete sich weder vorm Teufel, noch vor der hohen Obrigkeit.
Trocken meldete er: „Es ist halb eins und gegen die Schulordnung.“
Da lachte der Direktor herzlich und klopfte dem alten, grimmigen Harks auf die Schulter, und der machte mit eins ein ganz frohes Gesicht.
Denn es war etwas Neues, was er da hörte. Weil in all den Jahren, die er in Birkholz wirkte, nicht gelacht worden war im Lyzeum. Deshalb lag ja auch der Schulstaub so massig und schier unbeweglich und lastete auf dem Gebäude wie ein Sargdeckel. —
„Gehen wir noch ein Stückchen zusammen, Kollege?“ fragte Direktor Sörensen, „ich nehme immer gern ein paar Atemzüge frischer Luft, ehe ich mich zum Mittagsmahl setze. Und da Sie Junggeselle sind, kommt es Ihnen wohl nicht so auf die Verspätung an.“
Hansohm verbeugte sich. „Bin eigentlich nur ein halber Junggeselle, Herr Direktor, denn ich habe meine Schwester bei mir. Die schwingt das Szepter der Pünktlichkeit und erzieht ihren Bruder.“
Eine Wolke flog über sein offenes Gesicht. „Aber heute bin ich ausnahmsweise auf das Gasthaus angewiesen. Meine Schwester ist oft leidend. In solchen Fällen erlaube ich es nicht, daß sie am Herd steht.“
„Ei, so werden wir jetzt einen kurzen Heidespaziergang machen und dann essen Sie bei mir. Habe ich auch weder Mutter noch Schwester zu Hause, so ist doch Frau Dietz die Perle einer Wirtschafterin.“
Klaus Hansohm schlug ein in die dargebotene Hand.
Rasch schritten die beiden Herren aus.
Die ganze Herbheit des Vorfrühlings lag über der Heide. Licht und klar war der Himmel, und der April schien seine Launen zu verleugnen. Über eine alte Steinbrücke wanderten sie, darunter die klare Luhe rieselte. Kraftstrotzende Baumäste breiteten sich darüber.
„Nun fangen die Weiden zu blühen an,“ sang Hansohm und warf seinen Hut in die Luft wie ein Schuljunge. Er vergaß offenbar ganz, neben wem er ging, und Erne Sörensen war nicht willens, zu kopfschütteln und den Vorgesetzten herauszubeißen. Diese frische Jugend da neben ihm durfte außerhalb der Schule urwüchsig sein. —
„Sie müssen mich ein wenig orientieren,“ bat Sörensen. „Wie heißt das Gewese dort rechts, wie nennt sich weit am Horizont das Dorf mit dem ragenden Kirch[S. 49]turm? Und der Hügel dort links — ist’s ein Hünengrab oder steht ein verfallener Wartturm darauf?“
„Beides, Herr Direktor. Die Topographie ist rasch erledigt. Alles, was Sie sehen, möcht’ ich fast sagen, ist Heidekampisch. Bis auf den Himmel, der immer noch dem lieben Gott gehört.“
„So, so, von Heidekamp-Birkholz. Ich wundere mich baß, daß dieser reiche Grundherr sein Enkelkind in so demokratischer Umgebung erziehen läßt, wie unser Birkholzer Lyzeum ist.“
„Es wird alles wohlüberlegt von ihm sein,“ meinte Lehrer Hansohm. „Die kleine Sörine soll nicht weltfremd aufwachsen. Sie soll genau wissen, wieviel Divisoren es in der Welt gibt, auf daß sie diese Kenntnis bei ihrem Reichtum verwertet und nicht in den Tag hineinlebt. Und das tut sie auch nicht, weiß Gott. Ihre Augen gehen durch Mauer und Holz.“
„Man sollte meinen, Kollege, Sie sprächen von einer reifen Frau und nicht von einem Kinde, einem Backfischchen, einem unbotmäßigen Rädelsführer der arg berüchtigten zweiten Klasse.“
„Das ‚Kind‘ lasse ich gelten, ein reines, liebes Kind ist die Sörine,“ sagte Hansohm warm. „Alle anderen Bezeichnungen lehne ich ab. O Herr Direktor, wie freue ich mich, wenn Sie erst all das Neuland durch Ihre eigene Brille sehen werden! Jetzt ist es noch die aufgezwungene von Kahl und Genossen...“
„So scharf, Kollege? — Aber ich freue mich, daß die geschmähte zweite Klasse ihren Ritter ohne Furcht und[S. 50] Tadel gefunden hat. Ein Idealist in der Schule oder besser im Lehrerzimmer wirkt gewöhnlich wie Sauerteig. Übrigens habe ich jetzt auf dem kurzen Wege durch die verschiedenen Begegnungen, sowie des öfteren in der Schule die Beobachtung gemacht: Sie sind ein rechter, echter Kinderfreund, Kollege?“
„Herr Direktor, ich bin Lehrer.“
„Und der Überzeugung, ich seh’s Ihnen an, diese Begriffe müßten sich immer decken? Wie ist das erfrischend für mich. Wie wertvoll der heutige Spaziergang.
Ich mache kein Hehl daraus, daß ich noch tastend und suchend in diesem Birkholz herumwandre, ich möchte weder durch rosenrote, noch durch geschwärzte Brillen schauen, ein möglichst wahrhaftiges Bild mit allen Licht- und Schattenseiten wäre mir das liebste.“
„Herr Direktor, die altertümliche Stadt ist entzückend. Und die Birkholzer Heide hat Gott in einer Feiertagsstunde geschaffen.“ Hansohm sah mit dürstenden Augen auf seine Heimat. „Auch die herzbraven Menschen, die unter der gleichfalls vorhandenen Minderwertigkeit doppelt hervorleuchten, werden sich rasch in Ihr Herz und Ihre Liebe hineinstehlen.“
„Und das Lyzeum, das Kollegium, die zweihundertfünfzig anvertrauten Kinder? Kollege Hansohm, helfen Sie mir, den Pessimisten Sörensen einzuschläfern...“
„Den Pessimisten? Bin ihm ja noch gar nicht begegnet ...“
„Doch, doch, er ist nicht ganz wach, — aber Kahl und Genossen könnten ihn rütteln...“
„Ich fürchte sie nicht mehr. — Herr Direktor, Sie sind sehr gütig mit mir gewesen, — man hat mich all mein Lebtag nicht verwöhnt mit Güte, aber erst recht nicht den Seminaristen im Lyzeum von Birkholz. Und nun kommt mit Ihnen plötzlich etwas herein, das aussieht wie Morgenrot und Sonne... alle Fenster in den muffigen Schulstuben will ich aufsperren...“
Mit frohem Gesicht sah Sörensen auf seinen jungen Begleiter: „Warum haben Sie nicht geheiratet, Kollege? Oder ist die Frage unzart? Macht sie Ihnen Beschwer? Dann antworten Sie nicht.“
„Nein, nein, ich habe nichts zu verhehlen. Ich fürchte nur, ausgelacht zu werden, Herr Direktor... Ich, ich mache nämlich zu hohe Ansprüche an meine Zukünftige, deshalb fand ich noch nicht die Rechte.“
„Zu hohe Ansprüche?“ fragte Sörensen sinnend...
„Ja, Herr Direktor. Nicht auf Grund meines Einkommens von 1500 Mark, das bewahrt mich immer erfolgreich vor Größenwahn. — Aber — ich hatte kein gutes Elternhaus. Mein Vater war Volksschullehrer und hatte sich in unreifen Jünglingsjahren, sagen wir’s hart heraus — verplempert. Die Mutter... ersparen Sie mir die Schilderung —. Sie trieb den Vater in Trunk und Schande. Nun, mich hat das alles erzogen. Auf dem Seminar stopfte ich mir Watte in die Ohren, um den Sirenen zu entgehen. Es war damals manch eine, die hinabziehen konnte...“
Hansohm hielt erschreckt inne, denn sein Direktor sah mit einem Male fahl und blaß aus. Dazu klang die Stimme[S. 52] seltsam und gepreßt: „Und doch konnten Sie sich die sonnigen Augen erhalten? Konnten so fromm und voll Liebe auf Ihre Heimat sehen? Wer lehrte Sie das, Kollege Hansohm?“
„Frau Musika, Herr Direktor. Sie ersetzt mir das Weib... Und,“ fügte er mit trocknem Humor hinzu, „Kinder gebar mir ja das Lyzeum, 250 Stück. —“
„Die Spottdrossel hat bei Ihnen ihr Nest dicht neben der Nachtigall,“ sagte Sörensen ernst, „— aber ich höre das Duett gern. Kollege, — Sie werden einem Einsamen manchmal eine Stunde schenken, wollen Sie?“
„Von Herzen gern!“ Aber Hansohms Auge streifte besorgt das tief verfinsterte Gesicht des Vorgesetzten.
Die Herren schritten durch das Steinere Tor ins Städtchen. Am Torpfeiler hatte eine Blumenfrau ihren Stand, und Direktor Sörensen wählte Weidenkätzchen und gelbe Osterblumen zu einem großen Strauß.
„Die bekommt Ihre Schwester. Sie zürnt mir sonst, daß ich den Bruder jetzt erst bringe und dann gleich wieder entführe.“
„O Herr Direktor!“ Ein rasches Erröten, das den jungen Lehrer gut kleidete, flog über sein Gesicht und stieg bis in das blonde Haar hinauf. —
„Da sind wir schon.“ Klaus Hansohm öffnete eine Tür. Der helle Dreiklang eines Glockenspieles tönte. Ein winziger Flur mit einer altmodischen messingbeschlagenen Kommode und ebensolcher Uhr tat sich ihnen auf. Eine klangvolle, junge Stimme rief: „Bist du es, mein Junge?“
Und dann öffnete sich ein Raum und auf der Schwelle[S. 53] stand ein junges Mädchen, ein entzückend schöner Kopf auf armem, verwachsenem Körper.
In die durchsichtig weißen Hände legte Direktor Sörensen seine Blumen, und die Augen der Kranken lächelten. Dann führte er sie sorgsam zu dem altmodischen Ohrenstuhl, der am grünen Kachelofen stand.
„Sie haben hier ja ein wahres Raritätenkabinett,“ scherzte er. Und zeigte bewundernd rings herum auf die alten Stahlstiche und schön geschwungenen Möbel. „Das ist ja Urväterhausrat. Ich beneide Sie. —“
„Das hat mir alles der Klaus hier zusammengetragen. Alles ist ihm Bild und Rahmen und dann macht er noch die Musik dazu.“ Sie lächelte zu dem Bruder hinüber mit rührendem Stolz.
Die Herren hielten sich nicht lange auf.
Aber die Zeit genügte doch, um das Stübchen der Leidenden licht zu machen. Und die ritterliche Art des fremden Mannes ließ einen Schimmer zurück von dem, was die Welt da draußen Glück und Jugend nennt.
Lehrer Klaus Hansohm wäre wohl am liebsten daheim bei der Schwester geblieben, hätte gern ganz still und besinnlich im großblumigen Sofa gesessen. —
Der Tag hatte ihm so viel Reichtum gegeben.
Nun wogten allerhand Melodien in seinem Kopf und seinem Herzen, die er noch nicht meistern konnte.
Er stieg mit seinem Direktor die breiten Steinstufen des alten Patrizierhauses hinauf, die von der mächtigen Diele zum Eßzimmer führten. —
Klaus Hansohm machte seine Augen weit auf, denn[S. 54] nun war ihm, als sähe er seinen Vorgesetzten wieder in einer ganz anderen Gestalt. Hoch und breit und festgefügt stand der Goliath Erne Sörensen in diesem hohen, breiten und festgefügten Hause als Hausherr und Gastgeber. Und Lehrer Hansohm lauschte mit dem Ohr eines Kenners seiner klangvollen Stimme, die einer noch unsichtbaren Person Befehle erteilte.
Belustigt fing sein Ohr das Gespräch auf:
„O Herr Direktor! So spät? Alles verbratzelt und verbruzelt! Und ohne Entschuldigung? Und dann noch ein Gast? Das geht gegen meine Ehre und Reputation. Und ist das christlich, noch um halb drei Uhr Mittag essen zu wollen?“
Dann das schöne sonore Lachen und die herzgute Stimme: „Aber, Frau Dietz! Gleich machen Sie frohe Augen. Sie fahren mich ja an, als ob wir verheiratet wären. —“
**
*
Komm her, mein alter Foliant.
S’ ist Nacht, und der Birkholzer Lyzeumsdirektor sollte längst zur Ruhe sein. Aber du lachst und lockst, liebes Buch, — beinahe, als ob du eifersüchtig seist. Eifersüchtig auf neue Freunde. Gönne sie dem Einsamen.
Hellichte Freude habe ich am jungen Hansohm und seiner armen, lieblichen Schwester. Freude habe ich am ehrlichen Senior Rasmussen, Freude an der streitbaren Oberlehrerin Dr. Stavenhagen.
Wir beide werden noch manche Klinge miteinander kreuzen. Aber im Grunde sind wir uns bereits sehr gut.
Zähle ich dann noch den knurrigen Schulwart Harks und die junge, unbedachte Hilfslehrerin Fräulein Hanni Freitag dazu, so habe ich alle aufgezählt, die mir wohl Freund sind. Und was habe ich den anderen getan?
Sentimentale Frage. Niemand beantwortet sie.
Der Senior Professor Rasmussen und ich wußten nach dem ersten Blick, daß wir uns gefielen.
Professor Traute ist sehr unsympathisch. Ein Frömmler, mit einem unsichtbaren, aber trotzdem sehr unangenehm wirkenden Heiligenschein. In seiner Gefolgschaft Fräulein Nissen. Hermione. Und so sieht sie auch aus. —
Als dritter im Bunde Oberlehrer Kahl.
Eine Art homo sapiens Linné, mir verhaßt, seit ich denken kann. Er gehört zu jenen, denen der Mensch nur Vorgesetzter oder Kollege ist.
Es mag ja nicht genehm für die alten Knaben sein, plötzlich einen jungen Mann als Vorgesetzten zu bekommen, — nun ich bin wahrhaftig ohne Vorurteil an dies Kollegium herangegangen, und das Verhalten vom Senior zeigt mir auch, daß ich den rechten Ton traf.
Und doch dieser passive Widerstand von Traute und doch die mühsam beherrschte Gereiztheit von Kahl.
Mein Vorgänger war wohl schon etwas überreif, viel krank und ruhebedürftig. Er hat die Zügel locker in seinen alten Händen gehalten und ist einfach froh gewesen, wenn andere die Karre kutschiert haben.
Nun gehöre ich ja nicht zu den Direktoren, die, kaum[S. 56] im neuen Amt, alles bisher Bestehende verwerfen. Schuldiener Harks hatte allerdings damit gerechnet, denn gestern morgen fragte er: „Der Spucknapf des vorigen Herrn Direktors ‚haben‘ immer links von dem Schrank gestanden, soll ich ihn jetzt rechts stellen?“
„Aber, Herr Harks! Traditionen soll man heilig halten, ich bin ein pietätvoller Mensch.“
„Dann müssen also Herr Direktor scharf in die linke Ecke zielen,“ meinte er ernst, entfernte sich und ließ mich mit dieser Instruktion zurück. —
Ich verweile noch bei Harks. Der Mann ist mir lieb, ich mag ihn gern um mich haben. In seinen seltsamen Augen steht Gram zu lesen, aber er weicht scheu aus, und ich will mich nicht in sein Vertrauen drängen. Auch das Gesicht seiner kleinen verhutzelten Frau zeigt einen ängstlichen Ausdruck. Und doch soll mein Vorgänger ein humaner Mann gewesen sein, dem man vielfach sogar Schwäche gegen seine Untergebenen vorwarf.
Mancherlei Beobachtungen habe ich schon gemacht. Harks Augen können grimmig, ja tückisch aufblitzen, wenn Professor Kahl nach dem „Schuldiener“ ruft.
Ich ehre in Harks den alten Feldwebel und seinen Zivilversorgungsschein. Nenne ihn deshalb „Herr Harks“ und seine schüchterne Frau „Frau Kastellanin“.
Denn die meisten Frauen sind glücklich unter einem Titel. —
Ich werde nicht zu befürchten haben, daß Harks über den Strang schlägt. Er ist ein rechter Hüter der Schulzucht. Daß er nicht wünscht, den einst so allmächtigen Feld[S. 57]webel in dem Begriff „Diener“ untergehen zu sehen, kann ich ihm nicht verübeln. Und ich meine, der unermüdliche, alte Mann ist hier erst recht eine gute Kompagniemutter und in dem großen Betrieb wohl am Platze.
Heute nachmittag war Klassenkonferenz.
Ich werde mit diesen Dingen sparsam umgehen. Denn ich kann ja vieles selbst erledigen, und die schönen Nachmittage sind den Kollegen und mir gleich wertvoll. Aber dem Vorschlag von Oberlehrer Kahl, im Anschluß an die Schule zu tagen, konnte ich nicht beistimmen. Denn wichtige Konferenzen sollen nicht mit knurrendem Magen und Uhr in der Hand erledigt werden, und daß keine unwichtigen stattfinden, dafür will ich schon sorgen. Die heutige bedeutete allerdings viel Lärm um einen Eierkuchen. Wieder einmal die zweite Klasse!
Aber es schien mir, als sei diese nur vorgeschoben, als sollte eigentlich Herr Klaus Hansohm gezaust werden.
Die erste Enttäuschung für mich. — So rückständig ist Birkholz? Die Müllerlieder von Schubert ungeeignet für die zweite Klasse eines Lyzeums.
Himmel, zu welchen Verstiegenheiten sich die Herren hinreißen ließen. „Minderwertige Persönchen!“ „Frühreifes Gebaren!“ „Nicht scharf genug zu tadelndes Verlangen, das in der Schule verpönte Thema ‚Liebe‘ auf Umwegen kennen zu lernen.“
Wackerer Kämpe Hansohm! Er fuhr mit den Herren ab, daß sie heiße Ohren kriegten. Und ich ein warmes Herz. —
Oberlehrer Kahl focht einen unrühmlichen Strauß mit ihm.
Als er schließlich von „Unlauterkeit“ sprach, der ein Lehrer Vorschub leiste, stellte ich mich auf Hansohms Seite, mit mir die anderen, mit Ausnahme von Professor Traute, Fräulein Nissen und Lehrer Asmus.
Letzterer auch so ein Scharfmacher.
Er führt die neunte Klasse als Ordinarius. Vertrat neulich Hansohm in der siebenten Klasse in Deutsch. Hansohm hat die Kyffhäusersage behandelt, und Asmus las ihnen in jener Vertretungsstunde das Gedicht vom Kaiser Rotbart vor. Wie er den Bart schildert, der durch den Tisch gewachsen ist, erhebt sich Lottchen Binnebom und ruft: „Das glaub’ ich nicht.“
Diesem „Fall“ ist Asmus nicht gewachsen gewesen. Und, Gott sei’s geklagt, die große Mehrheit im Kollegium heute besprach die Sache mit einer Ernsthaftigkeit und Bedenklichkeit, daß ich mich ein paarmal versucht fühlte, sie mit den dicken Köpfen zusammenzustoßen.
Der Humor scheint keine Hüsung im Lyzeumsgebäude zu haben, ich will nicht hoffen, daß er überhaupt außerhalb von Birkholz wohnt.
Jedenfalls aber sah ich heute Hansohm, wie er Lottchen Binnebom an der Hand führte, und nach den vertrauensvollen Augen der kleinen Zweiflerin zu urteilen, hat sie längst die rechte Antwort bekommen.
Morgen will ich meine Besuche in der Stadt machen... Harks erzählte, die Frau Apotheker Dahlen habe dazu neue Gardinen aufgesteckt. Da sich Harks augenschein[S. 59]lich selbst geehrt fühlte, unterließ ich jede Bemerkung. Diese Besuche quälen mich.
Bis jetzt durfte ich einsam sein. All die Jahre hindurch. Köstlich einsam. Und nun bringt mir das neue Amt den herben Zwang.
Sonntag abend.
Diese Sonntage sind etwas unbeschreiblich Schönes in Birkholz.
Es sind die Sonntage der alten, guten Zeit, Sonntage der Kleinstadt, ja fast eines einsamen Dorfes.
Von Jugend her bin ich’s gewohnt, die Sonntage hochzuhalten. Ein Schulmeister ohne Sonntag ist wie ein Haus ohne Dach.
Um neun Uhr beginnt die Kirche.
Pastor Ohlsen ist keine große Leuchte. Vielleicht hätte mir ein Heidespaziergang an diesem leuchtenden Frühlingsmorgen mehr gegeben. Aber den Birkholzern wäre er ein Ärgernis gewesen. Sie waren alle in der Thomaskirche versammelt und schauten auf meinen „Stuhl“. Denn in Birkholz ist die Kirche so eingerichtet, wie die Frommen sich den Himmel denken, alles hübsch nach Rang und Stand geordnet.
Wie ich die Birkholzer kenne, haben sie das feste Vertrauen, daß der liebe Gott niemals droben einen „Adler der Inhaber“ über einen „Roten Adler“ setzen wird.
Vor mir lag das Gesangbuch meines Vorgängers und sogar seine Lupe daneben. Ich benützte beides nicht, denn das Gesangbuch meiner alten Mutter begleitet mich immer als Talisman. Pastor Ohlsen ist ein rechtes Kindergemüt,[S. 60] ihm scheint nicht viel verquer gegangen zu sein in seinem langen Leben. Er erzählte mir, als ich nach der Kirche ihm als ersten meinen Besuch machte, daß er Birkholzer Kind sei, das Birkholzer Gymnasium „absolvieret“, in Erlangen „studieret“, sowohl auf der Universität, als auch bei „Vater Mörsch“, wie er behaglich lächelnd hinzusetzte. Dann seine erste und einzige Liebe, ein Birkholzer Kind, geheiratet, und nun Gott Lob und Dank wieder seit vierzig Jahren in Birkholz wirke. „Ja, ja, mein lieber junger Freund, ein reichgesegnetes Dasein! Ich bin allezeit mit Gottes Hilfe wie auf Hefe gegangen, mein Vater war ja auch der Bäckermeister Ohlsen auf der Ringstraße.“ Die rundliche, kleine Frau Pastorin belachte glucksend den Witz, der gewiß seit vierzig Jahren ständig wiederkehrt, und ich lachte mit, und verließ Philemon und Baucis mit dem dringend erbetenen Versprechen, oft bei ihnen einzukehren. Dies Versprechen halte ich gern. Sie sollen ihren Herzensfrieden mit mir, dem Friedlosen, teilen...
Die anderen Besuche mußte ich kürzer bemessen.
Mir fielen die außerordentlich vielen Töchter auf, denen ich vorgestellt wurde, und ich mußte an den Spötter Hansohm denken, der mich vorbereitete, daß für diesen Sonntag alle auswärts beschäftigten Töchter mittels Telegramm herangerufen wären.
Postdirektor Hagedorns scheinen mir am weitesten über das Birkholzer Niveau herauszuragen, — ganz prächtige Menschen. Drei niedliche Mädchen und drei stramme Buben tummelten sich im Garten. Die Mädelchen wurden glühend rot, als sie mich sahen, vergaßen vor Verlegenheit[S. 61] das Knixen und steckten Zopfbänder in den Mund. Aber die Buben, dank ihrer Unbefangenheit einem „Mädelsdirektor“ gegenüber, übernahmen lärmend die Führung zur Dienstwohnung ihres Vaters. Ich habe in eine glückselige Ehe Einblick getan, das ist ein rechtes, gegenseitiges Heben und Tragen bei diesen zwei Menschenkindern.
Ich möchte wohl wissen, warum dieser geistig bedeutende Mann an der postalischen Majorsecke gescheitert ist, zumal die junge Frau die Tochter eines Regierungsrates aus Schleswig ist.
Landrat von Thadden konnte mit einer englischen Frau und zwei langnasigen, langzahnigen und bleichsüchtigen Töchtern von dreizehn Jahren aufwarten. — Der Mann ist sehr sympathisch, aber die Frau fällt mir wie alles Englische auf die Nerven. Sie setzte mir mit der ganzen Rücksichtslosigkeit der Engländerin auseinander, wie viel besser eine Erziehung im Hause als in der Schule sei. Als unser Gespräch beendet war, wußten wir beide, daß wir uns nicht ausstehen konnten.
Dafür bedachte mich die magere Miß, welche die Erziehung von „Mary“ und „Ellen“ leitet, mit einem langen Blick, der gar nicht mager war und den man ihren wasserblauen Augen nicht zugetraut hätte. —
Erst sehr spät, es war schon zwei Uhr, hielt mein Wagen vor dem Herrenhaus Heidekamp-Birkholz.
Am Eingang des Parkes steht dort ein Riesenbaum. Die Thingeiche. Ein ungefüger Steintisch darunter und abgeplattete Riesensteine rings herum.
Der Historiker in mir wurde hellwach. Ich hieß den[S. 62] Kutscher langsam fahren, um das Bild recht zu genießen. Auf dem Steintisch lag eine Schulmappe und verstreute Bücher, aber Sörine Heidekamp, die doch augenscheinlich dazu gehörte, konnte ich nirgends entdecken. Bis ein Löschblatt vom Himmel fiel und ich aufblickend ein paar derbe Stiefel gewahrte, die mit den dazugehörenden Füßen hoch in den Ästen der Eiche standen.
„Ist der Herr Großvater zu Haus?“ rief ich hinauf und: „Jawohl, Herr Direktor!“ schallte es herunter.
Ein alter, in schlichte, braune Livree gekleideter Diener öffnete mir die Wagentür und lud mich zum Nähertreten ein.
Die große Diele war für mich hochinteressant durch den Schmuck der Riesengeweihe und der alten Gemälde und Kupferstiche. Ich wanderte und schaute und vergaß schier den Zweck meines Hierseins. Die Zeit verstrich, — dann kam der Diener zurück und meldete mit ebenem Gesicht, „daß Herr Baron von Heidekamp nicht zu sprechen seien“.
Als ich rasch meinen Hut vom Tisch nehmen wollte, huschte plötzlich etwas Graues in die Diele. Fast möchte ich jetzt sagen, wie ein großes Spinngewebe sah die alte Dame aus. —
Flehend hob sie ihre feinen, runzligen Hände.
„O Herr Direktor! Nicht ungehalten sein! Der Herr Baron — — hat — eine wunderliche Abneigung gegen alle Lehrer, mein Gott...“
Sie haschte nach meinen Händen.
„Aber gnädige Frau...“
Da wehrte sie hastig ab.
„Fräulein von Schlieden,“ stellte sie sich vor. „Ich war die Erzieherin von Sörines verstorbener Mutter und sollte auch das Kind unterrichten. Aber ich bin alt, und Sörine soll unter Jugend groß werden. Ach, Herr Direktor, Staub ist so etwas Schreckliches. Nicht wahr, Sie werden die Birkholzer Kinder, und besonders unsere Sörine, vor Staub bewahren?“
Rührend bittend, hilflos sahen ihre guten Augen mich an. Eine seltsame Situation.
„Könnt ich Sie doch öfters einmal sprechen: Möchte Ihnen so innig das Kind ans Herz legen. Es hat mir von Ihnen erzählt...“
Ich drückte dem grauen Spinnwebchen die Hand.
„Gnädiges Fräulein und Kollegin, ich freue mich, wenn Sie Ihr Weg zu mir führt. Vielleicht treffe ich Sie auch einmal auf einem unserer Elternabende, da können wir...“
Ein polternder Schritt näherte sich, ein Stock stieß in regelmäßigen Abständen auf den Boden auf, und mit eins war das Spinnwebchen verschwunden, weggeblasen, um die Ecke geweht.
Ich schritt zu meinem Wagen, lachte aber auf der Diele ganz herzhaft und ungeniert. Denn ich hörte eine dröhnende Stimme rufen: „Tausend nochmal, Grauchen, das paßt Ihnen wohl auf die alten Tage, ein Stelldichein mit einem jungen Schulmeister...“
Der alte Diener stand am geöffneten Wagenschlag, und sein Gesicht war weniger eben als zuvor.
Es zuckte um seine Mundwinkel.
Ein wenig prallte ich auch zurück, als ich einsteigen wollte, aber die Pferde zogen rasch an, und so ergab ich mich in mein Schicksal, in einem Blumenkorb zu sitzen. Denn der Wagen war inzwischen heimtückisch geschmückt worden, ein ganzes Gewächshaus schien geplündert zu sein. Chrysanthemen und Alpenveilchen lagen zum Strauß geordnet auf dem Rücksitz. Maiblumen waren anmutig lose in die Fensterrahmen gesteckt, und feine grüne Gräser zogen sich als Girlande über die Lehne des Vordersitzes.
Aus den Zweigen der Thingeiche lugte ein Schelmengesicht. Merkwürdig standen darin die großen ernsthaften Blauaugen. Ein wunderschönes Kind! Und ein interessantes Seelchen dazu. Man könnte die alte Eiche beneiden um das nette Früchtchen, das sie trägt.
Ich drohte mit dem Finger aus dem Fenster heraus.
Da hört ich das Mädel silberhell lachen. Lachen, wie ganz junge Kinder tun, denen die Welt noch ein einziger Freudenquell, die Menschen lauter gute Mitwanderer sind. Ein Lachen recht aus dem Herzensgrund heraus.
Erne Sörensen, alle Schulweisheit gäbst du darum, so lachen zu können, wie die junge Sörine Heidekamp.
**
*
Es klopfte an die Tür des Direktorzimmers.
Erne Sörensen saß in tiefer Arbeit.
Die Feder flog über den großen Bogen, der einen Bericht an die vorgesetzte Behörde aufnehmen sollte.
Vom Singsaal her tönten die gedämpften Laute eines Liedes, und der Schreibende ließ für Augenblicke die Feder sinken und lauschte. Das alte Lied, das ihm die Mutter manchmal gesungen... Wie gut, daß Lehrer Hansohm diese Perle ausgegraben und in die Hände seiner Schülerinnen gelegt hatte.
Das Klopfen wurde jetzt kurz und energisch.
„Herein!“
Lehrer Asmus trat mit linkischer Unbeholfenheit ein. Er suchte sie durch übergroße Steifheit und Förmlichkeit zu verdecken.
Direktor Sörensen stand auf, ging in seiner liebenswürdigen Art dem Kollegen entgegen, rettete ein Tischchen mit Wasserkaraffe und -glas vor dem Umstürzen und stellte mit raschem Griff einen leichten Stuhl beiseite, dem das gleiche Schicksal drohte.
Denn Lehrer Asmus dienerte viel und heftig.
„Verzeihung, Herr Direktor, ich sehe, ich störe, Sie haben zu tun...“
„Ja, mein lieber Herr Kollege, zu tun habe ich immer, also stören Sie auch immer,“ scherzte der Direktor.
Aber Lehrer Asmus hatte keinen Sinn für Humor.
Er zog ein grämliches Gesicht.
„Dann will ich lieber gleich gehen...“
„Nun machen Sie keine Geschichten,“ sagte Sörensen ruhig. Er deutete mit einladender Handbewegung auf einen Sessel und Asmus setzte sich sehr steif nieder.
Sörensen kannte die Art, kannte genau die Abstufung dieses unglücklichen Temperamentes.
Zuerst das Devote, dem das Linkische folgte, das Förmliche, das mit leisen, streng abgemessenen Worten begann, um sich dann in große Heftigkeit zu steigern und zuletzt in lodernden Jähzorn auszuarten.
Das letztere aber nur zu Hause. In der Schule und im Lehrerkollegium hatte sich Asmus immer noch in den Grenzen gehalten. —
„Herr Direktor — — ich komme sozusagen in einer privaten Angelegenheit...“
„Aber, Herr Kollege...“
„Bitte, Herr Direktor, ich weiß wohl, was Herr Direktor jetzt sagen wollen, — aber — es ist sozusagen sowohl Schul- als Privatsache...“
Sörensen schielte nach seinem unvollendeten Bericht.
„Es ist schade, daß Herr Direktor keine Zeit zu haben scheinen...“
„Herr Kollege Asmus, ich habe Zeit für Sie und bitte Sie nur, zur Sache zu kommen.“
„Jawohl, jawohl. Also ich sagte, es sei sowohl Schul- als Privatsache“ — — —
Eine längere, peinliche Pause entstand, und mit einem Mal kam der Zorn. Viel rascher als der Direktor gehofft[S. 67] hatte. Asmus sprang auf. Fast hätte er auf den Tisch geschlagen. — Der große, ruhige Blick des Vorgesetzten bannte ihn. —
Heiser rief er:
„Ich beschwere mich über die Schülerin der zweiten Klasse Sörine von Heidekamp, ich beschwere mich über den Herrn Professor Rasmussen, über das Fräulein Oberlehrerin Dr. Stavenhagen und über den Lehrer Hansohm.“
Direktor Sörensen schüttelte den Kopf. „’n bißchen viel auf einmal,“ sagte er, aber dann nahm er die eiskalten Hände des zornigen Mannes in seine eigenen lebens- und gemütswarmen.
„Erst mal ruhig werden.“ So gütig klang die beherrschte Stimme, als sei es der Ältere, der einen jungen Heißkopf beruhige. Sörensen schenkte ein Glas voll Wasser, das der Erregte in einem Zuge austrank.
„So, Herr Kollege. Nun los. Die Beschwerde scheint mir aber doch lediglich Schulsache zu sein.“
„Darüber wollte ich Ihren Rat erbitten, Herr Direktor. Die eigentliche Ursache liegt in meiner Privatwohnung ...“
„Ich verstehe nicht recht...“
„Dann habe ich mich wohl unrichtig ausgedrückt. Die Privatwohnung ist natürlich nicht Ursache, aber...“
Sörensen warf einen Blick zur Decke seines Zimmers. „Gehören die vier genannten Personen als gemeinsame Gruppe zu Ihrer Beschwerde?“ fragte er sachlich.
„Jawohl, Herr Direktor.“
„Nun darf ich wohl bitten, daß Sie mir im Zusammenhang über das Vorgefallene Aufschluß geben?“
„Jawohl, Herr Direktor. Es ist gestern in der zweiten Klasse, als Fräulein Nissen eine Deutschstunde hielt, etwas Ungehöriges vorgekommen.“
„Wahrhaftig! Wieder einmal?“
„Herr Direktor, Ihr Ausruf macht mich sehr glücklich. Denn ich sehe daraus, daß Herr Direktor wissen, wie, wie — ärgerniserregend diese Klasse im allgemeinen ist...“
„Weiter, weiter,“ drängte Sörensen.
„Ja, — denn gestern war leider, leider...“ Asmus trocknete sich den Schweiß von der Stirn — „meine Tochter Agnes Ursache dieser betrübenden Tatsache. Sie hatte ihr Taschentuch vergessen...“
„Lappalie,“ stieß Sörensen hervor.
„Ich muß sehr bitten, das ist keine Lappalie,“ ereiferte sich Asmus, „meine Tochter Agnes hat alle erforderlichen Utensilien einer ordentlichen Schülerin mit in die Schule zu bringen, dafür ist sie eben die Tochter des Lehrers Asmus, und wenn ich auch nur ein seminaristisch gebildeter Lehrer bin...“
Jetzt sprang Sörensen auf. Seine Zeit war knapp, der Bericht duldete eigentlich keinen Aufschub...
„Herr Kollege Asmus, was Sie da reden ist Un.... unrecht. Ich war auch einmal ‚seminaristisch‘ gebildet, ohne in meinen Augen auch nur einen Millimeter tiefer zu stehen, als jetzt. — Bitte weiter!“
Asmus ließ seine Fingergelenke knacken, was sich[S. 69] außerordentlich häßlich anhörte, aber es war ein Mittel von ihm, seinen Zorn zu unterdrücken. —
„Meine Tochter Agnes hat nun leider verabsäumt, Fräulein Nissen von dem betrüblichen Umstande des Vergessens Mitteilung zu machen. Da aber die Natur... sich nicht gebieten... läßt... so... hat... meine Tochter... so ist ihr... hm...“
Sörensens Nerven drohten aufrührerisch zu werden. Aber er meinte nur trocken: „Also sagen wir: ihr lief die Nase und sie mußte laut schnüffeln.“
„Aber, Herr Direktor — — woher wissen Sie...?“
„Weil ich auch mal klein war, Herr Asmus, wirklich —. So’n kleiner Junge.“
Und er hielt die Hand so tief auf den Erdboden, daß man sich wohl stark verwundern konnte, wie aus solchem Liliputaner der Riese Goliath entstanden war.
Sörensen zog die Uhr: „In fünfzehn Minuten ist Pause, — wollen Sie vielleicht heute nachmittag oder...?“
„Ich möchte es lieber gleich jetzt rasch erzählen.“ Asmus bekam einen roten Kopf. „Also, da hat Sörine von Heidekamp, die ja alles sieht und alles hört, meine Agnes gefragt, was ihr fehle, und hat ihr das eigene Taschentuch geborgt, darauf hat Fräulein Nissen gefragt, wer eben gesprochen habe, und Sörine von Heidekamp, die ja, das muß man ja zugeben, furchtloser, um nicht zu sagen frecher, ist als meine Tochter, hat sich wahrheitsgemäß gemeldet. Natürlich hat Fräulein Nissen sie eingeschrieben ...“
„Natürlich,“ schaltete Sörensen grimmig ein.
„Zu Hause ist dann aber doch noch alles herausgekommen. Denn meine Frau denkt genau wie ich. Sie hat Agnes’ Schulmappe wie jeden Tag revidiert und hat gesehen, daß sie auch ein Deutschheft in der Schule vergessen hatte, dann fand sie die leere Kleidertasche, darin das Tuch fehlte...“
In Sörensen kroch der Zorn hoch.
„Ihre Gattin ist sehr ordentlich,“ bemerkte er.
„Ja sehr,“ betonte Asmus, „Gott Lob und Dank. Sie war ja auch früher Lehrerin. Agnes bekam sofort von ihr eine feste Ohrfeige für die Bummelei und dann nahm ich sie mir extra vor für die Störung in der Schule. Dabei ging es denn heißer her als bei der Mutter...“
„Noch heißer? Herr Kollege? Ihre Agnes ist ein zartes, recht verschüchtertes Mädchen, dazu schon fünfzehn Jahr alt, ich meine denn doch, daß körperliche Züchtigungen ...“
Asmus stand auf.
„Herr Direktor, das ist lediglich meine eigenste Angelegenheit, ich bin der Vater...“
„Herr Kollege Asmus, Sie mißbrauchen meine Geduld. — — — Wollen Sie meinen Rat in Ihrer Angelegenheit oder???“
Beide Männer standen sich jetzt gegenüber. Asmus ganz weiß vor Zorn, eine rote Ader lag ihm quer über der Stirn.
„Ich müßte ja wohl jetzt gehen, Herr Direktor, — aber — — genug, — ich habe meine Agnes gezüchtigt, Sörine von Heidekamp ist dazugekommen, sie aß einmal[S. 71] wieder in der Stadt, — kurz, dieses Mädchen hat — Herr Direktor, — sie hat meinen Stock über ihrem Knie in zwei Stücke gebrochen und mir die Stücke vor die Füße geworfen. —“
Sörensen murmelte: „Das Mädchen hat Ihre Agnes sehr lieb...“
„Billigen Herr Direktor die Handlungsweise??“ Asmus wußte augenscheinlich nicht mehr, was er sprach.
Es klopfte scharf.
„Herein.“
Klaus Hansohm sah befremdet auf Direktor und Kollegen.
„Ich bitte um Entschuldigung, ich klopfte mehrere Male.“
„Ja, es ging etwas erregt bei uns zu. Sie wünschen?“
„Nur eine Frage, den Schulwart Harks betreffend. Aber sie ist doch nicht so einfach in zwei Minuten zu erledigen, ich werde wiederkommen.“
„Dann bitte ich Sie zu bleiben. Herr Kollege Asmus hat Klage über Sie geführt, so können wir gleich etwas vorarbeiten, da Professor Rasmussen und Fräulein Dr. Stavenhagen beide beschäftigt sind.“
Lehrer Hansohm zog mit straffem Ruck seine Weste glatt.
„Ich bin bereit,“ sagte er ruhig.
„Kollege Hansohm kommt mir gelegen,“ nahm Asmus das Wort. „Ich darf wohl fortfahren. Also ich wies nach dem unerhörten Gebaren Sörine von Heidekamp die Tür.[S. 72] Auf der Straße, die völlig menschenleer war, schalt ich noch mit ihr, da kamen Professor Rasmussen, Fräulein Doktor und Kollege Hansohm uns entgegen...“
„Wir kamen vom Mittagessen,“ warf Hansohm ein.
„... und Herr Professor Rasmussen beleidigte mich gröblichst.“
„Das ist nicht wahr,“ rief Hansohm ungestüm.
Der Direktor hob die Hände. „Herr Kollege Hansohm, augenblicklich hat Herr Asmus das Wort.“
„Ich überlasse es Herrn Hansohm,“ entgegnete dieser förmlich. „Ich habe korrekt gehandelt, und der Kollege kann gern seine Ansicht äußern.“
„Danke. — Sie gestatten, Kollege Asmus, — Sie haben nicht korrekt gehandelt. Halt! Jetzt rede ich. Sie haben Sörine von Heidekamp nicht die Tür gewiesen, was man mit dem Finger zu tun pflegt, sondern Sie haben sie im Jähzorn im Nacken gepackt...“
„Am Mantelkragen,“ schob Asmus ein. —
„Also gut! Am Mantelkragen, — und haben das junge Mädchen herausgeworfen, vor die Tür gesetzt. Sie waren so außer sich, so ohne alle Beherrschung, daß wir einschreiten mußten. Im übrigen schalten Sie so laut, daß es uns empörte, denn der Diener des Herrn von Heidekamp, der in der Straße auf und ab ging, muß es gehört haben. Er sah aus, als wolle er seiner jungen Herrin zu Hilfe kommen.“
„Seiner jungen Herrin! Seit wann machen Sie Kotau vor den Barons da draußen? Diese Liebedienerei[S. 73] macht ja die Sörine so aufsässig... Im übrigen, was geht mich der Diener an?“
Asmus zog die Mundwinkel verächtlich herunter.
„Na, erlauben Sie, Kollege, fragen Sie mal den Diener, ob er mit Ihnen tauscht. Er hat seinen Herrn auf allen Reisen im In- und Ausland begleitet, spricht drei fremde Sprachen und bezieht ein Gehalt von 4000 Mark.“
„So, Sie sind ja sehr unterrichtet, — in Dienstbotensachen.“
„Ach, Kollege, — Sie reizen mich gar nicht.“ Klaus Hansohm konnte unausstehlich liebenswürdig werden. „Sehen Sie, ich gestehe ein, daß ich den Mann beneide. Er spricht drei fremde Sprachen, ich nicht. Er wird in seiner Eigenschaft als Diener des Herrn von Heidekamp hoch estimiert in Birkholz, ich in meiner Eigenschaft als Volksschulmeister gar nicht, er hat 4000 Mark Gehalt, ich auch nicht schattenhaft, und außerdem hat er noch ’ne Livree mit Silberknöpfen...“
Sörensen hatte ruhig abwartend zugehört. Er liebte es, wenn sich das Kollegium „klärte“.
„Womit Sie Herr Professor Rasmussen und Fräulein Doktor beleidigten, höre ich wohl morgen in Gegenwart der Beteiligten?“ fragte er Asmus.
Dieser verneigte sich bejahend.
Hansohm trat in seiner raschen Art auf den Direktor zu. „Darf ich wenigstens heute noch meine Überzeugung aussprechen, daß Fräulein Doktor nicht hat beleidigen wollen. Sie nahm das verstörte junge Mädchen einfach an ihr Herz. Ohne ein Wort zu sagen. Kollege Asmus[S. 74] faßt es eben schon als Beleidigung auf, daß wir Sörine Heidekamp beruhigten. Ich geleitete sie zum Wagen, der auf dem Markte hielt. Der Diener eilte uns nach, und so rief ich ihr möglichst unbefangen zu: „Eine Empfehlung an den Herrn Großvater.“ Die einzigen Worte, welche überhaupt auf dem Wege fielen. Professor Rasmussen aber hatte nur einen väterlichen Rat an Herrn Asmus erteilt. —“
„Ich danke Ihnen, meine Herren.“
In Asmus’ Gesicht arbeitete der Zorn mächtig. Aber er wußte, daß er mit seinen Anklagen warten mußte, bis er den beiden andern gegenüberstand.
Sie gingen hinaus. Sörensen blieb in seinem Zimmer.
„Väterlicher Rat?“ nahm Asmus draußen streitsüchtig das Thema wieder auf. „Ich brauche keinen väterlichen Rat vom Senior. Es war lediglich eine Beleidigung. ‚Gehen Sie ins Bett, Kollege,‘ hat er mir zugerufen. Dieser... Gehen Sie ins Bett! In Gegenwart von Fräulein Doktor.“
„Na, Kollege, den Schlußsatz lassen Sie morgen lieber fort. So böse hat es Rasmussen nicht gemeint.“
Hansohm lachte spitzbübisch, und Asmus drehte ihm beleidigt den Rücken. —
**
*
Die Sonne schien flutend in den Singsaal und Sörine sang gerade ihr Maienköniginsolo, als sie zum Direktor gerufen wurde.
Sämtliche Kinder sahen ihr erstaunt nach, aber Lehrer[S. 75] Hansohm nahm gleich eine neue, ganz besonders schöne Stelle vor, und so wendete sich das Interesse der zweiten Klasse rasch wieder der Musik zu. —
Sörine stand vor dem Direktor.
Sie war auffallend blaß, und über ihren Augen hatte sich eine tiefe Falte eingegraben.
„Die Sache scheint dir nahezugehen, Sörine. Du hast deine frohen Augen nicht mehr. Nun denke einmal in deinem Trotz nicht daran, was dein Lehrer dir tat, sondern was du ihm tatest.“
Etwas wie Erstaunen zeigte sich auf dem blassen Gesicht, aber nur vorübergehend.
„Herr Asmus ist nicht mein Lehrer,“ sagte sie dann abweisend.
„Herr Asmus ist Lehrer am Lyzeum, — folglich...“ Sörensen brach kurz ab. „Ihr in der zweiten Klasse habt darüber wohl besondere Ansichten?“
„Ja.“
Was ist das nun? fragte sich Sörensen. Ist das die Heidekampsche Unverschämtheit, von der die Kollegen reden? Oder?
„Ich habe auch gar nicht über etwas nachgedacht, was Herr Asmus mir getan haben könnte.“
Der Direktor stutzte. Wie Freude stieg es in ihm hoch. Er hätte es selbst nicht so nennen können, denn er wußte seit langem nicht mehr, wie sich Freude kundtat. Leise sagte er zu sich: „Neuland!“ Laut aber: „Und worüber hast du nachgedacht? Was soll die krause Stirn und das bitterböse Gesicht?“
Sörinens Augen funkelten ihn an. „Er hat sie so geschlagen, meine Agnes,“ stieß sie heraus.
Und nun wußte Erne Sörensen plötzlich wieder nach vielen Jahren, daß er sich noch freuen konnte. Also so etwas gab es noch auf dieser Welt? So ein echtes Freundschaftsseelchen. Solch einen selbstlosen, kleinen Kameraden, — „einen bessern findst du nit“...
Er sprang auf und ging mit großen Schritten durch das Zimmer. Dann blieb er vor Sörine stehen. „Ich verstehe das so gut, Sörine. Wenn ein Freund leidet, dann tut es ja viel weher, als wenn wir selbst gezüchtigt werden, so denkst du auch, nicht wahr?“
Da war die Falte aus dem Kindergesicht verschwunden und Sörinens Augen sahen ihn voll Vertrauen an.
„Was sagt deine Klasse dazu?“ fragte er weiter.
Ein erstaunter Aufblick. „Die Klasse? Die weiß doch nichts!“
„Die weiß nichts? Hast du gar nicht darüber gesprochen?“
„Nein. Sie würden es nicht verstehen. Und würden dann Agnes immer daraufhin ansehen. So ein Armes! Das leid ich nicht. Das tut ihr ja dann immer von neuem weh...“
Ganz sacht strich Erne Sörensens große Hand über die Locken...
Da warf Sörine Heidekamp beide Arme über den Tisch, legte den Kopf darauf und weinte laut und ungestüm.
Der Direktor ließ sie gewähren. Es ist Gewitter im Mai, dachte er. Endlich hob das verstörte Mädel den Kopf und Sörensen sah, das Vertrauen zu ihm saß fest und Sörine war willens, ihm ihr kleines Herz restlos auszuschütten. „Mit niemand zu Hause kann ich darüber sprechen,“ stieß sie wild hervor. „Großvaterli würde einfach außer sich sein, wüßte er von den Geschichten. Den Tyras würde er auf Asmus hetzen, — ja, das würde er. Aber das nützte meiner Agnes nichts. Na und Grauchen? Soll ich’s Grauchen sagen? Die geht immer gleich so in Stücke. Und dann flattert und weht sie umher und redet vom 4. Gebot. Aber dies alles hat doch gar nichts mit dem 4. Gebot zu tun...“
„Doch, kleine Sörine! Um das 4. Gebot kommst du auch hier nicht herum. Das wollen wir uns gleich beide etwas näher ansehen.“ —
Erne Sörensen jagte die hellichte, törichte Freude in das alleräußerste Winkelchen seines Mannesherzens zurück und setzte sich sozusagen ein sorgsames Schulmeisterherz ein, aus dem er sich nun die bedächtige, kluge Pädagogik hervorholte. Aber während diese durch seinen Mund ihre Weisheit sprudeln ließ, hielt er selbst geheime köstliche Zwiesprache, und diese umhüllte alle seine strengen Worte mit feinem Humor. „Halt nur fein still, mein Kerlchen, kleiner, trotziger Unband. Will dir nicht deine lachenden Augen trüben für lange Zeit. Will dich auch nicht brechen, aber biegen muß ich den jung-jungen Baum. Auch das Geducktwerden schadet dir nichts, kleines Liebes. Halt nur still, ich tu dir schon nicht weh. Und die[S. 78] übliche Schulmeisterschere, mit der man Taxushecken beschneidet, lasse ich nicht an dich heran.“
Laut aber sagte Sörensen: „Zunächst darfst du in meiner Gegenwart nicht von ‚Asmus‘ reden, das ist ungehörig. Dann aber, — Herr Lehrer Asmus hat doch als Vater das unumstrittene Recht, sein Kind zu strafen, — — nein, nein, laß mich nur ausreden. Du konntest ihn als Freundin seiner Agnes wohl bitten, nicht so hart zu sein, aber die Art und Weise, wie du dich eingemischt hast,... Sörine, hast du überhaupt einen Begriff von dem Unrecht, das du begingst?“
„Nein.“
„Sörine!“
„Immer und immer würde ich es wieder tun, Herr Direktor, genau dasselbe. —“
„Das ist sehr schade, Sörine, denn du bist im Unrecht. Denke darüber nach. Morgen komme dann zu mir, hoffentlich mit verändertem Sinn. Du wirst Herrn Asmus um Verzeihung bitten, er verlangt das von dir.“
„Herr Direktor!!!“
Sörine schrie es heraus.
„Du bist unbeherrscht, Sörine. Unbeherrscht sein, heißt unvornehm sein. Ich kann mir nicht denken, daß du das sein willst.“
„O Herr Direktor, ich will Sie um Verzeihung bitten und jeden Lehrer und die Nissen jeden Tag, die ich doch nicht ausstehen kann...“
„Pscht! Was reden wir da wieder für ungehöriges Zeug!“
„Aber den Asmus, Herr Direktor, nein, nie.“ Sörinens Augen blickten ganz schwarz. Aber sie setzte auf einmal kindlich hinzu: „Ich meine den Herrn Asmus.“
„So, so! Nun für mich kommt es jetzt nur darauf an, ob du die bist, wofür ich dich halte, oder ob ich mich in dir getäuscht habe. Sieh einmal, Sörine, du hast ja noch gar nicht über dein Unrecht nachgedacht. Aber in euerm Schloß habt ihr ja genug stille Kämmerlein, in denen du zur inneren Einkehr kommen kannst.“
„Ja, eine Menge,“ bestätigte sie nachdenklich. Dann war sie entlassen.
Die Tür war kaum hinter ihr ins Schloß gefallen, als es schon wieder klopfte.
„Herein!“
„Herr Direktor, kann ich auch um Verzeihung bitten, ohne nachzudenken? Ihnen zu Liebe, damit Sie mir wieder gut sind?“
Sörensen sah kopfschüttelnd in die freimütigen Kinderaugen.
„Nein, Sörine. Du bist groß und alt genug, um dein Unrecht einzusehen.“
„Aber das wird dann sehr lange dauern...“
„So? Weißt du das schon? Nun, das hilft dann nichts. Und nun geh, — ich habe zu tun.“
Zögernd entfernte sich Sörine. An der Schwelle blieb sie wieder stehen.
„Nun? Noch einen Wunsch?“
Sie kämpfte mit sich. „Meine Agnes fehlt heute,“ sagte sie endlich traurig. „Wenn ich nur wüßte, wie ich[S. 80] ihr einen Brief schicken könnte. Ihr Vater und ihre Mutter öffnen ja jeden. Und dann lesen und verbrennen sie ihn. Agnes hat gar keine Freude auf der Welt. Sie hat nur mich.“
„Freude genug,“ sagte Sörensen still zu sich. Und dann mit raschem Entschluß: „Schreibe deiner Freundin nur einen rechten Trostbrief, Sörine, — ich — ich will ihn heute nachmittag selbst zu ihr bringen, na, — ist’s so recht?“
Alter Schulmeister Erne Sörensen, du hattest geglaubt, ein recht helles, sonniges Studierzimmer zu besitzen, aber so wahrhaft licht war es doch erst jetzt geworden, als ein paar Kinderaugen in unsäglicher Dankbarkeit zu dir aufleuchteten. Nachdenklich saß Sörensen an seinem Schreibtisch. Da hatte man ihm nun alles Mögliche erzählt von seinem neuen Amt, von der neuen Stadt und seinen Bewohnern, von den einzelnen Klassen in seinem Lyzeum. Aber irgend etwas Eigenartiges hatte niemand entdeckt. Wenigstens nicht das Feine, Schöne, Erquickliche daran, nur die wilden Schößlinge und urwüchsigen Briefe, die man nach Schema F biegen, brechen und abschneiden wollte. Taxushecken waren alle Schulen, an denen er bisher gewirkt hatte, auch diese. Einzig Klaus Hansohm war noch ein Unverknöcherter mit scharfen Augen und warmem Herzen. Deshalb war er auch ein Freund von Sörine Heidekamp. Aber er sprach nie von ihr, wenn nicht eine besondere Veranlassung vorlag. Und Fräulein Doktor mit ihren Röntgenaugen hatte auch die zweite Klasse durchschaut und verborgene Schätze gehoben. Zu ihrer[S. 81] eigenen Freude. Ihm erzählte man nicht davon. Ihm gönnte man nicht die Mitfreude. Immer war er nur der Direktor, der Einsame. So wollte er denn selbst seine Diogeneslaterne anzünden und unter seinen vielen kleinen Leuten die Menschlein heraussuchen.
Und er dachte an das Schöne, was er heute gesehen, an das verhüllte und doch durchscheinende Licht, an die Seele im Kindesantlitz. Die würde mit dem Körper wachsen und blühen und doch immer dieselbe bleiben. —
Sörensen war in Feiertagsstimmung. Er schob verschiedene Akten, Berichte, Elternbriefe, Beschwerden und sonst noch Einiges an die äußerste Kante des großen Schreibtisches und nahm dafür einen Stapel Albumbücher vor, die ihm vor ein paar Tagen übergeben worden waren. Er war der Sitte nicht gram, die unter den Schülerinnen freilich etwas wütete. Denn er hatte schon manchen guten, kräftigen Spruch in den Büchern gefunden, der, wie er hoffte, in manches Leben anspornend hineinragen würde. Und so schrieb er unentwegt den kräftigen Cäsar Flaischlen-Spruch nieder: „Durch!“
„Nur nicht bequem werden, nur nicht verliegen! Auf! Das Schwert um! Und weiter! Und durch! — Wer will, der kann! Wär’s brechen, wär’s biegen, wer will, wird siegen! Nur nicht bequem werden, nur nicht verliegen!“ —
Plötzlich stutzte er. Ein feiner grauer Wildlederband fiel ihm auf, der ein silbernes Wappen in der Mitte trug. Er prüfte die Zeichen. Eine Birke auf einsamem Blachfeld. Ein Greif, der zwei gekreuzte Waffen hält. Und die Umschrift: Nunquam retrorsum. Er blätterte in[S. 82] dem Buche, es waren nicht viele Eintragungen darin, aber sie waren charakteristisch. Offenbar hatte Sörine das ganze Personal des Hauses mit herangezogen, denn auf der Widmungsseite stand:
Dann war ein vergilbtes Blatt, vielfach zerknittert, eingeklebt:
Sörensens Hand strich sacht über das Blatt.
Die zweite Seite zeigte das stark verblaßte Bild eines jungen Husarenrittmeisters mit hoher, kühner Stirn und starken Brauen. Über dem aristokratischen Mund ein dunkler kleiner Bart. Die ernsten Augen glichen denen der jungen Sörine. Ein Kreuz war neben das Bild gezeichnet, und die Schrift darunter war von der gleichen Hand des vorigen Blattes: Schleswig 1895. Dein Väterchen. —
Erne Sörensen ertappte sich, daß er ganz laut: Du armes Waislein! sagte, denn er rechnete sich zusammen,[S. 83] daß Sörine nach dem Tode des Vaters geboren war und daß Frau von Heidekamp den Gatten nur um fünf Jahre überlebt hatte.
Die folgende Seite:
Es gehört auch zum Leben, sich einer schweren Notwendigkeit unterziehen zu lernen und von der Hoffnung zu zehren.
Heidekamp 1900 im Februar. Grauchen.
Auf dem fünften Blatt waren Namen in unbeholfenen Schriftzügen hingemalt: Hinnerk Boysen, Klas Martens, Hanne Witt, Dorette Maaßen, Fite Groth.
Dann eine etwas schwungvollere Hand mit dem Vers:
Offenbar der Heidekampsche Reitknecht.
Auf der sechsten Seite hatte sich jemand schon vor zwei Jahren eingetragen:
Dann noch eine Backfischhandschrift:
Und nun kam niemand mehr.
Welch seltsames Büchlein. Durch das feine Papier und das kostbare graue Leder mit dem silbernen Wappen[S. 84] hindurch sah Erne Sörensen das junge ernst-frohe Leben seiner Schülerin wie ein Bild auf Goldgrund gemalt. Und er meinte bei sich, es sei wohl etwas Schönes hier unter den Menschen zu stehen, die alle mit guten Gedanken ein Mäuerchen um die Sörine Heidekamp bauten.
So schrieb er rasch mit seiner großen, deutlichen Schrift:
Dein Freund Sörensen.
Ja, das war die Wahrheit. Die junge Sörine würde sich nicht über die Unterschrift wundern, die sah ja durch „Mauer und Holz“. Aber auch in Birkholz würde niemand erstaunt und im Lyzeum niemand gekränkt sein, denn dies Büchlein war mit seinem Namen abgeschlossen. Das fühlte er, trotzdem es ihm niemand gesagt und trotz der vielen leeren Seiten, die noch folgten. Solch ein feines, stilles, rührendes Buch mit den letzten Liebesworten der toten Eltern, das gab man nur ganz wenigen...
Und als ob er noch eine Bestätigung seiner inneren Gewißheit haben sollte, fand er auf der allerletzten Seite noch eine Eintragung, die wollte dem, der etwa doch einmal unbefugt hereinschaute, sagen: hier ist kein Platz mehr, ich habe das Buch meiner Enkelin schon zugeschlossen.
Es wurde Erne Sörensen warm ums Herz. — Und jung fühlte er sich mit einem Male. Nie war ihm Birkholz und sein neues Amt so lieb gewesen...
**
*
Der nächste Vormittag brachte noch eine erregte Freiviertelstunde, die sich im Direktorzimmer abspielte. Fräulein Dr. Stavenhagen hatte in der Deutschstunde vorher in der ersten Klasse „geharnischte Sonette“ von Rückert vorgetragen und war infolgedessen bis an die Zähne gewappnet und wohl vorbereitet für das, was ihrer wartete. Sie fuhr sowohl mit dem Lehrer, als auch mit dem Vater Asmus in einer Weise ab, daß sich der Direktor ein paarmal ernstlich ins Mittel legen mußte.
Aber Sörensen fühlte, was dem Vater Asmus durchaus verborgen blieb, daß durch die prasselnden Vorwürfe der Lehrerin eine tiefe, mütterliche Besorgnis zitterte, und daneben machte sich der Korpsgeist der ehrenhaften Frau geltend, die sich gegen eine rohe, körperliche Züchtigung zweier junger Mitschwestern wehrte. „Sie hätten Junggeselle bleiben und Holzhacker werden sollen.“ rief sie dem Kollegen Asmus zu.
Und von da ab sagte sie gar nichts mehr, ließ alle Anklagen schweigend über sich ergehen, saß aber sprungbereit mit blitzenden Augen, wie eine verwundete Löwin.
Professor Rasmussen nahm die Sache ruhig. Aber Direktor Sörensen hörte aus jedem Satz des Sprechenden Verachtung gegen den Mann heraus, der sein wehrloses,[S. 86] schüchternes Kind um einer Lappalie willen mit dem Stock gezüchtigt.
Abschließend sagte Professor Rasmussen: „Für meinen Zuruf, der Herrn Asmus beleidigt hat, kann ich nicht um Entschuldigung bitten, denn ich hab’ ihn wortwörtlich gemeint. Es war die Besorgnis des älteren Mannes. — Wenn jemand herzkrank ist und dabei an Wutanfällen leidet, schützt ihn nur noch einigermaßen das Bett vor dem Sensenmann. Im übrigen bin ich Mitglied des Tierschutzvereins und schon deshalb werde ich mich immer im Gegensatz zu Herrn Kollegen Asmus befinden.“
Die beiden Angeklagten empfahlen sich. Direktor Sörensen richtete noch ein paar begütigende Worte an den erregten Kläger. Aber sie fielen auf steinigen Boden, und Lehrer Asmus verließ das Zimmer sehr zugeknöpft, sehr beleidigt, steif und förmlich. Und da Direktor Sörensen nicht vorgesorgt hatte, so mußten diesmal doch unschuldige Gegenstände mit leiden. Tischchen, Wasserkaraffe und Glas fegte die Abschlußverbeugung des gekränkten Lehrers hinweg, und ihre Trümmer und Scherben sprachen eindringlich von der Ungerechtigkeit des Schicksals. —
Am Nachmittag trug Direktor Sörensen einen umfangreichen Brief mit großem, rotem Wappensiegel, sowie mehreren Freundschafts- und Wohlfahrtsmarken versehen in das Haus des Lehrers Asmus. Das lag in einer öden Gegend, darinnen man versucht hatte, Mietskasernen im Großstadtstil zu errichten. Um nicht das ehrwürdige Gesicht der schönen alten Stadt zu verzerren, hatte man die[S. 87] Häuser wenigstens in eine weitabliegende Straße gestellt, die auf eine Höhe zu führte und den anmutigen Namen „Galgenstraße“ trug.
Sörensen schüttelte immer wieder den Kopf.
Wie konnte sich ein gebildeter Mensch mit halbwegs anständigem Einkommen hierher setzen! Lyzeumslehrer Asmus besaß nur das eine Kind, und seine zweite Frau, die er als ältere Lehrerin geheiratet, konnte sich auch manches gespart haben.
Der Direktor wäre gern vier Treppen hoch gestiegen, denn da hätte er wenigstens Aussicht gehabt, ins Licht zu kommen, aber er wußte, daß er sich an der finsteren Tür im dunkeln, feuchten Erdgeschoß die Klingel suchen mußte, die ihn anmeldete. In der sich öffnenden Flurtür sah er die Umrisse einer weiblichen Gestalt.
„Kann ich Agnes Asmus sprechen, und wie ist ihr Befinden?“ fragte Sörensen.
„Mein Mann ist nicht zu Hause,“ lautete die barsche Antwort.
„Wenn Sie Frau Asmus sind, dann führen Sie mich wohl zu meiner Schülerin, d. h. wenn ich sie sprechen kann. Ich bin Direktor Sörensen.“
„Ach, Herr Direktor, das hätten Sie nur gleich sagen sollen. Ja, die Agnes ist beim Arbeiten. Ich hätte sie gern zur Schule geschickt, aber die leidigen Kopfschmerzen, — Agnes behauptete, sie würde nicht folgen können...“
Sörensen sah sich im dunkeln Flur um und hing Hut und Überzieher über einen Stuhl, den er nur entdeckte, weil er sich an ihm stieß.
Dann tappte er sich der Frau nach, die ihm voran ins Zimmer schritt.
Nein, hier konnte keine Freude wohnen. In diesem nach Norden gelegenen, schlecht gelüfteten Raum, in den niemals die Sonne schien, an dessen Fenstern auch die abgehärtetste Pflanze sich weigerte, ein grünes Blättchen zu treiben. —
Dafür standen verstaubte, unechte Palmen grün angestrichen in häßlichen Papierkübeln, und auf einem plumpen Vertikow prunkte eine Anhäufung von häßlichen Nippes. Sofa, Teppich und zwei Sessel waren von ausgesuchtem Ungeschmack. Häßliche Gerüche von kaltem Tabak und feuchten Tapeten stritten um die Oberhand. Über die aus gelbem, dickem Häkelgarn gefertigte Decke auf dem Tisch waren Zeitungen gebreitet, und hier saß die blasse Agnes Asmus und arbeitete.
„Nebenan wird geölt, deshalb mußte ich dem Kind schon die beste Stube anweisen,“ beeilte sich Frau Asmus zu sagen. „Agnes, pack’ die Sachen zusammen. Achtung, daß du die Tinte nicht umwirfst. Hole deine Häkelei. Herr Direktor Sörensen gibt uns die Ehre.“
Erne Sörensen war mit zwei Schritten neben der Leidenden. Denn krank und elend sah das Mädchen aus, das aus tief umränderten, gramvollen Augen ihn anschaute.
Und mit soviel Güte und Erbarmen wurde ihr Blick erwidert, daß sie in haltloses Schluchzen ausbrach.
„Großer Gott, Agnes, was fällt dir denn ein,“ rief[S. 89] Frau Asmus. — „Ja weißt du denn gar nicht, was sich schickt? Gleich nimmst du dich zusammen!“
In diesem Augenblick schellte es an der Flurtür, und die Frau lief hinaus, man hörte sie wortreich mit einer anderen Frauenstimme verhandeln.
Direktor Sörensen zog Agnes die schmalen, bebenden Hände vom Gesicht.
„Ich habe eine Freude für dich, Agnes, ja, eine richtige Freude. Du mußt es mir schon glauben. Sieh einmal!“ und er legte Sörinens Riesenschriftstück vor sie auf den Tisch.
Ein halberstickter Jubelruf, ein scheuer Blick nach der Tür und dann erneutes Weinen, heftiger als zuvor.
„Willst du nicht lesen, was Sörine schreibt?“ fragte Sörensen.
„Nein, ach nein, jetzt nicht,“ stieß Agnes hervor. „Aber heute nacht will ich es tun.“
„In der Nacht sollst du schlafen, Agnes.“
Sie schüttelte trostlos den Kopf. „Ich kann gar nicht mehr schlafen.“
„Ei, das wäre ja noch besser. Ein Fünfzehnjähriges, das muß es mit jedem Dachs aufnehmen. Versuch’s einmal.“
Sie trocknete ihre Tränen und lächelte. Aber das Lächeln hatte nichts Kindliches und nichts Beruhigtes, es war das Lächeln eines armen, abgehetzten Seelchens und wollte in seiner Müdigkeit nur sagen: Laß nur, das ist nun mal nicht anders.
Frau Asmus schien draußen mit der andern Person[S. 90] in Streit geraten zu sein, die hohen, scharfen Organe kreuzten sich wie Klingen.
„Es ist mir auch nicht so ums Schlafen,“ sagte Agnes etwas lebhafter, und Sörensen fühlte, daß ein gutes Vertrauen zu ihm in ihr aufwachte. „Es ist nur so schrecklich, daß ich in der Schule zurückkomme. Ich war sonst immer die Erste. Von der achten Klasse an. Aber nun schaff’ ich’s nicht mehr.“ Sie sah ihn müde an. „Es hilft auch nichts, wenn ich mich zusammennehme, ich kann die Gedanken nicht finden in der Schule, wenn z. B. Fräulein Nissen so rasch fragt. Früher konnt ich da gut folgen, — vielleicht bin ich jetzt krank...“
In Sörensen stieg heißes Erbarmen hoch.
„Ja, du bist jetzt krank, kleine Agnes, und ich werde deinen Eltern sagen, daß sie dich einmal vier Wochen zu Hause und im Bett lassen sollen...“
Ein jähes Erschrecken lief über das abgezehrte Gesicht. „O nein, o Gott, nein, bitte, bitte nicht, Herr Direktor,“ flüsterte sie angstvoll, „die Schule ist ja das Einzige — — ich darf ja sonst nie mehr Sörine sehen...“ Agnes umklammerte seinen Arm. Aber dann ließ sie die Hände sinken.
Man hörte die Flurtür schlagen, daß alle Fenster klirrten, und Frau Asmus trat mit hochrotem Gesicht in das Zimmer. „Es war die Stadtsekretärin Hillebrand von der ersten Etage,“ entschuldigte sie sich, „da ist immer kein Loskommen. So eine hochmütige Person, Herr Direktor. Und der Mann ist ebenso. Mein Mann sagt, der verlangte, daß man eine halbe Stunde vor ihm katz[S. 91]buckelte auf dem Magistrat, ehe er sich nur rührte auf seinem Schreibbock. Nur weil er mehr Gehalt hat, als wir Lehrer. Aber ich hab’ es der Frau vorhin ordentlich gegeben. Wenn ich reden wollte, hab’ ich ihr gesagt...“
„Ja. Danke, Frau Asmus. Meine Zeit ist sehr beschränkt.“ Sörensen war aufgestanden. Er nahm beide Hände der Kranken. „Gott befohlen, mein liebes Kind. Ich hoffe dich sehr bald wieder in der Schule zu sehen. Kannst du aber morgen noch nicht kommen, dann sehe ich wieder nach dir. Soll ich?“
„Ach ja,“ war die leise Antwort. „Aber ich werde schon kommen können. Nur die Arbeit von Fräulein Nissen, — —“ Agnes deutete auf ihre Hefte, „die macht mir Schwierigkeiten, — ich habe sie nicht verstanden...“
„So laß sie ruhig liegen, ich werde mit Fräulein Nissen sprechen.“
„Die Arbeit wird gemacht,“ fiel Frau Asmus hart ein. „Das fehlte noch, daß ein Lehrerkind, unsere Tochter, von Fräulein Nissen einen Faulheitstadel bekäme. Mein Mann und ich werden Agnes helfen.“
Ein großer, ernster Blick traf die Sprechende. Es wurde ihr unbehaglich unter diesen Augen.
„Die Arbeit ist dir erlassen,“ sagte Direktor Sörensen noch einmal gütig, und dann ging er.
Frau Asmus schlug drei Kreuze hinter ihm her.
„Natürlich gehst du nun morgen zur Schule. Das fehlte noch, daß ich mir vom Lyzealdirektor jeden Tag in meiner Wohnung herumschnüffeln ließe. Und die Arbeit für Fräulein Nissen machst du, das ist mir und Vater[S. 92] Ehrensache. Da hat der Direktor nicht dreinzureden, der ist nicht dein Ordinarius.“
„Ich möchte doch lieber zu Bett gehen,“ bat Agnes mit blassen Lippen.
„Ja, das ist Schulfieber, das kenn ich,“ lachte spöttisch Frau Asmus. „Beileibe nicht von mir selbst. Ich bin in der Mittelschule immer die Erste gewesen, auch im Seminar in Augustenburg. Aber dein Vater hatte einen Bruder, der war auch so’n Faulpelz. Von dem aus muß es auf dich übergekommen sein.“ Sie hätte wohl noch eine Weile fortgeredet, aber sie sah auf einmal, daß Agnes gar nicht mehr zuhörte, sondern ohnmächtig in der Ecke des häßlichen Sofas zusammengesunken war. Aber noch während Frau Asmus laut jammernd nach der Küche lief, kam das erschöpfte Kind wieder zu sich und besann sich langsam. Und sah, daß der Brief, das Kleinod, Sörine Heidekamps Gruß auf die Erde gefallen war. Sie war zu schwach, ihn aufzuheben. Das Zimmer kreiste mit ihr, als sie sich bücken wollte, sie mußte es aufgeben.
Frau Asmus kam mit Wasser herein: „Na, da schaust du einen ja wieder an, da — trink. Ich hab’ mich ja zu Tode erschrocken. Das kommt von dem langen Besuch. Daß so was ein Krankes aufregt, daran denkt freilich der weise Herr Direktor nicht...“ Jetzt entdeckte sie den großen Brief auf der Erde, das rote Wappensiegel und all die fröhlichen Wohlfahrts- und Werbemarken leuchteten obenauf.
Frau Asmus nahm ihn und betrachtete ihn gründlich von allen Seiten. Der rote Zorn stieg in ihr Gesicht und[S. 93] wollte losfahren, aber als sie das Kind ansah, erschrak sie. Das hatte sich aufgerichtet, und sah so weiß aus wie der Kalk an der Wand. Und nahm ihr den Brief aus der Hand und barg ihn zitternd in den Falten ihrer Bluse. Und Agnes sagte tonlos: „Den Brief nimmst du mir nicht, Mutter, sonst tue ich mir ganz gewiß ein Leid an. Und dann sehen es der Doktor und andere Leute, wie Ihr mich geschlagen habt, und wie mein Körper davon aussieht.“
Und immer hielt sie den Brief mit beiden Händen auf ihrem jungen, wildschlagenden Herzen fest, und die anklagenden Augen hafteten auf der Stiefmutter, der Zorn und Bestürzung die Stimme verschlugen.
Mit schweren Schritten tastete sich Agnes in ihre enge Kammer. Dort entkleidete sie sich mit zitternden Gliedern und schmerzendem Kopf. Als sie den Brief hervorzog, küßte sie ihn und legte ihn in ihr Bett und deckte ihn zu, bis sie sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte. Dann legte sie sich hin, bettete ihre Wange auf das Schriftstück, und die Starrheit ihrer Züge löste sich, und sie lächelte rührend scheu und schattenhaft froh, weil sie zum ersten Male mutig gewesen war und sich etwas erkämpft hatte. Sie löste das Siegel vom Briefe und die Schmuckmarken und las das Schreiben und freute sich der Riesenbuchstaben ihrer Sörine, die man auch in dem Dunkel der Galgenstraße erkennen konnte.
Heidekamp, 1. April.
Meine geliebte Agnes! Weißt Du noch, wie wir immer in der Religion am liebsten die Engel hatten?[S. 94] Und bei den Märchen die Feen? Die dann so plötzlich dastanden und sagten: Wünsch dir was? So ein Engel kommt heute zu Dir, meine süße Agnes, und bringt Dir diesen Brief. Ich schäme mich halbtot, daß ich „Ihn“ noch vor fünf Wochen gehaßt habe. Du hast mich immer beschwichtigt, das weiß ich wohl, aber Du bist eben von Natur ein Sanftes und ich ein Alarmsignal. So nennt mich Großvaterli. Außerdem hatten Kahl und Dein Vater uns den Direx gründlich vorweg verekelt. Aber selbst der Haß gegen diese beiden ist ganz klein geworden, weil ich stundenlang darüber nachgedacht hatte. Das war auch ein Wunsch vom Herrn Direktor. Man kann und kann einfach nicht erbost und widerhaarig sein, wenn er einen so durch und durch kuckt mit seinen scharfen Augen. Ich möchte so gern wissen, ob es Dir auch so geht, meine süße Agnes. Daß Du ihm auch alles sagen möchtest, was so in Dir vorgeht und ihn immer um Rat fragen. Ich will ihm auch bei nächster Gelegenheit anvertrauen, daß ich später einmal Vetter Gerd heiraten soll. Es ist eine Familienbestimmung. Dazu kann und soll man immer nur Ja und Amen sagen, und das habe ich auch getan, weil es Großvaterli so froh machte. Aber ich kann nicht sagen, daß es mir sehr große Freude macht wenn ich so denke, ich soll später den ganzen Tag mit Vetter Gerd zusammen sein. Aber wiederum wenn ich denke, Herr Sörensen könnte versetzt werden von Birkholz nach einer anderen Stadt nicht wahr da kann man sich totweinen?! Bitte schreibe mir, ob du das genau so fühlst. Denn du bist meine einzige Herzensfreundin, und es wäre zu schön,[S. 95] wenn wir immer dieselben Gedanken hätten bis wir sterben oder heiraten. Bitte verbrenne diesen Brief sofort. Aber wenn Du ihn nicht verbrennst, dann setze bitte alle Kommas hinein, die ich vergessen habe. Lebe wohl meine geliebte Agnes. Denke immer daß der liebe Gott bei Dir ist. Und ich auch.
Deine treue Sörine Heidekamp.
Agnes Asmus küßte den Namen viele Male und holte sich einen Bleistift und setzte gewissenhaft die vielen vergessenen Schriftzeichen an die rechte Stelle.
Dann legte sie das Kleinod unter das grobe, weiße Linnen und bettete den Brief auf ihr warmes, junges Herz.
Ein glückliches Lächeln lag mit einemmal auf ihrem müden Gesicht und mit diesem Lächeln schlief sie ein. —
**
*
Frau Apotheker Dahlen hatte Geburtstag.
Und wenn sie auch annehmen mußte, daß sie diese Tatsache mit fünfundzwanzigtausend Bewohnern von Birkholz teilte, so hielt sie aus irgendeinem Grunde, den sie nicht verriet, doch ihren Geburtstag für eine so bemerkenswerte Tatsache, daß sie „seit Jahrenden“ (wie sie selbst betonte) an diesem Tage einen Riesenkaffee abhielt. Eine wahre Völkerschlacht, bei der denn auch viele Mitbürger erledigt wurden, und abends mancher gute Name zur Unkenntlichkeit verstückhackt auf dem Felde der Unehre liegen blieb.
Von frühem Morgen an war alles im Apothekerhaus am Markt in Aufregung und fliegender Hitze, und[S. 96] man tat gut, an diesem Tage nicht gerade verantwortungsvolle Rezepte anfertigen zu lassen.
Doch kam die Neugier durchaus auf ihre Kosten, denn der Provisor erzählte beim Einwickeln sehr ausführlich, wer eingeladen war, wer abgesagt hätte und was es „gab“.
Konditor Bruhns rechnete mit diesem Tage, der seine Schatten schon lange vorher warf und ebenso seine Nachwehen hatte.
Und wer etwa am Abend so vermessen gewesen wäre, noch ein Stück Torte oder Schlagsahne zu verlangen, den hätten Herr und Frau Bruhns samt den beiden Ladenfräulein von oben bis unten angeschaut, da ja nur ein Fremder ein so törichtes Verlangen stellen konnte. Und man hätte nicht gesagt, daß man nichts mehr im Laden habe, sondern ihm nur die inhaltsschweren Worte zugeschmettert: „5. April!“
Man konnte am Nachmittage des 5. April nicht den Vergleich mit einem Bienenschwarm heranziehen, nein, es waren Hunderte von Bienenschwärmen, die da summten und surrten, Hunderte von Webstühlen, die da ratterten, sausten und zausterten. Kuchenberge waren aufgetürmt und verschwanden in bewundernswerter Raschheit, und die schneeigen Schlagsahnenhügel wurden bis auf ein kümmerliches, flüssiges Restchen von den rastlos grabenden Silberlöffeln abgetragen.
Wie ebenso viele Vollmonde leuchteten die heißen, roten Gesichter über den dampfenden Tassen.
Nur nicht so freundlich.
Denn es gab natürlich neben gleichmäßigen Ansichten über das Wetter und den Stand der Aktien und der Frühkartoffeln auch viel „Widersprüche“, „Unglaublichkeiten“ und „Verstiegenheiten“, über die man sich gleich an Ort und Stelle kräftig auseinandersetzte.
Die Stricknadeln flogen, die Löffel klirrten, und manche Nadel wurde mit verbissener Wut in festes Leinen gestoßen, als sei es das Herz der lieben Nachbarin, die eben den gleichen Stich versetzt hatte. —
Aber es waren alles noch Vorstöße und mehr oder minder heftige Plänkeleien. Man wartete noch auf das Kommando, das die eigentliche Redeschlacht entfesseln sollte.
Und endlich fiel es. In der Nähe des Sofas, auf dem die Frau Bürgermeister und die Frau Postdirektor Platz genommen hatten. Die erstere wie versteint in Würde und Verdrossenheit, die andere mit einer heiteren Gelassenheit, die sich in Unvermeidliches schickt.
Wer hatte das Wort gerufen? Genug, es war da und man stürzte sich darauf und zerriß es und warf sich die ergiebigen Stücke einander zu.
Das Lyzeum und sein neuer Direktor.
„Mir hat er gar keinen Eindruck gemacht,“ rief Frau Apotheker Dahlen und häkelte wütend. Sie besaß nur zwei strohköpfige Knaben und hätte es deshalb nicht nötig gehabt, neue Gardinen für den Besuch des Direktors aufstecken zu lassen, aber sie hatte eine sehr häßliche Kusine zu Besuch, mit welcher der abscheuliche Direktor versäumt hatte, auch nur ein Wort zu sprechen. —
„Warum so’n Mann bloß nicht heiratet?!“
Diese Bemerkung kam wieder aus einer anderen Ecke und wurde gründlich verarbeitet.
Bis die Frau Bürgermeister mit scharfer Stimme in das Chaos hineinrief: „Da muß man doch erst mal fragen, ob er es kann.“
„Ohhh!“
„Aber!“
„Ach, du großer Gott!“
„Wie meinen Sie, Frau Bürgermeister?“
„Es gehen da seltsame Gerüchte um, — ich bekümmere mich ja so wenig um das Treiben und Reden der anderen...“
„Hm, hm.“
Die junge niedliche Frau Amtsrichter war wirklich erkältet und hatte nur gehustet, aber sie erntete einen giftigen Blick. —
„O, Frau Bürgermeister, Sie erzählen ja so interessant, aber bitte spannen Sie uns nicht auf die Folter,“ schmeichelte Frau Dingelmann, die immer Gesprächsstoff für ihre große Ladenkundschaft brauchte.
„Man sagt...“ die Bürgermeisterin legte die Arbeit in den Schoß und beugte sich etwas vor, was ihr sämtliche Damen sofort nachmachten,... „er sei nicht mehr frei.“
Ahhh!
Die Frau Bürgermeisterin konnte zufrieden sein, es hatte eingeschlagen. Man sah viele enttäuschte Gesichter, wenn auch die Ursache der Enttäuschung eine verschiedene war.
Nicht mehr frei. Nun so brauchte man auch kein Blatt vor den Mund zu nehmen, sondern konnte einmal ergiebig über den Herrn Erne Sörensen herfallen.
„Aus ganz einfachen Verhältnissen, man weiß nicht...“
„Wie? Unehelicher Sohn?“
„Der Vater Schneider oder Schuster?“
„Das wäre ja die Höhe.“
„Und der wagt es...“
„Heimlich verheiratet?“
„Zwei Kinder.“
„Aber da muß doch eingeschritten werden!“
„Meine Damen, nichts Gewisses, strengste Verschwiegenheit.“
„Aber ganz sicher.“
„Wer von uns sollte es weiter sagen?“
„Sie wissen ja, ich bin mit Fräulein Nissen gut bekannt,“ nahm Frau Dr. Niebert das Wort. „Ich bin ja nun ganz unparteiisch, denn wenn sich auch mein Mann schwer geärgert hat, daß Direktor Sörensen nur dem Kreisphysikus seinen Besuch machte und uns nicht, gerade als ob wir nicht auch zur Gesellschaft gehörten, — so ist uns ja im Grunde der Herr Dr. Sörensen höchst gleichgültig. Aber was Fräulein Nissen so erzählt aus der Schule, ist wirklich sehr interessant.“
„Darf sie denn das?“
„Was?“
„Aus der Schule erzählen.“
Die naive Fragestellerin, Frau Diakonus Heinrich,[S. 100] wurde durch wortlose, aber vielsagende Blicke in ihr nichtsdurchbohrendes Gefühl zurückgeschleudert.
„Neuerungen führt der Sörensen ein, als sei unser alter, verehrter Direktor Clausen ein Trottel gewesen. Das nennt er: ‚mit der Zeit gehen‘. Dann wieder spielt er sich auf den Pietätvollen heraus und läßt Sachen beim Alten, die dringend der Neuerung bedürften. Über den Grobian, den Schuldiener Harks, über den doch nur eine Klage geht, hält er die Hand, und das geht immer Herr Harks hin und Herr Harks her, sagt Fräulein Nissen, — na und man weiß doch... hm...“
Verständnisvolles Flüstern und Nicken.
„O ja... die Lisbeth Harks war ein außerordentlich hübsches Mädchen, aber Schönheit wird ja oft zum Fallstrick der Tugend,“ sagte irgend jemand salbungsvoll.
„Brav war sie auch,“ fiel Fräulein Tingleff dröhnend ein, „sie hat drei Jahre bei mir gedient.“
Die Trompetenstimme schaffte für einige Augenblicke Ruhe, und der bekannte Engel flog durchs Zimmer. Es nützte eben so gar nichts, dem energischen, reichen Fräulein Tingleff zu widersprechen, sie pflegte ihre Ansicht bis übers Grab hinaus zu verfechten.
Aber die Frau Bürgermeister mußte doch noch einen Trumpf ausspielen: „Ja, so brav war die Lisbeth Harks, daß sie ins Wasser ging.“
Fräulein Tingleff bekam einen roten Kopf und die kleinen, scharfen Augen sprühten Blitze. Deshalb legte sich die Wirtin ins Mittel und rief: „Sie wollten doch vom Direktor erzählen...“
„Na ja,“ fing nun die Doktorin wieder an, „Fräulein Nissen sagt, das Lehrerkollegium sei direkt in zwei Hälften geteilt, pro und contra. Fräulein Dr. Stavenhagen und Lehrer Hansohm schwören ja auf die neue Leitung, und es habe sich infolgedessen eine einfach lächerliche Freundschaft zwischen Herrn Hansohm und Fräulein Doktor gebildet, — guter Gott, ich will nichts sagen, — sie könnte ja wohl beinahe seine Mutter sein, aber...“
„Sie ist jeden Tag in seiner Wohnung...“
„Herr Hansohm hat eine kranke Schwester,“ sagte die mitleidige Stimme der Frau Postdirektor Hagedorn.
„Schwester hin, Schwester her,“ fiel Frau Dingelmann ein, „meine selige Mutter pflegte immer in solchen Fällen zu sagen. ‚Beten werden sie nicht miteinander‘.“
„Sehr richtig.“
„Direktor Sörensen ist auch ein paarmal bei diesen Sitzungen dabei gewesen,“ ließ sich die Frau Apotheker wieder vernehmen, „irgendwo muß er ja auch seine Abende zubringen, da er das Gegebene, den Stammtisch in der grünen Birke, zu verschmähen scheint.“
Die Bürgermeisterin war eben im Begriff, sich den Pudding zu Gemüte zu führen, aber da es ein unpraktischer Beberlottchen- oder nervöser Pudding war, der immer auf dem Teller hin und her glitschte, lief sie Gefahr, ihr Grauseidenes zu besegnen. So setzte sie den Teller wieder auf den Tisch und sprach erst mal in sittlicher Entrüstung die vernichtenden Worte:
„Ein unbeweibter Mädchenschuldirektor ist etwas Unmoralisches.“
„Du lieber Gott,“ rief Frau Hagedorn ganz ängstlich, „ist das nicht ein furchtbar hartes Urteil? Ich kann das gar nicht verstehen. Und ich habe nur Gutes, nur das Beste von Herrn Dr. Sörensen gehört. Die Kinder schwärmen alle für ihn.“
„Schwärmen! Ja, das ist so das Rechte! Mit Schwärmen fängt es an, aber mit was hört es auf?“
Die junge Frau Amtsrichter erhob sich kriegerisch: „Gewöhnlich hört es mit der ersten Liebe auf, die man einem andern schenkt. Im übrigen denkt der gesunde Backfisch gar nicht daran, ob der Gegenstand seiner Verehrung ledig oder verheiratet ist. Wir schwärmten seinerzeit unsern Geographielehrer an, und die Liebe erstreckte sich gleichmäßig über ihn, seine Frau und seine sieben Kinder.“
Es lachte niemand. Denn sowohl Frau Postdirektor als Frau Amtsrichter waren „Ausländer“, Leute, die heute oder morgen wieder von ihrer Behörde versetzt werden konnten. Und man lachte in Birkholz nur über Witze, die von Eingeborenen verbrochen wurden.
Als die beiden freundlichen Damen, die das schon etwas gebrechliche Fräulein Tingleff nach Hause geleitet hatten, von der Kaffeeschlacht ihren Behausungen zuwanderten, begegnete ihnen Direktor Sörensen.
Er grüßte ehrerbietig. Ohne zu ahnen, daß die beiden frischen, jungen Frauen als einzige in einem großen Kreise für ihn eingetreten waren. Und als er dann noch in die Apotheke trat, um für seine gute Frau Dietz etwas Frostsalbe zu holen, da ahnte er gleichfalls nicht, daß[S. 103] gerade über seinem Kopfe in der guten Stube des Apothekers sein ehrlicher Name auf dem Boden lag und eben von der Magd mit vielen Kuchenkrümeln, sowie verlorenen Haar- und Stecknadeln hinweggefegt wurde. —
**
*
So einen schönen, ruhigen Vormittag hatte Direktor Sörensen lange nicht erlebt... Weder aufgeregte Mütter, noch zornige Väter störten ihn, das Kollegium befand sich in einem geradezu idealen Zustande der Ruhe, — Einigkeit zu sagen, wäre wohl zuviel gewesen — und so konnte der eifrige Arbeiter lange Aufgestautes erledigen, ja sogar manchmal seinen Blick dem alten Garten schenken, darinnen die heimgekehrten Stare einen ungeheuren Lärm vollführten. Überall machte sich der Frühling bemerkbar, vom Storchnest an, das auf dem alten Rathausgiebel thronte, bis zu den drei Veilchen, die ihm heute Frau Dietz aus dem Garten gepflückt und neben seine Tasse gelegt hatte. Jetzt blühten sie vor ihm in einem winzigen Glase und dufteten wie lauter Lenzverheißung: „Nun muß sich alles, alles wenden!“
Sörensen zwang Blicke und Gedanken wieder zu seiner Arbeit. Da war Evchen Siemensen aus der zweiten Klasse, ein hochbegabter Fludribus, und da war Lena Weiß, die unfähig war, selbst ein minderwertiges Zahnpulver zu erfinden, aber fleißig und gewissenhaft, beide gleich unwert nach ihren Leistungen in die erste Klasse versetzt zu werden. —
Und doch hätte er beide sympathische Kinder so gern[S. 104] mit hinübergetan. Evchen konnte sich mit Fräulein Nissen nicht vertragen, — wenn er sie Ostern übernahm und mit einer kräftigen Standrede nachhalf, würde das kluge Ding vielleicht die Leuchte der ersten Klasse. Und Lena? Ihr Fleiß verdiente eigentlich nicht, daß man sie sitzen ließ.
Er überlegte.
„Herein!“
Denn er meinte, es könnte geklopft haben, wenn es auch nur ein zaghafter Finger getan haben konnte.
Jemand schob sich herein, blieb an der Tür stehen und rührte sich nicht.
Sörensen schrieb seinen Satz zu Ende und trug noch ein paar Zahlen in sein Buch: „Nur immer näher einstweilen. Wer ist’s? Eine Schülerin? Was willst du?“
Keine Antwort.
Er löschte die Seite des Buches ab, nahm die Schreibbrille von der Nase und mußte noch umständlich die andere scharfe, goldene Brille putzen, denn ohne sie war er ein „armer Stackel“, wie er selbst immer lachend versicherte.
„Nun? Bekomme ich keine Antwort?“
Er nahm die schmale Gestalt an der Tür näher aufs Korn und war dann mit drei Schritten bei ihr: „Sörine von Heidekamp — — bist du krank?“
Keine Antwort.
Zwei verstörte Augen sahen an ihm vorbei, und eine eiskalte Hand lag willenlos in der seinen.
„So sprich doch, Kind. Hat man dir etwas getan?“
Keine Antwort.
„Bist du aus dem Unterricht gelaufen?“
Sie nickte unmerklich.
„Und was willst du nun hier?“
Sörine sah ihn nicht an. Nur ihre Lippen bewegten sich. Er beugte sich zu ihr herunter. Da hörte er sie ganz leise sprechen: „Nur hier bleiben möchte ich, — bis — bis — unser Wagen kommt...“
„Kind, ich muß sagen, ich versteh dich nicht. Es geht doch eigentlich nicht, daß du so aus der Stunde läufst...“ Er sah nach dem Plan. „Fräulein Nissen. Ich will sie mal fragen...“
„Bitte, bitte nicht.“ Sörensen hatte noch nie eine so gequälte Stimme gehört. Er besann sich einen Augenblick, dann nahm er den Hörer von seinem Tischapparat, und ließ sich mit Heidekamp verbinden. Als das Gespräch beendet war, stand Sörine immer noch auf derselben Stelle.
„Das geht doch nicht, Sörine, Kind, — ich sorge mich um dich. Bist du nicht auch ein kleiner Dickkopf? Was fängt man nur mit dir an?“
Aber er sah es ja, es war da vorläufig nichts zu tun. Vielleicht würde Fräulein Nissen von selbst kommen und ihm Bescheid sagen...
„Willst du dich nicht setzen?“ fragte er noch, denn sie sah aus, als ob sie sich kaum auf den Füßen halten könne. Und da schlich sie sich ganz sacht und gar nicht, wie Sörine Heidekamp sonst auftrat, an das schwarze Ledersofa und versank schier in der einen Ecke.
Direktor Sörensen aber schrieb weiter und sah sich nicht ein einziges Mal nach dem Trotzkopf um. War es[S. 106] wirklich ein Trotzkopf, dann sollte er morgen erfahren, daß der neue Direktor durchaus nicht mit sich spaßen lasse. — Heute aber war das Mädel krank und verstört ... Und man mußte diese jungen, unberechenbaren Geschöpfe anders anfassen, als einen gleichaltrigen Knaben.
Nun, der alte Heidekamp würde trotz der Rücksichtnahme wettern...
Der Dreiklang eines Kraftwagenhorns riß ihn aus seinen Betrachtungen und wahrhaftig — da hatte sich auch schon seine Tür geöffnet und wieder geschlossen, man hörte ein paar leichte Schritte draußen laufen, rennen, fliegen...
Und das Mädel stieg drunten ein, ohne Mantel, ohne Hut, und das Auto ratterte davon, — er konnte meinen, es sei alles ein Spuk gewesen.
Er lachte kurz auf. Hab’ ich das nun klug oder dumm gemacht?
Dann ging er mit ausholenden, wuchtigen Schritten nach dem Zimmer der zweiten Klasse, denn noch während er am Fenster gestanden, hatte schon die Schulglocke hallend den Schluß der Stunde angezeigt.
Im Klassenzimmer stand Fräulein Nissen aufgeregt und flatternd unter den Backfischchen. Einige schwatzten munter auf die Lehrerin ein, andere machten sich mit ihrer Garderobe zu schaffen, um rascher heimzukommen. Alle aber blickten scheu auf den Gestrengen, und das war er gar nicht von dieser Rotte Korah gewohnt.
Fräulein Nissen eilte ihm mit erhobenen Händen entgegen: „Herr Direktor, ich kann Sörine Heidekamp nicht[S. 107] finden, weiß Gott, wo sie stecken mag. Das kann auch nur dieses Mädchen, — aus der Stunde einfach fortlaufen — — Herr Direktor, ich beantrage Konferenz, ich, ich — — —“
Sörensen stand wie ein Bronzefels in der Brandung. Über die hagere, aufgeregte Lehrerin hinweg richtete er forschend seinen Blick auf all die Mädchengesichter, als suche er dort eine Lösung für seine Fragen. Und da begegnete er einem Paar traurigen Augen, die standen in einem abgezehrten, gelblich blassen Gesicht und sahen ihn so flehend an, als könne er ganz allein helfen. Er sagte ruhig. „Jawohl, Fräulein Nissen, heute nachmittag auf Wiedersehen in der anberaumten Klassenkonferenz, — jetzt vor den Kindern, — Sie begreifen... Agnes Asmus komm doch einmal mit mir herüber.“
Nein, Fräulein Nissen begriff gar nichts mehr. Sie war so völlig fertig mit ihren Nerven, daß sie Schulschluß und Ferien bereits mit Tränen, nervösem Lachen und stammelnden Gebeten vom Himmel herunterflehte. Vorläufig suchte sie mit Riesenschritten Herrn Professor Kahl zu erwischen, um in sein verständnisvolles Herz ihre Nöte zu ergießen.
„So, Agnes Asmus. Du siehst gar nicht gut aus, — ich ließe dich lieber rasch nach Hause gehen, aber, — habe ich recht, wolltest du mich sprechen?“
„Ja, Herr Direktor. Ich wollte nur sagen, meine Sörine ist ganz gewiß nach Hause gelaufen...“
„Nicht ganz, aber sie ist mit meiner Erlaubnis nach Hause gefahren. —“
„Ach? Das ist gut!“ Ein tiefer Atemzug. „Sie hat es schon einmal so gemacht. Wenn ihr etwas sehr Häßliches begegnet, dann bekommt sie schreckliches Heimweh nach der Heide, dann sieht und hört sie nicht, und läuft und läuft...“ Agnes’ Gesicht bekam einen Schimmer von Farbe, so lebhaft erzählte sie.
„Und heute ist ihr etwas sehr Häßliches begegnet?“
Ein scheues „Ja.“
„Willst du es mir erzählen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Hast du Vertrauen zu mir?“
„Ja, ja!“
„Nun also. Dann frisch drauflos.“
„Ich — — ich glaube, ich kann es doch nicht. Ach, nur nicht böse sein, Herr Direktor — — es hat gar nichts mit dem Vertrauen zu tun.“ Agnes Asmus bebte wie ein Blättlein im Winde.
„Nein, nein, ich bestehe nicht darauf. Sehe ich denn aus wie ein Kinderschreck, daß du so zitterst? Ist irgend jemand in der Schule, dem du es erzählen könntest? Dein Vater vielleicht?“
„Ach nein...“ Es klang sehr erschrocken. „Aber vielleicht Fräulein Doktor,“ setzte sie leise hinzu.
„Na, dann gehe mal zu Fräulein Doktor, die hat zufällig jetzt noch im Lehrerzimmer zu tun, wird aber gleich fertig sein. Und wenn du ihr erzählt hast, dann bitte sie auf kurze Zeit hierher. Ich warte. Deinen Eltern lasse ich durch Herrn Harks sagen, daß du etwas später kommst.“
„Danke. — Draußen hängen nun noch die Sachen von Sörine...“
„Die nimmst du mit dir nach Hause. Da hast du gleich etwas von der Freundin, und wenn die Sachen abgeholt werden, kannst du einen Trostbrief an die Manteltasche stecken.“
„O vielen, vielen Dank!“ Ein froher Blick aus blassem Gesicht.
Der Direktor war allein. „Oha!“ Er reckte sich.
Es vergingen kaum zehn Minuten.
Fräulein Dr. Stavenhagen kam erregt zu ihm.
Sie sah ihm ehrlich in die guten, ernsten Augen. „Eine dumme Geschichte, Herr Direktor. Ist eigentlich kein Thema für Sie und mich. Will’s kurz machen. Die Kollegin Nissen ist vom Aufklärungsteufel besessen. Sie, — wie sag’ ich — sie ist ein Neutrum, sie hat nichts Mütterliches, sie sieht die Dinge ohne jede Verklärung. Meint, — daß ein Mädel von der zweiten Klasse an mit allem Bescheid weiß. Und nun kommt ihr so was Feines, Zartes, so ein Seelchen unter die Finger — wie die Sörine — Herrgott im Himmel, — zerstört hat sie — zerstört, — wo man aufbauen soll...... Guten Morgen, Herr Direktor......“
Fort war die groteske Gestalt mit dem häßlichen Gesicht und dem warmen Herzen.
Und Direktor Sörensen ging mit geballten Händen im Zimmer auf und ab, und sein wackres Herz war voll Zorn.
**
*
Im Lehrerzimmer wurde hart gekämpft. Das scharfe Organ von Fräulein Nissen kletterte die ganze Tonleiter in die Höhe und wieder herunter. Oberlehrer Kahl sekundierte ihr heftig. Professor Traute warf salbungsvolle Worte ein und zitierte die Bibel, denn er war eigentlich Theologe, und predigte noch jetzt Jahr für Jahr in der Thomaskirche, wenn Diakonus Heinrich seinen Heuschnupfen hatte. Professor Rasmussen strich sich seinen Bart, wie immer, wenn er verlegen war. Er konnte manche Themata einfach nicht leiden, und ganz besonders waren ihm die verhaßt, die irgendwie der Frau zu nahe traten. Da konnte er sich ganz in sich selbst zurückziehen, um schließlich, wenn man ihn aus seiner Reserve zwang, messerscharf zu werden. Die kleine Hilfslehrerin, selig, auch einmal ein selbständiges Urteil abgeben zu dürfen, rief unentwegt zwischen die Streitenden: „O, ich bin sehr dafür! O, ich bin sehr dafür!“ Sie war insgeheim verliebt in Klaus Hansohm, und hätte für ihr Leben gern gewußt, wie er zu der zarten Sache stand, aber sie konnte sein finsteres Gesicht nicht durchdringen, und ihr Instinkt war nicht fein genug, zu fühlen, daß der junge Lehrer sich innerlich schüttelte vor Unbehagen. Hätte sie außerdem geahnt, daß er nach jedem ihrer Zurufe bei sich selbst feststellte, daß sie die größte Gans sei, die ihm je vorgekommen, sie würde ihn nicht so strahlend angesehen haben.
Fräulein Dr. Stavenhagen hatte sich heiser gesprochen und müde gekämpft. Sie ließ jetzt die Flut gegenteiliger Behauptungen über sich ergehen.
„Ja, nicht wahr, unsere Logik ist auch nicht von[S. 111] Pappe,“ rief Kahl gereizt, „nun äußern Sie sich, bitte.“
Fräulein Doktor sah ihn ernst an und zuckte dann die Achseln. „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen,“ sagte sie ruhig.
„Na ja, mit solchen Zitaten kann man den Stab über eine ganze ehrenhafte Versammlung brechen,“ meinte Traute. „Da kommen wir aber nicht weiter. Hier muß doch grundsätzliche Stellung genommen werden. Und vor allen Dingen dürfen wir unsere verehrte Kollega Nissen nicht preisgeben.“
„Doch, das tue ich,“ sagte Fräulein Doktor ernst und fest. „Ich finde das Vorgehen der Kollegin Nissen einfach unerhört.“
Die Angegriffene lachte schrill auf und zerpflückte ihr hübsches, spitzenbesetztes Taschentuch in seine Bestandteile. —
„Ahhh, Zeus macht Schule,“ flüsterte Kahl hämisch, „mich dünkt, wir haben dieses Urteil in der gleichen Form schon einmal gestern nachmittag gehört. Aber gottlob sind wir andern ja auch nicht gerade verblödet und vermögen uns selbst eine Meinung zu bilden.“
„Das können Sie ja auch laut sagen,“ entgegnete ihm Fräulein Doktor.
„Will ich auch. — Kollege Asmus, Sie sitzen immer so stumm da, wie denken Sie denn über den Fall?“
„Ich bin der Meinung, jede einzelne Mutter kann Fräulein Nissen dankbar sein, daß sie den Eltern diese heikle, undankbare Sache abgenommen hat.“
„Heikle, undankbare Sache?“ rief Fräulein Doktor. „So nennt ihr verheirateten Leute, ihr Väter heranwachsender Töchter das heiligste, zarteste Gespräch, das es zwischen Mutter und Tochter geben kann? Da kann ich angehende alte Jungfer freilich einpacken mit meinem Idealismus.“
Kahl zeigte albern lachend nach dem Storchnest auf dem Rathausgiebel: „Wenn Ihr Idealismus noch da oben drin steckt, dann können Sie freilich einpacken.“
„Nein, den Gefallen tue ich Ihnen aber nicht. Gerade der Fall Sörine Heidekamp bestärkt mich darin. Also so was gibt es doch noch auf der Welt, und nicht nur in der einen Sörineausgabe, sondern in einer ganzen Reihe empörter, aufgescheuchter und verstörter, junger Zweitklässler. Aber was mich so stutzig macht, das ist, daß ich meinen Idealismus gegen Mütter und Väter ins Feld führen muß... Darüber komme ich vorläufig noch nicht hinweg. Bisher habe ich euch Verheiratete immer beneidet, — ich tu’s nicht mehr.“
„Werfen Sie nicht alle in einen Topf, Kollega.“ Das rief eine völlig fremde Stimme. Man hatte die offene Tür nicht bemerkt, in der zwei Herren standen. Der Direktor führte seinen Gast herein. Es war ein lebendiger, frischer, älterer Herr mit hoher Stirn und starken Brauen über den scharfen grauen Augen. Er nickte nur kurz über die Versammlung hin, drückte aber Fräulein Doktor lebhaft die Hand und fuhr in seiner Rede fort, als habe er von Anfang an der Sitzung teilgenommen. „Mir sind zwei junge Töchter früh gestorben,“ sagte er. „Wären sie am Leben, meine sanfte Frau wäre zur streitbaren Löwin[S. 113] geworden, um ihre Rechte gegen eine Welt von — Nissens zu verteidigen.“
Auf dem Gesicht der Lehrerin zeigten sich rote Flecken der Aufregung und des Ärgers: „Herr Provinzialschulrat, ich habe in gutem Glauben gehandelt...“
„Fräulein Nissen, hier kommt es nicht auf Ihren guten Glauben an. Wenn Sie einem Schulkind ein Federmesser fortnehmen im guten Glauben, es sei das Ihre, dann können Sie es ihm zurückgeben, wenn Sie Ihren Irrtum bemerken. Das, was Sie der kleinen Heidekamp fortgenommen haben, können Sie ihr nie wieder zurückgeben. Wird sich Ihr Gewissen damit abfinden?“
„Jawohl, Herr Provinzialschulrat. Denn ich habe ihr Besseres dafür gegeben.“
„Alle Achtung vor Ihrem großartigen Selbstbewußtsein. Ich wollte, es hätte einer schöneren Sache gedient. Und was nennen Sie ‚Besseres‘? Ist Unschuld und Kindesgläubigkeit nicht das Beste?“
„Erkenntnis ist besser als Ammenmärchen.“
„So ungefähr sagte auch die Schlange im Paradiese.“
„Herr Provinzialschulrat!!!“
„Ammenmärchen kenne ich nicht, Fräulein Nissen, ich kenne nur Muttermärchen. Heilig sind diese. Haben Sie mich verstanden?“ Dr. Hofer ging mit raschen Schritten mehrmals durchs Zimmer, dann blieb er wieder vor ihr stehen. „Haben Sie die verstorbene Frau von Heidekamp gekannt?“
„Nein.“
„Nun, Sie werden mir altem Griesgram nicht viel Kenntnis in der Engelkunde zutrauen, — aber — so — geradeso wie Frau Lore von Heidekamp müssen Engel meiner Meinung nach beschaffen sein... Ich habe sie gekannt, die gütige, feine, reine Frau, die ihr Kreuz trug wie ein Held... Fräulein Nissen! Geschämt habe ich mich heute. Ihrer Tat hab’ ich mich geschämt vor den Manen jener Heimgegangenen...“
„Es war ja doch nicht die Heidekamp allein in der Klasse,“ warf jetzt Oberlehrer Kahl ein, weniger um Fräulein Nissen zu helfen, als um sich selbst dem Vorgesetzten bemerkbar zu machen. „Die andern haben sich alle durchaus ruhig verhalten.“
Jetzt trat auch Professor Traute auf den Plan: „Unser hochverehrter, leider zu früh entschlafener Direktor Clausen hat immer für die Aufklärung gewirkt,“ sagte er. „Seine Schülerinnen in der ersten Klasse gingen unbeschwert von Märchenballast in das unerbittliche Leben hinein. Fräulein Nissen und ich sind von ihm in diesem Sinne geschult worden.“
„Lassen Sie den Verstorbenen aus dem Spiel,“ gebot Dr. Hofer rauh, „ich möchte sonst den Spruch vergessen: De mortuis nil nisi bene.“
„Auch ich,“ sagte Lehrer Asmus, „stelle mich auf die Seite des Herrn Professor Traute; meine Tochter Agnes ist gleichfalls von Fräulein Nissen aufgeklärt worden, und meine Frau war damals froh, dieser unangenehmen Aufgabe enthoben zu sein.“
„Was heißt ‚damals‘?“
„Es war schon vor ein paar Jahren. Fräulein Nissen führte die vierte Klasse.“
„Die vierte!“ Der Provinzialschulrat ließ seine Hand schwer auf den Tisch fallen. „Fräulein Nissen, sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“
Die Angeredete brach in ein hysterisches Schluchzen aus. Dr. Hofer wendete sich, um ihr Gelegenheit zur Beruhigung zu geben, Fräulein Henny Freitag, der Hilfslehrerin, zu. „Nun, mein liebes Fräulein, Sie brauche ich ja eigentlich nicht zu fragen. Aus Ihren Augen leuchtet noch der ganze Idealismus Ihrer neunzehn Jahre...“
Fräulein Freitag schlug lächelnd die Augen nieder: „Ach, ich bin doch sehr dafür...“
Dr. Hofer maß sie mit eigentümlichen Blicken.
„So! Wie man sich täuscht,“ meinte er mit grimmem Humor. „Mir erzählte Herr Schulrat Wiese, der neulich bei Ihnen zuhörte, Sie hätten so wenig gelernt, daß Sie Ihre Klasse in keinem Fache ‚aufklären‘ könnten.“
Er wendete sich von der Verblüfften ab und wieder Fräulein Nissen zu.
„Sie hören ja, Fräulein Freitag ist auch sehr ‚dafür‘. Hätte sie die Sache besorgt, so konnte man den lapsus ihrer Jugend und — sonst noch einigem zugute rechnen. Aber Sie, Fräulein Nissen, mußten sich bewußt sein, daß Sie heilige Rechte verletzten.“
„Worauf fußen denn die Anklagen gegen mich?“ fragte Fräulein Nissen gereizt. „Nur auf Sörines Klatscherei?“
In Sörensens Stirn zog zornige Röte.
„Es ist tief bedauerlich, daß Sie Ihre Schülerinnen nicht besser kennen. Nicht ein Wort hat Sörine von Heidekamp erzählt... Auch ist es gleichgültig, wer aus Ihrer Klasse darüber berichtet hat, — heute ist ja doch die ganze Stadt voll davon, — eine Flut von Briefen hat sich auf meinen Tisch ergossen, bis jetzt las ich nur bittere Vorwürfe und Ausrufe der heftigsten Entrüstung. Sie haben sich eine Suppe eingebrockt, Fräulein Nissen, an der Sie lange essen werden. —“
Der Schulrat und Sörensen verließen die Versammlung.
„Geben Sie mir einen Löffel und gestatten Sie, daß ich die Suppe mit Ihnen teile,“ wandte sich Oberlehrer Kahl mit verbissenem Gesicht an die Gemaßregelte. „Wenn dabei gewisse Personen einen Klaps mit diesem Löffel abbekommen, soll’s mir eine Wonne sein.“
„Mit dem Nachfolger des verehrten Direktor Clausen sind wir tüchtig hereingesegelt,“ murmelte Traute verdrossen. „Diese liebenswürdigen Köder, die der Mann auswirft! Nun hat der Dr. Hofer auch schon wieder angebissen, der sogenannte ‚Unbestechliche‘, wie man ihn im Ministerium nennt.“
„Glauben Sie mir, der Grund von allem liegt bei den Heidekamps. Der Direktor hat einen Narren an der Sörine gefressen.“ Fräulein Nissen zitterte vor Gereiztheit.
„Man sagt,“ bemerkte Asmus, „der Direktor habe von oben, von ganz oben, einen Wink bekommen, die Abneigung des hochwohlgeborenen Herrn in der Heide endlich in Wohlgefallen zu verwandeln.“
„Und der Grund?“
Ein viel andeutendes und gar nichts sagendes Achselzucken war die Antwort. —
Lehrer Hansohm trat zu Fräulein Dr. Stavenhagen: „Geben Sie mir die Ehre, einen Heidespaziergang mit mir zu machen, Fräulein Doktor?“
Sie nickte ernst.
„Denn Ihnen geht es wie mir,“ fuhr er fort, „die Luft wird einem knapp in diesem Kollegium.“
Stumm schritten die beiden nebeneinander her. Durch das Tor des Städtchens ging’s hinein in die weite Heide. Ein paar Vögel flogen vor ihnen auf, über den Heidesand flohen junge Hasen. Sonst köstliche Stille.
Die Weiden an der steinernen Brücke leuchteten rot. Hansohm schnitt sich eine starke und doch biegsame Gerte. Dann und wann fuhr er sausend damit durch die Luft.
„Wie köstlich die Frühlingsheide duftet,“ brach Fräulein Doktor endlich das Schweigen. Sie blieb stehen und sog in durstigen Zügen die herbe Luft ein. „Ach, und die Birken! Die ehrlichen, preußischen Stämme in ihrem konservativen Schwarz-weiß. Wie ich euch liebe!“ Sie legte ihre Wange an den Stamm. „Hansohm, ich bitte Sie, schnuppern Sie, wie das riecht, meine Nase feiert Orgien. Über ein Weilchen — und ich habe vergessen, daß es ein Lyzeum in Birkholz gibt. Denke nur noch an das Birkholz. Ahhh!“
Hansohm schlug immer noch mit der Gerte auf einen unbekannten Feind ein.
„Nun, Kollege? Sie scheinen mir noch nicht so weit zu sein. Nehmen Sie sich ein bißchen in acht, beinahe hätten[S. 118] Sie mir den Hut vom Kopf geschlagen. Wo sind Ihre Gedanken?“
„Ich dachte an meine zukünftige Tochter. Und wie ich abrechnen würde, wenn mir das passierte...“ Er köpfte wütend eine dürre Distel vom vergangenen Jahr.
Fräulein Doktor lachte kurz auf. „Sie lieben schnelle Justiz, Kollege.“
„Ja. — Und ich gäbe ein paar Jahre meines Lebens darum, wenn ich in Wahrheit reine Bahn schaffen könnte!“
„Sie sind blutdürstig. — Und die ‚paar Jahre‘ Ihres Lebens sollten Ihnen wertvoll sein.“
„Sind sie auch. Aber ich möchte sie einem andern Leben ansetzen, einem Leben, von dem kleinlicher Schulärger durch unausgesetztes Bohren schöne Jahre abfressen wird.“ Sein Finger wies nach der Stadt zurück. „Fräulein Doktor, in dem alten, grauen Hause wohnt ein Edelmensch. Ich habe ihn lieb. Lachen Sie mich nicht aus. Ich habe nie einen Menschen in meinem ganzen Leben so lieb gehabt, wie unsern Direktor Sörensen.“
Fräulein Dr. Stavenhagen war sehr blaß geworden.
„Nein, ich lache Sie nicht aus,“ sagte sie ruhig.
Und dachte, — ob wohl der große Junge Hansohm laut lachen würde, wenn er wüßte, daß „unser Direktor Sörensen“ ihres Herzens erste und einzige Liebe sei.
Dora Stavenhagen hatte nicht Zeit gehabt, sich früher zu verlieben. Immer hatte sie nur gearbeitet. Das bißchen Kapital ihrer Familie war für die Brüder verwendet worden. Und trotzdem hatten sie immer noch die Schwester in Anspruch genommen. Die häßliche, ge[S. 119]scheite Schwester, die ja ein geborener „Blaustrumpf“ war. So wenig kannte man sie und ihren Hunger nach Liebe und eigenem Herd. Und nun, da die beiden Offiziersbrüder längst in guten Schuhen standen und ihre verwitwete Mutter, die Frau Major Stavenhagen, dank der guten Stellung der Tochter noch einen behaglichen Lebensabend gehabt hatte, ehe sie schlafen ging, nun, da sie selbst über ihr Altjungferntum fröhlich spottete, trat dieser Mann in ihr Leben, dieser „prachtvolle Mensch“, wie sie ihn vor sich selbst nannte.
Dora Stavenhagen hatte scharfe Augen. Und sie wußte vom ersten Tage an, daß der ernste Sörensen einsame Wege ging. Daß er keinen Wanderkameraden brauchte, am wenigsten eine Frau. Ja, manchmal war es ihr schon geschienen, als wäre er ihr dankbar, daß sie so gescheit und so häßlich sei. —
„Nun können wir wohl umkehren, Kollege,“ sagte sie. „Was wir beide wollten, haben wir ja erreicht, nicht wahr?“
Hansohm nickte. Nicht nur Lungen und Herz hatten sie sich weiten wollen, sondern auch den schweren Ärger ließen sie in der Heide zurück, die eine gute Mutter ist für alle seelischen Gebresten.
Fräulein Doktor sollte heute mit bei Hansohms zu Abend essen, und es war stillschweigende Vereinbarung, daß der leidenden Schwester nur frohe Gesichter gezeigt wurden. Sie ahnten nicht, daß das feine Empfinden von Lore Hansohm, durch jahrelanges Siechtum geschärft, die liebevolle Komödie durchschaute, die man ihr vorspielte. —
Es war sehr behaglich in der kleinen Wohnung, in die sie nach kräftigem Marsch eintraten. Der Tisch war schon gedeckt. —
Das hübsche Steingutgeschirr mit dem bunten Muster stimmte gut zu dem blendend weißen Tischtuch, und die Vase mit dem dunkeln Wacholderbusch, neben den gelbe Osterblumen gesteckt waren, war ein Kabinettstückchen.
„Lore versteht’s,“ lachte froh der Bruder. „Bei aller Kärglichkeit unserer früheren Mahlzeiten habe ich nie das Feine, Anheimelnde, das köstliche Drumrum zu vermissen brauchen. Und wenn wir auch oft nur Kaffee und Brot oder irgendein kärgliches Breichen zu verzehren hatten, unsere beiden silbernen Bestecke lagen doch immer auf dem Tisch, und auf meinem kunstvoll gefalteten Mundtuch fand ich eine Blume. Anders tat es die Lore nicht.“
Diese hantierte noch emsig in der Küche.
„Dies knappe Sichdurchwinden gibt uns allen den Stempel ‚hart‘,“ sagte Fräulein Doktor. „Wir laufen damit herum, wie mit einem Fabrikzeichen. Nur daß Sie die Dürftigkeit Ihrer Kinderstube frei allen Menschen bekennen durften, während wir als Majorskinder noch vornehm tun mußten. Wenn ich in der katholischen Kirche die Mutter Maria mit den sieben Schwertern ansehe, denke ich an meine Heimgegangene. Die saß bis in die Nächte auf, um uns sieben Reißteufeln die Garderobe „standesgemäß“ in Ordnung zu bringen, und darbte sich alles am Munde ab, um die stärkenden Weine für den immer kränkelnden Vater zu beschaffen. Und später kamen teure Arzneien und nötige Badereisen dazu.
Dazu im Winter die Gesellschaften.
Und doch riß man sich um das Kommißessen bei uns mit dem üblichen Kalbsbraten und der verlängerten Tunke, die noch am andern Tage für sieben hungrige Mäuler reichen mußte. — Denn Mama verstand es, selbst das zäheste Kalb anzudichten, womit ich jetzt wirklich den Braten meine. Wenn auch auf jedem Gedeck ein Gedicht lag für Männlein und Weiblein. Und immer war etwas Besonderes bei uns zu sehen oder zu hören, Mutters unsagbar liebliches Lächeln brachte es fertig, daß Bühnengrößen bei uns sangen, die man in Theater- oder Konzertsälen nur um märchenhaftes Eintrittsgeld hören konnte. Und ich weiß, daß unser verwöhnter Divisionsgeneral unsere Abende besuchte, nur um Mutters Geige singen zu hören.“
„Und Sie sind so vermessen, Ihre Kinderstube mit der meinen zu vergleichen? Fräulein Doktor?“ Hansohm lachte hart auf. „Geschwelgt haben Sie, wo ich darbte. Denn Sie hatten eine gute Mutter. Lernen Sie um, Fräulein Stavenhagen.“
Aus der Küche tönte ein Ruf. Lore Hansohm rief ihre Helfer, und nun trug Bruder Klaus die Suppenschüssel herein und Fräulein Doktor die gewärmten Teller. Immer wenn Konferenzen einberufen waren, richtete Lore ein warmes Abendessen her, und danach wurde musiziert. So pflegte die Kranke unangenehme Vorkommnisse zu verklären.
Es wurde eine sehr gemütliche, ja lustige Schwelgerei in sauren Kartoffeln und Bratklopsen.
Und doch nahm nach dem Abräumen und Abwaschen, bei dem Fräulein Doktor fleißig half, Schwester Lore den Bruder Klaus beim Schopf und sagte eindringlich: „Was du heute zusammengeschwatzt hast! War das nötig? So viel Häßliches hattest du vor mir zu verbergen??“
Da strich ihr der Bruder sacht über das blonde Haar. Dann schritt er zum Spinett, und von nun an sprachen Schubert und Brahms. Mitten in eins der Lieder hinein schrillte der Dreiklang des Glockenspieles an der Haustür, aber Hansohm sang das Lied zu Ende, weil er wußte, so liebte es der Lauscher da draußen.
Erst eine ganze Weile nach dem Schluß trat Direktor Sörensen in das behagliche Zimmer. Und wieder brachte er Blumen mit für die Leidende und für alle drei Menschenkinder eine Fülle von Wärme und Glück. Trotzdem er bis obenhin vollgepackt war mit Ärger und Arbeit und Grimm. Aber alles wollte er hier vergessen. Dazu hatte er das kleine, braune Ding mitgenommen, von dem noch niemand wußte, daß es sein ein und alles war. Bei einer alten Trödlerin in Nürnberg hatte er es gefunden, verstaubt, beschädigt, mit zerrissenen Saiten. Und weil die Trödlerin einen hungrigen Magen und zwei hungrige Augen hatte, gab sie es ihm für fünfzehn Mark.
Sörensen begrüßte herzlich die drei Freunde, dann legte er still ein paar Notenblätter auf das Spinett, und Klaus Hansohm staunte und präludierte leise. Dann wurde die alte Amati ausgepackt. Sörensen spielte. Und wieder zog Feiertagsstimmung in den schlichten Raum. Als Sö[S. 123]rensen den Bogen sinken ließ, sah er in blanke Augen hinein. —
„So, — nun bin ich wieder Mensch,“ lachte er glücklich. „Und werde mir gleich einen gefüllten Pfannkuchen einverleiben, von denen Fräulein Lore eine verschwenderische Menge hingesetzt hat.“
Er ließ den Worten die Tat folgen.
„Warum sind Sie so still?“ fragte er nach einer Weile. Er scheute sich, die banale Frage zu tun, ob er etwa gestört habe.
Lehrer Hansohm nahm mit raschem Griff seine Hand. „Warum sagten Sie mir nie...“ stotterte er.
„Daß ich mit Leib und Seel ein Musikant bin? Ich weiß es nicht, Kollege Hansohm. Muß mich erst langsam zum Mitteilen und Abgeben erziehen. Und Sie helfen mir so schön dabei. Heute war es mir wahrhaftig zu eng daheim, deshalb eilte ich her...“
„Zu eng im großen grauen Patrizierhause am Markt,“ brummte Fräulein Doktor mit ihrer tiefen Stimme.
„Und dann kommen Sie hierher in die Weite,“ lachte Lore Hansohm und zeigte auf das kleine Geviert des Stübchens.
„Aber wie Sie es sagen, Herr Direktor, so glaubt man’s Ihnen.“ Klaus Hansohm bot ihm eine Zigarre.
„Wo denken Sie hin?“ wehrte Sörensen ab. „Ich bin zu Schubertliedern eingeladen, dabei wird nicht geraucht. Auch fröne ich nicht der Zigarre, sondern stopfe mir in krausen, unmutigen, schweren Stunden eine Pfeife, — beileibe nie in behaglichen. Die Pfeife bringt mir[S. 124] erst Ruhe und Frieden. Aber jetzt und hier ist mir urbehaglich zu Sinn.“
Lore Hansohm sah dankbar zu dem Riesen auf. Sie fühlte, daß er mit den freundlichen Worten nur an ihr Wohl und an die Rücksicht dachte, die man einer Vielleidenden schuldig sei. Bruder Klaus rauchte nie in ihrer Gegenwart.
Hansohm sang, und seine köstliche Stimme trug die Zuhörer in eine andere Welt. Dann setzte Sörensen wieder den Bogen an und spielte Bach und Mendelssohn und kleine, feine Sachen von Grieg.
Und Fräulein Doktor meinte, wenn aller Schulärger solchen Ausgang hätte, dann möchte sie wohl gern auf Dornen gehen. Sie wurde weidlich von beiden Herren ausgelacht, aber Lore Hansohm nickte ihr strahlend zu, und zu Sörensen sagte sie mit ihrem lieben, sanften Lächeln: „Ich fange jetzt erst an zu leben.“
So rührend klang ihr Geständnis, daß der Bruder sich rasch abwandte, um seine Bewegung zu verbergen.
Als es zehn Uhr schlug auf der kleinen Diele, sprang Fräulein Doktor auf. „Ich bitte mir aus, daß es hier nicht immer so unverschämt gemütlich ist, um zehn Uhr muß ich in meiner Mansarde sein, sonst kann Fräulein Tingleff nicht einschlafen, die unter mir wohnt. Ihr zuliebe habe ich mir wollene Schuhe gestrickt, und husche so auf leisen Sohlen durch meine Räume.“
„Ist die Dame solche liebevollen Rücksichten wert?“ fragte Sörensen. „Aus dem Kollegium hörte ich einige recht harte Urteile über sie...“
„Sie ist eines der wenigen Originale unserer Stadt. Unliebenswürdig im höchsten Grade und ebenso liebenswert. Merkwürdigerweise macht man ja einen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen.“
„Stachlig ist sie, aber herzensgut,“ sagte Hansohm. „Sie prunkt mit ihren Stacheln und schämt sich ihrer Herzensgüte. Ich lernte sie kennen, als der Flügel im Singsaal aufgestellt wurde. Zuerst behandelte sie mich ganz als Schuljungen, aber jetzt nennt sie mich Herr Oberlehrer, nur um ihre Hochachtung zu bezeugen.“
„Wenn ich noch lange hier stehe,“ drängte Fräulein Doktor, „verliert sie aber den letzten Rest Hochachtung vor mir, und das wäre vom Übel. Guten Abend und Dank!“
„Halt, — ich gehe mit,“ rief Sörensen, „halten Sie mich für einen Kanadier?“
Dora Stavenhagen war schon ein Stück voraus, aber seine langen Schritte holten sie rasch ein. „Ja, dies Birkholz im Mondschein ist etwas Bezauberndes,“ rief er ihr zu. „Ich werde Hansohm sagen, er soll seinen Schemel auf die Straße setzen und den Hans Sachs singen ... Schade, schade, daß Sie nicht noch viel weiter wohnen,“ setzte er harmlos hinzu, „heute wäre recht ein Abend zum Wandern.“
„Du großes Kind,“ dachte Fräulein Doktor, „dich wird Birkholz noch ordentlich in die Schule nehmen.“
Aus dem Rathauskeller kamen etliche Herren vom Weinschoppen. Sie grüßten und der kurzsichtige Sörensen[S. 126] dankte. „Haben Sie viel Freunde und Bekannte im Städtchen, Fräulein Doktor?“
„Könnt’ ich nicht sagen. Das Kollegium, Fräulein Tingleff und meine Bücher. Oder richtiger: Meine Bücher, Fräulein Tingleff und das Kollegium.“
„Das ist schade. Das Kollegium sollte zuerst kommen ...“
„Noch vor den Büchern? Bei Ihnen sicherlich nicht, Herr Direktor.“
„Das weiß ich denn doch nicht so genau. Die Bücher sollten die Menschen nicht ersetzen. Wenigstens nicht dem Lehrer. Und ich gestehe Ihnen in dieser verschwiegenen Mondscheinnacht, daß mir von meinen Ahnen eine ungeheure Fülle von Menschenliebe überkommen ist. Da ‚kann ich nicht gegen an‘, wie meine Wirtschafterin zu sagen pflegt.“
„Menschenliebe? Hm. Ja, zu den werdenden Menschen. Ich bin allen Kindern unbeschreiblich gut. Den großen Leuten nicht.“
„Sie machen sich unguter, als Sie sind. Man braucht nur zu sehen, wie Sie mit Fräulein Lore Hansohm umgehen ...“
„Die rechnet nicht. Die Weise, ihre Krankheit zu tragen, ist schon engelhaft. Der große Junge Hansohm wird bald einen guten Fürsprecher beim Herrgott haben...“
„Halten Sie das Leiden für so ernst?“ fragte Sörensen.
„Für sehr ernst. Das Herz flattert nur noch mühsam in seinem Käfig... Klaus Hansohm weiß es schon[S. 127] lange. Deshalb sieht er der Schwester ja alles an den Augen ab, und — ich habe gesehen, wie er sie einmal abends nach einem Anfall in der Stube umhertrug.“
„Die man liebt, auf Händen tragen...“ sagte Sörensen leise, „Kollege Hansohm ist ein sehr glücklicher Mensch.“
„Herr Direktor, wir wandern jetzt schon das zweitemal um den Marktplatz herum, es wird Zeit, daß ich hinaufgehe.“
„Wie zerstreut ich bin. Hoffentlich finden Sie gleich die Wollschuhe. Damit Fräulein Tingleff nicht schilt.“ Er lachte leise und drückte ihr fest die Hand. „Gute Nacht!“
Fräulein Doktor stieg ganz sacht die breite, altertümliche Treppe im Hause Dingelmann und Sohn empor. Aber auf dem zweiten Stockwerk knarrte es doch bedenklich unter ihren festen Füßen, und eben wollte sie die Mansarde erklimmen, als sich die Haustür neben dem weißen Porzellanschild Tingleff öffnete und eine feste Hand sie packte, so daß Fräulein Doktor einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken konnte.
„Schreien Sie nicht, Doktorsche,“ raunte Fräulein Tingleff, die in weißer Nachtjacke und fünfundzwanzig Papierröllchen prangte, die von ihrem grauen Haar umwickelt, „pil in Enn’“ standen. „Wecken Sie meinen alten Verehrer drunten nicht auf. Sonst plagt ihn die Eifersucht, weil er meint, ich hätt’ ein Stelldichein. — Ich konnte heute nicht einschlafen und guckte zum Fenster raus und sah Sie unten mit einem Mannsbild techtelmechteln...“
„Verehrtes Fräulein, ich würde mich doch etwas korrekter ausdrücken!“
„Korrekter??? Direkter!!! Aha! Ich habe recht! Das Leugnen hätte Ihnen auch nichts genützt, ich nahm vorhin mein scharfes Opernglas, trotzdem der lange Sörensen gar nicht zu verkennen ist, wir haben nur den einen Gardisten in Birkholz.“
„Meinen Sie wirklich, ich hätte leugnen wollen?“
„Desto besser. Aber wir wollen hineingehen und noch einen Schnack im Zimmer machen. Auf der Treppe fürchte ich Dingelmanns. Die Dingelmännin sieht immer in den Leuten etwas anderes, als sie sind, sie könnte mich heute in der Nachtjacke für Madame Potiphar halten.“
„Fräulein Tingleff, es ist elf Uhr.“
„Da ich nicht taub bin, hörte ich bereits die dröhnende Rathausuhr. Und wenn Sie nicht zweimal mit Ihrem Sörensen um den Marktplatz geschlendert wären...“
„Auch das haben Sie gesehen?“
„Ich sehe alles, aber nicht mehr. Gott, Doktorsche, ich würde mich noch krummer freuen, als ich schon bin, wenn Sie den Mann kriegten. Sie sind das gescheiteste Mädchen in Birkholz.“
„Und das häßlichste.“
„Nein, den Ruhm nehme ich in Anspruch. Es genügt auch, daß Sie das klügste sind. Sie müssen nicht alles haben wollen. Überdies hat er die Schönheit für Sie mit.“
„Finden Sie ihn schön?“
„Doktorsche, machen Sie um Gottes willen keine Mördergrube aus Ihrem verlangenden Herzen. Na, wie ich[S. 129] über die Mannsleute im allgemeinen denke, wissen Sie ja. Aber wenn Ihr Direktor vor vierzig Jahren zu mir gekommen wäre mit ’ner Anfrage, ich hätte ‚ja‘ geschrien. Damit er sich nur nicht verhörte.“
„Vor vierzig Jahren lebte er aber noch nicht.“
„Das weiß ich, Sie greuliches Geschöpf. Leider. Na, wann geht’s also los? Beichten Sie mal.“
„Fräulein Tingleff, ich darf mir gestatten, Sie eine Kneifzange zu nennen. Das ist ungehörig, ich weiß es. Aber auf das ‚greuliche Mädchen‘ muß ich diesen groben Keil setzen.“
„So gefallen Sie mir. Nur immer von der Leber weg.“
„Schön. Aber nun auch Themawechsel, Fräulein Tingleff. Und ein für allemal: Ich schätze Herrn Sörensen sehr... aber etwas anderes wird nie geschehen, hören Sie? Nie.“
„Wenn Sie dies Gesicht aufsetzen, dann glaub ich Ihnen. ‚Hochschätzen‘, hm! Na, ich wäre jedenfalls mit Hochschätzung nicht ausgekommen. Aber Ihr neuen Frauenzimmer seid ja anders. Bei euch kommt zuerst der Beruf und die Liebe irgendwann oder auch gar nicht.“
Dora Stavenhagen war blaß geworden. Und sie dachte still: „Ach, was du da schwatzest. Ich will meine tiefe, große Liebe umwerten in Segen für die Kinder an seiner Schule...“
„Wenn Sie so verträumt aussehen, Doktorsche, kann man Sie für Vierundzwanzig halten. Wie alt sind Sie eigentlich?“
„Ich bin sechsunddreißig.“
„Also ein Kücken gegen meine Zweiundsiebzig. Sagen Sie mal, was ist eigentlich im Lyzeum vorgefallen? Um das zu hören, habe ich Ihnen eigentlich aufgelauert. Frau Dingelmann, die ja selbst kinderlos ist, erzählte mir, sie habe von ihrem Dienstmädchen gehört, und das habe es wieder vom Provisor der Ratsapotheke, eine Menge Birkholzer wollten ihre Kinder aus dem Lyzeum nehmen, weil...“
„Nun weil?“ drängte Fräulein Doktor gespannt.
„Weil Direktor Sörensen irgendeine Schauderhaftigkeit oder Generaldummheit begangen habe.“
„O das ist schändlich!“
„So? Na, ich dachte mir’s schon, daß das Hühnergehirn des Provisors wieder mal Blasen getrieben habe. Wie der Herre, so’s Gescherre.“
„Die Dummheit ist von einer Lehrerin begangen worden...“
„Dann war’s die Nissen,“ frohlockte Fräulein Tingleff. „Ich habe immer gewußt, daß unser Herrgott sie im Zorn erschaffen hat. Aber daß er auch zuließ, daß sie Lehrerin wurde... Er muß doch ’ne Pieke aufs Birkholzer Lyzeum haben.“
„Was Sie da zusammenreden, liebes Fräulein Tingleff,“ Fräulein Doktor lächelte matt, „... ich glaube, ich muß Ihnen reinen Wein einschenken.“
„Erfahren tu ich’s ja doch,“ brummte Fräulein Tingleff, „der Provisor lauert auf mich.“
„Der Provisor ist ein Esel. Also, Fräulein Nissen[S. 131] hat endlich nach einem ganzen Jahr glücklich herausgebracht, daß die Mädels in der zweiten Klasse noch harmlose, unschuldige — ach, ich weiß ja — kreuzbrave Geschöpfe sind. Die haben zu viel kindische Raupen im Kopf, als daß da noch Platz wäre für irgend etwas Frühreifes. Sie haben keine dummen Bücher gelesen, erst recht keine schlechten, — sie hat überhaupt nichts gelesen, die Bande... Märchen haben sie sich erzählt und selbst ausgedachte Geschichten... ach, meine liebe, zweite Klasse...“
„Weiter, weiter...“
„Ja, sie steckten richtig drin in heiligen Muttermärchen, wie Sörensen sagt...“
„So? Sagt Sörensen?“
„Und die Sörine Heidekamp, die ja immer Sprecher ist, hat ganz rührend, aber voll Überzeugung ihre Storchweisheit ausgekramt und hat schließlich auf die energisch ausgesprochenen Einwendungen der Nissen hin mit Tränen in den Augen gerufen: ‚Aber das ist doch der Unterschied zwischen Mensch und Tier. In Urzeiten hat Gott große, weiße Vögel ausgeschickt, und die haben die Kindlein zur Erde getragen. Später sandte er Engel... aber das haben die bösen Menschen nicht verdient, da schickte er Störche, die mußten dann noch Schmerzen zufügen ... Und die Tiere, ja die kommen aus sich selbst. Das hab ich in Heidekamp schon manchmal gesehen...‘ Fräulein Tingleff, so hat es mir die Agnes Asmus erzählt. Das ist ein über ihre Jahre ernstes Kind, — es wird alles richtig sein.“
„Und die Nissen? Die Nissen?“ stöhnte Fräulein Tingleff und packte beide Hände ihres Gastes.
„Mit ihrem ganzen Rüstzeug hat sie dreingeschlagen. Mit Keulen des Hohnes, mit den Schwerthieben ihres ausgesucht greulichen Lachens, mit Lanzenstichen der Ironie ... Und dann ist sie zum Schluß in der Pflanzenkunde recht deutlich geworden...“
„Himmelkreuzmohrenmordselement!“ fluchte das alte Fräulein Tingleff. — „Man möchte zum Bürgermeister laufen und den alten Pranger von seinem Oberboden holen. — Nun und wie verhält sich der Direktor?“
„Sie fragen noch? Wie ein Ehrenmann, der für die Rechte der Mütter eintritt. Er muß selbst eine sehr geliebte Mutter gehabt haben oder noch haben, nur so kann ich mir die Zartheit erklären, mit der er Frauen, ja selbst seine Schülerinnen behandelt.“
„Ich muß den Mann kennen lernen,“ sagte Fräulein Tingleff energisch. „Er soll abends den Tee bei mir trinken und mit mir Schach spielen.“
„Dr. Sörensen geht fast gar nicht aus...“
„Tatata, zu mir wird er kommen. Ich werde ihm meinen Besuch machen, dann muß er...“ Das alte Fräulein sah triumphierend aus. „Aber nun geh’ ich ins Bett, Doktorsche, Ihre Neuigkeiten sind mir in den Magen gefahren und schreien nach Baldriantropfen. Gute Nacht. Ziehen Sie oben sofort Ihre Pampuschen an und husten und niesen Sie nicht. Dingelmanns Haus ist zu leicht gebaut.“
Lachend versprach Fräulein Doktor größte Vorsicht, und dann trennten sich die beiden Hausgenossen.
Aber beide sahen, ehe sie sich zur Ruhe begaben, noch einmal nach dem alten Patrizierhause hinüber. Es lag ganz dunkel und Fräulein Tingleff stieg beruhigt in ihr riesiges Himmelbett. Aber Dora Stavenhagen wußte, daß das Studierzimmer des Direktors nach dem Garten herauslag, und daß wohl heute die grüne Schirmlampe noch lange brennen würde. —
**
*
Sörensen saß über dem Stoß von eingelaufenen Briefschaften. —
Die Birkholzer, die er durch sie kennen lernte, waren streitbare Leute, kernfestes Holz. Und viel Gemüt und Humor wehte durch all den grimmigen Zorn und zornigen Grimm, der in den Schreiben niedergelegt war. Überall war das Herz mitverwundet neben dem Recht. Als der Direktor alle Briefe durchgelesen, nahm er lächelnd einen besonders großen Bogen noch einmal vor und las ihn zum zweiten Male:
Geehrter Herr Direktor!
Dazu ist die Mutter da. Wollen Sie dieses mit einer schönen Empfehlung an Ihr Fräulein Lehrerin Nissen bestellen? Und wollen Sie ihr außerdem fragen, wo sie es denn gar so genau herweiß? Geehrter Herr Direktor, wir haben unsere Kinder Gott sei Dank so erzogen, daß sie mit ihre Leiden und Freuden zu ihre Mutter kommen. Und unsere Älteste, die Martha, die nun[S. 134] Gott sei Dank schon verheiratet ist, hat schon mit zwölf Jahren allerhand gefragt, aber die ging auch in die Volksschule, wo andere Kinder beieinander sind als im Lyzeum. Aber damals hatte sich unsere Schlosserei auch noch nicht so gehoben wie jetzt, wo wir zwei Gesellen und vier Lehrlinge haben, und was dranwenden können an Englisch und Französisch für unsere Jüngste in der zweiten Klasse Ihrer geehrten Schule. Ich habe meine Martha also über Verschiedenes reinen Wein eingeschenkt, weil sie mit vierzehn Jahren dienen sollte und noch ein ganzes Kind war. Aber über die ganz ernsten und verzwickten Sachen habe ich erst mit ihr gesprochen, als sie sich mit unserm Altgesellen verlobte, und die Sache brenzlich wurde. Ist aber ein braver Mensch und glückliche Ehe, auch gutgehendes Geschäft Steingasse 4, wenn Herr Direktor mal Bedarf haben an Reparatur. Aber die Meta ist noch nicht verlobt, sondern ein rechtes Kind nach Gottes Herzen und unsere ganze Freude. Es hat niemand von uns gestört, daß sie noch pickfest an den Storch glaubte. Und außerdem hat mein lieber Mann unsern Kindern gesagt: „Was ihr auch von andern Leuten hören mögt so über kleine Kinder oder auch über Eheleute und über Liebessachen, denkt dran, daß alles vom lieben Herrgott kommt und von ihm eingesetzt ist. Denkt dran, daß alles, was aus rechter, wahrer Liebe kommt, heilig ist. Denn die Liebe ist größer als Glaube und Hoffnung hat Christus gesagt. Und wer euch etwas Unheiliges erzählt, der ist ein schlechter Mensch, da müßt ihr rasch fortlaufen.“ Geehrter Herr Direktor, mein Mann kann die Worte[S. 135] viel besser setzen als ich und würde auch heute dies geehrte Schreiben besorgt haben, wenn nicht das alte Kunstschloß am Rathaus entzwei gegangen wäre und er da selbst eigenhändig bei müßte. Ich beschließe diesen Brief und sage nochmal, was Fräulein Nissen da den Kindern vorgeschwatzt hat, das geht sie nichts an, sondern nur meinen Mann und mich. Und sie soll erst mal selbst Mutter werden. Nur wir Mütter haben das Recht, unsern Kindern die Wahrheit zu erzählen. Und wo keine Mutter ist, da ist wohl noch eine Großmutter. Eine unverheiratete Lehrerin muß still zuwarten, bis sie dran kommt. In der zweiten Klasse hat sie niemand drum gebeten. „Und was deines Amtes nicht ist, da laß deinen Fürwitz.“
Achtungsvoll
Frau Schlossermeister Steinicke.
Als Direktor Sörensen am Sonntag nachmittag von seinem Heidespaziergang zurückkehrte, wartete seiner eine große Überraschung. Vor seiner Tür hielt der Heidekampsche Kraftwagen, und in seinem Arbeitszimmer saß der alte Freiherr.
Als Sörensen hereintrat, stand der Besucher mühsam auf, um ihn zu begrüßen, und stützte sich schwer auf seinen Stock. Aber bis auf sein lahmes Ischiasbein war der Hüne ein Urbild von Rüstigkeit. Zweiundachtzig Jahre! Und dabei lag sein schneeiges Haupthaar voll und fast üppig über der hohen, klugen Stirn, und seine scharfen, blauen Augen schienen durch Mauer und Holz zu sehen, wie die der Enkelin. Ein langer, weißer, sorgfältig[S. 136] gepflegter Patriarchenbart vervollständigte die Ehrwürdigkeit des Greisenantlitzes, dem Adlernase und buschige Brauen große Kühnheit gaben. —
Diesen reckenhaften Mann in Verlegenheit und als Bittenden zu sehen, hatte etwas Rührendes. Sörensen wollte ihm rasch darüber hinweghelfen, aber er schien die Gewohnheit zu haben, seine Suppen allein zu löffeln.
„Es geschieht mir schon recht,“ sagte er, „daß ich jetzt persönlich als Ratheischender zu Ihnen kommen muß, Herr Direktor, da ich doch Ihren Besuch eigentlich nur mit meiner Besuchskarte erwidern wollte. Will Ihnen gern gestehen, daß ich auch noch gestern gar nicht dran dachte, herzugehen. Und Frauenzimmerrat mocht ich mir auch nicht holen. Zuerst wollte ich Fräulein von Schlieden, alias Grauchen, zu Ihnen schicken. Dann verwarf ich’s wieder. Die alte Dame hat zu himmelblaue Ansichten, auch würde sie glatt vor Scham gestorben sein, wenn Sie, der unbeweibte Mann, mit ihr das Aufklärungsthema angeschnitten hätten. — Also mußte ich selbst ’ran. Aber nun werden Sie mir böse werden, Herr Direktor, Gott, ich kenne ja die Lehrerschaft und den Schulmonarchendünkel und das Bestreben bei Ihnen, daß nur ja alles nach der Ochsentour geht...“
„Herr von Heidekamp,“ fiel Sörensen ein, „ich kann doch unmöglich annehmen, daß Sie mich hier in meinem eigenen Hause beleidigen wollen...“
„Na, sehen Sie, Herr Direktor, da fängt’s ja schon an. Ich bin ein schlechter Diplomat. Also ich wollte nur sagen, ich bin nicht zuerst zu Ihnen gekommen, sondern war erst[S. 137] beim Lehrer Hansohm. Der Mann steht meinem Empfinden nahe, ein prächtiger, junger Kerl. Habe ihm heute eine Generalsekretärstelle bei mir angeboten, aber er will lieber bei 2000 Mark inmitten seiner geliebten Schulkinder verhungern, — na, das ist Geschmacksache. Aber er wollte mir auch durchaus keinen Rat erteilen, sondern verwies mich sofort an Sie.“
„Das ist schade, Herr von Heidekamp. Lehrer Hansohm ist ein heller Kopf, mit scharfem Verstand und einem warmen Herzen. Ich würde selbst zuerst zu ihm gehen, wenn ich mir in Birkholz Rat holen wollte.“
„Herr Sörensen, ich bin erstaunt. Sie zwingen mich zum Umlernen, und ich bitte Sie um Entschuldigung, wenn ich da vorhin etwas grob war. Ich muß aber sagen, es passiert mir zum erstenmal, daß ein Schulleiter nicht ‚fünsch‘ wird, wenn man zuerst zu seinem Untergebenen läuft und dann erst zu ihm.“
Sörensen lächelte. „Ich bin als Oberlehrer in guter Schule gewesen. Da habe ich gelernt, mich in erster Linie als Mitglied des Kollegiums, erst in zweiter als Direktor zu fühlen.“
Herr von Heidekamp staunte. „Merkwürdig, merkwürdig,“ sagte er kopfschüttelnd und sah Sörensen ganz steuerlos an. Aber dann wurde mit einemmal sein schönes, altes Gesicht freundlich und seine Stimme klang frohmütig: „Einen Irrtum einzusehen, dazu ist man ja nie zu alt. Geben Sie mir erst einmal Ihre Hand, Herr Direktor...“
Erne Sörensen drückte fest die dargebotene Rechte.
„Herr von Heidekamp, — ich fühl’s, es wird Ihnen[S. 138] schwer, zur eigentlichen Sache zu kommen, vielleicht doppelt schwer, weil Sie eben wohl erst entdecken, daß ich ein Freund Ihrer Sörine bin... Sie würden herzhafter reden, wenn Sie zu einem vielgeschmähten ‚Schulmonarchen‘ sprächen... wenn Sie — — verwunden könnten ...“
„Sie sind ein Menschenkenner,“ knurrte der alte Freiherr und brach dann plötzlich los: „Herrrr! was hat man in Ihrer Schule aus meiner Sörine gemacht???“
Sörensen drückte ihn begütigend in den bequemen Ledersessel zurück und schob einen weichen Schemel unter das kranke Bein.
„Hoffentlich etwas Gutes,“ beantwortete er sich niedersetzend die Frage des alten Herrn. „Die Verfehlung der Klassenlehrerin hat mich selbst schwer verletzt. Was gäbe ich darum, sie ungeschehen zu machen. Aber die zweite Klasse wird sie selbst verwinden, es steckt ein prächtiger Geist in ihr...“
„Mensch, Direktor, Herr Sörensen! Was sagen Sie da? Wie kommt Saul unter die Propheten? Hat mir nicht Sörine immer geklagt, daß ihre Klasse verfemt sei und mußte ich nicht zuletzt selbst dran glauben?“
„Sörine sprach von Zeiten, die vergangen sind.“
„Ja, Herr Direktor, und nicht wahr, ein neues Morgenrot bricht an? Aber — aber, davon wollt ich ja nicht sprechen. Ich — ich wollte ja schimpfen, — ich wollte ja dieses — dieses — Fräulein Nissen, es fehlt mir ein parlamentarischer Ausdruck...“
„Lassen Sie es gut sein, lieber Herr von Heidekamp,[S. 139] ich möchte nichts dergleichen anhören... Aber fragen möcht’ ich, wie Ihre Enkelin die Sache trägt, ich bin unablässig in Sorge um sie...“
„Ich habe Sörine noch nicht gesehen seit jenem Tage,“ sagte der Freiherr. „Donnerwetter, das ist hart für mich alten Kerl, der von ihrer frischen Jugend zehrt. Grauchen enthält sie mir vor...“
„Ist Sörine krank?“
„Ich weiß es nicht. Seelisch wahrscheinlich auf dem Hund. Guter Gott, wenn mir doch nur mal dies Fräulein Nissen begegnete...“
„Lieber nicht, Herr Baron. Aber was tut denn Sörine zu Hause?“
„Zu Hause nicht viel. Sie reitet in die Wälder und liegt in der Heide...“
„Und versäumt die Schule.“
„Ja, Herr Direktor, Sie verlangen doch nicht etwa, daß das Mädel vor den Osterferien sich noch zu Füßen dieses, dieses, hm, Fräulein Nissen niederlassen soll? Der sie in der ersten Klasse dann doch Gott sei Dank entrinnt?“
„Ja, das verlange ich allerdings. — Herr von Heidekamp, Sie hätten ja Ihre Sörine abmelden können, — das würde ich sehr bedauern, aber ich könnte es verstehen. So lange sie aber Schülerin des Lyzeums ist, so lange muß sie sich den Bestimmungen der Schule fügen...“
„Herr Direktor, — Lehrer Hansohm hat mir von Ihrem zarten Verstehen der Mädchenseele gesprochen...“
„Das hat wohl nichts mit meiner Forderung zu tun. Ich erwarte morgen Ihre Enkelin. Eine Haupttugend[S. 140] von Sörine ist ja ihre Unerschrockenheit und Tapferkeit... ich möchte mich nicht darin getäuscht haben. Aber wir sind immer noch nicht zum Kernpunkte Ihres Besuches gekommen, Herr von Heidekamp. Sie haben noch etwas auf dem Herzen...“
„Ja. Ich bin ein alter Mann. Und das Grauchen ist auch alt, — meine lüttge Sörine ist wohl deshalb weltfremd und doch recht altklug geraten. Aber alles Jungvolk lehnte sie ja immer ab. Und lief nach wie vor einspännig in der Welt herum. Ob das meine geliebte Schwiegertochter Lore, die Mutter Sörines, vorgeahnt hat? In meinem Sekretär liegt ein Heft, in einem versiegelten Umschlag verwahrt, auf dem steht: ‚Meinem Kinde an seinem 17. Geburtstage zu geben.‘ Herr Direktor, Sörines Mutter war etwas Besonderes. Jedem Menschen geht etwas ab, dessen Lebensweg sie nicht gekreuzt hat. Ein Kind Gottes war sie. In ihren letzten Lebenstagen hat sie mitten aus Fieberträumen heraus mich an das kleine Heft gemahnt. Sie konnte nicht zur Ruhe kommen: ‚Arme Sörine, keine Mutter, keine Mutter — — —‘ Das war ihr Stammeln, ihre Sorge, die sie nicht einschlafen ließ...“
„Geben Sie Klein-Sörine dies Muttervermächtnis jetzt schon,“ sagte Sörensen eindringlich und faßte beide Hände des Greises.
„Herr Sörensen, für dies Wort sollen Sie Dank haben. Es kam so unmittelbar aus Ihrem Empfinden heraus, ehe ich um Ihren Rat bat. Es wird das Rechte sein. —“
„Ja,“ sagte Sörensen tief aufatmend. „Grobe Hände[S. 141] haben den Schleier von Sörines Kindereinfalt gerissen, — sanfte Mutterhände werden die Wunden verbinden. Herr Baron, ich freue mich, morgen wieder eine tapfere Schülerin zu sehen.“
Der alte Herr erhob sich. Erne Sörensen half ihm liebevoll dabei. Die klaren Augen des Greises sahen unverwandt in die des Goliath, der ihn noch um Etliches überragte.
„Sie scheinen noch nicht ganz fertig mit mir zu sein?“ lächelte Sörensen.
„Noch längst nicht,“ meinte zögernd der alte Herr, und setzte humorvoll hinzu: „Ich hoffe, wir werden niemals miteinander fertig. Heute aber wollt ich fragen: Wollen Sie mich nicht begleiten? Ein langer, schöner Sommerabend liegt vor uns... nicht wahr, Sie antworten mir nicht, daß ja Lehrer nicht über meine Schwelle kommen sollen, erinnern mich nicht an den törichten Ausspruch...“
„Nein, nein, sicher nicht. Ich komme mit,“ rief Sörensen in raschem Entschluß. „Die Hauptsache ist ja doch, daß ich über die Schwelle Ihres Vorurteils gekommen bin.“
Er gab dem Freiherrn den Arm, dieser stützte sich schwer darauf. In der Küchentür stand knixend Frau Dietz.
Der Freiherr streckte ihr die Hand hin. „Ich habe da vorhin eine Bekanntschaft erneuert. Marianne Witt war ja viele Jahre in meinem Hause, bis der Dietz sie uns fortschnappte.“
„Zu meinem Schaden,“ sagte Frau Dietz trocken. „Aber man soll von den Toten nichts Übles reden.“
Sie stand dann noch am Fenster und sah, wie die beiden Herren davonfuhren. „Es war eine schöne Zeit,“ sagte sie zu sich und wischte sich die Augen. „Aber die bessere kommt jetzt. Ich möchte niemand mehr für meinen Herrn Direktor eintauschen.“ —
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Sonntag abend.
Ein reicher Tag heute. Die köstliche Frühpredigt des Diakonus Heinrich, das Plauderstündchen mit Philemon und Baucis. Der Spaziergang in die Heide, der geliebten Kraftspenderin. Und dann — dies Heidekamp. Hab’ Dank, guter Herrgott, daß du diese Trostquelle, diesen köstlichen Brunnen für mich bereit gehalten hast. Es war ein Abend, wie ich noch keinen in Birkholz erlebte. —
Von meinen Ahnen habe ich dort erzählen dürfen, die streitbare Großmutter Gesine wurde gleich zur Freundin des Alten. Und von meinem Vater habe ich erzählt, von der Schusterkugel, die über dem Haupte des Spintisierers leuchtete, von meiner guten Mutter, der Waschfrau. In welche neue Welt da meine Schülerin Sörine hineinstaunte!
Ach, ihr großen, lieben Kinderaugen! Die seit einigen Tagen noch ernster geworden sind... Immer wieder packt mich der Zorn, wenn ich daran denke. daß man diese süße Reinheit so plump hat verstören wollen. — Kleine liebe Sörine! Du tust mir eine neue Welt auf.
Wunderlich ist die Erziehung des Großvaters gewesen. Aber das Ergebnis ist prächtig. Grauchen und ich[S. 143] sind gute Freunde geworden. „Wir haben beide die Sörine lieb,“ sagte sie zur Erklärung. Alle brachten mich dann zum Wagen, der mich spät am Abend über die weite Heide fuhr. „Ich komme morgen,“ rief mir Sörine leise zu, „ich will tapfer sein...“
Kleine Sörine, ich zweifle nicht daran. Und ich will versuchen, dir eine große Freude zu bereiten. Die lieben Menschen da draußen haben mich mit einer Mission betraut, ich will sie ausführen. Die Agnes Asmus soll ich nach Heidekamp holen. In jenem Hause voll Liebe, Güte und Kraft wird das scheue, gequälte Mädchen genesen... welch herrliche Aufgabe, alter Erne Sörensen. Alt? — Wie wir heute da draußen Pläne schmiedeten, spitzbübisch und spitzfindig und dabei lachten und uns an Einfällen gegenseitig überboten, Erne Sörensen, da warst du jung... Welch wunderliches Frohgefühl, zu wissen, daß ein reiner, gleichgestimmter Akkord zwischen mir und dem Jungvolk schwingt. —
Dienstag abend.
Es ist mir nicht gelungen. Mit leeren Händen stehe ich vor dem alten Heidekamper und mit ödem Kopfschütteln vor den fragenden Augen der jungen Sörine. Sie glaubte felsenfest, daß ich die Eltern Asmus bereden müßte. Aber es war ordentlich wie ein Triumph in jenen beiden, daß ich wohl als Direktor dem Lehrer Asmus etwas zu befehlen hätte, aber niemals dem Vater. Ich habe zur herzlichen Bitte gegriffen, habe ihnen das schöne, reiche Heidekamp gezeigt, die sonnige Freundschaft zwischen Sörine und Agnes. Und wenn sie noch irgend[S. 144]welche Befürchtungen ausgesprochen hätten, die ich zerstreuen konnte, — nichts, nichts dergleichen. „Wir wünschen es nicht,“ sagte Frau Asmus, und der Kollege nickte wie ein Pagode. Als ich auf die Sonne in Heidekamp hinwies und auf den Schatten der Galgenstraße, da las ich etwas wie Mitleid in des Vaters Zügen, und an dies schattenhafte Mitleid versuchte ich immer wieder heranzukommen. Aber es half mir nichts. Der Einfluß des greulichen Weibes war stärker. „Ich gehe ja täglich mit Agnes in die Heide,“ sagte sie verbissen, „und wenn sie davon nicht wohler wird, müssen wir sie eben aus der Schule nehmen...“ Nur das nicht. Das muß ich zu allererst verhindern. Wenn ich je dem Vater Asmus näherkommen sollte, will ich versuchen, ohne daß er’s merkt, ihn zu bestimmen, daß Agnes das Lehrerinnenexamen macht. Ich kann ihr durch die Schule viel Freuden geben, aber die Stiefmutter darf nicht merken, daß ich dahinterstecke.
Wie häßlich ist das alles. Wenn die Verhandlungen wenigstens nur zwischen den Eltern und mir stattgefunden hätten! So aber war das arme Mädel dabei, und ich selbst war verurteilt, in ihrem Gesicht die Erwartung, die Freude, die Enttäuschung und den Jammer zu erleben.
Nun habe ich an den Heidekamper geschrieben. Denn der Sörine in das erwartungsvolle Gesichtchen hineinzusagen, daß die Freundin nicht Hausgenossin werden darf, sondern in der Galgenstraße weiter nach Sonne und Liebe hungern soll, — Sörensen, dazu fehlte dir der Mut. —
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Ostersonntag abend.
Heute habe ich einen rechten Osterspaziergang gemacht.
„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche...“, es war köstlich.
Und wie manche Tage grau in grau fließen, so war dieser klarblaue Himmelstag auch innerlich voll sonniger Schöne. Im Heideforsthaus hatte ich mir mein Mittagsmahl bestellt, denn Frau Dietz ist beurlaubt. Und kaum dort angekommen, sah ich von der Fahrstraße her eine vorsündflutliche Kalesche, eine wahre Kajüte, heranrollen, der mit steifer Grandezza das Original von Birkholz, Fräulein Tingleff, entstieg. Da die mir bis dahin unbekannte Dame lahm ist, sprang ich zu und half ihr. Da sagte sie mir mit sehr komisch wirkendem Ernst, daß ich ihr kein Fremder sei, da sie jede Nacht von mir träume. In der weitbauchigen Kutsche hatte sie noch Fräulein Doktor, Lore Hansohm und — Agnes Asmus verstaut. Frauen sind doch geborene Verschwörer, und in Klaus Hansohm hatten sie den dazu passenden Jesuiten gefunden. Da meine Mission so kläglich gescheitert war, wollten die Verbündeten wenigstens den kleinen Freundinnen ein schönes, gemeinsames Osterfest verschaffen. Hansohm stand im Garten und redete eifrig auf die Frau Försterin ein. Dann sah ich ihn ebenso eifrig am Fernsprecher und, — so konnten schon „das Grauchen“ und Sörine am Mittagsmahl teilnehmen. — Und die Frau Försterin kochte eine Stiege frische Eier, und du, alter Erne Sörensen, saßest eifrig mit Klaus Hansohm beim Färben, während die[S. 146] Frauen der Försterin halfen und den Kaffee kochten, den Tisch deckten und ihn mit Tannengrün und Wacholderreis schmückten. Und du warfst kühne Zeichnungen auf die Ostereier und schriebst Namen darauf, und Kollege Hansohm malte winzige Noten zu kleinen Liedanfängen...
Leise kam wieder die Jugend zu dir und kränzte dich, lockte und fragte...
Und du gabst dich ihrem Zauber hin an diesem lichten Frühlingstag, da der liebe Gott durch den Wald ging... Wie die frohen Kinder habt ihr dann mitsammen Ostereier gesucht. Ach, war das schön, Erne Sörensen!
Bis der fröhliche Abschied kam und die stille Besinnlichkeit. Nicht ein Wort habt ihr beide, Klaus Hansohm und sein Direktor, auf dem langen Heimweg gesprochen.
Ihr dachtet an zwei frohe, junge Menschenkinder. Das eine hielt in den schlanken Mädchenhänden die Zügel des feurigen Pferdchens und fuhr sicher das ihm anvertraute Grauchen vor das Herrenhaus zu Heidekamp.
Das andere hatte seinen müden Kopf an die Schulter des alten Fräulein Tingleff gelehnt und schlummerte wohl in der Urväterkalesche. Aber es durchträumte und durchlebte sicher noch einmal den strahlenden, liebewarmen Ostertag. Den ersten in seinem sonnelosen Kinderleben.
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Das Lehrerkollegium hatte sich zu einem längeren Spaziergang nach den „sieben Steingräbern“ verabredet. Es war in diesen Osterferien niemand verreist, und so[S. 147] fand die Anregung lebhaften Anklang. Das in der Nähe der Steingräber gelegene Wirtshaus „Zum Birkenpilz“ wollte für gute Verpflegung sorgen, und Klaus Hansohm, den man als Jüngsten zum Vergnügungsdirektor ernannt hatte, machte treulich jeden Tag den stundenweiten Weg, um seinem Amt gerecht zu werden. Seine Schwester Lore freilich, die ließ er heute bei einer Handarbeit und einem guten Buch zu Hause zurück, auch mußte er „seinen Sörensen“ entbehren, der sich der Allgemeinheit widmete. Man sah dessen hohe Gestalt neben der kleinen, vergrämten Frau Oberlehrer Kahl wandern und hörte sein sonores Lachen.
Klaus Hansohm hatte sich seinen Platz neben Fräulein Doktor gesichert. Professor Traute ulkte ihn daraufhin ziemlich plump an, aber er parierte schlagfertig: „Herr Professor, ich zeige ja damit nur, wie sehr ich hoffe, daß das Akademische auf mich abfärbt. Und bei einer Dame geschieht es natürlich sanfter, als wenn ich den Weg in Ihrer schätzenswerten Gesellschaft zurücklegte.“
„Dor rük an,“ lachte Fräulein Doktor. Und als Traute sich ärgerlich entfernt hatte, meinte sie: „Sehen Sie mal, Kollege, wie die Parteien so hübsch gesondert marschieren. Mir tut der Direktor schändlich leid. Was gibt er sich für Mühe, die krausen Köpfe unter einen Hut zu bringen.“
„Die krausen sind noch die besten,“ brummte Hansohm und zeigte auf seinen eigenen vollen Scheitel, „aber die kahlen, — Gott soll mich bewahren. Und sehen Sie, wie unser Sörensen sich der schüchternen Frau Kahl annimmt.[S. 148] Die wird den heutigen Tag mit Rotstift buchen, und ihr Mann wird morgen doppelt greulich zu ihr sein.“
„Guter Gott,“ rief Fräulein Doktor, „können Sie sich den Kahl überhaupt vorstellen, daß er mal verliebt war? Mal geworben hat? Mal den Ritter spielen mußte? ‚Kahl‘! Ich finde, schon der Name paßt, wie angegossen. — Kahl von allen Idealen, bar jeglichen Reizes...“
Hansohm stieß einen Pfiff aus. „Der Kahl soll früher den Schwerenöter gespielt haben...“
„Sie fabeln, Hansohm. Der Mann ist nur aus Neid, Gift und Galle zusammengesetzt. An der Stelle des Herzens sitzt die Anciennitätsliste.“
„Und doch hätte Molière seinen Tartüff nach ihm formen können...“
„Kollege, wenn Sie so orakeln, gefallen Sie mir gar nicht. Auch machen Sie an diesem Frühlingstag ein Gesicht, als hätte Ihnen die gute Lore nicht genug Mittagessen gegeben.“
„Daran fehlt’s nicht,“ sagte Hansohm. „Aber ich denke an die Agnes Asmus. Die sitzt in der Dunkelheit ihrer erbärmlichen Straße. Zu Lore zu kommen, hat man ihr verweigert, seit die Eltern erfuhren, daß wir neulich ein wenig Vorsehung gespielt haben.“
„Hansohm, können einem da nicht Krallen wachsen?“
„Ja wahrlich. Ich komme mir oft schon wie der Hoffmannsche Struwwelpeter vor. Und besonders, wenn ich sehe, wie der kinderlose Kahl den Kollegen Asmus in seiner hirnverbrannten Pädagogik unterstützt.“
„Kahl und Pädagogik!“ rief Fräulein Doktor wegwerfend. „Wissen Sie, wie er überhaupt dazu gekommen ist, Lehrer zu werden?“
„Nein, das ist wohl jedem schleierhaft. Ich denke mir, das Birkholzer Lyzeum just unter dem Direktor Clausen war die einzige Stätte im Deutschen Reich, wo er seine Unkenntnisse verwerten konnte.“
„Hansohm, Sie sind das reinste Reibeisen. Und wir andern, die wir auch schon unter Clausen segensreich wirkten?“
„Wir hatten alle unsere Gründe. Muß ich jeden einzeln nennen?“
„Nein, ich weiß Bescheid,“ nickte Fräulein Doktor ernst. „Was ist übrigens Frau Professor Traute für ’ne Frau? Es ist ganz interessant, sie mal alle hier im Grünen beisammen zu haben. Daß Frau Kahl eingeschüchtert, gedrückt und jasagend ist, weiß ich noch von früher und wundere mich nur, daß sie sich bei dem Manne nicht längst aufgehängt hat. Es gehört ein Grad von persönlichem Mut dazu, die Frau dieses Menschen zu sein, den ich jedenfalls nicht aufbringen könnte.“
„Vielleicht hat sie ein Gelübde getan,“ meinte Hansohm lachend. „Übrigens fragten Sie mich nach Frau Traute. Sie ist heute undurchdringlich. Ich habe sie nur schweigen hören. Im übrigen gehört sie zu den Menschen, die sich nie freuen können, weder mit sich selbst, noch mit andern. Mein Gewährsmann ist Fräulein Tingleff. Die sagt, Frau Traute nährte sich von Unglücksfällen. Jedes glückliche Haus sei ihr verhaßt, eine strahlende[S. 150] Braut, ein seliger Bräutigam bedeute einen Pfahl in ihrem Fleisch. An dem Tage, da das Bankgeschäft von Manheimer fallierte, habe ihr Frau Traute den ersten Besuch gemacht, um ihr die Schreckensbotschaft zu bringen in der Annahme, daß Fräulein Tingleff ihr Geld dort habe. Da sich dies als ein Irrtum erwies, habe sie sich verärgert zurückgezogen.“
„Hansohm, geht auch nicht Ihre Phantasie mit Ihnen durch?“
„Ich bin nur Berichterstatter,“ verteidigte er sich. „Bis jetzt ist sie nur stumm und mürrisch dahingeschritten, aber sehen Sie, jetzt stürzt sie sich auf die Nissen. Die hat sich eben ein riesiges Triangel in ihr Neustes eingerissen, — das ist so was für Frau Professor Traute.“
„O, was hat doch der liebe Gott für Kostgänger!“ seufzte Fräulein Doktor. „Aber wir sind auch nicht die besten Brüder. Wir hecheln hier das Kollegium durch, anstatt uns am Direktor ein Beispiel zu nehmen. Sehen Sie nur, er gesellt sich zur Nissen und Frau Traute.“
„Waghalsiger! Nein, ich gehe haushälterischer mit meinen Kräften um, der Tag ist noch lang. Aber sehen Sie, der Gast wendet sich bereits mit Grausen. Selbst der Goliath Sörensen ist dieser Doppelfirma nicht gewachsen. Ahhh, er steuert auf uns zu. Was geben Sie mir, Fräulein Doktor, wenn ich Sie eine halbe Stunde mit ihm allein lasse?“
„Einen Klaps!“ rief noch Dora Stavenhagen erschrocken, aber es war zu spät. Lehrer Hansohm hatte sich schon zu Frau Professor Rasmussen gesellt, einer feinen, älteren Frau,[S. 151] die ihm sofort von „ihrem Hans“ erzählte, der mit Hansohm einst zusammen das Gymnasium besuchte, bis das Seminar trennend zwischen die Schulfreunde getreten war.
Direktor Sörensen begrüßte Fräulein Doktor fröhlich und schritt plaudernd neben ihr. „Ich brauche Sie wohl nicht zu fragen, wie Ihnen unser kindlicher Ostersonntag bekommen ist,“ sagte er. „Es war für mich wie im Märchen. Eine gütige Fee hatte uns alle in Kinder verwandelt, wenn sie auch anstatt im silbergestickten Elfengewand im braunen Seidenkleide des alten Fräulein Tingleff erschien.“
„Ist sie nicht ein Prachtmensch?“ fragte Fräulein Doktor zerstreut und hörte kaum auf die Antwort. Denn sie hatte mit Befremden bemerkt, wie geflissentlich man die Schritte verschnellert hatte, um sie und Sörensen zu isolieren. Hansohm pflückte weitab für Frau Professor Rasmussen einen Wacholderstrauß. Dann aber schalt sie sich einfältig, über törichte Möglichkeiten zu grübeln, anstatt das Beisammensein mit dem wertvollen Menschen auszukosten. Sie schüttelte ihre Befangenheit ab.
„Herr Direktor, haben Sie schon einmal Gelegenheit gehabt, unsere zweite Klasse während der Ferien zu sehen? In ihrem ganzen Stolz, vollzählig in die erste Klasse versetzt zu sein? Mir begegnete Telse Lüders, bei der hatten wir uns ja alle den Kopf zerbrochen, ob es möglich sei, sie nur ihrer schönen Augen wegen zu versetzen. Bis das Kollegium seine sämtlichen schönen Augen zudrückte und sie mit rüber nahm. Dafür hat sie den gesamten Lehrern eine Ballade gewidmet, die ist nicht von Pappe. Und sie[S. 152] grüßte mich heute auf der Straße mit dem Kopfneigen einer jungen Prinzessin, — nur so eben gerade, — weil ich sie jetzt ‚Sie‘ nennen muß.“
„Ja, die Backfische sind ein Studium für sich,“ meinte Sörensen. „Was sagen Sie im Gegensatz zu Ihrer Geschichte dazu, daß die Klasse mir eine feierliche Bittschrift eingereicht hat, sie ferner ‚Du‘ zu nennen, ‚bis es nicht mehr ginge‘, wie der kühne Schlußsatz lautet.“
Fräulein Doktor strahlte. „Es ist eine absunderliche Gesellschaft. Nach Schema F ist da keine geraten. Haben sie denn alle unterschrieben?“
„Mit einer einzigen Ausnahme, ja.“
Fräulein Doktor sah ihn scharf an. „Auf die wäre ich gespannt.“
„Sörine von Heidekamp,“ lachte er glücklich. „Und das bestätigt schlagend unsere Ansicht über die ganze Klasse. Über den Geist, der jede einzelne Schülerin beseelt. Ich war natürlich begierig, den Grund zu erfahren, weshalb sich das liebe Mädel isoliert, denn ich weiß ja, daß sie der Nervus rerum der Klasse ist, ein rechtes Mütterchen...“
„Früher sagten Sie: ‚unbotmäßiger Rädelsführer‘...“ warf Fräulein Doktor ein.
„Danke für den Hieb. Sie haben recht. Aber ich halte es mit dem Sprichwort, wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der soll sich aufhängen.“
„Also auf ein langes, fröhliches Leben,“ lachte Fräulein Doktor und streckte ihm die Hand hin, in die er schallend einschlug.
„Und wissen Sie den Grund von Sörinens fehlender Unterschrift?“ forschte sie dann. —
„Freilich weiß ich ihn. Ich schaute gestern ein Stündchen in Heidekamp ein. Sie sehen erstaunt aus. Ja, ich gestehe es gern, mir gibt das Herrenhaus Werte. Vielleicht habe ich schon rein äußerlich immer nach der feinen Form gehungert, in der man dort das Materielle wie das Ethische serviert, ich der Emporkömmling. Und wie man dort doch nicht am Äußeren hängt, sondern den Menschen wertet, — Fräulein Doktor, ich sitze wie ein Schuljunge zu Grauchens Füßen, während sie mir weismacht, daß sie alle bei mir in die Lehre gehen. Und der alte Freiherr! Derb kann er drein wettern, und Luthers Tischreden trägt er in der Tasche und zitiert sie, wo es irgend möglich ist. Die sind ja nicht gerade für Mädchenpensionate geeignet. Aber nie hörte ich eine obszöne Geschichte von ihm, in denen Kahl so groß ist... Herr von Heidekamp ist recht ein Ritter des ancien regime...“
„Wie dankbar Sie sind!“ rief Fräulein Doktor warm. „Das muß ich Fräulein Tingleff erzählen. Die sucht seit Jahren dankbare Herzen und kann sie nicht finden, — nicht in all ihrer großzügigen, selbstlosen Wohltätigkeit. — Und wie klärte sich Sörines fehlende Unterschrift auf?“
Sörensen lachte über ihre Beharrlichkeit, mit der sie immer wieder auf diese Frage zurückkam.
„Herzlich einfach. Ich fragte das junge Mädchen und es antwortete freimütig. ‚Ach, ich habe mich ja jahrelang auf das Sie so gefreut. Die Zeit konnt ich kaum erwarten. Nun sollt ich plötzlich meinen Herzenswunsch drangeben.[S. 154] Das wollt ich nicht.‘ Es klang überzeugend ehrlich. Und ich habe mich an jenem Abend im ‚Siesagen‘ geübt, und wenn ich mich versprach, mahnte sie mich ernsthaft.“
Wie der Mann jung geworden ist in den wenigen Monaten, dachte Fräulein Doktor. Es muß in erster Linie die Freundschaft mit dem frischen Hansohm sein. Der hat mich ja auch auf dem Gewissen. Ich war auf dem besten Wege, eine verschrobene, alte Jungfer zu werden... Oder sollte wirklich die sonnige Sörine einen starken Einfluß auf den so viel älteren Mann ausüben?... Dora Stavenhagen geriet ins Grübeln...
Das rote Dach des Gasthauses tauchte auf. Von weitem leuchteten schon die weißgedeckten Tische unter den grünen Tannen. Das starke Aroma eines guten Kaffees und die Streusel- und Obstkuchenberge wirkten liebenswürdig auf jedes Gemüt. Man hieß einander lachend willkommen.
Nur Kahl raunte Fräulein Doktor zu: „Wann kann man gratulieren?“ und empfing einen abweisenden Blick. Und Frau Professor Traute fragte den Direktor: „Wissen Sie, daß in Ihrer Dienstwohnung der Schwamm ist? Ihre Vorgänger sind alle am Gelenkrheuma eingegangen.“
„Welch grausame Perspektive, gnädige Frau. Ich weiß davon aber nichts, fand lauter neue Parkettfußböden und tadellose Zentralheizung vor. Nein, nein, so bald werden Sie mich nicht los.“ Vor seinem frohen Lachen zog sich Frau Traute zurück.
Es wurde eine sehr gemütliche Kaffeestunde. Da sich Sörensen an das unterste Ende setzte, konnte die Würde[S. 155] nicht so streng gewahrt und durchgeführt werden, und als Hansohm seine Tasse vorzeigte, auf welcher „dem lieben Großpapa“ stand, wachte eine gesunde Fröhlichkeit auf. Fräulein Doktor saß zwischen Professor Rasmussen und Hansohm. Das gab einen reinen Dreiklang. Rasmussen war in seinen jüngeren Jahren viel krank gewesen und von seiner Gattin in aufopferungsvoller Weise gepflegt worden. Seitdem war er ihr in einer huldigenden Dankbarkeit zugetan, die fast an die alte Ritterzeit gemahnte. Viele lachten im Kollegium und auch im Städtchen über den alternden Liebhaber, der seine gleichaltrige Frau, mit der er längst die silberne Hochzeit gefeiert, umwarb und betreute wie kaum ein Bräutigam die eben Erkorene. Für Fräulein Doktor hatte der Anblick etwas Rührendes. Sie dachte an die Ehe ihrer Eltern, an den immer kränkelnden Vater, der die persönlichen Opfer seiner Frau nur als ihm gebührenden Tribut hingenommen hatte. Nun war sie im anregenden Gespräch mit dem älteren Kollegen, dessen ganzes Wesen abgeklärte Ruhe und volle Behaglichkeit atmete. Sah er doch, wie Direktor Sörensen in seine Fußtapfen trat und seine, Rasmussens Frau umhegte und umsorgte, ihr Kaffee einschenkte und die leckersten Stücke auf den Teller legte.
„Mir ist zu Sinn, als sei unser Lyzeum aus Dornröschenschlaf erwacht,“ sagte er herzlich zu seiner Nachbarin. „Prinz Sörensen kam zu rechter Zeit.“
„Meinen Sie wirklich, daß alle wach sind?“ fragte Fräulein Doktor zweifelnd.
Rasmussen beugte sich humorvoll lächelnd näher und[S. 156] flüsterte: „Vielleicht wartet der Küchenjunge Kahl noch auf seine Ohrfeige.“
Sie nickte lebhaft. „Die müßte ihm aber schon der Koch Herrgott geben, an menschlichen Händen glitscht dieser Aal ab,“ gab sie zur Antwort.
Die allgemeine Unterhaltung war sehr lebendig geworden.
Nur Frau Kahl versuchte vergeblich, ihrem Partner Traute irgendein Gesprächsthema abzulocken, er aß und trank und schaute starr auf einen Fleck.
„Sehn Sie nur den Traute,“ raunte Hansohm. „Ich kenne diesen Blick. Er bereitet sich auf eine Rede vor, die er dann uns meuchlings versetzt. Sehen Sie, wie er maikäfert! Gleich wird er losburren. Burrrr! Surrrr! Hab ich’s nicht geahnt? Ich bin unhöflich genug zu sagen: Jetzt läßt er sein Nachtlicht leuchten!“
„Meine Damen und Herren! Hochverehrter Herr Direktor. Werte Kollegen! Teure Freunde! Liebe Frau!“
„Warum er nicht noch sämtliches Getier in Wald und Flur mit heranzieht!“ flüsterte der unverbesserliche Hansohm, so daß ihm Sörensen mit dem Finger drohte.
Eine endlose Rede ging über die Zuhörer nieder. Voll Salbung und innerer Unwahrheit. Dora Stavenhagen stellte bei sich fest, daß der Direktor mit einem Male alt aussehe. Als sei es Jahre her, daß sie ein „kindliches Osterfest“ mit ihm gefeiert. Ein paarmal zog er seine Stirn in tiefe Falten, das war, als Traute mit schwülstigen Worten das „tadellose Zusammenarbeiten“ von Direktor und Kollegium[S. 157] betonte, sowie das „vorbildliche Einvernehmen des Kollegiums in sich“.
„Hört, hört!“ rief Hansohm unbedacht und verschärfte durch diesen Ausruf die Feindschaft zwischen sich und Professor Traute ins Ungemessene. —
Endlich machte der Redner Schluß, und noch in das erleichterte Aufatmen der Zuhörer hinein erhob sich der Direktor zu einer kurzen Entgegnung. „Was Herr Kollege Traute bereits als bestehend annimmt, die vorbildliche Einigkeit, das ist meine Hoffnung. Rechnen Sie immer auf mich, wo es gilt, sie lebendig zu machen.“
„Das war alles?“ sagte Frau Traute giftig zu Oberlehrer Kahl.
„Sie haben es ja gehört,“ war die Entgegnung. „Wo sich ein altbewährter Oberlehrer abmüht und in glänzender Rhetorik... (Kahl verbeugte sich) uns seine Gedanken verabfolgt, da hat Herr Sörensen nur drei Worte. Und während der Rede versucht er noch auf Hansohms ungewaschene Zwischenbemerkung zu achten, droht ihm schelmisch, lacht die Stavenhagen an, — es ist direkt kindisch ... Na, ich habe nichts gesagt, Frau Oberlehrer. Darf ich Ihnen meinen Arm geben? Alles steht auf. Ich glaube, Sörensen hat kindliche Spiele proklamiert. Er geht auf Freiersfüßen und muß den Elastischen mimen.“
Man verzichtete auf die kindlichen Spiele.
Direktor Sörensen nahm Rücksicht auf die älteren Kollegen, die gern in Ruhe ihre Zigarre rauchten, und auf die vergrämte, schüchterne Frau Kahl, die auf dem rechten Fuße hinkte und sich überdies nicht getraute, ohne aus[S. 158]drückliche Zustimmung ihres Mannes auch nur einen Schritt zu tun. Nun schlug er gemeinsames Kegeln vor, und bis Kollege Kahl, der sich dazu erbot, den Kegeljungen gemietet und die Bahn vorbereitet hatte, wollten die Turnlehrerin, Fräulein Peters, sowie Klaus Hansohm und Fräulein Henny Freytag, die gleichfalls prächtige Turner waren, ein paar glänzende Übungen am vorhandenen Reck vorführen. Auch im Springen leisteten sie Hervorragendes und fesselten die Zuschauer.
Oberlehrer Kahl begab sich in den Hintergarten, um die Kegelbahn in Augenschein zu nehmen.
Hier war es düster und ohne Sonne, weil die Umdachung der Bahn dicht in den Tannenwald hineingebaut war. Ein paar wurmstichige Tische und Bänke lehnten sich an die Bäume.
Auf einer dieser Bänke saß eine Frau. Sie war städtisch und beinahe modisch gekleidet, ihre Füße steckten in Lackschuhen und durchbrochenen Strümpfen. Aber über den Kopf hatte sie ein dunkles, mit seidenen Fransen besetztes Tuch geschlagen, in der Art, wie Thüringer Landfrauen zur Kirche gehen. Sie schrieb eifrig an einem Brief und hatte sich vom Wirt ein Tintenglas hinstellen lassen, in dessen dürftiges Naß sie oft die spitze, kratzende Feder eintauchen mußte. Dann und wann trank sie einen Schluck Milch aus dem neben ihr stehenden Glase. Als Oberlehrer Kahl an ihrem Tische vorbeiging, zog sie das Tuch tief ins Gesicht. —
Kahl beobachtete sie scharf, während er die Tafel in der Kegelbahn aufrichtete und mit Kreidestrichen[S. 159] in Felder teilte. Er rief einen Knecht an und gab ihm Befehle. Dieser holte einen Strauchbesen und begann die Bahn zu säubern.
Von den Turnern und ihren begeisterten Zuschauern her scholl fröhliches Lachen und Händeklatschen. Die einsame Frau richtete sich auf und lauschte angestrengt hinüber. Dabei entglitt ihr das Tuch, und Kahl sah in ein sehr hübsches, wenn auch unfeines Gesicht und in ein paar herausfordernde Augen.
Mit wenigen Schritten war er bei ihr. „Wollen Sie sich nicht nach vorn setzen?“ fragte er beflissen. „Die ganze Gesellschaft da kommt gleich hierher, wir werden Sie in Ihrem gewiß wichtigen Schreiben stören.“
Sie sah in keck an. „Das kann schon sein,“ lachte sie, „aber ich bin auch bald fertig.“ Ein böser, hohler Husten schüttelte sie, und sie nahm wieder ein paar Schlucke von der warmen Milch.
„Wer sind die Leute da vorn,“ fragte sie, wie gelangweilt.
„Die Lehrer vom Lyzeum in Birkholz,“ antwortete er rasch, „und der jetzt gerade ruft und lacht, ist der neue Lyzealdirektor Sörensen.“ Wie in einer plötzlichen Eingebung war ihm der Nachsatz gekommen. Er sah die Frau lauernd an.
„Was geht’s mich an?“ sagte sie abweisend und schrieb weiter. Kahl entfernte sich zögernd von ihr und schritt wieder nach der Kegelbahn. Nach einer Weile stand die Frau auf.
„Vergessen Sie nicht ’s Bezahlen,“ rief ihr der Knecht[S. 160] zu, und sie diente ihm mit ein paar kräftigen Worten. Dann holte sie aus der kleinen, abgegriffenen Geldtasche mehrere Kupfermünzen heraus und legte sie auf den Tisch.
Den geschlossenen, mit Aufschrift versehenen Brief hielt sie nachdenklich in der Hand.
Der Knecht schlürfte ins Haus, und in plötzlichem Entschluß kam die Frau auf Kahl zu.
„Sie kennen den Direktor Sörensen?“ fragte sie vorsichtig.
„Erne Sörensen? Das ist mein Freund,“ log er.
Sie atmete rasch auf. „Das ist gut. Und nehmen Sie’s nicht krumm, daß ich Sie vorhin angefahren habe. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen Brief, ohne daß es jemand merkt, Herrn Sörensen bringen möchten.“
Kahl nahm ihr mit raschem Griff das Schreiben aus der Hand.
„Soll gern geschehen,“ raunte er hastig. Viele Fragen kreuzten sich in seinem Hirn, aber ehe er nur eine einzige aussprechen konnte, hörte man die Gesellschaft näherkommen und Sörensens hallende Stimme: „Kollege Kahl, können wir kegeln?“
Die Frau nahm hastig das Tuch über Kopf und Schultern und durchschritt den Garten. Erne Sörensen gewahrte sie, stutzte einen Augenblick und verfärbte sich. Eine Weile sah er ihr nach und schüttelte dann langsam den Kopf.
„Meine Herrschaften,“ rief Kahl, „dieser hintere, dunkle Teil des Gartens ist der sogenannte Bannwald der sieben Steingräber. Es spukt darin. Ich selbst habe eben einen[S. 161] Geist gesehen und wenn mich nicht alles täuscht, auch unser verehrter Herr Direktor.“
Er lachte meckernd und scheinbar ganz unbefangen, und die Gesellschaft rief und scherzte durcheinander und bat um Aufklärung.
Fräulein Doktor sah in das ruhige, nur seltsam blasse Antlitz des Direktors, und etwas wie bange Sorge schlich in ihr Herz. „Was hat nur der Kahl?“ raunte sie Hansohm zu.
„Der?“ lachte er leichtherzig. „Ein paar heimliche Seidel mit den dazugehörenden Kognaks hat er hinter die Binde gegossen. Erst wenn dieser Mann genügend Alkohol hat, wird er gemütlich.“
Man bildete Parteien und kegelte.
Ein scharfer Eifer wurde rege, die Damen nahmen es mit den besten Keglern auf. Fräulein Doktor in einem unbewußten, innern Grimm zielte scharf, und ihre Kugeln prasselten zweimal nacheinander alle Neune herunter.
Der Kegeljunge verkündete es mit gellender Stimme.
„Ich würde nicht so triumphieren,“ flüsterte Kahl ihr im Vorbeigehen zu, „Glück im Spiel, Sie wissen...“
„Herr Oberlehrer Kahl, Sie werden mich immer unglücklich lieben,“ gab sie schlagfertig zurück.
Als sie eine halbe Stunde gekegelt hatten, trat Hansohm wieder zu Fräulein Doktor: „Kahl müßte sich wirklich etwas in acht nehmen. Seine hämischen Ausfälle gegen unsern Direktor fallen schon den harmlosesten Gemütern auf, — ich bewundere Sörensen, mit welcher gelassenen Ruhe er abwehrt. —“
Man spielte noch eine Weile, besuchte dann die Steingräber, über welche Erne Sörensen einen fesselnden Vortrag hielt, nahm im Wirtshaus noch einen einfachen Imbiß und freute sich auf den wunderschönen Heimweg durch die mondbeschienene Heide. Wie drohende Spukgestalten standen einige Riesenwacholder am Wege, und Klaus Hansohm erzählte schauerliche Sagen, so daß die beiden jungen Lehrerinnen oft schreckhaft aufschrien. Aber das fanden sie gerade entzückend.
Als sie sich vor Angst nicht mehr umzusehen wagten, verließ sie der herzlose Kumpan und gesellte sich seinem Direktor zu. Lachend ließ Fräulein Doktor die Furchthasen sich in ihre Arme einhängen und lotste sie gutmütig durch die gespenstische Heide. —
„Darf ich den undisziplinierten Ausspruch tun, daß Sie mir gar nicht gefallen, Herr Direktor?“ begann Hansohm. Er wußte, daß seine Freundschaft mit Sörensen solch freies Wort gestattete. Machte er doch nie ein Hehl daraus, daß er für Erne Sörensen durch Feuer und Wasser ging. Auch jetzt sah er mit unverhohlener Besorgnis in das müde Gesicht des so sehr Verehrten.
„Mein lieber Hansohm, ich gefalle mir selbst am wenigsten,“ entgegnete der Direktor. „Aber vielleicht haben auch mich Ihre Spukgeschichten geängstigt, die Sie unsern jungen Damen auftischten.“ Er lächelte schwach. „Ich leide heute an Ahnungen wie ein altes Weib.“
„O wenn es weiter nichts ist...“ Hansohm sah ihn freimütig an. „Ich glaubte vorhin wirklich, eine Krankheit stecke in Ihnen. Die hätte ich ja erst abwarten[S. 163] müssen, aber mit ‚Ahnungen‘ schlage ich mich gern gleich herum, wenn Sie befehlen.“
„Mein lieber, junger Freund, ich befehle gar nichts, aber ich bitte Sie, für die Dauer des Heimweges bei mir zu bleiben.“
„Wie wunderlich der Mann ist,“ dachte Hansohm, „wie müde er aussieht. Nun, ich bleibe neben ihm und sollte sich alles dagegen verschwören.“
Einmal versuchte Oberlehrer Kahl ihn wegzubeißen, aber Hansohm war bis an die Grenzen der Möglichkeit dickfellig, und ein warmer Blick Sörensens dankte ihm.
Kahl gesellte sich nun zu den jungen Lehrerinnen, und so wurde Fräulein Doktor frei, die sich an die Seite von Frau Asmus schlängelte, um unauffällig etwas über Agnes zu erfahren. Wie sie die Ferien verbringe, ob sie fleißig spazieren gehe, wollte sie wissen.
„Agnes ist als Erste in die erste Klasse versetzt, Sie haben sich gewiß sehr darüber gefreut, Frau Asmus.“
„Wir hatten gar nichts anderes erwartet, Fräulein Doktor,“ erwiderte Frau Asmus abweisend. „Mein Mann und ich haben Tag und Nacht mit unserer Tochter gearbeitet, um die Lücken, die ihr Kranksein gerissen hatte, wieder auszufüllen. Das konnte nicht ohne Wirkung bleiben.“
Fräulein Doktor fühlte, wie ihr wieder „Krallen wuchsen“. Aber sie durfte die Feindschaft zwischen sich und dieser Frau nicht verschärfen, wollte sie Agnes helfen.
„Darf mich Ihre Tochter einmal in den Ferien besuchen,“ fragte sie sanftmütig.
„Wenn ich sicher bin, daß sie niemand aus Heidekamp trifft...“
„Ja,“ entgegnete Fräulein Stavenhagen hart, und dachte innerlich voll Schmerz: „Also diese Aussicht ist dem armen Geschöpf bereits verlegt, — wie schaffe ich eine andere Freude?“
„Darf sie also kommen?“
„Ja.“
„Ich danke Ihnen, den Tag werde ich gleich morgen bestimmen und Agnes schreiben. Ich bin im allgemeinen dagegen, als Lehrerin die eigene Schülerin einzuladen, ohne doch Prinzipienreiter zu sein. Und Agnes gönnt jeder Mitschülerin eine kleine Bevorzugung, sie ist so ungeheuer beliebt durch ihre sanfte Herzensgüte.“
„So?“ entgegnete die Stiefmutter mißtrauisch. „Ich wünsche nicht, daß dem Mädchen Raupen in den Kopf gesetzt werden. Zu Hause merke ich nichts von Herzensgüte ...“
Fräulein Doktor lenkte ein, trotzdem der Zorn in ihr kochte. Aber die Zusicherung durfte auf keinen Fall rückgängig gemacht werden. Ein froher Nachmittag für das geplagte junge Mädchen war nie zu teuer erkauft. Sie kannte die schwache Seite der Frau Asmus. „Ich werde Agnes eine Menge Zeitschriften und Kochrezepte mitgeben,“ lockte sie.
Frau Asmus’ grämliche Mienen hellten sich auf. „Nun also ja.“
„Wenn es Ihnen am Dienstag passen sollte, da sind mein Mann und ich über Land bei älteren Leuten, die Agnes nicht mit eingeladen haben. Da könnte ich zuschließen und...“
„Licht und Abendbrot sparen,“ vollendete Fräulein Doktor bei sich, denn sie kannte den sprichwörtlichen Geiz des Ehepaares, der bei ihnen auch wirklich die Wurzel alles Übels war.
„Aber Agnes darf natürlich in keiner Weise stören...“
„Ich wüßte nicht, wie sie das anfangen sollte, das schüchterne Persönchen. Also Dienstag, ich weiß schon, daß ich an dem Tage nichts anderes vorhabe. Wann wollen Sie fortgehen?“
„Wir müssen mit dem 10 Uhrzuge fahren, ich koche für Agnes das Mittagessen vorher...“
„Wie unnütz, Frau Asmus! Agnes ißt bei mir, und Sie schließen gleich zu.“
Nun, da stand einmal ein billiger Tag in Aussicht.
Und außerdem hatte Frau Asmus das Versprechen der Lehrerin, daß ein Wiedersehen zwischen den beiden Freundinnen ausgeschlossen sei.
Man schritt nun durch das altertümliche Tor der Stadt. Hansohm, der in seiner Nähe wohnte, verabschiedete sich. Einen Augenblick blieb Fräulein Doktor noch bei ihm stehen. „Grüßen Sie mir tausendmal Fräulein Lore. Sie hat einen stillen, friedlichen Nachmittag mit einem guten Buche als Gesellschaft zu verzeichnen, ich war heute friedloser...“
„Wenn Sie sich Mutter Asmus als Begleiterin wählen, ist’s Ihre eigene Schuld,“ grollte Hansohm.
„Woran mahnen Sie mich,“ rief Fräulein Doktor. „Kollege, Sie müssen mir durch Lore Kochrezepte verschaffen, ich versprach Frau Asmus eine Legion und besitze nicht ein einziges.“
„O, von mir aus kann ich auch mit ein paar aufwarten. ‚Wie man böse Weiber in Essig legt‘ und dann...“
„Danke, danke, die Überschrift genügt schon,“ wehrte Fräulein Doktor. „Im übrigen habe ich am nächsten Dienstag die Agnes den ganzen Tag bei mir zum Besuch... Gute Nacht, gute Nacht.“
Sie eilte lachend davon und drehte sich noch einmal um und sah den Kollegen Hansohm mit offenem Munde und nicht sehr geistreichem Gesicht noch auf derselben Stelle stehen.
An der Tür des alten Patrizierhauses holte sie die andern ein. Die meisten hatten sich schon vom Direktor verabschiedet und ihm bereits den Rücken gewandt. Nur Oberlehrer Kahl stand noch bei ihm und legte eben mit seinem bekannten meckernden Lachen einen weißen Briefumschlag in die Hände von Erne Sörensen. Dann zog er nachlässig den Hut. Beinahe kränkend kurz und knapp.
Der Direktor merkte es nicht. Er sah nur den Brief. Sah auch an Dora Stavenhagen vorbei ins Leere, grüßte nur mechanisch und ging mit schleppenden Schritten durch das hohe Portal seiner Dienstwohnung, das schwer hinter ihm ins Schloß fiel. —
**
*
Sonnabend nacht.
Das Skelett meines Hauses grinst.
Glaubtest du, Erne Sörensen, ihm zu entgehen?
Du hattest für jene Frau, die du aus deinem Leben strichest, gesorgt, gut gesorgt, und hofftest, in diesem stillen Landstädtchen in heißer, willkommener Arbeit ausgefüllte Jahre zu verleben.
Du wolltest nicht eigentlich etwas für dich. Wolltest anderen, wertvollen Menschen viel geben, und sahst, daß du dazu auch imstande warst.
Nun klopft jene Frau mit drohendem Finger an deine Tür und begehrt Einlaß.
Und sagt dir sehr energisch, daß sie Lisette Sörensen heiße und willens sei, die Rechte dieses Namens auszunutzen. —
Sie scheint genau zu wissen, was dies Geständnis für dich bedeutet. Hier in Birkholz, wo jeder zu ergründen sucht, was der Nächste tut und treibt. Wo man unter einer Glasglocke sitzt und am besten noch ein Fensterchen vor der Brust trüge, damit den lieben Leuten auch nicht ein Fältchen des Inneren verborgen bliebe. —
Ich will ihr nicht schreiben.
Will ganz ruhig in diesen stillen Nachtstunden mit mir zu Rate gehen.
Lebten meine Knaben noch, — vielleicht...
Nein, das kann Gott nicht wollen. Jetzt nicht mehr... Daß ich verkommen soll neben dieser Frau! Daß all mein heißes Ringen, all meine Arbeitsjahre umsonst ge[S. 168]wesen sein sollen... Daß ich vielleicht gar diese düsteren Blätter vor zwei reinen Kinderaugen aufrollen soll...
Guter Herrgott, hilf mir!
Ich bin ganz ruhig.
Ich werde das tun, was ich für meine Pflicht halte.
Ich will Lisette sprechen. —
**
*
In der Galgenstraße stand ein kleines, sauberes Wirtshaus „Zur Erholung“. Der Name war etwas kühn gewählt, denn es hastete tagaus, tagein durch seine Türen, und auch drinnen war allezeit ein überreges Treiben und Lärmen von der springlebendigen Wirtin an bis zum lautstimmigen, gewalttätigen Hausknecht hinunter. Aber Wirt und Wirtin hatten diesen Namen nun einmal gewählt. Sie waren Anfänger und hofften durch regen Fleiß ihr Wirtshaus in der billigen Galgenstraße so weit in die Höhe zu bringen, daß man es getrost der „Grünen Birke“ am Markt gleichstellen sollte. Und man konnte nicht wissen, ob der Bürgermeister in zwanzig oder dreißig Jahren nicht am Ende den üblen Namen Galgenstraße in Erholungsstraße umtaufen würde, dem Wirtshaus und seinen Gründern Jochen Timm und Frau Dorette, geb. Brodersen, zu Ehren. — Die ganze Sache ließ sich prächtig danach an.
Zahlreiche Bauern aus der Umgegend, Pferdehändler und Geschäftsreisende stiegen bei ihm ab und ließen ein hübsches Stück Geld zurück. — Und er und seine rührige[S. 169] Frau sorgten dafür, daß es blitzsauber in Küche, Keller und Gaststube zuging und ebenso in Sachen Moral bei den über Nacht bleibenden Gästen. — Hatte er doch der hübschen, kecken Frau Sörensen beinahe den Stuhl vor die Tür gesetzt, als sie ihm gestern ankündigte, daß sie in den nächsten Tagen Herrenbesuch erwarte. Zu ihrem Glück war der Herr ihr eigener Mann. Nun ja, es mochte da wohl manches in der Ehe nicht ganz stimmen, aber das war ja nicht so etwas Seltenes. Einen richtigen Wirt durfte überdies nichts in Erstaunen setzen bei seinen Gästen. Jedenfalls aber war Frau Sörensens Mann ein feiner, honetter Herr, von außen schon sehr gut anzusehen. Er hatte gleich die aufgelaufene Rechnung ohne eine Miene zu verziehen beglichen, hatte seiner Frau die beiden besten verfügbaren Stuben anweisen lassen, und saß nun seit einer Stunde droben mit ihr im Wohnzimmer, wo er „nicht gestört zu sein wünschte“.
Nun, dafür wollte Jochen Timm schon sorgen.
War doch wahrhaftig gleich hinterher ein anderer Herr gekommen mit so einem gelben, spinösen Gesicht, und hatte ihn aushorchen wollen. „Ob da der Lyzeumsdirektor Sörensen hinaufgegangen sei, und ob etwa eine Mutter oder Schwester oder gar Frau von ihm im Gasthof zur Erholung wohne.“
„Mein Herr,“ hatte Jochen Timm geantwortet, „was bei mir wohnt, ist alles polizeilich angemeldet und braucht der Herr sich nur auf der Polizei Bescheid zu holen.“
So viel war gewiß. Wer ihn, Jochen Timm, zum Schwatzen und zum Preisgeben seiner Geschäftsgeheim[S. 170]nisse veranlassen wollte, der mußte früher aufstehen und außerdem nicht so plump mit der Tür ins Haus fallen. —
Erne Sörensen saß in dem mit bescheidenem Prunk eingerichteten geräumigen Zimmer seiner Frau gegenüber.
Er sah so blaß aus, daß Frau Lisette voll Scheu und beinahe furchtsam in sein strenges Gesicht blickte. —
„Du hattest mir mit Handschlag versprochen, meinen Weg nicht mehr zu kreuzen,“ sagte Sörensen ernst.
„Ich brauchte Geld,“ entgegnete sie finster.
„Dann hättest du darum schreiben sollen. Und ich frage mich trotzdem, wie es möglich ist, daß du als alleinstehende Frau mit der großen Summe nicht auskommst. Es müßte denn sein, du seist viel krank gewesen. Ist dem so? Du siehst nicht gut aus, Lisette.“
Sie lachte kurz auf und hustete dann hohl und langanhaltend. „Erkältungen,“ sagte sie leichthin. „Hab mich nicht drum geschert. Die letzte ist hartnäckig und dauert nun schon bald ein Jahr. Aber das ist’s nicht. Na ja, ich bin kein Sparer, und ich hab mein junges Leben auch genießen wollen. Aber die Hauptsache sind meine Schwestern und deren Männer. Die saugen mich aus. Die ersten Jahre war’s ganz lustig mit ihnen, aber nun hab ich’s satt. Ich will nun wieder zu dir kommen, Erne...“
Eine tiefe Röte stieg in sein Gesicht.
„Dazu ist es zu spät,“ sagte er ernst. „Ich nehme dich nicht wieder auf. Du hast mich damals freiwillig und bis obenhin voll Schuld verlassen, wenn du auch durch zehn Jahre hindurch allen, die es wissen wollten, er[S. 171]zähltest, ich hätte dich um des Sterbens unserer Kinder willen verstoßen. Mein Haus bleibt dir verschlossen.“
„Ich lasse mich aber nicht von dir scheiden...“ warf sie trotzig ein, „und die Schwäger sagen auch, das sollt’ ich auf keinen Fall tun...“
„Laß jene Leute aus dem Spiel. Wir beide sind tiefer voneinander geschieden, als das Gesetz es tun könnte. Wenn du aber dein Versprechen fürderhin nicht hältst, Lisette, — so zwingst du mich...“
Er war aufgestanden. „Was hast du nun vor? Willst du nach Thüringen zurück?“
„Auf keinen Fall,“ entgegnete sie. „Dazu ist mir denn doch dein schönes Geld zu schade, daß es immer nur in die Taschen der Schwäger wandern soll. Ich bin dort heimlich ausgerückt und will nun nach Lüneburg. Da hab ich noch Freunde. Du brauchst dich nicht zu schütteln, Erne,“ lachte sie leichtsinnig, „’s ist nur ’ne alte Frau. Bei der will ich mich erst mal einmieten. Und will mich ordentlich auskurieren, so geht das nicht länger.“
„Tu das, Lisette. Geh zu einem tüchtigen Arzt oder in eine Heilanstalt, es soll dir an nichts fehlen. Aber heute nachmittag mit dem 3-Uhr-Zuge wirst du reisen. Wie kamst du gestern in das Heidewirtshaus?“
„Ich war in der Apotheke, um mir ein paar Hustentropfen zu holen, da erzählte es der Apotheker, daß die Lehrer vom Lyzeum einen Ausflug machten dorthin. Da glaubte ich, ich könnte dich eher sprechen als hier in der Stadt. Der Wirt hat mich auf seinem Wagen mit hingenommen, er mußte über Land. Schon als ihr ankamt,[S. 172] habe ich euch beobachtet. Die Häßliche, mit der du gingst,“ Lisette lachte, — „die sah dich arg verliebt an. Und wie du mit ihr schön tatest! Ist es deine Liebste?“
„Schweig!“ fuhr Sörensen auf. „O! Das ist deine Denkweise! Du weißt, daß ich nicht frei bin...“
Sie sah ihn erstaunt aus runden Augen an. „Wie du alles schwer nimmst,“ murrte sie dann. „So war es immer. Hätten wir uns doch nie gesehen!“
Er nickte düster. „Ich gehe jetzt, Lisette. Um drei Uhr bin ich am Bahnhof und bringe dir deine Fahrkarte. Auch das versprochene Geld erhältst du dort. Sei unbesorgt. Leb wohl, Lisette. Laß gut sein. Ich bin des Kämpfens müde. Laß uns ruhig, ohne Groll aneinander denken... Werde bald gesund! Leb wohl! —“ Er reichte ihr die Hand und ging mit schweren Schritten.
Unten bestellte er noch heißen Tee für sie und hinterlegte eine Summe für das, was sie noch verzehren würde. Jochen Timm dienerte unablässig und empfahl sein Hotel für alle vorkommenden Gelegenheiten.
Lisette Sörensen stand am Fenster und sah ihrem Manne nach. Und beobachtete, daß im gegenüberliegenden Hause auch drei Menschen ihm nachschauten und zwei davon die Hälse reckten und das dritte, ein zartes Mädchen, weinte.
Aber sie konnte sich den Zusammenhang nicht klarmachen. Überdies schüttelte sie wieder der entsetzliche Husten.
Sie tastete sich zum Sofa.
Und während sie sich dort von dem Krampf erholte,[S. 173] überdachte sie ihr unnützes Leben. Sie konnte sich bei aller Anstrengung wirklich keiner freundlichen Tat gegen ihren Mann besinnen. Und es sah ihm recht ähnlich, daß er ihr auch noch den heißen Tee heraufschickte. Wie höflich der Wirt zu ihr war.
Sie schlürfte begierig das heiße Naß und behandelte den unterwürfigen Jochen Timm von oben herab, bis er verärgert hinausging.
Und als sie recht durchwärmt war, empfand sie, daß sie eigentlich froh war, heute fortreisen zu können.
Und ihr Leichtsinn dachte nicht einen Augenblick daran, wieviel häßliche Steine sie aufs neue in den Weg von Erne Sörensen geworfen hatte.
**
*
Als Fräulein Doktor am Nachmittage, der dem Ausfluge folgte, sich recht behaglich hingesetzt hatte, um bei dem Regen da draußen ein gutes Buch zu lesen, wurde sie durch ein hartes Stampfen oder Stoßen aufgeschreckt. Hinter der Mansardentür, die sie sofort öffnete, stand niemand. Aber das Stoßen hörte nicht auf.
Eine Weile versuchte sie noch zu lesen, dann legte sie das Buch ärgerlich hin, horchte noch einmal nach allen Seiten und ging dann die Treppe hinunter, um an der Tür von Fräulein Tingleff zu läuten.
Die alte, halbtaube Dienerin schlürfte heran und wies sie ins Zimmer. Auf dem festgefügten Mahagonitisch stand ein Stuhl und auf diesem das alte Fräulein mit einem Besen bewaffnet, den sie in regelmäßigen Zwischen[S. 174]räumen gegen die Decke stieß. Der Kalk war schon vielfach abgefallen und bedeckte den Tisch, das Sofa und den Teppich.
„Kommen Sie endlich, Doktorsche?“ rief Fräulein Tingleff ärgerlich. „Soll ich mir denn die ganze Zimmerdecke ruinieren?“
„Daß ich nicht wüßte,“ lachte die Eingetretene. „Was ficht Sie denn an? Konnten Sie nicht die alte Tine schicken?“
„Tine wird täglich tauber. Ehe ich ihr den Sachverhalt klarmache, bin ich längst auf den Tisch geklettert. Aber nun helfen Sie mir herab. Es war eine Leistung mit meinem lahmen Bein.“
„Den Hals konnten Sie sich brechen, Fräulein Tingleff. War’s denn so eilig?“
„Das Halsbrechen nicht, aber die Sache wohl, die ich Ihnen erzählen will.“
Sie saß noch immer auf dem Tisch, aber nun schob Fräulein Doktor das Sofa heran und lotste die Waghalsige auf die weichen Polster. Dann nahm sie ihr den Besen aus der Hand und fegte die Zimmerdecke zusammen.
„Was wird Dingelmann sagen,“ brummte Fräulein Tingleff mit vorwurfsvollem Blick auf Fräulein Doktor. „Ja, Sie haben gut lachen, Doktorsche. Aber wenn ich Ihnen alles erzählt haben werde, wird Ihnen vielleicht für alle Ewigkeit das Lachen vergangen sein...“
Dora Stavenhagen wurde nun doch aufmerksam und sah, daß die alte Dame arg verstört und bekümmert dreinschaute.
„Doktorsche, ich bin um ein paar Pfund Ideale leichter geworden.“
„Was ist denn geschehen?“
„Ich war heute um drei Uhr auf dem Bahnhof und da hab ich den Sörensen gesehen, unsern Sörensen, meinen Sörensen, wie er eine Frauensperson hofierte, eine junge, sehr hübsche, üppige, furchtbar gewöhnliche Frauensperson in Stöckelschuhen und durchbrochenen Strümpfen... Sie reiste ab und heulte wie ein Schloßhund.“
„Nun und was weiter?“ fragte Fräulein Doktor ruhig und nur um einen Schein blasser.
„Was weiter? Genügt das nicht? Sörensen gilt hier als Asket... ich sag Ihnen, Doktorsche, von dem Manne schmerzt es mich, daß er nicht ist, was er scheint.“
„Wer sagt Ihnen das?“ rief Dora Stavenhagen mit funkelnden Augen. „Muß denn immer gleich der Stab gebrochen werden? Aber Sie sind nicht besser als all die andern. Für mich bleibt Sörensen — Sörensen und wenn er hundert junge Weiber hofiert...“
„Sie haben den Mann gar nicht lieb, nie, nie!“ sagte Fräulein Tingleff trocken. „Sie schätzen ihn bloß...“ Und sie streichelte zart mit ihren runzeligen Händen Doras Wange.
Da brach Fräulein Doktor in Tränen aus.
„Ich bin eine greuliche, alte Person,“ fuhr Fräulein Tingleff fort. „Zweiundsiebzig vorbei und noch immer mit einem Maul wie ein Schwert. Pfui Teufel. Aber Sie haben mich abgekanzelt. Dafür sind Sie ja auch Oberlehrerin. Und recht haben Sie. Aber Sie sollen[S. 176] mich doch nicht so in einen Pott mit dem ganzen Birkholzer Gemüse werfen...“
Dora Stavenhagen faßte sich.
„Es ist mir traurig zu Sinn,“ sagte sie, „wenn so ein aufrechter Mensch wie Fräulein Tingleff, auf deren Freundschaft ich mir etwas einbilde, gleich umfällt, sobald etwas nicht ganz leicht Begreifliches auf den Plan tritt... Etwas, das die blöde Masse nicht kapiert...“
„Sermon Nr. 2?“ fragte die alte Dame. „Na, toben Sie sich nur aus. Ich werde mir einbilden, daß mir das Hemdchen noch aus dem Höschen schaut... ‚Blöde Masse‘ ist übrigens gut.“ Sie umzeichnete ihre eigene rundliche Fülle mit dem Finger.
„O, Fräulein Tingleff, so meinte ich’s natürlich nicht...“ wehrte Fräulein Doktor. „Aber es brennt mir noch eine Frage auf der Seele: Haben viele Birkholzer dem Abschied auf dem Bahnhof beigewohnt?“
„Einige ja. Und wenn ich’s jetzt überdenke, muß ich mich noch nachträglich verwundern, daß es eigentlich nur Leute aus Ihrem Kollegium waren. Ich sah den greulichen Kahl...“
„Fräulein Tingleff!!!“
„Ja. Ist’s nicht merkwürdig? Und noch ein paar andere waren dabei, deren ich mich von der Kaisergeburtstagfeier in der Aula her erinnere...“
„Nun, da wird das Wespennest ja bald über ihn herfallen.“
„Warum ist der Mann auch nicht vorsichtiger!“ meinte[S. 177] Fräulein Tingleff ärgerlich. „Diese Randbemerkung gestatten Sie mir doch bei dem Herrlichsten von allen?“
„Eigentlich nicht. — Sörensen geht nur Wege, an denen seine unbestechliche Ehrenhaftigkeit als Weiser steht.“
Dora Stavenhagen umfaßte die alte Dame. „Nicht wahr, wir beide wollen die bekannten ‚Freunde hinterm Rücken‘ aus dem Sprichwort sein? Der Einsame wird uns brauchen können. —“
„Vielleicht,“ nickte Fräulein Tingleff ernst. „Aber als der Zug gestern hinausgedampft war, ging Sörensen an mir vorbei. Und da sah ich an seinem Gesicht, daß er niemand brauchte.“
„Gestern vielleicht nicht. Aber sein Leben ist noch lang.“
„Doktorsche, nehmen Sie mich in die Lehre. In diesem Falle sind Sie die Ältere. Ich hab mich noch nicht zur inneren Ruhe erzogen. Möchte immerfort helfen, auch ungerufen. Möchte die Menschen zu ihrem Glücke zwingen. Jetzt bin ich in dem Zustande der leeren Hände. Der ist fürchterlich.“
„O, ich fülle sie gern,“ sagte Fräulein Doktor herzlich. „Da habe ich z. B. zum Dienstag die Agnes Asmus für mich gekapert. Die Eltern sind über Land, ein seltener Glücksfall, und das Mädel soll bei mir Mittag essen. Dürften wir zum Nachmittag herunterkommen und an Ihrem schönen Flügel musizieren? Sie wissen, ich habe kein Instrument, und Agnes Asmus hat solch süße, reine Stimme. Es ist ein Genuß, sie singen zu hören, und für[S. 178] das Mädel selbst das schönste Geschenk, wenn man ihr Gelegenheit dazu gibt.“
„Wozu diese lange Erklärung? Es ist abgemacht. Aber daß Sie oben in Ihrem Vogelkäfig Ihren Petroleumkocher abstrapazieren, leide ich nicht. Es wird bei mir gegessen. Schlag 1 Uhr. Meine taube Tine soll uns ein gutes Essen auftafeln. Dazu braucht sie die Ohren nicht. Und süße Puddinge, eine schwere Menge müssen ’ran. Und Kuchen wird gebacken. War ja auch mal Backfisch in nebelgrauer Vorzeit. Soll Sörine Heidekamp auch mit her?“
„Diesmal leider nicht. Mutter Asmus hat’s untersagt.“
„Nennen Sie dies Weib nicht ‚Mutter‘.... Das Herz krempelt sich einem um, wenn man solche Neutra mit diesem Namen rufen hört, den unsereins sein Lebtag vergebens erfleht hat. — Mit aller innewohnenden Menschen- und Kinderliebe! Und doch umsonst erfleht.“
Wie wunderlich es klang aus dem alten Munde.
Fräulein Doktor machte ihr hilfloses Gesicht und hatte fragende Augen.
„Ja, Menschenkind, glauben Sie denn, ich wäre früher ein Kieselstein gewesen, um meine zweiundsiebzig Lenze nun für den Sörensen aufzuheben? Nein, Doktorsche, ich bin ein einsames Geschöpf geblieben, um meine Liebe zu behalten. ’s gibt halt so närrische Herzen, die geben ihren ganzen inneren Reichtum dem einen, und nimmt er nicht auch den Menschen dazu, ist’s bös. Denn der andere kann nicht teilen, kann sich nicht zersplittern.[S. 179] So ist’s mir ergangen. Namen nenne ich natürlich nicht. Täte ich’s, Sie lachten sich von Sinn und Verstand. Dazu ist mir meine Liebe zu schade. Und nun wollen wir von etwas anderem reden. Vom Dienstag, auf den ich mich freue.“
„Ich auch, ich auch!“ frohlockte Dora Stavenhagen, nahm das alte Fräulein in den Arm und reigte sanft wiegend mit ihr durch das Zimmer. Und sie dachte dabei, wie närrisch es doch im Leben zugehe, daß sie just an dem Tage, da sie mit seltsamer Gewißheit spürte, daß Erne Sörensen mit starken Fesseln an eine andere geschmiedet sei, ein frohes Tänzchen anhebe.
„Doktorsche,“ rief Fräulein Tingleff mit tiefem Knix, „wir sind eine feine Kumpanei. Das macht uns so leicht niemand nach. Was meinen Sie, wenn wir diesen Menuettwalzer als Probe betrachteten? Soll ich zum Dienstag die Hansohms und den Sörensen mit einladen und den Abend in einen Ball ausarten lassen? Ich kann technisch einwandfrei auf dem Kamm blasen...“
„Bitten Sie Herrn Sörensen lieber nicht... ich glaube, — ganz sicher — — es ist besser so. Aber Hansohms — o, das ist herrlich! Hoffentlich ist Lore wohl genug.“
„Und der Hansohm hat mir gesagt, daß er zu jedem Kalbsbraten in freund-brüderlicher Beziehung stünde. So soll er eine Kalbskeule haben.“
Die beiden berieten noch eifrig miteinander.
Und dann trennten sie sich und hatten, als sie jedes für sich allein waren, mit eins den kommenden fröhlichen[S. 180] Dienstag vergessen und dachten nur noch an Erne Sörensen und wer wohl die auffallende Persönlichkeit sein möchte, mit welcher der sonst so korrekte Sörensen sich so sorglos vor ganz Birkholz bloßstelle.
Sonntag abend.
Gott sei Dank, die Ferien sind vorbei.
Gewiß nicht ein ganz gewöhnlicher Ausspruch für einen Schulmann. Aber für einen Direktor doch wohl berechtigt.
Ruhe und Muße haben mir die Ferien nicht gebracht und dazu hatte ich rechtschaffenes Heimweh nach meinen zweihundertundfünfzig Kindern. Morgen sehe ich mein Völkchen wieder und wie es werden wird, wenn...
Erne Sörensen, so denke nicht dran, und pflücke den Tag. —
So pflückte ich mir am Dienstag ein paar gemütliche Stunden von dem Strauch Behaglichkeit, der nirgends so gut gedeiht wie in dem alten Hause von Dingelmann und Sohn gegenüber meiner eigenen Behausung. Es trieb mich zu dem bejahrten Fräulein Tingleff, die es aber an Jugendfrische mit uns allen aufnimmt. Uneingeladen kam ich, aber nicht unerwartet. Gottlob, daß es noch so warme Häuser im lieben Vaterlande gibt, wo man immer willkommen und immer zu Hause ist.
Drei Leute fand ich, die alte Dame, Fräulein Doktor und Klaus Hansohm, alle drei bemüht, der blassen Agnes Asmus einen frohen Abend zu schaffen, nachdem ihr wohl schon ein so köstlicher Tag beschert worden war, daß das junge Herz die Glücksfülle kaum fassen konnte. Kollege[S. 181] Hansohm mühte sich fast väterlich um sie und ihre süße, zarte Stimme, die uns kleine Volkslieder mit rührendem Reiz sang. Er plant eine Ausbildung der Stimme, wenn Agnes die Schule verlassen hat. Natürlich wäre bei dem bekannten Geiz der beiden Eltern nicht daran zu denken, aber Fräulein Tingleff ist jede schöne Gelegenheit recht, ihr Geld nutzbringend anzulegen. Am Abend kam auch der alte Dingelmann auf ein halbes Stündchen zu seiner „alten Flamme“ herauf. Aber ich schien ihn zu stören. Der Mann war befangen und fast möchte ich sagen, die beiden Damen waren es auch, ja selbst die junge Agnes, die doch sonst immer so lieblich strahlt, wenn sie mich sieht. Jeder wollte es mir verbergen, aber meine Sinne sind alle so leidgeschärft.
Irgend etwas liegt in der Luft. Wann ich es zuerst spürte, vermag ich nicht genau zu sagen.
Aber es ist da.
Wie gern bin ich immer im Herbst gegen den Sturm angelaufen. Dies Überwinden der anstemmenden Luft hat etwas unendlich Reizvolles, Gesundes für mich. — Jetzt stemmt sich auch etwas gegen mich an, aber es ist kein brausendes Sturmlied, es ist nur ein Raunen und Flüstern und doch schwer und schwül und unbehaglich. Ich wehre mich und zerteile das fremdartige Unbekannte, aber es ist überall wieder da. Beinahe körperlich.
Ich habe es ja gefühlt, daß ich von Anfang an hier wider einen Stachel löcken mußte, der gewillt war, unentwegt sondierend in mein geheimstes Innere zu dringen. Habe auch gespürt, daß es Schwierigkeiten und Vor[S. 182]urteile zu überwinden galt, von denen ich nicht weiß, wo sie ihren Ursprung haben. Bei vielen Leuten rannte ich wie gegen eine Mauer. Aber ebenso viele nahmen mich doch in Haus und Herz auf. Wenn ich allein an Heidekamp denke... Aber vielleicht denk ich schon zu viel daran...
Baurat Steinbrink, der Erbauer des Lyzeums, zog mich einmal am Stammtisch beiseite. Es war bis jetzt das erste und einzige Mal, daß ich dort war.
„Mein lieber Herr Direktor,“ sagte er, „fliehen Sie! Solange es noch Zeit ist. Sie sind nicht auf Birkholz geeicht. Wollen Sie aber durchaus hierbleiben und trotzdem nicht an der Mauer des spießbürgerlichen Vorurteils eingescharrt werden, dann heiraten Sie die außergewöhnlich häßliche Kusine des Apothekers und kommen Sie jeden Abend in die ‚Grüne Birke‘. Auch müssen Sie Ihre prächtige Frau Dietz entlassen und sich alle halbe Jahr von der Bürgermeisterin völlig ungeeignete Hausmädchen und Köchinnen von auswärts verschreiben lassen. Und was noch so Kleinigkeiten sind...“
Ich glaube, dieser Mann ist ein Eingeweihter. —
Aber auch ihm kann ich nicht helfen.
Und ich muß weiter der „Unbegreifliche“ von Birkholz bleiben oder zum „schwarzen Schaf“ befördert werden ...
Vielleicht hängt das auch von Kahl ab.
Von ihm und dem Ehepaar Asmus, — ob sie schweigen oder es vorziehen, zu schwatzen.
Eine ungeheure Gleichgültigkeit lähmt mich. Oder ist der Ausdruck zu niedrig gewählt?
An stillen Abenden überkommt mich wiederum eine heiße Sehnsucht. Sie hat sich ihr Ziel nicht hoch und doch unerreichbar gesteckt. Ich möchte wieder der Knabe Erne sein, von der Schusterkugel umglänzt, und meine herzliebe Mutter müßte mir mit ihren weichen, verwaschenen Runzelhänden über das Haar streichen. Dann würd’ ich ihr sagen, — würde beichten, würde fragen... Mutter! Mutter...
**
*
Professor Kahl stand vor der Tür des Direktorzimmers.
Er schien sich erst noch zu besinnen, ob er seine freie Stunde zu einer Unterredung mit dem Schulleiter benutzen solle, klopfte dann aber mit raschem Entschluß.
Direktor Sörensen fuhr vor diesem harten Klopfen zusammen.
Dann ging er dem Eintretenden langsam entgegen.
„Was bringen Sie mir?“ fragte er freundlich-ernst.
„Nichts Gutes.“
Die beiden Herren sahen einander an. Sörensen dachte: Wann hätte ich je etwas Gutes von dir bekommen? Und Kahl sagte zu sich: „Nein, — das, was du meinst, ist es nicht. Das ist noch nicht ganz reif und ich muß dich noch etwas länger in der Schwebe halten.“
Laut fuhr er fort: „Eine mißliche, ärgerliche Angelegenheit. Es wird in meiner dritten Klasse gestohlen.“
„Das wäre! Da höre ich ja heute das erste Wort.“
„Ich mußte schweigen und verpflichtete auch die Kinder dazu, damit wir den Dieb in Sicherheit einwiegten. —“
„Hm. Diese Weise ist mir sehr unsympathisch, Herr Oberlehrer. Wir sind kein Detektivbureau. Wie lange spielt die häßliche Sache?“
„Seit vierzehn Tagen.“
„Das ist sehr lange. Die Kinder müssen ja fortgesetzt in großer Gewissenspein gewesen sein. Ich stehe da zu Ihrer Auffassung in schroffstem Gegensatze.“
„Wie immer,“ bemerkte Kahl gereizt.
Sörensen hob abwehrend die Hand. „Herr Kollege, wir wollen beide objektiv bleiben. Und ich muß noch ein paar Fragen stellen. Welchen Prozentsatz der dritten Klasse haben Sie verpflichtet? Da muß doch ein Verdacht gegen mehrere Kinder bestehen? Und sind Sie sicher, daß nicht doch untereinander geschwatzt und gemutmaßt wird?“
„Meiner Klasse bin ich ganz sicher. Es sind erstaunlich aufgeweckte, frühreife Kinder darunter. Ich konnte sie richtig organisieren.“
„Herr Oberlehrer, ich betone noch einmal, das ist mir sehr, sehr unsympathisch. Organisation! Worin besteht sie? Im Spionendienst?“
„Herr Direktor, ich weiß, Sie wollen mich damit beleidigen, aber es gleitet an mir ab. Und Sie haben ganz recht geraten. Ja, ich leite die Kinder an, mir zu helfen, einen Spitzbuben zu entlarven.“
„Was wird gestohlen?“
„Zuerst war es gesammeltes Geld, dann kamen neu[S. 185] gekaufte Hefte an die Reihe, Schreibmaterial, neue Federkasten. Ein Wintermantel verschwand...“
„Herr Oberlehrer, es ist unverantwortlich, daß mir davon nicht Mitteilung gemacht wurde. Und beruhigen sich denn die Eltern bei solchen Vorkommnissen?“
„Ich bin persönlich bei den Eltern gewesen, um alles gütlich beizulegen...“
„Aber zu welchem Zweck? Hier ist doch das rücksichtsloseste Verfolgen das einzig Gegebene...“
„Dafür bin ich früher auch gewesen. Aber ich fürchtete Durchstechereien.“
„Sie erschrecken mich, Herr Kollege Kahl. Ich habe mich doch auch mit der dritten Klasse hie und da beschäftigt, und wenn sie mir auch nicht sympathisch ist, so halte ich sie doch moralisch für einwandfrei.“
„Herr Direktor,“ — Kahl trat näher heran und lächelte hämisch. „Es handelt sich wahrscheinlich gar nicht um die dritte Klasse, — mein Verdacht und der der Kinder richtet sich vielmehr auf — ich spreche streng vertraulich — auf den Schuldiener Harks.“
„Herr Oberlehrer Kahl! Wissen Sie, was Sie da sagen?“
„Jawohl, ich weiß es. Und ich möchte auch den Vorwurf der verzögerten Anzeige von mir abwehren. Ich hätte eher gesprochen, wenn Sie nicht immer mit Betonung den Beschützer des allgemein unbeliebten Harks gespielt hätten.“
„Beschützer? Den Mann beschützt sein langes, ehrenhaftes Vorleben.“
„Hm.“
„Herr Oberlehrer, ich erhebe Einspruch gegen dies ‚vorbehaltliche‘ Hm. — Mir ist der Schulwart Harks sowohl von der Behörde als auch von verschiedenen Kollegen als ein durchaus einwandfreier Mann empfohlen worden. Er verwaltet sein Amt tadellos...“
„Und ist ein Grobian ohne Manieren. Die Kinder scheuen sich, zu ihm zu gehen.“
„Nur die unordentlichen. Denen pflegt er die Leviten zu lesen. Ich weiß, daß ihm herumgeworfenes Frühstückspapier eine persönliche Beleidigung bedeutet und ich habe zu viel gegenteilige Schuldiener erlebt, um nicht Harks Eigenart zu schätzen.“
„Wenn er nicht zu eigenartig wird.“ lächelte Kahl...
„Haben Sie irgendwelche Beweise, Herr Oberlehrer? So leicht gebe ich diesen alten Mann nicht preis. Jedenfalls nicht auf uferlose Anschuldigungen.“
Kahl zögerte einen Augenblick. „Ich könnte Ihnen bestimmte Tatsachen an die Hand geben, Herr Direktor... Noch von früher her,... würde dann freilich um strengste Verschwiegenheit bitten müssen...“
„Tatsachen? Herr Oberlehrer? Wie käme ich dann dazu, zu schweigen? Wenn Harks nicht der ist, der er scheint?“
„Hm! Es ist mancher nicht der, der er scheint...“ bemerkte Kahl, und nach einer längeren Pause: „Ich kann warten. Vielleicht brauche ich alte Geschichten nicht auszukramen, die neuen werden hoffentlich bald Klarheit schaffen.“
Der Direktor sah ihn forschend an. „Sie sind ein persönlicher Feind des Harks?“ fragte er schroff.
„Persönlicher Feind? Was geht mich der Schuldiener an? Ich finde nur, er regiert ein bißchen zu selbstherrlich hier, — seit einiger Zeit. Schaden kann’s nicht, wenn ihm der Kamm etwas abschwillt. Aber wie gesagt, aus dem Amte möchte ich ihn nicht bringen... ich würde da noch einmal vorstellig werden...“
„Herr Kollege, ich gestehe, daß ich aus dem Ganzen nicht klug werde...“
„Noch eins, Herr Direktor. Es ist Ihnen doch sicher bekannt, daß Bertha Ehlen aus der dritten Klasse die Nichte von Harks ist? Sie stand schon einmal im Verdacht, lange Finger gemacht zu haben, da verwandte sich der ‚Onkel Harks‘ für sie...“
„Es konnte dem Kinde durchaus nichts bewiesen werden,“ fiel Sörensen heftig ein. „Harks bat mich nur, seine Nichte vor Anpöbelungen einiger Mitschülerinnen zu schützen, er selbst war überzeugt von der Unschuld seiner Schwestertochter.“
„Dann kann ich wohl gehen, Herr Direktor?“ fragte Kahl ärgerlich.
„Herr Oberlehrer, — ich werde jetzt selbst für Aufklärung des Falles sorgen.“
„Darf ich Haussuchung bei Harks halten lassen?...“
„So sicher sind Sie Ihrer Sache???“
„Ziemlich, Herr Direktor.“
Sörensen wollte eben sagen: „Tun Sie, was Ihnen die Pflicht gebietet.“ Aber da las er in den Augen[S. 188] des Kollegen so viel Befriedigung... und fühlte zugleich, daß er — gehaßt wurde...
„Herr Oberlehrer Kahl, ich komme gleich selbst in Ihre Klasse. Von einer Haussuchung möchte ich vorläufig absehen. Ich will erst noch die Bertha Ehlen vernehmen ...“
„Guten Morgen, Herr Direktor.“
Als die Tür hinter Kahl ins Schloß gefallen war, bemächtigte sich Sörensen neben einem ehrlichen Zorn eine große Traurigkeit. Er ging ein paarmal in seinem Zimmer auf und ab, um ruhig zu werden.
Auf die kleine, freundliche Welt seines Lyzeums, das ihm bereits ein Stückchen Heimat bedeutete, war häßlicher Mehltau gefallen. —
Wie eine aufgeregte Schar junger Vögel saß die dritte Klasse auf ihren Bänken. Die Köpfe neigten sich zueinander. Die Schnäbel zwitscherten und wisperten. Am Katheder stand Professor Kahl mit zwei besonders hell und aufgeweckt aussehenden Mädchen. Als der Direktor hereintrat, wurde alles still. Nur auf der vorletzten Bank hörte man eine eintönige Stimme: „Und ich habe es nicht getan, und wenn ich es doch nicht getan habe!“
„Wenn du es nicht getan hast, Bertha Ehlen, dann wird dir kein Mensch etwas anhaben,“ sagte Sörensen ruhig. „Aber es befremdet mich, daß immer zuerst der Verdacht auf dich fällt und daß du überhaupt keine Freundin hast.“
„Und ich habe es nicht getan und wenn ich es doch nicht getan habe!“
„Sie hat immer Schokolade mit und Zuckersteine,“ rief Lotte Krebs im rechten, echten Angeberton.
Die Beschuldigte warf ihr einen giftigen Blick zu: „Du hast es mir ja immer fortgegessen,“ schrie sie. —
Sörensen erhob seine Stimme: „Ihr habt nur zu reden, wenn ihr gefragt werdet, das bitte ich mir aus. Bertha Ehlen, an welchem Tage wurde der Wintermantel gestohlen?“
Bertha Ehlen murmelte statt der Antwort: „Und ich habe es nicht getan und wenn ich es nicht getan habe?“
Ein Finger wurde mit großer Dringlichkeit in die Höhe gebohrt.
„Was willst du, Lise Steffens?“
„Der Mantel gehörte mir. Aber ich habe gleich einen neuen bekommen. Mutter sagte, es käme uns nicht drauf an. Es war an dem Tage, wo draußen auf dem Flur die Reparaturen gemacht wurden. Der Schuldiener Harks und seine Frau waren den ganzen Vormittag draußen und dann war doch mein Mantel weg und von Hedwig Dierks der Muff.“
„Setz dich.“
Ein zweites Kind meldete sich. „Meine Gummischuhe waren auch fort. Sie waren ganz neu, und da habe ich furchtbar geweint und wollte nicht nach Hause gehen. Da hat sie mir der Schuldiener dann wiedergegeben.“
„Der Schuldiener?“
„Ja, der hatte sie gefunden. Aber am andern Tage waren sie dann doch wieder weg, und ich habe sie nicht wiedergekriegt.“
Bertha Ehlen jaulte laut wie ein junger Hund: „Und ich habe es nicht getan, und wenn ich es doch nicht getan habe.“ Aber diesmal kam noch ein kühner Schlußsatz: „Die Erde soll mich gleich klaftertief verschlingen, wenn es nicht wahr ist.“
Der Direktor sah sie finster an. Sein Gesicht war undurchdringlich.
„Komm gleich einmal mit mir in mein Zimmer,“ gebot er.
Er öffnete die Tür und da stieß er auf zwei Kinder, die ein sehr umfangreiches Paket schleppten. Atemlos ließen sie es fallen. „Wir haben es,“ riefen sie Oberlehrer Kahl zu. „Es lag in der kleinen dunkeln Schrankkammer in Harks Wohnung.“
Eine tiefe Stille entstand, und in diese Stille hinein klang nur die öde Entschuldigung der Bertha Ehlen.
Oberlehrer Kahl hatte sein Taschenmesser hervorgezogen und schnitt Packpapier und Stricke des Paketes mit einem Schnitt durch. In einen hübschen Tuchmantel waren die mannigfachsten Gegenstände gewickelt, Muff und Gummischuhe lagen obenauf.
„Ich habe es aber nicht getan, und...“
Mit festem Griff packte der Direktor die Plärrende an den Schultern und schob sie zur Türe hinaus.
„Nimm deine Sachen und geh nach Hause,“ gebot er kurz. „Du brauchst nicht wiederzukommen.“
Bertha heulte auf. „Ich habe doch die Sachen gar nicht bei mir gehabt, sie haben sie ja beim Onkel gefunden ...“
„Geh! Und komm mir nicht wieder vor die Augen.“
Der Direktor klopfte noch an die Tür der ersten Klasse. Fräulein Doktor öffnete ihm.
„Ich erbitte mir von Ihnen für eine halbe Stunde die Agnes Asmus. Sie soll sich sofort anziehen und Bertha Ehlen aus der dritten Klasse zu deren Eltern bringen. Ohne sich mit dem Kind in irgendein Gespräch einzulassen.“
Es war alles rasch erledigt.
Als der Direktor sein Zimmer betrat, fiel sein Blick auf den Schulwart Harks. Der stand mitten in der Stube und hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und dann und wann tönte ein Stöhnen und Ächzen aus seiner Brust.
„Herr Harks, Sie hier?“ fragte Sörensen und klopfte ihm auf die Schulter. „Armer Kerl! Beruhigen Sie sich doch...“
„Mein guter Name!“ ächzte Harks.
„Ihr guter Name? Der ist bei allen verständigen Leuten ebenso rein wie vorher. Ich habe Ihre Nichte nach Hause geschickt. Arme Eltern. — sie tun mir leid.“
„Herr Direktor, o Herr Direktor,“ stammelte Harks. „Sie, Sie — glauben nicht? Wie Herr Oberlehrer Kahl? Sie, Sie halten mich nicht... o Herr Direktor...“
Der Mann war außer sich. Die Tränen liefen ihm in den Bart, er haschte nach Sörensens Hand und küßte sie unbehilflich.
„Nicht doch, Harks. Was tun Sie da?“ wehrte der[S. 192] Direktor, „ich habe nicht einen Augenblick an Ihnen gezweifelt.“
„Herr Direktor! Ach, Herr Direktor! Darf ich gleich zu meiner Frau gehen? Die ist mir nur so zusammengebrochen, als die Kinder die gestohlenen Sachen aus unserer Kammer holten...“
„Ja, — gehen Sie, Harks.“
„Herr Direktor, darf ich heute nachmittag noch einmal in Ihre Privatwohnung kommen?“ Der alte Mann hatte sich aufgerichtet und strich verlegen und mit müder Handbewegung über sein graues Haar. Seine sonst so rauhe, polternde Stimme klang wie erstickt. „Es muß sein, Herr Direktor, — ich möchte Sie um Gottes willen drum bitten, daß ich ein Stündchen mit Ihnen sprechen könnte.“
Der Direktor reichte ihm die Hand. „Ich erwarte Sie um drei Uhr, Harks,“ sagte er einfach.
„Herr Direktor — wenn Sie mal einen Menschen suchen, der — für Sie...“ Dem alten Mann brach die Stimme.
„Gehen Sie, lieber Harks. Ich tat nur Selbstverständliches. —“
Nachdem er wieder allein, blieb Sörensen eine Weile nachdenklich stehen. Dann ging er mit seinen ausholenden Schritten nach der dritten Klasse zurück.
„Bertha Ehlen wird nicht wiederkommen,“ sagte er ernst zu den Kindern. „Damit ist die Sache erledigt. Es ist natürlich ein sehr trauriges Vorkommnis gewesen, das sich hoffentlich nicht wiederholt.“
„Und Harks?“ fragte Oberlehrer Kahl lauernd. „Der Hehler ist doch wohl...“
„Ja, liebe Kinder, das wollt’ ich euch noch sagen,“ fuhr der Direktor fort, „Herr Harks ist tief betrübt über das Vergehen seiner Nichte. Ich hoffe, ihr seid alle recht freundlich zu ihm und seiner braven Frau. Ja? Ihr wißt, die beiden richten trotz ihrer Kränklichkeit euch alles immer so sauber und behaglich her. Ich habe also euer Versprechen und verlasse mich darauf. Guten Morgen, Herr Kollege.“ —
**
*
An diesem Mittag war Frau Dietz gar nicht zufrieden mit ihrem Herrn. Er gab ja, Gott sei’s geklagt, überhaupt viel zu wenig aufs Essen und Trinken und seinetwegen konnte man jeden Tag dasselbe kochen. Aber so zerstreut wie heute hatte er doch lange nicht gegessen, und Frau Dietz beschloß, das Zungenragout und die Bananenspeise nur noch in den Ferien auf den Tisch zu bringen, wenn das nötige Interesse für das, was dem Menschen Leib und Seele zusammenhält, vorhanden war. Heute rannte ihr Herr gleich nach dem Mittagessen wie gejagt in die Heide hinein und kam nicht einmal erfrischt von dort wieder. Das sah man seinen traurigen Augen an. Und nun begann gleich die Arbeit wieder, Schulwart Harks hatte Punkt 3 Uhr den Herrn um eine Unterredung gebeten. —
„Nun, Harks, was wünschen Sie denn?“ fragte Sörensen freundlich und harmlos. Und gleich darauf: „Aber,[S. 194] lieber Herr Harks, — ich bitte Sie, Sie machen sich ja krank. Schließlich ist doch Bertha Ehlen nicht Ihr eigen Fleisch und Blut...“
„Herr Direktor,“ — ein gramdurchfurchtes Gesicht sah zu Sörensen auf, — „ich möchte mich heute ganz in Ihre Hand geben, — — in die Hand eines Ehrenmannes,“ setzte er hinzu.
„Und wenn mich Herr Direktor verwerfen, dann will ich mein Kreuz auf mich nehmen und es willig tragen. Aber so...“
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Erleichtern Sie Ihr Herz, lieber Harks, und was das Verwerfen anbetrifft, so bin ich nicht der Mann danach. Wir mangeln allzumal des Ruhmes. Und nun setzen Sie sich, — ich höre zu.“
„Herr Direktor, mit dem Bibelspruch von den Sündern, da denken nicht viele so. Es macht mir rechten Mut, daß Sie so sprechen.“
Trotz dieses rechten Mutes saß aber der alte Schulwart arg zusammengedrückt in dem Lehnstuhl, und seine Hände zitterten.
„Herr Direktor, — der Herr Oberlehrer Kahl will mich verderben!“
„Harks, — was sprechen Sie da?“ rief Sörensen erschrocken. Aber sein Herz setzte hinzu: Du armer Mensch, du magst wohl recht haben. —
„Ja, er will mich verderben und — er kann mich verderben. Aber ich will nicht so stückweise vor die Hunde gehen, und meine arme Frau soll nicht diese angstvollen[S. 195] Augen behalten durch meine Schuld. Sie sollen mein Richter sein, Herr Direktor.“
„Harks, braver, alter Harks...“
„Ja, Herr Direktor, brav. Mein alter Oberst, Gott hab ihn selig, der hat mich auch immer seinen braven Harks genannt. Meine ganze Militärzeit liegt so wie ein freundlicher Garten da. Was da an Unkraut drin ist, das kommt nicht auf meine Rechnung. Aber dann. Erst wurde mein Frau krank, sie hatte ein paar Fehlgeburten durchgemacht, und konnte sich bis auf den heutigen Tag nicht erholen. Kinder starben uns, blühende, schöne Kinder, — was das heißt, können nur Elternherzen recht verstehen — dann kriegt ich den Typhus, — Herr Direktor, ich will nur sagen, wir haben jahrelang den Doktor nicht aus dem Haus bekommen, und da kamen Schulden, Sorgen und Not. — Die einzige Freude in dem vielen Kummer, das war unsere Lisbeth, — wie ein Bäumchen, Herr Direktor, wie ein Bäumchen. Wenn ich die Sörine von Heidekamp ansehe, — das schöne, feine Mädchen, — da muß ich mich immer abwenden. Grad so fröhlich und schön und fein war meine Lisbeth, und gerade so kluge, ernsthafte Augen hatte unser Kind. Und überhaupt, wenn ich so was Schönes, Unschuldiges sehe, dann werde ich rauh und garstig und grob, und dann lachen die Menschen und sagen ‚Original‘ zu mir, und ist doch nur, daß ich nicht wie ein Waschlappen werden will und zum Himmel hinaufbrüllen: ‚Aus tiefster Not schrei ich zu dir‘...“
Sörensen legte ihm die Hand auf den Arm. „Es greift Sie zu sehr an, Harks.“
„Es muß herunter, Herr Direktor. Mir wurde damals diese Stelle hier als Schulwart angeboten. Ohne daß ich mich groß drum beworben hatte. Der frühere Bürgermeister war ein Verwandter von meinem Herrn Oberst. Und Herr Direktor wissen ja, es ist eine besondere Stelle wegen der Barsumme, die aus der alten Ratsstiftung noch dran hängt, und außerdem noch das schöne Land draußen vorm Birktor. Meine Frau und ich waren wie die Kinder so glücklich, als ich die Stelle kriegte. Herr Direktor, so viele Bewerber waren da, und es hing an einem Faden. Denn wir sollten unterschreiben, daß wir keine Schulden hätten. Das hab ich denn auch getan, und, — es war eine Lüge, und ich weiß jetzt, daß kein Segen auf dem ruht, was mit einer Lüge beginnt. Damals aber dacht ich — die paar hundert Mark würde ich bald erspart haben, wenn Gott uns von Krankheit verschonte. Hätte es ja auch nur meinem Herrn Oberst zu schreiben brauchen, aber der starb gleich drauf. Um mich noch zu bestärken, und uns recht zuversichtlich zu machen, bekamen wir die Nachricht, daß eine Tante von meiner Frau uns etwas vermacht hätte, und es würde am 5. April ausgezahlt werden. 300 Mark! Nun fehlte gar nichts mehr zu unserm Glück, und ich dachte überhaupt nicht dran, daß ich mit einer Lüge in das neue Amt gegangen war. — Aber wie wir hier so am Einrichten waren, schickte der Doktor aus W., wo wir früher wohnten, eine Rechnung, die wieder schrecklich aufgelaufen war, und fragte, ob ich vergessen hätte, sie beim Wegzug zu begleichen, denn er hatte sie schon zweimal geschickt.[S. 197] Und der Apotheker fragte an, ob er sich an die Behörde wenden sollte. Und dann war noch ein teurer Dampfapparat zu bezahlen, damit meine Frau im Hause alle die Verordnungen vom Arzt machen konnte. Graue Haare kriegten wir in jenen Tagen, aber wir dachten an den 5. April, und daß dann 300 Mark kämen und wir alles abschicken konnten. Aber das Geld kam nicht. Großer Gott, wenn ich noch an unser Warten und an unsere Angst denke. Und — — da lag nun — —, Herr Direktor, da hatte ich, — da hatte mir der Herr Oberlehrer Kahl eine Summe übergeben, ehe er in die Ferien fuhr. 320 Mark. Die sollt ich fortschicken. Und die Anweisung hatte er auch schon geschrieben, aber er hatte keine Zeit mehr, zur Post zu gehen. Und — ich will’s nur gleich sagen, Herr Direktor, ich nahm das Geld und meinte, ich sei nun erst mal die quälenden Sorgen los, schickte an den Doktor in W. und beglich meine Schulden. Und bis das alles herauskam, hätte ich ja längst das Geld von der Tante. —
Aber die Ferien gingen vorbei, und das Geld kam nicht, und Herr Oberlehrer kam wieder, fragte aber nicht weiter. Denn er war damals noch ein sorgloser Junggeselle. Aber dann — dann wurde auf einmal dem Geld nachgefragt von der Stelle aus, an die ich’s hätte abschicken sollen. — Da kam alles heraus. Und Herr Oberlehrer tobte wie ein Verrückter und wollte mich gleich anzeigen. Am liebsten hätte ich mich zum Sterben hingelegt. Dann stürzte meine Frau und meine Lisbeth herein und baten und flehten....
Ja, die Lisbeth, die konnte so wunderschön bitten....
Da wurde der Herr Oberlehrer ruhiger, und dann hat er das Geld aus seiner Tasche bezahlt, und ich sollt es ihm abzahlen, wann ich wollte. Herr Direktor, — wenn ich sage, am nächsten Tage kam das Geld, gerade als hätte der Teufel sein Spiel dabei gehabt, und es waren bare 700 Mark und ich konnte dem Herrn Oberlehrer alles wiedergeben. Aber es kam doch zu spät....
Ich war schuldig geworden, und die Lisbeth — die Lisbeth, Herr Direktor, die hatte ihr junges Herz dem — — geschenkt.“
Der alte Mann weinte schwer.
„Herr Direktor, meine Frau und ich haben kein Arg gehabt. Die Lisbeth war immer so ein bißchen schwärmerisch gewesen, — aber doch auch wieder so verständig. Sie muß eigentlich gewußt haben, daß der Herr sie sein Lebtag nicht heiraten würde. Aber sie war wohl blind und taub vor Liebe: Hinter unserm Rücken haben sie sich getroffen, — sie diente erst bei dem alten Fräulein Tingleff, aber dann hat er ihr eine Stelle bei seiner Wirtin verschafft. Gegen uns war sie immer ein gutes Kind und besonders so sanft und zutunlich zur kranken Mutter......
Dann fing sie aber selbst an zu kränkeln..... Und die Frau kündigte ihr ganz plötzlich.... Ja, und dann hatte sich wohl der Herr Oberlehrer mit ihr verzürnt, er heiratete ja auch bald darauf...
Herr Direktor,.... da hat man sie aus der Luhe gezogen.
So ein schönes, gutes, frommes Kind. Unsere Lisbeth .......“
— — — — — — — — — — — — —
Es war ganz still im Zimmer. Nur die alte Standuhr tickte, und das schwere Atmen des unglücklichen Vaters war zu hören.
Direktor Sörensen war aufgestanden und durchwanderte das Zimmer. Mit seinem warmen, gütigen Herzen durchlebte er das Schicksal des alten Mannes. Und zugleich fühlte er, daß er nicht weiter an einer Schule mit Oberlehrer Kahl zusammenwirken könne. Er blieb vor Harks stehen. Dieser stand mit schlaff herabhängenden Armen und erwartete sein Urteil.
Sörensen reichte ihm die Hand. „Sie haben gebüßt“, sagte er ernst und gütig. „Und ich will Ihnen helfen, daß Ihr Lebensabend ein freundlicher werde.....“
„Herr Direktor, — ach Herr Direktor!“.....
Auf der Schwelle des Zimmers blieb der alte Mann noch stehen. „Darf ich noch sagen,“ fragte er leise und demütig, „daß meine Frau und ich wochenlang nicht in die kleine Rumpelkammer kommen, wohin meine Nichte das gestohlene Gut gelegt hat?......“
„Quälen Sie sich doch nicht mehr mit dieser Angelegenheit, Harks. Und wenn Ihre arme Schwester da irgend einen Rat braucht — wegen Unterbringung der Bertha, so soll sie sich an mich wenden. In festen und freundlichen Händen kann aus dem bösen Mädel noch eine Freude der Eltern werden...... ich bin der Letzte, der ein ver[S. 200]irrtes Kind aufgibt. Nur in meiner Schule konnte ich sie nicht behalten. —“
Sonntag abend.
Es ist gut, daß die Wochen und Tage so fliegen. —
Die ganze Sache hatte mich doch sehr mitgenommen.
Stundenlang lief ich in der Heide umher. Zu wissen, in den Händen eines Kahl zu sein oder von „Kahl und Genossen“, wie Hansohm schon früher immer sagte, — das war lähmend.
Und dabei stillhalten zu müssen.
Ich tappte ja auch im Dunkeln. Wußte und weiß nicht, ob Lisette außer dem Brief noch Aufklärungen an Kahl gegeben hatte. —
Schließlich ist es ja ganz gleich, ob sie es tat, oder nicht.
Mein stilles Geheimnis ist ans Licht gezerrt, wie wird es in unreinen Händen zur Unkenntlichkeit verstümmelt werden......
Aber ich habe mich nicht lange vergrübelt....
Ein Schulleiter, auf den täglich so viel fragende und vertrauende Augen sehen, der muß „rein Schiff, klar Kimming“ haben.
Zu meinem verehrten Provinzialschulrat bin ich gereist.
Es kam mir, dem stillen Heidjer hart an, von dem zu reden, was mir allein zutiefst gehört.
Aber Doktor Hofer ist ein seltener Mensch. Schon sein Blick schließt die Herzen auf. Wie gerecht und gütig[S. 201] urteilte er über Harks. Wie verstand er mich in Sachen Kahl und Genossen! —
Als ich von ihm ging, wußte ich, meine Sache lag in verläßlichen Händen. Und wo die Verleumdung ihre garstigen, geifernden Zungen bewegt, wird dieser gerechte, großherzige Mann seine Stimme gewaltig und überzeugend erheben, so daß sie schweigen müssen. — Meine drei Getreuen in der Schule, Senior Rasmussen, Fräulein Doktor und Klaus Hansohm sind ein paar Tage recht ernst herumgegangen, aber nicht in Zweifeln an mich. Das las ich in ihren guten, vertrauenden Blicken. Fräulein Doktor freilich war befangen, das fällt auf bei ihrem sonstigen fröhlichen Draufgängertum. Was mag man ihr erzählt haben?
Feines, weibliches Empfinden ist leicht verletzt.
**
*
Wunden, wie die meinen, heilt nur Wald und Heide.
„Das ist des deutschen Waldes Kraft, daß er kein Siechtum leidet.“ Und meine Heide ist vollends ein Jungbrunnen ....
Ich beschloß einen Ausflug mit meiner ersten Klasse, und die Getreuen waren freudig bereit, uns zu begleiten.
Klaus Hansohm entwickelte gleich einen regen Eifer. Er ist eine echte Künstlernatur, die über die einfachsten Ereignisse einen Schimmer gebreitet sehen will. —
Er sang mit der ersten Klasse. Liebliche Lenzweisen grüßten den Wald und die kraftstrotzende Heide, deren braune Dolden prall und voll dem Hochsommer entgegen[S. 202]harrten. Eine grenzenlose Fülle leuchtend roter Blüten will sie ihm zur Welt bringen. Und ich möchte beten wie der alte Heidekamper: „Herr, laß mich wieder die Heideblüte erleben!“
Auch meine Geige hatte ich mitgenommen.
Es hob ein Jubeln an, als ich sie auspackte.
Dann wurde es mäuschenstill, und ich sah in lauter andächtige Augen, während Johann Sebastian Bach in seiner Giaconne durch mich zu ihnen sprach. — Die Stille hielt auch noch nachdem an, und ich spürte ein rechtes Frohgefühl darüber, daß wir so prächtig miteinander schweigen können. Mit einem Male ein tiefes, hörbares Aufatmen und eine junge Stimme: „Großvaterli sagt, wer so spielt, der betet“.
Ich lächelte: „Das Großvaterli hat recht, wie immer.“
„Wie immer?“ fragte Sörine sinnend. Und dann kam der Schelm: „Großvaterli sagt aber auch, wir sollten das Abendbrot heute in Heidekamp essen.“
Da lachtest du, Erne Sörensen und sprachst zum zweitenmal: „Großvaterli hat recht, wie immer.“
Die Stille war vorbei und ein jauchzender Jubel brach los.
Klaus Hansohm machte ein betrübtes Gesicht.
„Schreien Sie doch nicht so unmusikalisch“, rief er kläglich. „Da, sehen Sie, dort — Johann Sebastian Bach ist entsetzt ausgerissen, eben biegt er um die Waldecke.“
Unser Ziel war wieder das Forsthaus. Die ganze Stätte atmet Behagen. Frau Försterin hatte Kuchen[S. 203] gebacken, als ob anstatt zwölf junger Mädels eine Kompagnie Soldaten erwartet werde. —
Sörine Heidekamp schritt neben mir her. Wir sprachen von Agnes Asmus.
„Ich hätte Ihnen so gern die Freundin verschafft,“ sagte ich, „ich wollte unsern Ausflug verschieben, bis Agnes wieder gesund sei, aber Herr Lehrer Asmus meinte, das könne lange dauern.“
„Agnes wird immer krank sein, wenn wir etwas Frohes für sie haben,“ sagte Sörine hart, und ihr sonniges Gesichtchen verfinsterte sich. „Vielleicht wäre es besser, wenn sie mich nicht lieb hätte“, setzte sie weise hinzu.
„Kind, was reden Sie da“, warf ich hin. „Sie bedeuten ja alles für die arme Agnes. Und wenn sie in einem Gefängnis säße, würde eure schöne Freundschaft ihr Licht und Trost geben.“
„Sie sitzt ja in einem Gefängnis“, murrte Sörine. „Und das hat noch eine hohe Mauer, das ist die schreckliche Galgenstraße.“
Da gab ich ihr zu bedenken: „Keine Sorg um den Weg, wenn zwei sich nur gut sind, sie treffen sich doch.“
„Ja, Liebesleute,“ sagte sie harmlos und eifrig, „aber nicht so zwei arme Schächer, wie Agnes und ich.“
„Arme Schächer! Wie das klingt! Sie sehen mir auch gar nicht so aus, Sörine Heidekamp.“
Da traf mich ein jammervoller Blick aus ihren Augen.
„Es ist nicht leicht zu leben,“ sagte sie mit wenig fester Stimme. „Ich soll dem Großvaterli viel Sonne geben, und alle die Armen und Bresthaften in unserm Dorf wollen[S. 204] auch mein Lachen. Wo soll ich’s immer hernehmen? Wenn ich doch soviel Heimweh nach meiner Agnes habe? Und die Heide schläft auch noch. Wenn sie erst blüht, dann kann ich ihr viel klagen.“
„Du liebes Kind“, dachte ich. „Du liebes Kind, sprich weiter. Neben dir schreitet auch einer, der das Herz voll Heimweh hat, und weiß nicht einmal, wonach. Oder weiß ich es doch.... und darf’s dir nur nicht sagen, du junges, liebliches Kind?“
Ganz still gingen wir nebeneinander her.
Der unbeschreibliche Friede, den Wald und Heide ausatmeten, senkte sich auf uns herab.
Als das Forsthaus wieder nahe kam, stahl sich eine warme, junge Hand in die meine: „Ich danke Ihnen so sehr, Herr Direktor. Sie haben mir eben eine ganz lange Geschichte erzählt. So wandre ich auch immer mit Großvaterli.“
Klein Sörine, ich verstehe jetzt, warum du solch Einsiedler bist und alles Jungvolk ablehnst. Wer so zu wandern versteht.... Lebenskünstler seid ihr beide, du und das Großvaterli. —
Der helle Frohsinn, der dann seine Herrschaft beim Kaffeetrinken und Kuchenschmausen ausübte, war herzerquickend. —
Welch prächtige Pädagogen sind meine drei Mitarbeiter!
Senior Rasmussen erwies sich als ein vorbildlicher Märchenerzähler.
Eine kleine köstliche Perle von Andersen trug er uns[S. 205] in der Ursprache vor, und wir gerieten in vergleichende Sprachwissenschaft hinein. Wie lebendig die erste Klasse daran Teil nahm!
Fräulein Doktor hat etwas sehr Mütterliches im Umgang mit den jungen Mädchen. Sie ist doch selbst noch jung. Und was bei vielen Lehrerinnen in diesem Alter in gewollte Jugendlichkeit umgesetzt wird oder in verfrühtes, schrulliges Altjungferntum, das ist bei Fräulein Stavenhagen Mütterlichkeit.
Dadurch wird sie vor dem öden Begriff Neutrum geschützt. Dem großen Jungen Hansohm bedeutet sie eine Art Beichtvater. Er nimmt sehr unverfroren ihre Freizeit in Anspruch, und ich habe nie gehört, daß sie nein sagte, wenn er sie zum Spaziergang aufforderte oder sie zu seiner Schwester einlud.
Dafür tritt er auch als ihr rechter Beschützer auf, wo immer sich Gelegenheit findet. Kahl und Genossen fürchten seinen beißenden Witz, wenn sie sich auf Gefechte mit ihm einlassen. —
Mit den Schülerinnen macht er überhaupt keine Witze. Ein feiner Humor scheint in seinen Unterrichtstunden zu walten, ich konnte mich recht freuen an seiner Art, mit diesen unberechenbaren Geschöpfen umzugehen.
Vom Forsthaus aus wanderten wir dann noch ziemlich zwei Stunden nach Heidekamp. Wie eine große Familie waren wir, aber von ganz seltener Einigkeit. Ein prächtiger Korpsgeist lebt in der ersten Klasse. Auch scheint sie es mir nicht vergessen zu wollen, daß ich mir ein gerechteres Urteil über sie gebildet habe, ohne auf[S. 206] böswillige Einflüsterungen Wert zu legen. So lernte ich jedes der zwölf Menschenkinder in seiner Eigenart kennen und genoß köstliches Vertrauen.
Ihre Zukunftshoffnungen und -pläne legten sie mir dar...
Charaktere sind darunter, die ganz genau wissen, was sie wollen.
Edith Gerstenberg will Malerin werden. Da schlummert wohl ein ernstes, großes Talent. Meisterhände sollen es wecken. — Sie hatte ihr Skizzenbuch mit, und die Frische und Lebendigkeit, mit der sie Lehrer und Mitschülerinnen darin charakteristisch festgehalten hat, ist köstlich.
Besonders Hansohm war taktstockschwingend in den verschiedensten Stellungen vertreten. Professor Traute verblüffend getreu, wie er, kurzsichtig in sein Buch schauend, doziert...
Mich selbst fand ich Arme unterm Kopf in der Heide liegend. Die ganze Gesellschaft lachte aber nur tobsüchtig, als ich über die Entstehung dieses Bildes etwas wissen wollte, und verweigerte jegliche Auskunft.
Telse Lüders erbat meine Fürsprache bei ihrer Patentante Fräulein Tingleff. Von dieser ist Telse in Sachen Pecunia abhängig. Sie möchte weiterlernen und dichten und schriftstellern. „Aber Tante will mir keinen Beruf eröffnen.“
„Was meint sie denn?“
„Um Gottes willen sieh zu, daß du’n Mann kriegst.[S. 207]“ Telse wurde sehr niedlich rot, und die ganze Klasse lachte schallend.
„Das hat sie auch zu mir gesagt“, riefen verschiedene durcheinander.
„Und wenn meinem Mann eine Ballade lieber wäre, als ein Kalbsnierenbraten, dann hätte ich das große Los gezogen.“
Nun plauderte das Jungvolk ein Weilchen über „rückständige Tanten und Mütter, über Selbständigkeit“, ja sogar ein paar Schlagworte fielen wie „Recht auf Persönlichkeit“ und „eigenes Leben leben“.
„Du lieber Himmel, Selbständigkeit!“ rief Lotte Harsen, die, wie ich weiß, über alles sehr gründlich nachdenkt und den Spitznamen „Bohrwurm“ führt, — „Selbständigkeit ist ja vorläufig Blech für uns. Ihr betet alles nur so nach. Wenn wir jetzt ’ne große Dummheit „selbständig“ machen, sind ja doch unsere Eltern am letzten Ende dafür verantwortlich. Kapiert ihr das?“
„Zweifle doch nicht immer an unserm gesunden Grips, Lotte“, sagte Edith Gerstenberg vorwurfsvoll, und dann erhob sich Sörinens Stimme: „Wer bewußt dient, ist am selbständigsten, sagt Großvaterli.“
„Ich wollte, ich hätte auch solch ‚Großvaterli‘ als Evangelium in meiner Jugend gehabt“, warf Hansohm etwas bitter ein.
„Es ist nicht immer gleich Evangelium für mich“, bekannte Sörine ehrlich, — „aber — Großvaterli sagt nichts, über das man nicht fortwährend stark nachdenken muß. Er läßt mir auch immer Zeit dazu, das ist so schön. Hab[S. 208] ich etwas Rechtes eingesehen, gegen das ich mich vorher sträubte, dann ist’s immer wie ein hoher Festtag. Und die Zeit, die dazwischen liegt, nennt Großvaterli ‚Sörinens Kalvarienberg‘.“
„Was werden Sie denn studieren, wenn die Schulzeit beendet ist?“ fragte Professor Rasmussen und zog Sörine zu sich heran.
„Den Luther-Katechismus“, sagte Sörine ernst. Und als sie die verblüfften Gesichter ihrer Mitschülerinnen gewahrte, setzte sie hinzu: „Großvaterli meint, das sei das beste Studium für jemand, der für so viele Menschen zu sorgen hat,.... wie ich später.“
„Ihr Großvaterli ist ein rechter Gesundbrunnen“, meinte Rasmussen herzlich und klopfte Sörine auf die Schulter.
Der „Gesundbrunnen“ stand am Wege. Herr von Heidekamp war uns, auf den Arm des Dieners gestützt, ein Stückchen entgegengewandert. Nun begrüßte er uns sehr herzlich und hatte hundert Scherzworte für das Jungvolk. „Wer nicht mit einem Bärenhunger ankommt, muß sofort wieder umkehren“, rief er dröhnend. „Ich habe meiner Wirtschaftsmamsell angekündigt: Einen General, einen Oberst, einen Hauptmann, einen Leutnant und zwölf Mann. Das muß also heute Abend geleistet werden.“
„Hurra“, riefen die „zwölf Mann“, der Hauptmann setzte sich an die Spitze der Kompagnie, der Leutnant schulterte seinen Stock, und so zog die Einquartierung in das gastliche Herrenhaus.
Ein schöner Abend wurde es. Und wie Ehrengäste[S. 209] hat uns der Ehrenmann aufgenommen. Die Mädels wurden alle gut Freund mit dem sonderlichen Polterer. Gruselgeschichten hat er ihnen erzählt, daß sich nachher keines auf die Diele und in den langen Gang getraute, der das Schloß mit der Kapelle verbindet.
Auch die „weiße Frau“ der Heidekamper zeigte er uns im Bilde. Das hing meisterhaft gemalt in einer Nische des langen Kreuzganges.
„Die einzige Sörine Heidekamp unter der langen Reihe außer meiner lüttgen Sörine. Leider bleibt die Ahnfrau nicht in diesem schönen Goldrahmen,“ meinte der alte Herr augenzwinkernd zu den Backfischen. „Nachts steigt sie heraus und legt sich in den Steinsarg, der ganz einsam unten in der Gruft steht. Schlag 1 Uhr setzt sie sich aber wieder in den Rahmen zurecht. Wenn Ihr da Genaues drüber hören wollt, müßt ihr euch an Frau Dietz wenden, die dem Herrn Direktor Haus hält, — die weiß Bescheid.“
Als wir Männer uns noch bei einer langen Pfeife zusammenfanden, — ein rechtes Tabakskollegium nach dem Herzen des Heidekampers, wurde das Beste dieses Ausfluges zutage gefördert. Herr von Heidekamp hat eine Stelle für unsern Harks. Morgen soll ich es ihm verkünden. Welch eine Befreiung für den alten Mann und seine leidende Gattin. So habe ich nicht zu viel versprochen: sein Lebensabend soll heiter sein.
Wir besichtigten noch das sonnige Altenteil, Harks künftige Wohnung, und in Sörinens Augen brannte ein ganzes Feuerwerk der Freude.
„Nun soll die alte Frau in dem sonnigen Hause recht[S. 210] gesund werden“, sagte sie strahlend. „Der Schulwart war immer so gut mit mir.“
„Ja“, fiel Herr von Heidekamp ein: „Zopfbänder hat er früher gekauft und der Sörine ins Haar geflochten, nur um sie vor Schelte zu bewahren. — Sie verlor ja alles, was nicht niet- und nagelfest an ihr saß. —“
„Aber die letzten habe ich mir alle aufgehoben“, meinte Sörine, „die werde ich schon anbringen, wenn ich sein Häuschen schmücke, — ach ich freue mich ja so schrecklich!“
Ja, Erne Sörensen, das ist das Wunderbare, das nicht zu Schildernde an dem Herrenhause da draußen, — dies große Freuen. —
Alle dort sind sie Meister in dieser Kunst.
Vom Heidekamper an bis zu seinem Schäfer herunter, der am Knick mit seinem Strumpf sitzt und mir sagte: „Aha, wat freu ik mi. Nu sin schon de lüttgen Käwer all wedder dor, un denn kommen de Immen ok all bald — ick freu mi bannig.“
Und das Grauchen! Sie hat die seltene Gabe des Mitfreuens im ausgeprägtesten Sinne. Mitleid scheint sie sogar ein wenig zu verachten. Wenigstens erzählte mir Sörine, daß Fräulein von Schlieden, „diese Seele von einem Menschlein“, wie das Mädel sich ausdrückte, immer sehr kurz angebunden sei, sobald ihr ein großes Leid gegenüber trete. Sie ruhe dann nicht, bis es wieder gegangen und sie Gelegenheit habe, sich mit dem Getrösteten zu freuen.
Über diese wunderliche Sache habe ich lange nachgedacht.
Ich möchte mir wohl Kollegin Grauchen zum Vorbild nehmen, die das Mitleid für gar zu billig achtet. — Mitfreude wächst nur auf dem Acker der Selbstlosigkeit... Hast du genügend Saatland, Erne Sörensen? — Überaus kurz und fast rauh sprach das Grauchen über Agnes Asmus und daraus merkte ich, daß ihr gütiges Herz sich windet unter dem Unvermögen, hier Freude zu geben.
Auch mir gehen die traurigen Augen der jungen Sörine nach.
Sie fragen unablässig: „Kannst du denn gar nichts tun? Und bist doch Schulleiter.“ — Nein, ich kann nichts tun. Meine Hände, die der jungen Sörine so stark dünken, sind mir gebunden.
Sie können nicht die Eltern der Agnes Asmus auf die Schulbank zwingen und ihnen das Gebot lehren: „Ihr Eltern, seid barmherzig. Geht fleißig um mit euern Kindern, habet sie Tag und Nacht um euch und liebet sie, und laßt euch lieben einzig schöne Jahre.“
Noch als ich von Heidekamp Abschied nahm, sagte Sörine:
„Wüßt ich nur eine Heimat für meine Agnes!“
Viel hätte ich darauf antworten können, aber mein Mund blieb stumm.
So jungen Geschöpfen gibt nur die rasche, gute Tat einen Trost.
Jugend verläßt sich noch auf Menschen und erwartet alles Heil vom Willen eines starken Einzelnen.
Aber damit hat sie nur bedingt recht.
Mit meinem starken, guten Willen will ich mich wohl[S. 212] wieder und wieder an die Eltern Asmus wenden, aber dann muß der das Beste tun, der die Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche. —
Eine Nachschrift füge ich an, wie es Schulbuben und Backfische tun:
Ich möchte mit vollen Händen und jungem Herzen meiner Schülerin Sörine alles das geben, was sie sich wünscht. — — — — —
Hansohm und Fräulein Doktor hatten sich am Birktor von allen Teilnehmern verabschiedet. Aus zwei großen Wagen entlud sich die erste Klasse und ihre Begleiter. Die Augen des Jungvolks glänzten, und über die Gesichter der Erwachsenen hatte sich jene Behaglichkeit gebreitet, die der lange Aufenthalt in Heideluft und Sonne zeitigt. Dazu kam die wunderbar geruhliche Heimfahrt in den bequemen Wagen mit den prächtigen Pferden, die noch etliche Stücken Zucker von dankbaren Händen in Empfang nehmen mußten.
Dann wurden den Kutschern noch ungezählte Grüße für ihre Herrschaft aufgetragen, und der alte Friedrich und der junge Johann schmunzelten und salutierten mit den Peitschen. —
Und der alte Friedrich dachte noch beim Heimfahren, wie gut es doch sei, daß der große, blonde Goliath nach Birkholz gekommen, und nun all das junge Leben auch nach Heidekamp bringe. Was hatte er doch für Sorge gehabt, das Freifräulein Sörine, die Enkelin seines vergötterten alten Herrn, könne „pütcherich“ unter dem vielen Altertum daheim werden. Gottlob, die Gefahr war vorüber.[S. 213] Wer so lachen konnte und so frei von der Leber weg sprechen, wie der Herr Schuldirektor, der war ein rechter Jugendleiter nach Gottes Herzen. — Der alte Friedrich kutschierte in sehr gehobener Stimmung nach Heidekamp und teilte, wie es seine Gewohnheit war, seine Befriedigung brummend in längerem Gespräch dem Handpferd Isabelle mit. —
„Kollege Hansohm“, sagte Fräulein Doktor, „wenn Sie beabsichtigen, mir hier gute Nacht zu sagen und mich nach diesem wunderlich-lieben Tag allein zu lassen, so finde ich das roh.....“
„Im Gegenteil, Fräulein Stavenhagen, ich hatte Sie gerade heute bitten wollen, meiner Schwester noch ein Stündchen zu schenken, — ich war eben zerstreut, hätte auch Sörensen gern darum gebeten....“
„Was ficht Sie an, Hansohm! Der Mann hat heute sein Erdenkliches geleistet, — er war ja überall und nirgends. Seine ‚Höflichkeit des Herzens, die der Liebe verwandt ist‘, hat etwas Überwältigendes. Der braucht jetzt wohl Ruhe.“
„Ja, Menschenliebe! Sörensen könnte uns alle damit versehen. Aber sie ist nicht übertragbar“, sagte Hansohm ernst. „Immer war’s mir heute, als müßte ich zu ihm sagen: Bleib bei mir, du, — ich brauche dich! Haben Sie je etwas so Sentimentales gehört? Und noch dazu von mir, der in der Schule und auf dem Seminar der „Schlagetot“ hieß. Es muß die Heide und ihre Abendstimmung gewesen sein...“
Hansohm schloß die Haustür auf.
Kling, klang, kling schrillte der fröhliche Dreiklang.
„Kein Licht auf der Diele. Warten Sie einen Augenblick, Fräulein Doktor, — so da brennt das Lämpchen. Freut euch des Lebens, weil es noch glüht. Halloh, Lore, — gut Freund!“
Er öffnete die Wohnstube.
Da saß Lore im Sessel und schlief. Sorglich stand der Tisch für ihn gedeckt. Seine Pfeife war gestopft und lehnte am Stuhl, seine Hausschuhe standen bereit.
Alles atmete liebevolle Fürsorge.
Aber Lore, seine gute, treue Lore schlief.
Schlief so fest und so friedlich, der blasse Mund lächelte, und die lieben Augen standen ein ganz klein wenig offen.
Klaus Hansohm, den Liebesdienst kannst du der guten Schwester noch erweisen, kannst ihr die Augen zudrücken, die so müde waren in der letzten Zeit......
„Herr Gott, Herr Gott!“ Nur diese vier Worte stammelte immer wieder der erschütterte Mann. „Herr Gott, Herr Gott.“
Und er sah Dora Stavenhagen aus leidtiefen Augen an. „So rasch mußtest du gehen?“ fragte diese die stumme Schläferin.
Klaus Hansohm war niedergekniet und hatte seinen Kopf auf Lores Hände gelegt.
Fräulein Doktor ging rasch und leise hinaus und holte aus dem oberen Stockwerk eine alte Frau und deren Tochter herunter, die schon manchmal dem Geschwisterpaar Handreichungen getan hatten. „Kein Rufen haben wir gehört“, berichteten sie. „Aber um sieben Uhr hat sie noch ein[S. 215] schönes schönes Lied am Spinett gesungen, und ich meinte noch zur Tochter: Horch, das Fräulein Lore singt uns den Abendsegen....“ So die alte Frau. —
Vorsichtige Hände trugen die Tote auf ihr Lager.
Fräulein Doktor deckte sie mit weißen Linnen zu. Dann nahm sie die Hand des jungen Kollegen und führte ihn sacht hinaus, schloß auch sorglich die Tür ab. Draußen reichte sie ihm Mantel und Hut, und er tat ganz mechanisch, was sie wollte. Mitsammen schritten sie aus dem Hause und nach dem Markte hin, wo Fräulein Doktor wohnte.
Aber sie blieb schon vor dem alten Patrizierhause stehen. „Dort ist jetzt Ihr Platz, Hansohm“, sagte sie in schwesterlicher Güte, als sei sie nun ganz an die Stelle der Heimgegangenen getreten. Und sie zeigte auf das Licht, das noch in Sörensens Wohnzimmer brannte. „Dies Lichtchen ist das einzige, das Ihr Dunkel wieder durchleuchten kann. Gott befohlen, Klaus Hansohm.“
Sie ging mit großen Schritten davon, und Hansohm zog den Hut und sah ihr barhäuptig eine ganze Weile nach. Dann besann er sich, zog die Glocke am alten Hause und bedeutete Frau Dietz, die sich oben am Fenster zeigte, ja, er wolle noch heute abend für eine Weile den Herrn Direktor sprechen.
Sörensen arbeitete. Er sah versonnen auf, als Klaus Hansohm mit schweren, müden Schritten zu ihm trat.
„Meine Loreschwester ist heimgegangen“, sagte er schlicht. Da legte Sörensen mit viel guter Liebe seine[S. 216] Arme um den jungen Kollegen, und dieser schämte sich seiner hervorstürzenden Tränen nicht.
„Weine dich aus, mein armer Junge“, sagte Sörensen brüderlich, — und Klaus Hansohm faßte seine Hand fest und wußte, daß er nicht einsam sei. —
**
*
Mein alter Foliant, — auch dies blieb mir nicht erspart, daß sich zarte Fäden vom Gymnasium nach dem Lyzeum spinnen.
Das wäre ja nun nicht so verwunderlich und würde mich recht kühl lassen. Oder vielmehr, ich finde diese allererste Liebe mit ihrem himmelhochjauchzend — zum Tode betrübt ganz köstlich und durch nichts zu ersetzen. — Aber ich bin doch dafür, daß sie über Fensterpromenaden und gelegentliche Schokoladen- und Blumenspenden nicht hinausgehen darf. —
Stelldicheins zu nachtschlafender Zeit sind mir besonders unsympathisch. Wenn man aber denn durchaus als Obersekundaner diese Jugendeselei begehen will, dann muß man schon sorgen, daß man nicht gerade den Garten des Gymnasialdirektors dazu aussucht, besonders, wenn dieser der Vater der Angebetenen ist. —
Also: „Telse Lüders und Arnold Dierks empfehlen sich als Verlobte.“ Diese überraschende Anzeige fand Fräulein Nissen auf ihrem Pult und verfehlte nicht, mir umgehend Mitteilung davon zu machen. — Hätte sie es lieber nicht getan, sondern den Strolch, der sich die Flegelei erlaubte, allein herausgefunden und ihm ordentlich den Kopf ge[S. 217]waschen. — Ich selbst überlasse solch zarte Familienangelegenheiten, wie die Verlobung einer Schülerin mit einem Obersekundaner sehr gern den pp. Eltern und Vormündern. — Aber Fräulein Nissen hatte nicht das geringste Verständnis für das Glück ihrer jungen Mitschwester und verlangte die Ausrottung jeglicher „Gefühle“ in der ersten Klasse.
Und da kam noch ein erschwerender Umstand hinzu. — Eine weitere Schülerin der 1. Klasse hatte sich als Schutzengel aufgespielt und „Wache gehalten“. Als nun Gymnasialdirektor Lüders zufällig noch einen Erholungsspaziergang in seinem Garten unternehmen wollte, stieß er auf ein jungfrisches fremdes Ding, das ihm auf seine Vorhaltungen entgegnete, daß es „Veilchen suche“. Direktor Lüders fand, daß es eine ungewöhnliche Beschäftigung für die zehnte Abendstunde sei und machte das Mädel ganz humorvoll darauf aufmerksam, daß noch nie ein „Veilchen auf seiner Wiese gestanden habe“. — Dann erst hat er Hanne Voß energisch bei der Hand genommen und ihr gezeigt, wo die Gartentür des Städtischen Gymnasiums zu Birkholz mündet. Weinend und sich fortwährend umschauend hat Hanne den ungastlichen Garten verlassen. Und dies Umschauen verriet Direktor Lüders den Ort des Stelldichein. In der Laube fand er seine Tochter Telse und Konrad Dierks. So weit hätte ich nun ganz unbeteiligt bleiben können. Habe mich auch nicht erkundigt, was des weiteren sich in der Laube begeben, denn die Sache meiner Schülerin Telse lag ja in den besten Händen.
Aber ein Gedicht, das sich in einem Schulatlas vorfand,[S. 218] nahm ich an mich und wurde deshalb von Konrad Dierks — gestellt. Das Bürschchen kam am Tage des Stelldichein in einer Stimmung bei mir an, die wohl in „weißglühender Wut“ ihren Ursprung hatte und erst allmählich in gänzliche Menschenverachtung umschlug. Konrad Dierks war einen Marterweg durch so viele Rüffel geschritten, daß es ihm wohl auf einige mehr oder weniger nicht ankam, und so stellte er sich vor mich hin und meinte schier nachlässig: „Wollte mir mein Gedicht holen, das Sie sich widerrechtlich angeeignet haben.“
Ich blieb ganz ruhig. „Augenblicklich bin ich noch für eine Viertelstunde stark beschäftigt,“ sagte ich, „Sie setzen sich wohl inzwischen und ich versehe Sie mit Lesestoff.“
Ich bot ihm einen Stuhl, entnahm meiner Bücherei ein rotes Buch und überreichte es ihm.
Als ich nach einer Viertelstunde wieder zu ihm trat, lag „der gute Ton in allen Lebenslagen“ zwar hingeschleudert auf dem großen Tisch, aber Konrad Dierks war doch viel zahmer geworden. — „Also Ihr Gedicht wollen Sie wieder haben“, meinte ich, und setzte mich gemütlich hin. „Behalten hätte ich es ohnehin nicht, es gehört nicht zum Pensum der ersten Klasse.“
Er sah mich mißtrauisch an, aber ich tat nicht dergleichen, sondern suchte nach dem verlegten Gedicht. Endlich hatte ich’s:
Es war aber noch erklecklich länger. — Glauben[S. 219] Sie, daß Telse Lüders reif genug für diesen Dithyrambos ist? fragte ich teilnahmvoll.
„Nein!“ entgegnete er düster. „Ach, überhaupt die Frauen! ich habe mit ihnen abgeschlossen.“
„Wie alt sind Sie, Herr Dierks?“
„17 Jahre.“
„Haben Sie schon einen Beruf im Auge?“
„Dichter und Dramaturg“, sagte er großartig. Und da ich ihm freundlich zunickte, schien sein Vertrauen ins Ungemessene zu wachsen.
„Herr Direktor,“ begann er zutunlich, „ich will es gern gestehen, daß ich in „wahnsinniger Depression“ zu Ihnen kam. Mein Herz war ein Abgrund.“ Er seufzte. „Aber nachdem ich den Gymnasialdirektor kennen gelernt, dünken Sie mich eine großangelegte Natur zu sein.“
Ich verbeugte mich geziemend.
„Herr Direktor, ich bin auf das Schnödeste von meinem Direktor behandelt worden, .... ich — ich weiß mir keinen anderen Ausweg, als ihn... zu fordern.“
„Dierks! Mensch! Was ficht Sie an?“
„Jawohl, Herr Direktor. — Hätte Telse Lüders zu mir gehalten, — meinen Schwiegervater würde ich ja niemals fordern, — aber sie hat mich unerhört im Stich gelassen. — Es bleibt mir keine Wahl. Wollen — wollen Sie mein Kartellträger sein???“
Ich schluckte und hielt den Atem an, daß ich gewiß blaurot im Gesicht wurde. Aber es half nichts. Als ich ihn so dastehen sah, den blonden unbedarften Jungen[S. 220] mit seinem von Finnen und Pickeln gesprenkelten Gesicht, jeder Zoll ein Held, in der Stellung eines Marquis Posa: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“, — da lachte ich schließlich so erschütternd und befreiend, daß mir die Tränen übers Gesicht liefen.
Erst sah mich der Junge durchbohrend an, und dann — fing er an zu weinen. Und nun nahm ich ihn mir ganz väterlich-brüderlich — freundschaftlich vor und er beichtete: Daß er immer „Vieren haue“, daß er am Reifezeugnis verzweifle, daß Telse versprochen habe, ihm zu folgen, sobald sein Drama „Zerschlissene Weltschmerzen“ den verdienten Bombenerfolg errungen, daß aber die rohe Gewalt ihres Erzeugers den Sieg über ihr schwaches Herz davon getragen.....
Als er mich nach einigen Stunden verließ, lagen seine Sorgen auf meinem Sessel und ich hatte mich verpflichtet, täglich mit ihm etwas zu arbeiten.
Seine Liebe und sein Drama sargte er vorläufig ein. Aber ehe er sie begrub, steckte er sich strahlend eine gute Zigarre von mir an. —
**
*
Als Sörensen am nächsten Tage in der Abenddämmerung von dem Besuche heimkehrte, den er seinem Freunde Hansohm abgestattet, nahm ihn Frau Dietz geheimnisvoll beiseite.
„Es ist eine Dame drinnen“, sagte sie mit allen Zeichen der Unzufriedenheit.
„Zu dieser Zeit?“ fragte Sörensen erstaunt.
„Ja, das sagte ich auch, aber sie ließ sich nicht abweisen. Sie hat einen dichten Schleier um und spricht nicht viel.“
„Es wird eine ‚Mutter‘ sein“, meinte Sörensen lächelnd.
„Nein“, erklärte Frau Dietz bestimmt. „Als ob ich nicht Mütter von Damens unterscheiden könnte! Die Mütter tun immer, als wenn sie hier zu Hause wären, und Harks sagt, in der Schule wär’s noch viel schlimmer. Und sie reden und reden so, als wäre der Herr Sörensen nur als Extradirektor für die eine Tochter da, um derentwillen sie kommen..... Aber die Dame drinnen redet nicht, sie sitzt noch so auf demselben Fleck, wie sie vor ’ner halben Stunde saß. Ich hab durchs Schlüsselloch geguckt .....“
Sie verstummte verlegen vor seinem Blick und öffnete ihm die Tür. Die zusammengesunkene Gestalt blieb noch in dem Sessel hocken, bis Sörensen ganz nahe vor ihr stand. Da schlug sie zögernd den Schleier zurück, und als der Direktor sie erkannte, drängte er sie erschrocken wieder auf den Sitz: „Frau Oberlehrer Kahl! Gnädige Frau! Ist etwas geschehen?“
Sie sah ihn aus tränenlosen Augen an.
Ihr vergrämtes Gesicht war erbarmungswürdig: „Ich kann nur um Verzeihung bitten, daß ich hier so eindringe“, sagte sie leise. „Aber ich weiß mir keinen Rat mehr. Und Sie sind gut und klug und ritterlich“.... Sörensen erhob abwehrend die Hand. „Es bedarf keiner Entschuldi[S. 222]gung. Sagen Sie mir nur, ob Ihr Herr Gemahl von diesem Besuche weiß.....“
„O Gott, nein!“ Sie erschrak. „Er darf es auch niemals erfahren!“
„Gnädige Frau, das ist mir sehr, sehr gegen mein Empfinden....“ sagte Sörensen zögernd, aber sie unterbrach ihn ungestüm.
„Herr Direktor, sagen Sie jetzt nichts von Sitte, von Kollegialität, von irgend etwas dergleichen.... ich bitte Sie um Gottes willen, helfen Sie mir! Ich komme als Mensch zu Ihnen im tiefsten Vertrauen auf Ihr Menschentum ....“
Er zog sich einen zweiten Sessel heran und ließ sich ihr gegenüber nieder. „Befehlen Sie über mich“, sagte er ruhig.
Sie sah ihn dankbar an, dann fuhr sie leise und eindringlich fort: „Mein Mann hintergeht mich. Ach, ich weiß es ja schon seit Jahren, daß ich ihm gar nichts bedeute, gar nichts mehr.....“ Sie schauerte zusammen. „Aber das ist mir nicht verwunderlich. Er ist ein kluger Mensch, — ich — ich war immer nur hübsch, hatte gar nichts anderes gelernt, als hübsch zu sein.
Durch die vielen Krankheiten, die ich durchmachte, ist’s damit vorbei......
Und nun hat mein Mann sich schon lange, lange von mir abgewendet.“
„Gnädige Frau, das sind intime Privatsachen.....“
Sie sah ihn herzzerreißend an. „Ich muß Ihnen das alles sagen, Herr Direktor, bitte, hören Sie mich zu Ende.[S. 223] Ich habe mir vieles gefallen lassen, ich machte keine großen Ansprüche an sein äußeres Benehmen zu mir, — ich hatte ihn ganz altmodisch lieb ohne jeden Vorbehalt.... Und es genügte mir, daß ich seinen Namen trug, daß er mir gehörte und daß ich für ihn sorgen konnte. Ich stamme aus einem strengen Pfarrhaus, Herr Direktor, und es war mir ein guter Gedanke, daß in unsern Lehrerkreisen so viel gesunde Moral steckt, — so viel Sauberkeit in jeder einzelnen Familie..... Als ich dann — gleichviel woher — erfuhr, daß gerade im Vorleben meines Mannes ein häßlicher Punkt sei, da war ich wie erschlagen. Aber ich hab mich wieder erhoben, habe mich daran geklammert, daß dies ja alles vor meiner Zeit gewesen sei und — mein Vater sagte immer: ‚Kein Opfer ist zu groß, um eine eheliche Liebe zu retten.‘ Aber nun — Herr Direktor, nun wohnt da draußen vorm Birktor dicht an den Stiftungsgärten eine Person — man sagt mir, mein Mann müsse sie von früher her gekannt haben, denn er hätte sie hierher kommen lassen. Ach, Herr Direktor, das ist alles so niedrig, — ich weiß, daß mein Mann ihr Geld schickt. Er hat sie bei den Eltern meines Dienstmädchens eingemietet, bei Schneider Bertels.....“
Frau Kahl schluchzte schwer auf.
„Arme Frau!“ sagte Sörensen erschüttert.
„Ja, und gestern — — gestern war sie sogar in unserer Wohnung.... Sie lachte mich dreist an und streckte mir sogar die Hand hin, mein Dienstmädchen stand dabei und grinste....
Meinem Mann selbst schien ihr Besuch nicht recht zu[S. 224] sein, — er schalt mit ihr. Vielleicht hatte sie Geld holen wollen....“
Sörensen packte der Ekel. „Sagen Sie mir, wie Sie sich meine Hilfe vorstellen“, bat er drängend. —
„Ich bitte Sie inständig, in Erfahrung zu bringen, woher jene Person kommt. Und weshalb mein Mann sie unterstützt. Und — — Sie sollen der Behörde Mitteilung von dem machen, was ich Ihnen sagte, — Sie werden Wege finden, daß trotzdem nicht die ganze Stadt mit Fingern auf uns zeigt. Aber wenn sie es auch tut. Sie sollen die Versetzung meines Mannes beantragen. Mir ist jedes Mittel recht, wenn ich ihn hier nur loslöse. Er wird sich nicht versetzen lassen, aber er wird abgehen, denn wir sind wohlhabend. Dann ziehen wir auf unser kleines Gütchen im Sächsischen, und ich habe ihn wieder wie früher....“
Sörensen stutzte. „Und Sie meinen, er wird Birkholz und — — alles so widerstandslos aufgeben?“
„Er haßt Birkholz — und Sie!“ sagte Frau Kahl.
„Mich?“ fragte Sörensen befremdet. „Wir sind uns sehr unsympathisch, — aber Haß???“
„Ja, er haßt Sie wie das Böse das Gute haßt, der Niedrige den Aufrechten....“
„Und trotzdem Sie so denken, wollen Sie.....“ Sörensen brach ab. Es ging ihn nichts an, ob diese arme Seele den von ihr selbst geschmähten Gatten wieder, auch ohne seine Reue, aufnehmen konnte und wollte. „Frauenliebe“, dachte er. „Tausendmal getreten, verschmäht und beleidigt und doch immer dieselbe....“
„Ich werde alles tun, damit man Ihnen Ihren Wunsch erfüllt“, sagte er jetzt.
Sie streckte ihm wortlos die Hand hin. Krank und erschöpft sah sie aus, und er geleitete sie sorglich durch das Zimmer und über den Flur an der mißtrauisch dreinschauenden Frau Dietz vorbei nach der Treppe. —
Als seine Haushälterin ihm das Abendbrot auftrug, fragte er sie nach den Schneider Bertelschen Eheleuten. „Ich meine doch, den Namen auf irgend einer Rechnung gesehen zu haben.“ —
„Ja freilich“, bestätigte Frau Dietz. „Der Bertels ist ein Heidekamper Kind, deshalb brachte ich ihm auch die Sachen vom Herrn Direktor zum Ausbessern. War ja gut mit ihm befreundet und mit seiner Frau.“
„Sind Sie es denn nicht mehr?“ fragte Sörensen unbehaglich.
„Nein, Herr Direktor. Der Bertels hat sich da eine Aftermieterin aufschnacken lassen, und die sitzt nun mit an seinem Tisch und führt das große Wort und will mich jawohl ausfragen.....
Das paßt mir nicht. Und sie hat mich sogar besuchen wollen, aber ich habe ihr ganz kurz gesagt, daß Herr Direktor das nicht wünschen.“
„Wenn sie keine einwandfreie Person ist, wünsche ich es allerdings nicht.“
„Ob sie das ist, weiß ich nicht. Ich mag sie nur nicht. Aber wundern sollte es mich, wenn Frau Bertels etwas Unanständiges bei sich litte. Die ist sehr heikel in solchen Dingen.“
Von nun an sagte Frau Dietz gar nichts mehr, sondern verzog sich in ihre Küche und die daranstoßende eigene Wohnstube, und Direktor Sörensen schritt die halbe Nacht in schweren Gedanken in seinem Zimmer auf und nieder.
Der nächste Tag war ein Sonntag.
Diakonus Heinrich sollte in der Stadtkirche predigen, aber sein Heuschnupfen setzte so unüberwindlich ein, daß man den alten Pastor, der gerade einen Ausflug mit seiner rundlichen Frau unternehmen wollte, vom Bahnhof zurückholte. Und weil dieser gar nicht vorbereitet war, wählte er schnell die Predigt „vom Wolf in Schafkleidern“, die aus früherer Zeit noch in seinem Gedächtnis haftete. Und predigte so herzhaft und eindringlich, daß seine Worte wie befruchtender Regen auf die Herzen der Birkholzer niederträufte und — das Pharisäertum geradezu üppige Blüten trieb. Jeder glaubte den lieben Nachbarn in den Gleichnissen zu erblicken, welche der Geistliche vor den Hörern aufrollte. Und niemand ging dem Wölfischen in der eigenen Brust zu Leibe und niemand wickelte sich aus dem eigenen Schafpelz heraus. Aber als Direktor Sörensen nach dem Amen aufstand und in tiefen Gedanken, ohne irgend jemanden im Gotteshause zu grüßen, die Kirche verließ, da war man sich einig, daß die ganze Rede nur auf den Herrn Sörensen gemünzt war. —
Erne Sörensen wanderte in die Heide hinaus.
Aber nicht allzuweit.
Ihre eigenartige, herbe Schönheit gab ihm heute nicht das, was sie ihm sonst gegeben: besinnliche Stille.
Er befand sich in seltsamer Aufregung — und Ver[S. 227]legenheit. Und die Verlegenheit kleidete seinen aufrechten, ehrlichen Körper schlecht, wie ein geborgter Rock. Er bereute sein Versprechen, das er der gebeugten Gattin seines Kollegen Kahl gegeben, und zog doch nach einem kurzen Marsch an der Glocke des kleinen gelben Hauses neben den „Stiftungsgärten“. Verschiedene Modekupfer, die an die Blumentöpfe des niedrigen Fensters gelehnt waren, zeigten dem Beschauer, daß hier Schneidermeister Bertels wohnte.
Niemand öffnete ihm, und da drückte er auf die Türklinke und trat in den engen Windfang und wieder vor zwei geschlossene Türen. An der einen prangte ein großes Blechschild: Bertels, Schneidermeister. An der andern Tür hing ein Papprahmen, darin ein Blatt steckte, auf welches mit ungeübten Buchstaben ein Name gemalt war.
Und ob Sörensen seine Brille noch so heftig rieb, er konnte doch nichts anderes lesen als: Lisette Balian.
Zuerst war er erstaunt, dann erblaßte er jäh, und hundert Gedanken kreuzten sich in seinem Hirn. Mit raschem Entschluß klopfte er an diese Tür. Sie öffnete sich, und die beiden Gatten standen sich wie finstere Todfeinde gegenüber.
„So hast du mich doch aufgespürt?“ fragte Lisette mit verbissenem Trotz.
„Da sei Gott vor, daß ich dir nachspüre“, stöhnte er dumpf auf. Und packte in jähem Zorn ihr Handgelenk. „Wo kommst du her?“
Sie entwand sich ihm. „Du tust mir weh“, greinte sie.
Er trat zurück. Seine Augen sprühten sie an. „Wie[S. 228] du mir wehtust seit Jahren und immer wieder aufs neue, das fragst du nicht. Herrgott! Herrgott!“ Völlig außer sich, hob er beide Arme empor und schüttelte die Fäuste.
„Ich weiß nicht, was du willst“, murrte sie. „Ich habe dich nicht gerufen.“
„Aber wie kommst du hierher, Lisette? Ich wähnte dich in einer Heilanstalt....“
„Da war ich auch. Bin aber ausgerissen. Wie die Sklaven wurden wir gehalten, das war mir das bißchen Heiserkeit nicht wert.“ Er sah ernst auf ihr abgezehrtes Gesicht. „Ich hatte gehofft, du würdest dich ordentlich pflegen und auskurieren....“
„Hattest du?“ spottete sie. „Es sieht dir ähnlich. Aber meine Gesundheit geht nur mich etwas an. Sie ist übrigens nicht schlecht. Ich habe eine zähe Natur.“
„Lisette, warum konntest du nicht ein neues Leben anfangen? Die Mittel gab ich dir reichlich....“
„Ja. — Alle Achtung vor deinem Portemonnaie. Aber für mich bedeutet neues Leben alles das, was nicht langweilig ist. Das kostet aber Geld. Dabei ist der Schwindel mir hier auch schon wieder langweilig.“
„Du nennst das Schwindel“, stieß Sörensen in bittrem Grimm heraus, „und dieser Schwindel bricht einer ehrenhaften Frau das Herz.“
„Welcher Frau?“ fragte sie erstaunt. Dann dachte sie einen Augenblick nach und lachte heiser. „Du meinst doch nicht etwa die Frau von dem Nußknacker, der mich herrief? Der tue ich doch nichts zu leide....“
„Und warum rief dich dieser Mann her“, fragte Sörensen scharf.
„O, ich denke mir, um ein bißchen Spaß in diesem langweiligen Nest zu haben. Und weil’s dich ärgert, Erne, er ist dir gar nicht grün.“
„Woher wußte er deine Anschrift?“
„Die gab ich ihm selbst. Ich schrieb durch den Wirt von den Sieben Steingräbern an ihn, da kommt er öfters zum Kegeln hin. Mein Geld war alle, und — alle Achtung, er hat mir ordentlich geschickt.... Aus Kollegialität, schrieb er. Und dann redete er mir dringend zu, nach Birkholz zu ziehen, um mich dir ein bißchen in Erinnerung zu bringen. Das hatten mir auch schon die Schwäger geraten. Die fanden mich schön dumm, daß ich mich so von dir wegschicken ließ.“
„Lisette, denkst du denn nicht einen Augenblick daran, daß du meine ganze Stellung hier untergräbst? Daß du den rechtschaffenen Namen schändest, den ich dir gab. Was tat ich dir???“
Die letzte Frage klang wie ein Aufschrei, und er bereute sie sofort und biß sich auf die Lippen.
„Ja, das ist ein Teufel, der mich plagt“, meinte sie sorglos. „Es ist wahr, du bist immer furchtbar gut zu mir gewesen. Aber es machte wirklich Spaß, euch alle an der Nase rumzuführen.“
„Erkläre dich näher....“
„Nun, der Herr Kahl meint doch, — es besteht irgend etwas Unsauberes zwischen uns beiden, mein lieber Erne.[S. 230] Meinst du denn, ich hätte ihm gesagt, daß ich deine Frau bin?“ Sie lachte schlau.
„O nein, das war ja gerade der Spaß. Der Nußknacker denkt, ich heiße Lisette Balian und — — — na ja, er hatte sich eine ganze lustige Komödie ausgedacht. Wenn der Lehrertag kommt und alle die Vorgesetzten da wären, da sollte ich eine Rolle spielen. O, der ist so schlau.
Aber ich kann ihn nicht ausstehen. Ich ging auf alles ein, was er sagte, weil’s so lustig war. Aber zuletzt sollte er hereinfallen. Das war für mich das Lustigste. Denn dann wollte ich allen sagen, daß ich gar nichts Schlechtes, sondern deine Frau wäre...“
„Lisette!!!“
„Ja, gelle, das hätte eingeschlagen, und ich freute mich so auf eure dummen Gesichter. Aber nun hast du mich gefunden, und nun ist die ganze Geschichte verkreckt.“
Sie lachte laut und ärgerlich auf und dann kam ein furchtbarer Hustenanfall, bei dem sie zu ersticken drohte. Sörensen sah mit Bestürzung, daß sich Blutstropfen in ihren Mundwinkeln sammelten. Er geleitete sie nach dem Sofa. „Lege dich nieder, Lisette, und ruhe dich aus. Heute nachmittag komme ich wieder und — bringe dich selbst in ein Sanatorium. Hier kannst du nicht bleiben, aber ich will auch nicht, daß du krank und allein in die Weite fährst....“
Sie sah scheu in sein fahles Gesicht, in dem die Augen wie zwei Kohlen brannten.
„Gott, Erne, wie du dir das zu Herzen nimmst. Und[S. 231] wir zwei hätten doch dem Nußknacker so schön ein Schnippchen schlagen können. Ich versteh dich gar nicht.....“
„Nein, Lisette. Wie solltest du auch.... Also ruhe dich jetzt. Und dann schreibe mir auf, welche Summe dir jener Mann — — — geliehen hat, — packe auch deine Sachen.“ Er legte ihr einen Schein auf den Tisch. „Mit diesem Geld löse hier deine Verpflichtungen.“ Dann verließ er das Haus. Draußen begegneten ihm die heimkehrenden Eheleute Bertels. Die sahen ihn erstaunt und mißbilligend an. Das war ja der Herr Lyzealdirektor Sörensen, und er kam aus der Stube von „Fräulein Balian“, und gab nicht einmal ihnen, den Wirtsleuten, Aufklärung darüber, sondern ging, zerstreut grüßend, davon. Als Sörensen am Nachmittag zurückkehrte, bedeutete ihm die Frau Schneidermeisterin sehr steif, daß „Fräulein Balian“ abgereist sei. Sie habe alles bezahlt und soweit sei alles in Ordnung. Aber es sei nicht schön, daß man sich nicht mal auf die Herrn Lehrer verlassen könne, die doch für Ordnung und Moral angestellt wären, und das wollte sie auch Herrn Oberlehrer Kahl sagen, der habe ihr die Person empfohlen. Ja, und ihre Tochter sollte noch heute bei Kahls kündigen.....
Die gute Frau Bertels war sittlich sehr entrüstet, aber Direktor Sörensen hatte augenscheinlich nur die Hälfte von dem gehört, was sie hervorsprudelte. Er war eilends davongegangen.
Zorn und Scham brannten in seiner Seele. — —
**
*
Die neunte Klasse mit den sieben- und achtjährigen Mädchen saß erwartungsvoll und horchte nach der Tür.
Herr Lehrer Hansohm hatte ihnen verkündet, daß der Herr Direktor heute zuhören wollte in der Religionsstunde. „Der liebe Herr Direktor“ hatte er gesagt.
Nun, wenn er lieb war, brauchte man sich auch gar nicht zu fürchten, wenn er kam. Vor Herrn Professor Traute fürchtete man sich. Der hatte auch einmal zugehört, und da hatte es viel, viel Tränen gegeben. Keine Antwort hatte ihm gefallen. — Klaus Hansohm dachte selbst mit Grauen an diesen Tag zurück, der seine liebe Neunte ganz verstört hatte und ihnen ordentlich die Religionsstunde etwas verekeln konnte.....
Und Professor Traute hatte ihm, dem Lehrer, unentwegt zugerufen: „ich begreife Sie nicht, Kollege!“ Im Beisein der Klasse! Als ob sieben- bis neunjährige Mädchen nicht hellsichtig und hellohrig genug seien, um Unstimmigkeiten zwischen den Lehrern aufzufangen und mit reger Neugierde zu verfolgen —
Großer Pädagoge Traute!
Eine heiße Auseinandersetzung im Lehrerzimmer war jenem Besuch gefolgt, und nun wollte Direktor Sörensen einmal aus eigener Anschauung urteilen, wie Freund Hansohm den Stoff den jungen Herzen nahe brachte.
Ein Viertel nach 9 Uhr betrat er das Klassenzimmer.
Und fand Klaus Hansohm auf der Schulbank sitzend und das ganze Völkchen der neunten Klasse um ihn herum in dichtgedrängtem Knäuel.
In die erstaunten Augen des Schulleiters hinein lä[S. 233]chelte Lehrer Hansohm. „Wir haben uns schon in der letzten Stunde etwas gefürchtet“, sagte er aufstehend. „Deshalb sind wir alle nahe zusammengerückt.“
Gretchen Bley nahm plötzlich mit festem Griff des Direktors Hand. „Nun fürchte ich mich aber gar nicht mehr“, sagte sie beherzt.
„Was ist denn hier so zum Fürchten?“ fragte Sörensen teilnehmend.
„Ach, — Sodom und Gomorrha“, berichtete Käte Wedekind. „Wahrscheinlich wird der liebe Gott es ganz und ganz und ganz und gar vertilgen.“
„Vertilgen heißt aufessen“, sagte Trinchen Löms.
„Kann er ja gar nicht“, ließ sich eine ungläubige Thomasine vernehmen. „Sone ganze Stadt mit allen drin.“
„Phh! Wo er doch der liebe Gott ist? Der kann alles.“
„Vertilgen heißt hier nicht aufessen, sondern zerstören, einreißen, vom Erdboden wegfegen“, sagte der Direktor freundlich zu den Streitenden und strich liebkosend über die Blondköpfe.
„Herr Hansohm, ist das wahr?“ fragte daraufhin die kleine Ungläubige, und Hansohm bestätigte lachend.
Und dann saßen sie wieder eng aneinandergeschmiegt und Hansohm erzählte, und die Kinder berichteten aus den vorhergegangenen Stunden und fragten ihn um Unverstandenes.
Und immer wieder sah Direktor Sörensen, daß der liebe Herrgott der neunten Klasse ein guter, ja der beste[S. 234] Freund war, zu dem sie recht mit bewußtem Vertrauen aufsahen.
Und durch die kindlichen Bemerkungen hindurch lernte er auch das Elternhaus der Kinder kennen und erkannte die Wechselwirkung zwischen Schule und Haus. — Sah auch, wie den aufgeweckten Persönchen nichts verborgen blieb und sie sich nachhaltig mit sorglos von den Eltern hingeworfenen Bemerkungen beschäftigten.
„Ja, und als mein Brüderchen Differitis hatte, da sagte mein Papa zur Mutti, wie sie so weinte: ‚Gott kann uns das Kind erhalten, auch wenn alle Ärzte nein sagen‘“, berichtete ernsthaft Lenchen Verden. Und setzte hinzu: „Aber heute, als mein prachtvoller Federkasten nicht aufging und wir uns alle so damit quälten, da sagte mein Papa: „Da kann kein Gott helfen, da muß Schlosser Fuhls ran.“ — Der hat ihn dann auch aufgekriegt.“
„Na, der hat’s auch leicht mit — die vielen Werkzeuge,“ bestätigte Meta Fuhls, die Tochter des so ehrenvoll Erwähnten.
Direktor Sörensen war wie in einer neuen Welt. Er wurde ganz mitgerissen von den zutunlichen, kleinen Lebewesen und saß andächtig mit ihnen da, und hörte den Kollegen Hansohm so fesselnd und wunderschön erzählen von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, vom Gehorsam gegen Gott und gegen die göttlichen Gebote.
Ilse Wessels war sonst immer etwas flusig und zerstreut und horchte nie recht hin, was vorgetragen wurde. Heute aber seufzte sie ganz tief auf, so schön hatte sie alles begriffen und auf ihren eigenen gelegentlichen Ungehorsam[S. 235] angewendet. Und als Herr Lehrer Hansohm in ihr gescheites Gesichtchen blickte und meinte: „Erzähl doch noch einmal den Schluß, Ilse,“ da berichtete sie strahlend: „Wir sollen immer gehorsam sein, — aber ‚Frau Lotte‘ war es nicht, die drehte sich rum nach der Stadt Sodom und wurde — zur ‚Salzgurke‘.“
— — — — — — — — — — — — —
Am Tage nach dieser genußreichen Religionsstunde hatten Kahl und Genossen wieder eine erregte Unterredung. Freilich, wenn der Direktor selbst „begeistert“ war von Klaus Hansohms Art zu lehren, dann war wohl keine Besserung von diesem zu erhoffen, und „Gott der Herr würde immer gezwungen werden, auf die Schulbänke mitten in das Unheilige hinabzusteigen, anstatt in unerreichbarer Höhe zu thronen“, wie Professor Traute sich salbungsvoll und schön ausdrückte. —
Man hatte die ganze Angelegenheit sowohl in der „grünen Birke“ als auch in Privatkreisen genügend bearbeitet, der Hauptbeteiligte erfuhr sie natürlich zuletzt. Und hatte dazu gelacht. „Beleidigend“ gelacht, betonte Oberlehrer Kahl. „Herrschaften“, hatte Klaus Hansohm gesagt, „ich kann doch meiner neunten Klasse den lieben Herrgott nicht anders bringen, als ich Ihn in mir selbst trage. Und er ist für mich eben der große, einzige Jugendfreund, der gesagt hat: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht.“ So nehme ich denn meine Kinder fest an die Hand und bringe sie auf den Weg. Denn suchen tun sie ihn alle, — wohlgemerkt den Kinderfreund, der ihnen entgegenkommt, nicht den, den Ihr[S. 236] als ‚unerreichbar‘ droben in der Unendlichkeit wissen wollt...“
„Na“, meinte Professor Traute im Hinausgehen zu Kahl: „da hat es immer vom verstorbenen Direktor Claßen geheißen: „Der Mann wird kindisch“, aber kindischer als der junge Hansohm ist der Greis Claßen nie gewesen....“
„Das Kindischste und Dümmste an der Geschichte ist nur,“ bemerkte Kahl bissig, „daß wir alten Akademiker uns dies bombastische Gewäsch einer Seminaristin ernsthaft anhören müssen.....“
„Wer verlangt’s denn?“ fragte Fräulein Doktor trocken. „Weder der Direktor, noch Kollege Hansohm. Die beiden lassen doch wahrhaftig jeden nach seiner Fasson selig werden, sehr im Gegensatz zu weiland Direktor Claßen.“
Oberlehrer Kahl verbeugte sich spöttisch. „Nun, ich würde auch der letzte sein, der Herrn Sörensen um die ‚Fasson‘ ersuchen würde.... Sie natürlich sind seiner Seligkeit wohl bombensicher?“ Und Kahl meckerte hämisch. —
Aber all diese Streitigkeiten im Kollegium, am Biertisch und beim Weinschoppen im Ratskeller, sowie im Vorraum der Apotheke, darin der Provisor sein Urteil abgab, hinderten doch nicht, daß es in Birkholz viele beglückte Elternherzen gab. Und manch eine Mutter, deren Kind immer so freudestrahlend aus der Religionsstunde nach Hause kam und klug, und doch kindlich-treuherzig die alten, schönen, biblischen Geschichten wiedererzählte, so daß sie nun erst recht lebendig wurden, — grübelte darüber nach,[S. 237] wie man wohl dem jungen Lehrer eine Herzensfreude bereiten könne.
So kam es, daß das Grab der jungen Dulderin Lore Hansohm immer mit den schönsten Blumen geschmückt war. Und war gar nicht traurig anzuschaun, sondern so fröhlich, siegesfreudig und zukunftsgewiß wie die lieblichen Geschichten ihres Bruders Klaus. Der ging jeden Abend auf den stillen Heidefriedhof. Und mußte immer für seinen schlichten Strauß einen Platz erst frei machen, so viel Kinderhändchen waren vor ihm bei dem stillen Hügel tätig gewesen, um ihm ihre dankbare Liebe zu beweisen.
**
*
Sonntag abend.
Die Heide blüht. —
In diesen drei Worten liegt ein Erleben.
Die Heide blüht.
Kann der von „leben“ sprechen, der dieses Gotteswunder nie ersah?
Mir war heute zumute wie im Wonnemonat Mai, da alle Knospen sprangen. Die abertausend Blütendolden läuteten meinen Frühling ein. Ich pflückte mir voll inneren Jubels einen Riesenstrauß. Heid und Wacholder und goldgelben Ginster und große tiefblaue Vergißmeinnicht .... Wie Sterne waren sie anzuschauen.... Wie zwei bekannte Kinderaugen....
Und ist doch Spätsommer. Närrischer alter Sörensen mit dem ergrauenden Haar an den Schläfen. —
Mit dem Skelett im Hause, das auf allen Wegen[S. 238] auftaucht und grinst. Mit der nie versiegenden Sorge: „Was kommt nun? Welche Häßlichkeit wird den Boden unter den Füßen dir vollends lockern?....“
Und doch. Und doch... Die Heide blüht. Und dies göttliche Geschehen bringt auch mir den Frieden in mein gequältes, ruheloses Innere.
Von Lisette weiß ich, daß sie in einem Sanatorium Aufnahme fand.
Heute mittag lag ich in der Heide und las meinen Jean Paul.
Das Urgesunde in seinen Werken ist wesensverwandt mit meiner Heide.
Als ich tief untertauchte in das rote Blühen, war mir Wunsiedel und das ferne Fichtelgebirge fast persönlich nahe. Und damals in der Luisenburg dachte ich an die Steingräber der Lüneburger Heide und an den Urwald von Unterlüß. —
Heute war ich abgespannt von einer langen Konferenz. Desgleichen müde vom Umherlaufen in der Stadt.
Für ein tüchtiges, arbeitsames Mädchen, das einmal eine prächtige Lehrerin abgeben wird, möchte ich ein Stipendium haben. Aber ich arbeite mit zu viel Widerständen im Kollegium.
Ebenso schlug man mir’s von Stadt wegen ab.
Es blieb mir ein ekler Nachgeschmack auf der Zunge.
So, — als hätte das Mädel und die brave Witwe, ihre Mutter, wohl das Stipendium erhalten, wenn nicht Erne Sörensen der Fürsprecher gewesen wäre....
Dann hatte ich plötzlich den Mammon binnen fünf[S. 239] Minuten beisammen. Schulgeld und Seminarkosten. Und Fräulein Tingleff sagte: „Nur nicht danken. Es geschieht mir selbst der größte Gefallen. Wo irgend ich die Stadtväter ärgern kann, da tue ich’s.“ So soll sie nun morgen früh für ihr ungutes, ränkevolles Herz den schönsten Strauß haben, den die Heide mir bot.
Du meine rote Heide! Grenzenlos ist deine Schönheit, die leuchtende, grenzenlos deine Macht, die siegende, grenzenlos deine Stille, die träumende, grenzenlos wie meine Liebe, die sehnende, zu dir, du meine rote Heide.....
Dann sprang ich auf und besann mich.....
Und wanderte, wanderte, — bis ich mich in Heidekamp wiederfand.
Dort kam ich recht in einen großen Kreis hinein, wollte am liebsten gleich wieder umkehren.
Das war nicht mein stilles Heidekamp, das ich suchte. Wenngleich die Menschen dort mit ihren großen, guten Herzen immer dieselben bleiben. — Man ließ mich auch nicht fort.
Aber ich war doch mit einmal der „Herr Direktor Sörensen“, der mit Grauchen und dem alten Heidekamper und noch etlichen älteren Gutsnachbarn zusammen saß und der Jugend zuschaute, die allerhand Spiele unternahm.
Dann und wann drang das klingende Lachen der jungen Sörine zu uns herauf. Im weißen Kleide, einen Heidestrauß im Gürtel, gaukelte sie umher recht wie ein Sommerfalter.
Einmal kam sie vorsichtig auftretend mit gespreizten Armen und Händen zu uns auf die Terrasse.
Ihre Blauaugen leuchteten förmlich im Entzücken.
„O seht nur, seht nur!“ rief sie leise, scheu, beglückt. Und da saß ein wirklicher Falter, ein prächtiges Pfauenauge auf ihrem Gürtelsträußchen....
„Oh — nun ist er fort!!!“ Mit tiefem Seufzer sah sie dem Fliehenden nach. „Kurt, du hast ihn verjagt, — wie täppisch du immer bist!“
„Wenn du jedem Schmetterling nachtrauern willst, Bäschen.....“
Der Gescholtene wurde mir dann vorgestellt. Er ist auch ein Heidekamper, der eigentliche Erbe des Majorats.
Wohl einundzwanzigjährig. Schmal und rassig. —
Ganz wunderlich ward mir zu Sinn, als ich spürte, daß diesem jungen Menschen die kleine Sörine kein Kind mehr bedeutet.... Wunderlich? Es war wie ein herber Schmerz.....
Meine Schülerin. — Junger Heidekamper, laß ihr doch noch das unbefangene Blühen! Zwinge sie nicht zu frühe mit deinen Blicken in den Garten deines Hauses. Das wird noch viele Jahre in der Stadt stehen nach Wunsch deines Vaters....
Aber ein rechtes Heidekind ist die Sörine und die rote Weite ihr Mutterboden,.... reiße die feinen Wurzeln nicht heraus, — löse sie fein langsam....
Denn lösen willst und wirst du sie wohl. — Der alte Herr gab mir sein gutes Vertrauen.
„Dort wandert die Zukunft von Heidekamp“, sagte er zu mir und zeigte auf das junge Paar, das sich zum Bocciaspiel zusammengetan hatte. „Neffe Kurt ist mir[S. 241] der Liebste aus der ganzen Verwandtschaft. Ein heller Kopf, ein warmes Herz. Liebe zur Scholle. Bodenständig bis ins Mark. Daran hat auch die Juristerei nichts geändert, in die sein Vater ihn gezwängt hat. Nun, die wird sich auch schon wieder verwachsen, wenn er erst Herr hier ist.....“
„Und Sörine?“ fragte ich. Meine Stimme muß heiser geklungen haben.....
„Ja, mein lieber Herr Direktor, das ist eben das Schöne, — sie hat ihn lieb. Ist mit ihm aufgewachsen, und ich habe sie nicht im Unklaren gelassen, daß sie an ihrem achtzehnten Geburtstage seine Braut werden soll...“
In diesem Augenblick kamen die beiden, von denen wir sprachen, herangelaufen, und Sörine rief lachend: „Das Negativ will schon fort, Großvaterli, halte es ja nicht auf, es ist heute unbeschreiblich langweilig.“
„Das Negativ? Was sind das für Schnurren?“ fragte der Alte.
„Sieh ihn dir doch an, Großvaterli, und dann finde einen besseren Namen.“
Wir lachten alle, auch der Geneckte selbst, der mit seinem dunklen, rostbraun verbrannten Gesicht und ebensolchen Händen, dazu dem schneeweißen Anzug und weißen Schuhen wirklich den Ausdruck verdiente.
„Teufelsmädel“, sagte der Alte, und von dem Jungen fing ich wieder einen strahlenden Blick auf, der die junge Mädchenblüte zärtlich umfaßte. Dann brachte sie den Vetter noch zu seinem Wagen, und ich sah ihr weißes Tuch noch lange grüßend ihm nachwehen. — Als[S. 242] sie zurückkam, sah ich in ein ernstes Gesicht. „Darf ich ein Stückchen weit mit Ihnen durch die Heide gehen, Herr Direktor?“
„Na höre mal“, fiel der Großvater dröhnend ein, „du kannst doch nicht so ohne weiteres deine jugendlichen Gäste da unten verlassen, du bist doch stellvertretende Hausfrau und sozusagen Gastgeberin...“
„Ach, sie vermissen mich nicht“, meinte Sörine achselzuckend, „sehen mich auch gar nicht für voll an.... und Kurt ist ja auch nicht mehr da.“
Ein befriedigter Blick des alten Heidekampers flog bei ihren letzten Worten zu mir herüber.
„Und dann,“ — Sörine spielte ihren letzten Trumpf aus, — „Herr Direktor ist doch auch unser Gast, und ich weiß, dem ist ein Gang durch die blühende Heide mehr wert als dies Herumsitzen im Garten.“
Ihre Augen sahen mich bittend an. Wahrhaftig, ich mußte bestätigend nicken. Da lachte der Alte und reichte mir abschiednehmend die Hand.
„Wirft man so verblümt die Gäste hinaus“, fragte ich scherzend Sörine, aber sie lächelte nur schattenhaft.
„Ich nehme den Tyras mit“, sagte sie zum Großvater, und während ich mich noch von Grauchen und den farblosen anderen Gästen verabschiedete, pfiff sie dem Hunde, der in großen Sätzen herangaloppierte und dann ernsthaft neben uns herschritt. Eine geraume Weile waren wir ganz schweigsam. Ich streifte von Zeit zu Zeit ihr leicht erblaßtes Gesicht mit der Falte zwischen den dunklen Augenbrauen.
„Du kleines Mädchen,“ dachte ich... „Du solltest auch lieber noch über dem Pensum grübeln, das ich der ersten Klasse für morgen aufgab, anstatt dich und dein junges Herz schon mit Heiratsgedanken zu beschäftigen...“
„Nun?“ fragte ich endlich. „Ist es denn so schwer, seinem alten Lehrer etwas anzuvertrauen....?“
„Eine Bitte habe ich, — — eine große, große Bitte“, sagte sie ruhig mit tiefem Ernst. „Es muß etwas für Agnes geschehen...“
„Für Agnes Asmus?“ fragte ich verblüfft. „Ich hatte gemeint, Sie wollten mir ganz etwas anderes erzählen...“
„Ich denke an nichts anderes“, rief sie erregt. „Aber alle lassen mich im Stich. Selbst Kurt Heidekamp, der sonst so verläßlich ist. Nun hab ich niemand als Sie, Herr Direktor, Sie werden mir helfen.“
„Wenn ich es kann.....“ Wie leicht war mir auf einmal zumut..... fast könnt ich drüber erschrecken.
„O, Sie können es! Sie können Agnes zu sich bestellen und mich dann dazu holen, und wir können dann in einem Ihrer vielen Zimmer sitzen, und Sie können fortgehen oder bei uns bleiben, wie Sie nur wollen...“
„Sörine...“
„Ach,“ fuhr sie erregt fort, „ich hatte ja auch schon vorhin den Kurt darum gebeten. Der hat ja so ’ne schöne Wohnung in Birkholz und nicht mal einen Menschen drin, der uns was verbieten könnte, aber er wurde ja direkt wütend über meinen Vorschlag....“
„Sörine! Kindskopf!“
Sie sah mich böse an. „Ja, so sagte auch Kurt. Aber warum bin ich ein Kindskopf? Ich denke wahrhaftig schon lange nicht mehr an kindische Sachen, sondern .....“
„Sondern?“
„Ich möchte mich gleich nach der Konfirmation mit Kurt trauen lassen“, vollendete sie ernsthaft. „Dann kann ich meine Agnes zu mir nehmen.“
Mir kam bei diesen Worten etwas in die Kehle, und ich hatte meine Stimme nicht in der Gewalt.
„Und Ihr Vetter“, fragte ich endlich.
„Der will nicht“, sagte sie trotzig, und da konnte ich lachen.
„Hat er Ihnen den Grund seiner Weigerung angegeben?“
„Natürlich!“
„Darf ich ihn wissen?“
„Ja. — Er will nicht wegen Agnes Asmus von mir geheiratet sein, hat er gesagt.“
„So! Aber ich sah doch, daß Sie dem Vetter nachwinkten und als gute Freundin von ihm schieden....“
„Ja, natürlich. Weil er zuletzt meinte, er wolle es sich nochmal recht überlegen. Aber warten kann ich natürlich darauf nicht....“
„Kleine gute Sörine“, sagte ich. „Auch ich muß um eine Bedenkzeit nachkommen. — Denn Ihre Vorschläge sind alle ein wenig zu sörinenhaft. Ist denn etwas[S. 245] Besonderes geschehen, daß Sie wirklich Sorge um Ihre Freundin tragen müssen?“
„Ja, Herr Direktor. Ich spür’ das ganz genau, daß man meiner Agnes zu Hause Leid antut. Da ist irgend jemand in der Schule außer ihrem Vater, der paßt auf, wenn er uns zusammen sieht, und hinterbringt es den Eltern. Dann bekommt sie Schläge. Lieber, lieber Gott, richtige Schläge. Von der Stiefmutter.“ Sörine schluchzte wild und weh auf. „Ich kann den Gedanken nun gar nicht mehr ertragen....“
„Und in den Michaelisferien soll sie aufs Land zu einer Tante, die ist eine Schwester von Frau Asmus und noch schrecklicher als sie. Agnes hatte ganz starre Augen, als sie mir’s in der Stunde zuraunte.... Helfen Sie uns doch, lieber, lieber, lieber Herr Direktor!“
Wie Sörine bitten kann! Spürt gar nicht, daß mein Herz selbst zornig und bang schlägt in seiner Ohnmacht. Ich löste ihre umklammernden Hände von meinem Arm und nahm sie dann fest in die meinen. Fand zuversichtliche Worte, trotzdem ich einsah, daß ich in einem „Wald von Schwierigkeiten Bäume fällen mußte.“
„Oh, so ist es recht“, nickte sie endlich befriedigt. „Ich verlasse mich nun auch fest darauf. — Die Agnes freilich, die hat schon jede Hoffnung aufgegeben, so ein Armes, so ein Liebes....“
An der Waldecke schaute ich mich noch einmal um. Da stand die weiße Gestalt und sah mir nach.
Und wandte sich blitzschnell und floh davon.
Um Mitternacht.
Neben mir steht die große Handtasche gepackt, morgen in aller Herrgottsfrühe will ich nach Einingen fahren.
Dort liegt der Brief meiner alten Mutter, — ich will ihn meinem Tagebuch einfügen. Um zehn Uhr kam ein Bote vom Postdirektor. Der freundliche Mann schrieb mir: „Finde eben bei besonderer Kontrolle in der Briefträger-Abfertigung einen Brief an Sie, — vielleicht ist er wichtiger Art.“ —
Ob er wichtig ist?
Die liebe Mutter schreibt: Mein Sohn Erne! Ist eine lange Zeit vergangen, daß ich dir letztmalig schrieb. Aber heute kann ich dir danken für all dein vieles Guttun an mir. War bislang keine Zeit dazu. Denn vor drei Wochen schlug der Hund an in der Nacht, und ich stand auf und leuchtete vor die Tür, da lag eine Frau, die war schwer krank. Und lachte doch und meinte, so späten Besuch hätte ich gewiß lange nicht gehabt. Und war’s die Lisette. Und wie ich jeden Christen, Heiden und Juden aufgenommen hätt’, der bittend auf der Schwelle liegt, so doch erst recht dies kranke Geschöpf, das deinen und deines Vaters ehrlichen Namen trägt. — Drei Wochen hab ich sie gepflegt, mein Erne. Es war die Schwindsucht. Hab dabei in ein grundleichtsinnig und sündig Herz geschaut, mein Erne, — ist aber auch viel an ihr selbst gesündigt worden. Und du weißt ja, ich möcht jedem immer fleißig raten zu Mathäus 7, Vers I. — Und ist mir eigentlich recht leicht zu Sinn. Weil Gott in seiner Gnade diesem verirrten Menschenkind die rechte[S. 247] Tür wies, daß es in den Armen einer Mutter sterben durfte. Und außerdem noch, weil eure beiden Kinderchen tot sind, und braucht so die Lisette keine Waislein zurückzulassen. Und item brauchen die Waislein nicht gesagt zu bekommen, daß sie eine schlechte Mutter hatten. Ist alles gütig und weise vom Herrgott angeordnet worden. Nur immer hübsch nachdenken, und die Hände falten mit Dank. — Und haben wir uns noch auf eine Weise ganz liebgewonnen, die Lisette und ich. „Du hast mich’s Lachen wieder gelehrt, Mutter“, sagte sie oft. „Guter Gott“, meinte ich, „was gibt’s wohl bei mir zu lachen?“ „Weil du so brav bist, Mutter, du und der Erne, — so kreuzbrav. — Wir paßten ja nimmer zueinander. Und brav sein heißt langweilig sein. Oh, was hab ich gegähnt, wenn ich partuh brav sein sollte. Aber so, wie ihr beide das seid, so ist’s recht zum Lachen....“
Ja, Erne, so närrisch hat sie immer gesprochen und, verhoffe ich nur, der Heiland wird ihr droben sagen, daß das Bravsein nicht bloß fürs Lachen gut ist.
Aber wie es zum Sterben ging, hab ich lieber selber mit ihr gelacht, um der armen Seele den letzten Gefallen zu tun. Und wird mir der da droben auch dies verzeihen, weil er ins Herz sieht.
Hab der Lisette Sörensen geb. Balian die Augen zugedrückt und sie gewaschen und das Totenhemd angezogen, und Pastor Verden weiß auch, daß es meine Sohnsfrau ist, und kein verlaufen Straßenweib. Bin gesund und verhoff das gleiche von dir. Will dich nur fragen, ob du nach Christengebot feurige Kohlen willst[S. 248] sammeln, und der die letzte Ehre antun, die deinem eigenen Leben so wenig Ehre angetan.
Würde dich mit großer Freude erwarten als deine treue Mutter. Gesine Sörensen.
Mutter, ich empfange aus deiner Hand ein neues Leben....
Deiner würdig will ich’s leben. —
Mutter! Als ich heute Morgen das Blatt vom Kalender ablöse, fand ich den Spruch darauf: „Ein gutes Mutterherz ist ein Kleinodienschrein Gottes.“
Wahrlich, alle Schätze liegen vor mir ausgebreitet, du liebe Mutter, du gute Mutter...
**
*
„Also plötzlich verreist! Hm“, wiederholte Professor Traute die Worte des Professors Rasmussen. „Und in dringenden Familienangelegenheiten! Hat denn der Mann überhaupt Familie? Es ist merkwürdig, wie wenig man von ihm weiß.“
„Genügt aber, wenn das Wenige gut ist“, entgegnete der Kollege.
„Gut??? Na, das kann man wohl nicht so schroff behaupten.... Hm.
Und gestern mittag sprach ich ihn noch, und da schien er noch von nichts zu wissen — — und heute schon fort.....
Vermutlich ein Telegramm???“
„Vermutlich.“
Traute sah, es war aus Rasmussen nichts heraus[S. 249] zu holen. Ärgerlich ging er aus dem Direktorzimmer, worin sich Rasmussen als Vertreter niedergelassen hatte. Auf dem Flur begegnete ihm Kahl in großer Eile: „Komme vom Bahnhof“, raunte er dem Überraschten zu. „Hörte vom Friseur, daß ‚Er, der Herrlichste von allen‘, schon vor Tau und Tag aus Birkholz abgedampft sei, ordentlich gelaufen sei er, um noch den Frühzug 554 zu erreichen. Na, ich habe mir dann noch auf dem Bahnhof etliche Kilo Material gesammelt. ‚Er‘ ist genau nach demselben Ort gefahren, — na, Sie wissen ja Bescheid.
Unsauber, — im höchsten Grade unsauber, Kollege Traute, es muß ihm nächstens den Hals brechen....“
„Unglaublich“, staunte Traute und schoß in das Klassenzimmer, denn er hatte den Vertreter des Direktors „husten“ hören. —
Am Sonnabend derselben Woche kehrte Sörensen aus Einingen zurück. Klaus Hansohm holte ihn am Nachmittag vom Bahnhof ab.
Sörensen entstieg sehr elastisch dem Abteil und sah den jungen Freund aus ernsten, aber hellen Augen an. „Wie jemand, der erholt aus einem frohen Urlaub kommt“, dachte Hansohm etwas befremdet, und dann biß er sich auf die Lippen, denn er hatte gesehen, wie Oberlehrer Kahl auf dem Bahnsteig auf und ab ging und nur gerade eben den Hut lüftete, als er an dem Direktor vorbeischritt.
Der kurzsichtige Sörensen hatte offenbar die unehrerbietige Art des Grußes gar nicht bemerkt.
Aber unten auf der Straße begegneten ihnen mehrere Honoratioren mit ihren Frauen, und es war wirklich[S. 250] befremdlich, wie langsam jede Hand nach dem Hute griff und wie geflissentlich die Frauen zur Seite schauten...
Klaus Hansohm beobachtete seinen Direktor, aber dieser war ganz unbefangen: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, lieber Hansohm, daß Sie mich heute abholten. Wie ein lieber Heimatgruß war mir Ihr Gesicht, obgleich — — — ich eben aus meiner Heimat komme“, sagte er dankbar. „Haben Sie Zeit, um aus der Hand von Frau Dietz eine gute Tasse Kaffee entgegen zu nehmen?“
„Für Sie habe ich immer Zeit, Herr Direktor“, entgegnete Hansohm warm.
Oben im Wohnzimmer war es sehr behaglich. Frau Dietz stellte rasch noch eine zweite Tasse neben die silberne Kaffeekanne und holte Pfeifen und Fidibusse, wie ihr Herr das liebte. In der Mitte des runden Tisches prangte der wohlgeratene Napfkuchen, den die Umsichtige zur Feier der Heimkehr gebacken hatte. —
„Trotzdem gefallen Sie mir gar nicht, Frau Dietz“, scherzte Sörensen freundlich ernst, nachdem er der treuen Dienerin ins Gesicht geschaut hatte. „Sie sehen aus, wie die selige Kassandra.“
„Das soll hoffentlich keine Beleidigung sein“, gab Frau Dietz gekränkt zur Antwort.
„Nein, Frau Dietz, Kassandra war eine durchaus anständige Frau“, sagte Sörensen möglichst ernsthaft. „Aber ich möchte wissen, welches Unheil Sie mir prophezeien wollen....“
Frau Dietz erschrak, und sie sah ratheischend auf Lehrer Hansohm.
Aber der machte ein ebenes Gesicht, als ob ihn das ganze Gespräch gar nichts anginge, und da verließ Frau Dietz hastig das Zimmer.
„Launen???“ sagte Sörensen mehr zu sich selbst und schüttelte den Kopf. „Das kenne ich gar nicht an ihr. Schade, — es verdirbt mir beinahe ein wenig den Tag...“
„Sie haben Frohes erlebt, Herr Direktor?“ fragte Hansohm bescheiden forschend.
„Frohes? Sehe ich so aus?“ lautete die Gegenfrage. —
„Ja. — Oder wie jemand, der einer Last ledig wurde.....“
Sörensen schaute sinnend geradeaus, schwieg aber.
Und nach einer Weile: „Hansohm, Sie selbst aber verbergen mir etwas. Sind nicht der alte Klaus Hansohm. Sie sind unfrei. Habe ich nicht Ihr Vertrauen?“
„Das haben Sie, Herr Direktor.“
„Also? — — Sie zögern? Ist etwas geschehen? Betrifft es mich? Dann wissen Sie wohl auch Bescheid, was Frau Dietz plagt?“
„Ja, Herr Direktor.“
Und nun kam langsam, schwer und gewuchtig die letzte Frage:
„Hängt es — — mit meiner Reise zusammen?“
„Ja.“
Sörensen stand auf. „Also Klatscherei“, sagte er ruhig, „dagegen kann ich mich nicht schützen.“ Er sah[S. 252] dem jungen Kollegen in das verdüsterte Gesicht. Dann nahm er dessen beide Hände in raschem Entschluß. „Sie sagten, Sie wollen heute abend noch zu Fräulein Doktor gehen? Sagen sie ihr, — ich — ich hätte vor wenig Tagen meine Frau begraben.... ja. Ihr beide sollt’s wissen.....“
Er stellte sich ans Fenster mit dem Rücken nach dem Zimmer gewendet und schaute in den schweigenden, alten Garten hinaus. Klaus Hansohm trat zu ihm. „Ich — danke Ihnen Herr Direktor.“
Die Dämmerung kam. Dann verließ Klaus Hansohm still und ehrfürchtig das Zimmer und schritt die alte Treppe hinunter und quer über den alten Marktplatz. Er trug das schwere Geständnis des verehrten Mannes in die Stube von Fräulein Doktor Stavenhagen, und dort wurde es gleich in ein treues Frauenherz aufgenommen.
Dann sagte Hansohm traurig. „Aber Sörensen ehrt uns beide nur allein. Es soll Geheimnis bleiben, und deshalb werden die Lästerzungen sich weiter spalten und wir dürfen sie nicht herausreißen...“
Fräulein Doktor nickte schwer. „So oder so“, sagte sie. „Birkholz ist noch nicht reif für einen Erne Sörensen. Wir wollen seine Gründe ehren.“ — — —
**
*
Direktor Sörensen und sein Freund wanderten durch die Heide. Es war ihnen zur lieben Gewohnheit geworden, und Frau Dietz stand allsonntäglich eine Viertelstunde[S. 253] vor dem Fenster, um ihrem Herrn Schlag 6 Uhr in der Frühe zurufen zu können: „Jetzt biegt er um die Ecke.“
Die frühe Stunde bot beiden Männern ungeahnte Herrlichkeiten.
Die Sonntagsstille in Wald, Flur und Stadt, die reine unverbrauchte Luft taten wohl. — Nach einer lärm- und unruhevollen Woche in heißen Schulzimmern, deren Luft noch reichlich mit frischem Kalk und Terpentin durchsetzt war.
„Atmen, atmen!“ kommandierte Hansohm draußen auf tauigem Heideweg, und ließ den Worten gleich die Tat folgen. Dann nahm er ein paar rote Heideblüten in die hohle Hand, legte einige braune, abgeblühte dazu, zerrieb ein winziges Zweiglein Wacholder, pflückte drei Wacholderbeeren, sowie zwei Ginsterblättchen und fuhr sich mit diesem Sammelsurium lachend über sein frisches Gesicht. In den Heidedörfern sagen sie, dies Rezept mache „die Deerns schön und die Junggesellen gescheit“, sagte er lachend zu Sörensen.
„Geben Sie her, geben Sie her“, mahnte dieser in komischer Hast, „das muß ich versuchen...“
Hansohm bückte sich sofort, um das „Rezept“ aufs neue zusammenzustellen. „Es darf nur von einem gebraucht werden, sonst hat es keine Wirkung“, meinte er, und tat sehr wichtig. Als er dem Freunde dann Blätter und Blüten reichte, sah er ihn liebevoll forschend an. „Lieber Herr Direktor, dies schlichte Gemengsel ist auch sonst als heilkräftig bekannt. In meinem uralten Buche von den Heidekräutern steht: ‚Ein Tee, solcherweysen zubereytet[S. 254] und mit Sorge gebrauet, löset zäh und schwer Geblüte und säubert das Herz von der Melancholeya.‘“
Sörensen antwortete nicht, gab nur den forschenden, liebevollen Blick ernsthaft zurück.
Nach einer Weile des Wanderns stieß Hansohm ärgerlich heraus: „Sie haben es mir erlaubt, aus meinem Herzen niemals eine Mördergrube zu machen und deshalb rufe ich’s hier in die braune Heidestille hinaus, wie ich’s Ihnen vor Monaten schon einmal unbotmäßig zu sagen wagte: ‚Sie gefallen mir nicht, lieber Herr Direktor, nein, Sie gefallen mir gar nicht.‘“
„Die Kräuter sollen ja auch nur die Deerns schön machen“, scherzte Sörensen, ohne daß sein Gesicht sich aufhellte.
„Damit werden Sie mich nicht los“, rief Hansohm eindringlich, und er warf sich längelang unter einen Wacholderbusch. Denn so hatten sie’s verabredet. Wo irgend ein besonders schönes Fleckchen entdeckt wurde, da hatte jeder einzelne sofort das Recht, „Halt“ zu gebieten.
Sörensen folgte also seinem Beispiel, aber schweigend.
„Als neulich Oberlehrer Kahl so plötzlich auf Urlaub ging,“ sagte Hansohm erregt, „und wir begründete Hoffnung hegten, daß er Birkholz nicht wiedersieht, da hofften wir auch, Sie würden mit uns allen aufleben, — — Herrgott, lieber Herr Direktor, sagen Sie mir, was man tun kann, damit Sie wieder der Alte sind. Daß man Ihnen fortgesetzt abrät, nicht so wahnsinnig zu arbeiten, nützt ja nichts....“
„Sie meinen’s gut, Klaus Hansohm. Zugegeben, daß ich etwas überarbeitet bin.... Aber es gibt ja Zeiten, wo man die Arbeit als einzige Helferin hat. Und mir kommt es vor, als sollte das bei mir ein Dauerzustand werden. Hand aufs Herz, Hansohm, glauben Sie überhaupt, daß ich je in Birkholz festen Fuß fassen werde?“
„Sie denken doch nicht daran, sich fortzumelden, Herr Direktor?“ fragte Hansohm erschrocken. „Es wurde mir schon von vielen Seiten erzählt, aber ich habe immer dagegen gestritten.“
„Hat man’s Ihnen erzählt?“ Sörensen nickte nachdenklich. „Sehen Sie, Hansohm, bei allen diesen Erzählern war der Wunsch der Vater des Gedankens. Ich fühl’s ja tagtäglich, wie die Wühlerei im Gange ist.“
„Die paar elenden Maulwürfe“, warf Hansohm verächtlich ein.
„Sie sind sehr fruchtbar“, sagt Sörensen ernst. „Sie vermehren sich unheimlich. Und meine Sorge geht dahin, daß sie mein Wirken an der Schule ernstlich gefährden.“
Hansohm richtete sich rasch auf und sah seinen Direktor freimütig an. „Die Kinder haben Sie lieb“, sagte er warm. „Und zwar die Kleinen wie die Großen ganz ohne Unterschied. Ist das nicht Glücks genug?“
„Wenn ich nur an mein Glück dächte“, entgegnete Sörensen sinnend, „so ginge ich nie von hier fort, denn wahrlich, ich finde es täglich unter den mir anvertrauten Kindern. Aber wenn die Maulwürfe weiter arbeiten.... Ich habe es nicht gemerkt, Hansohm, daß mich die Eltern[S. 256] meiner Schülerinnen weniger tief grüßen als früher, das hat mir erst ein Anonymus verraten.“
„Anonymus??? Bekommen Sie auch anonyme Briefe???“
„Auch??? Aha, ich dachte mir’s. Also in Birkholz laufen solche herum?“
„Ja.“
„Und die Birkholzer Gemüter und Papierkörbe sind nicht reif genug, solche Dinge gebührend zu empfangen?“
„Ich fürchte nein. Aber Sie sagten eben selbst ‚nicht reif genug‘, Herr Direktor, und trafen das Rechte damit. Es ist Unreife, nicht Bosheit. Birkholz hat viel Kindisches an sich. Zu allererst die Neugierde. Deshalb beschäftigt es sich mit so etwas wunderlich Neuem und sucht es zu ergründen. Dann aber möchte es auch an den Beschuldigten herankommen. Aber Sie lassen niemand heran, und da wird das kleine, gute Birkholz hart und ungerecht. Den Birkholzern wird es nicht leicht, einen Fremden lieb zu haben. Aber sind sie einmal überwunden, dann wollen sie nicht vor verschlossener Pforte stehn.“ —
„Welch scharfe, prächtige Erklärung Sie mir geben, Hansohm, und wieviel lichte Farben Sie aus Ihrer Palette herausholen für das Bildchen Birkholz.“
„Es ist meine Heimat. Meine armselige, gute Heideheimat. — Und schon als Knabe galt all mein Wünschen dieser Heimat. Ich habe den lieben Gott nie viel belästigt in meinem Leben. Denn meine Mutter hatte vergessen, mich das Beten zu lehren. Dann tat’s die grimme Not. — Aber Gott schenkte nicht einem einzigen Gebet äußerliche[S. 257] Erfüllung. Er gab mir Besseres, ließ mich meine Heimat lieben. Das war schon Glück. Dann kam das Erkennen meiner Heimat, all der reichen Schätze, die in Kopf und Herzen dieser kindereinfältigen Menschen verborgen liegen. Aber ich konnte den Reichtum nicht schürfen und heben, dazu mußte ein Größerer kommen.“
Er streckte Sörensen die Hand hin, und seine begeisterten Augen flammten. —
„Schwärmer! Lieber, junger Schwärmer“, sagte Sörensen ergriffen.
„Oh, nicht doch! Es ist kein Schwärmen, es ist Erleben. Sie sind mir die Erfüllung meiner Bitte: „Herrgott schick meiner Heimat Birkholz einen Lehrer von Gottes Gnaden!“ Denn nur durch die Kinder kann man an diese stillen, schweigsamen, in uralte, schier verweste Anschauungen verrannten Heidjer heran. Und es lohnt sich wahrhaftig, das Innerste bei ihnen herauszuholen.“
„Es ist mir nicht gelungen“, sagte Sörensen düster.
„Nicht gelungen?“ rief Hansohm leidenschaftlich. „Gehen Sie denn mit geschlossenen Augen umher? Anders finde ich keine Erklärung. Denn ein Erne Sörensen ist nicht ‚bescheiden‘ im landläufigen Sinne....“
„Vielleicht war ich bewußt blind“, gab Sörensen zögernd zu, und ein zages Glücksgefühl zog durch seine Seele in der Vorahnung, der junge Kollege könne recht haben. „Vieler Jahre Leid wuchteten schwer..... Ich sah zuviel nach innen und suchte Schuld in mir.“
„Sie ehren mich“, murmelte Hansohm. Und nach einer[S. 258] Weile: „Kann dies Leid niemals sterben? Ist es fressendes Gift?“
Nun sprang Sörensen auf und stand vor dem Jüngeren und nahm ihn bei den Schultern: „Freund Hansohm, was fragen Sie da? Eine gute, verständige Frage ist’s. Und sie rüttelt mich wach. Ja, mein Leid darf sterben. Und Sie sollen mir helfen, es einzusargen und in der gütigen Muttererde der Heide zu begraben.“ —
„Das will ich, das will ich“, rief Hansohm eifrig. „Und mit solchen Augen, wie sie jetzt auf einmal in Ihnen leuchten, werden Sie ihr Werk erkennen. Werden sehen, was Ihnen in unglaublich kurzer Zeit gelungen ist. All das Verschüttete, das ganze Pompeji und Herkulanum des seligen Claußen, — Sie, Erne Sörensen haben es herausgegraben! Was sind die paar Maulwürfe? Was können Kahl und Genossen ausrichten, wenn Sie wollen, Herr Direktor? Ein aufklärendes Wort von Ihnen genügt...“
Sörensen stutzte und blieb stehen.
„Ich soll.... Kollege Hansohm, — Sie meinen — ich soll Farbe bekennen? Soll mich gegen — — anonyme Beschuldigungen verteidigen?“
„Nicht ganz so schroff — — Herr Direktor — o nun habe ich wohl alles verfahren — — wie leid mir das ist — —“
„Wir wollen nicht wieder darauf zurückkommen, lieber Hansohm“, sagte Sörensen ruhig ernst. „Das Kind Birkholz ist nicht reif genug, wie Sie selbst sagen, um sich zum Richter über mich aufwerfen zu dürfen. Es ist aber auch nicht jung genug, um zu meinen Füßen zu[S. 259] sitzen und sich belehren zu lassen. So muß es denn nach eigener Fasson selig werden.“
Klaus Hansohm sah tief bekümmert aus.
„Meine beiden Liebsten!“ sagte er traurig. „Meine Heimat und Sie! Und wollen nicht zueinanderkommen .... Da geht viel Segen verloren.....“
Sörensen schwieg. So wanderten sie eine geraume Weile nebeneinander her. Mit einmal blieb der Direktor stehen: „Hansohm, haben Sie etwas von Agnes Asmus gehört?“
Klaus Hansohm sah ihn fast erschrocken an. „Können Sie Gedanken lesen, Herr Direktor? In dem gleichen Augenblicke wollte ich von Agnes Asmus sprechen.“
„Ich habe da ein Versprechen gegeben, an Sörine von Heidekamp“, sprach Sörensen nachdenklich. „Und habe es nicht eingelöst. Das ist mir sehr, sehr leid. Meine Reise und — quälende Begleitumstände hinderten mich völlig. — — Ich will noch heute nachmittag zu den Eltern Asmus gehen und möglichst alles Versäumte nachholen.“
„Sie werden sie nicht treffen. Asmussens wollten heute vormittag nach Luhenmoor fahren, um einer Tante, zu der Agnes nach ihrer Konfirmation übersiedeln soll, das Mädelchen zu zeigen.“
„Das gerade wollte ich verhindern“, Sörensen war erschrocken und peinlich berührt. Dann stampfte er ungeduldig mit dem Fuße auf. „Kollege Hansohm, Sie sehen mich ärgerlich und verlegen. Denn ich habe mein Prinzip durchbrochen, Kindern vor allen andern Menschen ein[S. 260] gegebenes Versprechen zu halten. Nun verfolgen mich die vorwurfsvollen Augen der jungen Sörine.....“
„Ich möchte Ihnen eine Frage vorlegen, lieber Herr Direktor“, sagte Hansohm zögernd, „und ein Geständnis machen. Ich — ich bin der Agnes Asmus gut. Das tiefe, erbarmende Mitleid mit ihrer Lage hat Wärmeres bei mir ausgelöst. Und ihre köstliche, junge Stimme habe ich lieb. Glauben Sie, daß es Unrecht ist, dem so jungen Kinde davon zu sprechen, sobald es die Schule verlassen hat?“
„Nein, nein, Hansohm, wie sollte das Unrecht sein?“ Sörensen sah ihn froh bewegt an. „Welch liebe Lösung wäre das! Ungewöhnlich, ich gebe das zu. Aber Ungewöhnliches kann wunderschön sein.“
„Warum soll das große Los immer in die Lotterie der Besitzenden fallen? Sie sind das große Los, guter, treuer Hansohm!“ Sörensen war ganz Aufgeregtheit und Freude. Eine Zentnerlast schien von seiner Seele gefallen. „Und wie wird sich die Sörine freuen!“
Hansohm sah erstaunt auf seinen Direktor.
„Diese Wirkung meiner Mitteilung hätte ich gar nicht zu hoffen gewagt“, meinte er. „Ich danke Ihnen von Herzen. Denn nun steht mein Entschluß fest. Und ich habe gegründete Hoffnung, daß die Eltern Asmus, wenigstens die Stiefmutter, — es begrüßen werden, ihr Kind bald los zu sein. Ohne Kosten“, setzte er bitter hinzu. „Denn ich habe meinen jungen Hausstand bereits in tadelloser Verfassung. —“
Sörensen drückte ihm die Hand. „Gott schütz Euch beide“, sagte er brüderlich herzlich.
„Meine kleine Agnes ahnt natürlich nichts.“ Klaus Hansohm schoß das rote Blut in das junge ernste Gesicht. „Aber ich weiß, daß sie mir rückhaltlos vertraut und innig dankbar ist. Und warum soll ein Verlöbnis nicht Glück bringen, das auf Vertrauen und Dankbarkeit aufgebaut ist?“
„Zwei seltene Kräutlein heutzutage, lieber Hansohm, ich halte sie für ein schönes, festes Fundament.“
Und bei sich dachte Sörensen: „Du lieber, frischer, fröhlicher Gesell! Du wirst nicht lange auf die ‚Liebe, welche die größeste ist‘ warten müssen, sie wird sich noch mit in Eures jungen Nestes Grundstein einmauern lassen. —“
**
*
Am Montag, der diesem hellen Sonntag folgte, trat Direktor Sörensen um 8 Uhr zur Andacht in die erste Klasse. Und er sah mit rasch umfassendem Blick durch seine scharfe Brille, daß zwei Plätze leer waren. Sörine Heidekamp und Agnes Asmus fehlten.
Mit großem Befremden hörte er, daß keines von den Mädchen eine Entschuldigung oder Mutmaßung für dies Fehlen hatte und begann den Unterricht. Der war fesselnd genug. Den eingehenden Fragen folgten rasche erschöpfende Antworten, — mit freundlichen Augen schaute der Lehrer auf die angeregten jungen Gesichter.
Dann klopfte es plötzlich an die Tür und herein[S. 262] schob sich unter vielen Bücklingen der Lehrer Asmus. Er war verlegen und erregt, und als er einen raschen Blick nach dem leeren, ersten Klassenplatz geworfen, wurde er kreideweiß. Und fand keine Worte, so sehr er sich auch mühte, und wand sich wieder zur Tür hinaus, die er in überstürzender Eile laut zuschlug. Sörensen sah ihm verblüfft nach und schüttelte den Kopf, und die jungen Mädchen schauten sich an mit verstörten Augen. Nach der Stunde, die nicht mehr viel Frucht trug, ging Sörensen in sein Zimmer.
Dort fand er Klaus Hansohm. Und so aus den Fugen war der junge Lehrer, daß Sörensen ihm erst einmal wie einem kranken Kinde zuredete.
„Agnes ist fort“, stieß er endlich hervor. „Fort, — nicht zu finden. Die Eltern haben das Bett leer gefunden heut morgen. Der Vater hat noch gehofft, sie wäre in die Heide gelaufen, wie sie das in letzter Zeit öfters getan hätte, und er würde sie zur rechten Zeit in der Schule wiederfinden... Nun das nicht eintrifft, ist er wie von Sinnen, krank, — er sitzt drüben im Lehrerzimmer...“
„Was sind das für Sachen?“ Sörensen überlegte einige Sekunden, dann ging er mit raschen Schritten nach dem Fernsprecher und ließ sich mit Heidekamp verbinden.
„Agnes Asmus nicht dort? Und Sörine?“ hörte Hansohm ihn bald darauf fragen. Und dann sah der junge Lehrer, wie sein Direktor mit tief gefurchter Stirn einen Bericht entgegennahm.
„Sörine ist zu Hause“, rief der Direktor Hansohm zu, und hing hastig den Hörer an. „Herr von Heidekamp[S. 263] meint, sie sei krank. Aber die Freundin sei nicht bei ihr, davon habe er sich selbst überzeugt. — Hansohm, lieber Freund, was ist da geschehen? Kopf hoch. Es läutet schon. Ich bitte Sie, gehen Sie in Ihre Klasse. Ich werde mit Asmus sprechen und alles Nötige in die Wege leiten. Verlassen Sie sich auf mich, Klaus Hansohm.“
„Verzeihung, — es hat mich umgerissen“, murmelte dieser, und Sörensen klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und begleitete ihn bis vor das Klassenzimmer. —
Im Lehrerzimmer saß Asmus. Ja, der Mann war krank, das sah Sörensen auf den ersten Blick. Er wollte vor dem Direktor aufstehen, aber seine Glieder versagten den Dienst.
„Meine Tochter!“ stöhnte er: „Meine Tochter läuft vor Tau und Tag aus dem Hause und kommt nicht zur Schule, und wir wissen nicht, wo sie ist.....“
„Aber die Gründe?“ forschte Sörensen heftig. „Agnes ist ein ruhiges Mädchen, was ficht sie plötzlich an? Ist sie wieder gequält worden?“
„Wir quälen unsere Tochter nicht“, murmelte Asmus. „Aber sie hatte sehr ihren eigenen Kopf. Und die Tante, der wir sie gestern erst einmal vorstellen wollten, ist etwas hart geraten.... Und als Agnes sich widersetzte — — sie wollte durchaus nicht das Versprechen geben, Michaelis zu ihr zu ziehen, — da hat es wohl allerlei gegeben.....“
„Allerlei,“ wiederholte Sörensen in tiefer Bitterkeit und fühlte, daß er nicht das allergeringste Mitleid mit diesem Vater hatte, mit dem Gott jetzt ins Gericht ging.
„Agnes hatte den ganzen Abend und auch auf dem Rückweg kein Wort gesprochen.“ Mühsam quälte Asmus die Worte heraus. „Ich fand sie selbst furchtbar verstockt und strafwürdig. Aber es ist nichts mit ihr getan worden. Sie ging dann bald zu Bett. Und heute morgen.....“ Die Stimme brach ihm.
„Gehen Sie jetzt nach Hause, Herr Kollege Asmus“, gebot Direktor Sörensen. „Ich beurlaube Sie. Nur so viel möchte ich Ihnen sagen, in Heidekamp befindet sich Ihre Tochter nicht. Dort habe ich mich schon erkundigt.“
Lehrer Asmus starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Nicht in Heidekamp?“ stöhnte er und faßte des Direktors Hand. „Nicht in Heidekamp???“
Und nun fand es sich, daß Lehrer Asmus nicht allein nach Haus gehen konnte und Direktor Sörensen rief den Schulwart Harks, der sich mitten im Umzug nach seinem sonnigen Häuschen in Heidekamp befand. Aber er ließ den Möbelwagen und alle Unruhe hinter sich und kam sofort und stützte sorglich den kranken Mann, der einst mit so viel gehässigen Worten beigetragen hatte, daß Harks seine Stelle am Lyzeum verlor. —
An diesem Mittage stand Frau Dietz händeringend am Herde und mußte zusehen, wie ihr schmackhaftes Essen „verbratzelte und verbrutzelte“.
Ein sehr feiner, junger Herr saß drinnen beim Direktor und redete und fand kein Ende. Und immer, wenn sie ihr Auge an das Schlüsselloch legte, redete er noch, und schlug dabei die Hände zusammen, und ihr Herr lief[S. 265] wie ein Tiger im Käfig auf und ab, so daß das Schlüsselloch zeitweise hell und dann wieder verdunkelt war. —
Direktor Sörensen hatte seinen unvermuteten Besucher zuerst nicht wiedererkannt. Denn das auffallend feine, rassige Gesicht des jungen Referendar von Heidekamp war gerötet von innerer Aufregung und die Augen schauten ratlos und verzweifelt drein. —
„Ich war wie vom Donner gerührt, Herr Direktor, als ich heute morgen in mein abgelegenes Gartenhaus kam und die Bescherung fand. Zwei junge Mädchen! Davon eins meine Base Sörine und das andere ihre junge Freundin, die augenscheinlich ganz den Kopf verloren hatte. — Herr Direktor, was sind das für ausgefallene Geschichten! Sörine hat keine Ahnung, was sie mir und ihrer Freundin da eingebrockt hat. Das Haus liegt an der Landstraße, meine Bauern und Insten karren dran vorbei, sie haben ja ein Recht sich zu verwundern, daß ihr junger Herr plötzlich — — —.“ Er verstummte in peinlichster Verlegenheit.
Sörensen rannte auf und nieder, und in seinem Kopfe sausten die Gedanken. „Du bist dran Schuld, Erne Sörensen“, sagte er sich. „Du hast dein Versprechen nicht eingelöst, nun hat sich das tapfere Kind selbst helfen wollen, sich und der Agnes. Und begeht die größte Dummheit. Natürlich, weil sie jeden Kerl für so ehrenhaft hält, wie sie selbst einer ist. Liebe prächtige, kleine Sörine, du großer Unverstand! Gottlob, daß du wenigstens an deinen ehrenhaften Vetter geraten bist.“
Der junge Heidekamper nahm erregt wieder das Wort.
„Ich sage Ihnen, Herr Direktor, — wie der kategorische Imperativ in Person stand mein Bäschen vor mir, nachdem sie mich durch meinen Reitknecht hatte wecken lassen und ich in fliegender Eile mich angezogen und nach dem Gartenhause geeilt war. Dieses wird von einem früheren alten Diener bewohnt. Der hat die jungen Damen eingelassen und zwar heute morgen 6 Uhr in der Frühe. ‚Du beschützest mir meine Agnes‘, befahl mir Sörine, ‚ich muß nach Heidekamp, damit Großvaterli nichts merkt. Dann komme ich in jeder freien Minute zu dir und Agnes. Vielleicht müssen wir uns schon bald trauen lassen, damit Agnes eine Heimat hat.‘“
Damit fuhr sie davon, und ich saß vor dieser Agnes, die ich nicht kenne und die eine wahnsinnige Angst vor mir zu haben scheint. Denn sie sprach kein Wort und war totenblaß und zitterte wie ein Hälmchen. Mag der Teufel draus klug werden. Es ist eine regelrechte Entführung. Da fielen Sie mir ein, Herr Direktor, und ich habe dem jungen Mädchen gesagt, daß ich Sie benachrichtigen wolle, habe ihr ein gutes Frühstück in die alte Klause gebracht und mich verpflichtet, um 2 Uhr spätestens mit Ihnen wieder bei ihr zu sein. — „Sie werden mich nicht im Stich lassen, Herr Direktor“, setzte der junge Mann bittend hinzu.
Sörensen nickte stumm, schrieb in fliegender Eile einen Brief an Lehrer Asmus, bat ihn, um Agnes willen ruhig zu sein und — der Not gehorchend seine Tochter nach[S. 267] Heidekamp zu beurlauben, damit Birkholz keinen Anlaß zum Mutmaßen und Klatschen fände, er selbst würde ihm Bericht über Agnes bringen.
Im Wagen erzählte ihm dann der junge Heidekamper, daß er Sonnabend und Sonntag immer auf Luhmühlen, seinem Gute sei, von dem man zu Fuß Heidekamp in einer halben Stunde erreichen könne.
Sörensen hörte nur zerstreut zu. Aber er dankte mit herzlichen Worten, daß der junge Baron ihn gerufen habe, und er hoffe, daß sich Sörinens Staatsstreich noch zum Segen für die beiden Freundinnen wandeln würde.
Der junge Heidekamper lächelte: „Ja, das ist merkwürdig, der unberechenbaren kleinen Base schlägt alles zum Guten aus. Wie hat sie uns immer alle geängstigt! Was für verrückte Einfälle hat sie schon gehabt und in die Tat umgesetzt! Niemand in Heidekamp, Birkholz, Luhmühlen und den angrenzenden Ländern ist sicher vor ihren ‚Ideen‘. Alle Leute im Dorf, den Großonkel Heidekamp, Grauchen und mich mit einbegriffen, fürchten sich vor diesen ‚Ideen‘, — und alle vergöttern trotzdem die junge Herrin.“ — Und er setzte sehr herzlich hinzu: „Auch wieder Großonkel, Grauchen und mich selbst mit einbegriffen. —“
„Weil dieses junge Kind die Liebe ist, die verkörperte Liebe“, sagte Sörensen ernst. „Jede Handlung Sörinens wird von Liebe zu irgend einem Lebewesen oder einer Sache diktiert, und wo rechte Liebe ganz schlackenfrei der Urgrund ist, da kann ja nichts zum Bösen gereichen.“
Der junge Heidekamper nickte. Aber er meinte doch[S. 268] bei sich, dieser Herr Direktor Sörensen sei recht „pastörlich“ angehaucht, und im übrigen würde es besser sein, wenn die süße, kleine Sörine sich ihre Ideen anstatt nur von „schlackenfreier Liebe“ von etwas „juristischem Nachdenken“ diktieren ließe.
An der Wegscheide von Heidekamp und Luhmühlen stand ein alter Mann. Er trug die Heidekamper Livree und winkte dem Kutscher, daß er anhalten solle. Dann trat er an den Schlag und berichtete mit unsicherer Stimme, daß er vom alten Herrn Baron zum Aufpassen herbestellt sei und daß die beiden Herrn gleich ins Schloß kommen möchten.
Der Wagen wendete, und in zehn Minuten erreichten sie das Herrenhaus und standen vor dem alten Heidekamper.
Der sah heute nicht reckenhaft, sondern alt und verfallen aus. Grauchen stand neben seinem Sessel und weinte. Des alten Herrn Stimme klang müde: „Warum müssen wir alten Stackels auf dieser Jammererde bleiben, und solch Jungvolk, dem das Leben lacht, das siebzig Jahr noch auf ein Besserwerden hoffen kann, das läuft davon.... Droben liegt sie — die lüttje Asmus. In unsern Waldsee ist sie gelaufen. Und meine Sörine, — wie ein gefälltes Bäumchen hockt sie daneben. Hat noch kein Wort gesprochen, sieht mit erstarrten Augen umher, — sie hat mich gar nicht erkannt. Herrgott, womit hab ich das verdient, daß du so gar nicht aufgepaßt hast! —“ Der junge Baron sah blaß und ratlos auf seinem Großoheim nieder, dann ging er zögernd aus dem Zimmer,[S. 269] und nach einer Weile hörte man seinen Wagen davon rollen.
„Kann ich — die Tote sehen?“ fragte Sörensen mit heiserer Stimme. Grauchen streckte ihm die Hand hin. „Darum hatten wir Sie bitten wollen“, sagte sie leise. „Auch müssen die Eltern benachrichtigt werden..... Herr Direktor, der Wagen steht ganz zu Ihrer Verfügung .....“
Sörensen hob abwehrend die Hand. „Sorgen Sie sich um nichts. Ich werde alles erledigen.“
Dann beugte er sich zum alten Heidekamper hinunter und reichte ihm die Hand. Dieser faßte sie, und streichelte sie hilflos. „Kümmern Sie sich nicht um mich“, bat der Freiherr. „Helfen Sie der Sörine, — vielleicht gehorcht sie Ihnen, läßt sich fortbringen von der Leiche... Armer Sörinenkerl! Er hat eben nicht aufgepaßt, der Herrgott....“
Grauchen wies dem Direktor draußen eine Tür und ließ ihn allein eintreten. —
In Sörinens Mädchenstübchen lag die tote Freundin. Man hatte sie mit einem weißen Tuche zugedeckt, aber Erne Sörensen zog es zurück und schaute still in das bleiche Antlitz. „Schlaf wohl“, sagte er nur, und dachte: Es stirbt jung, wen die Götter lieben. Dann hüllte er sie wieder ein und legte nun seine große Hand auf Sörinens Schulter. Sie rührte sich nicht, und er rüttelte sie sacht.
Da sah sie auf. War dies in Jammer versteinte Gesichtchen das seiner jungen Schülerin?
„Sörine!“ rief er erschüttert.
Da wachte Sörine Heidekamp auf und erhob sich. Aber sie schien nicht mehr zu wissen, daß sie dem einst so verehrten, älteren Lehrer gegenüberstand: „Gehen Sie fort“, gebot schneidend der junge, blasse Mund. „Wir haben Tage und Tage auf Sie gewartet, die Agnes und ich. Weil Sie es mir versprochen hatten. Nun ist es zu spät.... Und nun ist mein Vertrauen tot, wie meine Agnes. — Gehen Sie aus meinem Stübchen fort.....“
Direktor Sörensen straffte sich zu seiner ganzen Goliathhöhe auf.
Jeder Blutstropfen war aus seinem Gesicht gewichen.
„Du vergißt dich, Sörine von Heidekamp“, sagte er laut und hart.
Dann ging er mit schweren Schritten hinaus. —
**
*
Weit draußen in der stillen Heide wurde ein erbitterter Kampf gekämpft. Aber niemand sah ihn als das Hünengrab, überwuchert von Ginster und Zinnkraut. Im rotbraunen Heidekraut lag Erne Sörensen und dünkte sich weidwund.....
Einen Traum begrub er, — von einem Schemen nahm er Abschied... Und doch verdichteten sich Traum und Schemen immer wieder zu einem trotzigen, schönen, ach so lieben Mädchengesicht.
Voll tiefer Bitterkeit überdachte er sein liebeleeres Leben. Dachte an seine zweiundvierzig Jahre, die er schier vergessen hatte. Dachte, wie herb es schmerzt, wenn[S. 271] Jugend zur Jugend strebt — — über ein reifes Mannesherz und dessen zages Hoffen hinweg. Dachte an einen jungen Raben, den er sich einst zum Lebenskameraden hatte zähmen wollen und der ihm dafür den Finger zerhackt hatte und dann undankbar davongeflogen war...
Ein ungewohntes, heißes Naß stahl sich aus seinen Augen und rollte ihm über die Wange. Hastig und zornig verwischte sein Handrücken die verräterischen Spuren.
Und hastig und zornig nahm er Abschied von dem Stein aus grauer Vorzeit, von Holler, Ginster und Wucherkraut und der Heide, die alle Zeugen gewesen waren, daß er um ein jung-junges dummes Mädel geweint. — —
**
*
Alter Foliant, ist es nicht beinahe lächerlich, daß ich dich heute nach vier Jahren aus den Tiefen meines tannenen Sekretärs hervorhole?
Daß ich plötzlich an dich denken muß und mich bis zur Erde bücke, um deiner im untersten Fache habhaft zu werden?
Da, wo du lagst, standen früher die neuen fertigen, festen Bauernschuhe, die Vater seinen Kunden gebaut hatte. „Schick mir den Schrank, Mutter,“ schrieb ich vor vier Jahren, „er steht unbenutzt und verstaubt bei dir auf dem Oberboden, und ich brauche einen Sarg für vieles, was deines Sohnes Leben beschwert.“ — Da wurde der Schrank aus meinem Heidedorf abgeschickt, und ich packte in seine schier unergründlichen Tiefen eine ganze Welt hinein. Dazu gehörtest auch du, mein alter Foliant. „Dann[S. 272] knüpfen ans fröhliche Ende den fröhlichen Anfang wir an“, heißt es im Liede. Wenn es früher meine Kommilitonen sangen, mußt ich mich immer zusammenreißen, denn es gab bei mir in der Erinnerung nirgends ein fröhliches Ende und weit und breit keinen fröhlichen Anfang. Und nun habe ich plötzlich aus meinem inneren Heimweh heraus wieder einen Anfang gefunden und schon eine ganze Seite geschrieben. Die Schwatzhaftigkeit des Einsamen.
Was schrieb ich vor vier Jahren zuletzt in dich hinein?
Laß sehen:
„Ein gutes Mutterherz ist ein wahrer Kleinodienschrein Gottes. Und wahrlich: alle Schätze liegen vor mir ausgebreitet, du liebe Mutter! Du gute Mutter!“
Das ist doch ein fröhliches Ende meiner Einzeichnungen, alter Foliant.
Aber du mußt dich ohne den „fröhlichen“ Anfang begnügen. Ich bin ungeheuer einsam geworden. Aber nur außerhalb meiner Schule.
Das Lyzeum ist ja meine große, liebe Kinderstube, und sie kommen alle zu ihrem „Vater“, — diese wohltuende Überzeugung ist in mir fest geworden.
Aber die Eltern! Sie sind von Jahr zu Jahr störrischer geworden, mißtrauischer....
Nicht alle, gewiß nicht. Aber die meisten. Sie sind so überzeugt davon, daß es in meinem Leben einen Punkt gibt, den ihr kleinstädtisch-philisterhaftes Empfinden zu scheuen hat, daß sie mein einsames, strenges Leben[S. 273] eher stutzig macht, als zum guten Glauben bekehrt. Und Hansohm kannte sie nicht, wenn er damals meinte, ich könnte durch die Kinder an die Elternherzen herankommen. Wenigstens zeigt man es mir nicht.
So werden es auch viele töricht finden, daß ich nicht Schulrat werden wollte. — Weil wohl alle wissen, daß die Kinder an mir hängen, aber nicht, daß ich mit „güldenen Ketten“ an die 250 Kinderherzen angeschmiedet bin. —
Die „Großen“ haben mich fast alle allein gelassen.
Zuerst tat’s der Klaus Hansohm.
Der konnte das Grab nicht verwinden, das sich über seiner jungen Liebe schloß.
Ich ging zum alten, wunderlichen Fräulein Tingleff, wir hatten ein paar Beratungen, und dann rüttelte ich meinen jungen Freund zum Leben wach. Jetzt studiert er bei einem Meister des Gesanges in Berlin, aber wir hören nichts voneinander, weil er Birkholz vergessen mußte, um wieder singen zu können. —
Dann verließ mich Fräulein Doktor Stavenhagen, nachdem sie draußen in Heidekamp die Tochter vom Herrenhause bis zur Einsegnung unterrichtet hatte. —
Sie ging mit ihrer Schülerin zuerst ins Ausland und durfte in den darauffolgenden Jahren den jungen, dürstenden Augen unser Deutschland zeigen in all seiner Pracht. — Jetzt weilt sie allein auf einer Studienreise in der Schweiz — Dr. Hofer und ich haben sie ihr verschafft. —
Während jener Reisen hat oft der alte Freiherr bei[S. 274] mir gesessen, und das Grauchen war Stammgast in meinem Heim, bis sie die guten Augen schloß.
Aber ich selbst habe das Herrenhaus nicht wieder betreten, seit mir ein böses, unreifes Kind weh tat....
Nun habe ich dem alten Freiherrn wieder meine Frau Dietz geliehen, damit er wahrhaft betreut wird. Und ich selbst behelfe mich mit zwei unzulänglichen Lebewesen, die mir die Frau Bürgermeisterin verschrieb, genau wie einst Baurat Steinbrück mir es riet.
Nun fehlt nur noch die Heirat mit der „überaus häßlichen Kusine des Apothekers“, aber dazu bin ich noch nicht gut birkholzisch genug.
Freilich bin auch ich in Netze gefallen, — in die des alten Fräulein Tingleff. Ich konnte ihrem Werben nicht widerstehn und spiele allabendlich eine Partie Schach mit ihr. Sie vermißt ihre Hausgenossin sehr, und der alte Dingelmann hat die Mansarde nicht wieder vermieten dürfen. Fräulein Doktor soll sie unverändert wieder vorfinden, obgleich sie annimmt, daß ihre Möbel im Speicher modern. Das ist das rührende „Geheimnis der alten Mamsell“.
Auch Professor Rasmussen hat meine Schule verlassen, mir fehlt sein treuer Rat und sein gutes Gesicht.
Er ist in die Nähe von Lüneburg gezogen, wo er ein Haus besitzt. Dann und wann fliegt eine Karte hinüber und herüber mit warmen Grüßen. An Stelle von Klaus Hansohm ist Lehrer Hans Visser getreten, ein guter Christ, aber schlechter Musikant. — Klaus Hansohm, ich vermisse dich sehr, und dem Singsaal fehlt die Sonne. —
Fräulein Doktor wird von einer sehr tüchtigen Oberlehrerin jüngeren Schlages vertreten. — Die Abneigung gegen Fräulein Nissen hat sie mit übernommen und vertritt dieses Recht der Abwesenden am eifrigsten. — Mit Kahl ging der größte Hetzer dahin. Die Nachwehen seines bösen Wirkens spüre ich bis auf den heutigen Tag. Aber beugen wird er das Recht nie. Und ich gehe aufrecht durch den Schmutz, den er aufwühlte auf meinem Wege und trete auf die Steine, die er planlos hinterher warf. — Wie sagte mir Dr. Hofer? „Die guten Gedanken Ihrer Schulkinder werden eine Mauer um Sie bauen....“ Das ist ein rechtes Wort. Und ein rechter Mann hat’s gesprochen. Ein Lehrerfreund. — Seltsam fremd und unbekannt mutet dieses Wort an. Kinder- und Menschenfreunde, gottlob, sie sind nicht karg gesäet, aber Lehrerfreunde? Das Schicksal vergaß diesen Acker zu bestellen, und als die Erntezeit kam, lag er brach....
**
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Agnes Asmus ruht unter Ginster und Heide auf dem Dorffriedhof in Heidekamp. Auch nicht der Toten vermochte ich es anzutun, sie noch einmal in das Dunkel der Galgenstraße tragen zu lassen und von dort auf den neuen, baum- und reizlosen Gottesacker von Birkholz.
Von den Eltern Asmus wurde nichts in den Weg gelegt. Die Stiefmutter wich mir scheu aus. Und Lehrer Asmus hat einen Schlaganfall erlitten. — Da sehe ich nun seit einiger Zeit ein seltsam Bild. Ich hatte Blumen[S. 276] auf den Hügel meiner einstigen Schülerin gelegt und wollte durch die Heide heimwandern. Da fuhr der Heidekamper Kraftwagen vor die Friedhofspforte, und ich verbarg mich hinter der alten Kirche. Und sah, wie Lehrer Asmus, auf den Arm der jungen Sörine gestützt, langsam und kümmerlich den schmalen Steig entlang humpelte. Wie schwer der Kranke ihr am Arme hing! Wie sorglich das große, schlanke, schöne Mädchen den Hilflosen betreute! Wie gütig die trotzigen Blauaugen leuchteten! Und ihre Stimme, die der Wind zu mir trug, klang weich und mitleidig tröstend.
Und war doch der Lehrer Asmus, der sein Kind, ihre Freundin, in den Tod getrieben....
Aber er hatte nie der jungen Sörine sein Wort gegeben und es dann nicht gehalten....
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Von meiner Mutter habe ich selten, aber immer gute Nachricht. Habe sie auch im letzten Hochsommer besucht und mit ihr in der Heideschönheit meiner Heimat gesessen. Das waren Tage voll unerhörter Pracht und blendenden Glanzes für mein unverwöhntes Altchen. Und sie merkte es gar nicht, daß sie die Gebende war.
Köstlich war’s, in der Heide zu ihren Füßen zu liegen und den alten Märchen zu lauschen. Mich spann ihr Zauber so völlig ein, daß ich Essen und Trinken vergaß.
„Du groten Jung! Du büs doch ock keen büschen anners, as din Vadder selig.“
Das mußt ich oft von ihr hören.
Sie hatte es am liebsten, die alte Mutter, wenn ich längelang in der Heide lag, ganz versteckt in den dichten, roten Blüten, daß nur mein Haarschopf hervorsah, durch den sie dann und wann liebkosend mit den weichen Runzelhänden fuhr. Wenn ich aufsprang, oder nach meiner Gewohnheit hin und her lief, dann war ich ihr zu groß, zu sehr der Riese Goliath, der daheim im Stübchen ihr sämtliches winziges Gewese mit Umwerfen bedrohte. Und wenn ich ihr etwas erzählte, dann bestaunte sie mein fremdartiges Sprechen und meine Ausdrücke, ich war, ohne daß ich’s wollte, mit einem Male der „Herr“ Sohn. So schwieg ich lieber und war wieder ihr „Jung“ und lernte von ihr. Kann man der Weisheit müde werden, die aus einem einfältigen Mutterherzen quillt?
„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder......“
Nun, ich war wahrlich wie im Himmelreich bei ihr, der Trauten, der Treusten.
In der Dämmerstunde, da wurde sie immer etwas unruhig.
Gerade wo sie früher am beschaulichsten geschafft, und still auf der Ofenbank gesessen hatte, oder in der Werkstatt neben dem Vater. Jetzt merkte ich’s: sie will dir etwas sagen. Die Dämmerstunde ist dazu gut, denn ihr Schleier verdeckt die unbequemen, scharfen Augen des „groten Jung“, die Einhalt gebieten könnten. Und doch hattest du nicht den Mut, kleine, furchtsame Mutter. Das machte dich unruhig und trieb dich umher.
Ei, ich weiß wohl, was du fragen wolltest: „Erne,[S. 278] mein Jung, willst du immer einsam bleiben? Erne, mein Jung, ich möchte eine Tochter liebhaben, und weiche Kinderköpfchen in meine Großmutterhände fassen.“
Das wolltest du sagen, Mutter.
Aber dein Empfinden war so zart und fein. — Du wolltest nicht an Unausgesprochenes rühren. Lieber schwatztest du fernab liegendes Zeug bunt durcheinander, und krüseltest umher wie ein Brummkreisel, nur um nicht an eine wunde Stelle zu tasten.... Mutter, du ganz einzige Mutter. — Dann kam der Abschiedstag, da dein Jung wieder hinein sollte in Arbeit und Pflicht. — Dein Mund war herb geschlossen, als wolle er weiche Worte unterdrücken, die dich um deine Fassung brächten. Deine Hände griffen alle Sachen hart und fest an, weil sie das Zittern meistern wollten. Und je näher die Stunde der Trennung kam, desto unwirscher wurdest du. — Kenne ich dich gut, Mutterherz?
Am Nachmittag, als du das Geschirr abgewaschen und ich dir trotz deines Sträubens beim Abtrocknen geholfen hatte, um noch einmal recht in Jugenderinnerung unterzutauchen, nahmst du meine Hand. Und wir schritten selbander wie zwei Kinder in den leuchtenden Sommertag hinaus, zum letztenmal zum Heidegrab des alten „Parsifalus“, wie ich den weiland Heidekönig nannte.
So still war es um uns. In der Ferne pfiff ein Zug. Der mahnte dich wohl an die Abendstunde, die mich hinwegführen sollte. Und mit einem Male weintest du bitterlich. Muttertränen, heilige Tränen! Ich küßte sie dir vom Gesicht und schlang meinen Arm um dich. Und du[S. 279] lehntest den müden Kopf mit dem dünnen, weißen Scheitel an deines starken Sohnes Brust.
Weißt du noch, Mutter?
Ein Fink saß über uns in der Birke und sang sein Lied. Dann flog er fort, und fast greifbar ward die Heidestille. Da sagte ich leise zu dir — und du schmiegtest dich fester an mich und faßtest meine Hände — — — — „Mutter, gute Mutter, ich hab ein Mädchen lieb. Ein zwanzigjähriges Kind. Ungut paßt sie zu meinen ernsten, schweren zweiundvierzig Jahren. Und es ist eines reichen, vornehmen Grundherrn Enkelin.
Aber ich liebe dieses Kind unsäglich. Und diese Liebe ist so wundergut, daß ich sie nur in dein Herz niederlegen darf. Und so stark und ewig und groß ist sie, daß sie nur ein Mutterherz mit dem Sohne tragen kann. Und so süß und traurig und hoffnungslos ist sie, daß nur eine Mutter sie in ihrem Herzen begraben, und nur eine Mutter darüber beten und weinen kann. — Da sahst du mich an, und wolltest sprechen. Aber es kam kein Laut über deine Lippen. Nur deine treuen Augen fragten — fragten....
Da antwortete ich ihnen still: Nein, du Gute, sie denkt nicht an mich. Sie wird bald einem anderen gehören .... und du sollst mir tragen helfen, Mutter...“ —
Heute hatte ich wunderlichen Besuch, und die Vergangenheit griff wieder in mein Leben ein. Aber diesmal mit linderer Hand.
Der alte Schneidermeister Bertels war es. „Darf ich Sie beehren, Herr Direktor?“ fragte er. Und machte es[S. 280] umgekehrt wie die gebildeten Besucher, die störend zu mir kommen und mich fragen: „Darf ich Sie belästigen?“ Aber innerlich voll Hochmut meinen, daß sie mir eine Ehre antun. Schneider Bertels fühlte, daß er mich belästige, und als er von mir ging, hatte er mich hochgeehrt.
Er saß unbeholfen und verlegen vor mir. Umständlich holte er aus seiner Westentasche etwas hervor, wickelte es aus einem Stückchen Zeitungspapier heraus und legte es vor mich hin. „Das haben wir ‚damals‘ gefunden“, sagte er scheu. „Ich mochte es Ihnen nicht bringen, Herr Direktor, weil ich damals dachte, es müßte Sie beleidigen. Aber“, — und nun hob sich seine Stimme und er sah mich freimütig an, „nun glaube ich das nicht mehr. Mit dem Geschäftlichen hängt das gar nicht zusammen, Herr Direktor, denn Sie haben mir ja nie Ihre werte Kundschaft entzogen, obgleich Sie wußten, daß ich mich erdreistet hatte, über Sie den Kopf zu schütteln. Da habe ich mich ganz von alleine drüber geschämt. Und ich habe zu meiner Frau gesagt: ‚ich glaub’s nicht. Sieh doch den Mann an, wie er lebt und was er Gutes tut. Und recht wie ein Vater ist er zu den Kindern. Und früh um vier Uhr sieht man ihn sommertags in der Heide, und wintertags, da löscht das Arbeitslicht bei ihm kaum aus. So eine Arbeitsbiene hat keine Zeit zu Dummheiten. Red mir nicht dagegen, Alte, habe ich gesagt, sonst werd ich fünsch. Eine Dummheit wird der Herr Direktor gemacht haben, denn die machen die meisten jungen Lehrer, — er wird zu früh geheiratet haben. Und paß auf, Alte, die Fräulein Lisette ist seine Frau. Was da sonst drum und[S. 281] dran hängt, geht uns nichts an.‘ Meine Alte wollte noch ein paar Gegenreden machen, da sagt ich ihr aber: ‚Denk dran, wie oft ich dich hab wegschicken wollen....‘ Und da war sie still. Und jetzt denkt sie wie ich. Denn sie ist keine böse Sieben, nur halt ein Frauenzimmer.“ —
Er sah mich beschämt und treuherzig an. „Wenn mir Herr Direktor ein einziges Mal die Hand geben möchten“, bat er zögernd, und da drückte ich seine Rechte ganz herzhaft.
„Da Sie ganz allein aus sich heraus auf die Wahrheit gekommen sind, Meister, so will ich sie Ihnen auch bestätigen. Lisette Balian war meine Frau.“
„Das ist gut, das ist gut“, rief er fröhlich, „und, Herr Direktor, sie hat in meinem Hause nichts getan, dessen Sie sich zu schämen hätten.“
„Ich weiß es, Meister Bertels. Und meine Mutter sagte mir, Frau Lisette habe freundlich an die Meister Bertelsschen Eheleute gedacht, — ehe sie starb.“ —
„Tot?“ fragte der Alte? „Ich hab mir auch das gedacht. Denn sie hustete ja zum Gotterbarmen. Aber immer lustig war sie, wir wurden ganz jung, solang sie bei uns war. Der Herrgott wird wissen, warum er sie rauf holte. Vielleicht, damit es nicht gar so ernst und heilig im Himmel zugehe. Guten Morgen, Herr Direktor, und verzeihen Sie, daß ich Sie solange beehrt habe. —“
Lange saß ich noch in tiefem Sinnen vor der kleinen, altmodischen, goldenen Brosche, die Meister Bertels mir gebracht. Sie hatte meiner Großmutter Gesine gehört, und[S. 282] ich schenkte sie Lisette an unserm Hochzeitstage. — Dachte auch an die Kleinstadt und ihre Besonderheiten. Und daß man sich in ihr mühselig die Achtung jedes einzelnen Bürgers erkämpfen müsse. Und daß ich dafür heute schon, zu meinen Lebzeiten einen guten Nachruf gehört habe. Das gab mir Freude.
Dann nahm ich das kleine Schmuckstück und habe es in der Heide begraben.
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Heute las ich im „Birkholzer Stadt- und Landboten“, daß der junge Herr von Heidekamp aus dem Ausland, wo er bei einer Botschaft beschäftigt war, zurückgekehrt sei, um seine Güter zu übernehmen.
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Manchmal begegne ich dem großen, schönen Mädchen. Birkholz ist ja so eng. Sie grüßt mich immer zuerst. Ganz ernsthaft und laut „guten Tag, Herr Direktor“, als sei sie noch meine Schülerin. Aber gesprochen haben wir nie miteinander.
Sie soll gefeiert in den Gesellschaften sein, die der Landadel gibt, aber sie gilt als verschlossen und hochmütig. Das wäre schade. —
Als ich sie zum ersten Male seit dem Tode der jungen Agnes Asmus wiedersah, da meinte ich an der Bitternis zu ersticken. —
Sie war vom Lyzeum abgemeldet worden, und Fräulein Doktor unterrichtete sie in Heidekamp weiter.
Da sah ich sie auf der Straße.
Wie ein Schuljunge kam ich mir vor. Tölpelhaft und kleinlich. Aber der Hut wollte nicht herunter von meinem Kopfe.
Da hörte ich ihren lauten trotzigen Gruß und sah in ein weißes, erschrockenes Gesicht, in dem ein paar zornig-traurige Augen standen.
Seitdem ist dies seltsame Grüßen zwischen uns. Ich muß den Hut vor ihr ziehen, um sie nicht vor denen bloßzustellen, die ihren hellen Gruß hören.
Sie ist der gute Engel von Heidekamp und Birkholz. Von allen, die da in Gebresten und Trauer, in Not, Elend und Krankheit leben. Der gute Engel von Mensch und Tier, nur nicht der meine....
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Und daß diese kleine Kinderhand mir die Tür gewiesen hat.....!
Rufe mich immer zuerst an, Sörine Heidekamp, sonst gehe ich an dir vorüber.
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Gestern sprachen sie beim Landrat davon, daß gleich nach der Heimkehr des jungen Majoratserben wohl die Hochzeit sein soll. Ich will dann meine große Studienreise antreten. Man hat mir den Urlaub gewährt.... Wenn ich zurück bin, beginne ich mein Buch, die Geschichte von Birkholz. Und die Mutter will zu mir ziehen auf ihre alten Tage. Ganz von selbst hat sie mich darum gebeten.
Du feine, gute, weitsichtige Mutter.... Wir wollen dann beide ein ganz neues Leben anfangen. Mit Gott, Erne Sörensen!
Aber das hat noch lange Wege. —
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Ein unerträglich heißer Sommer lastete auf Birkholz und seiner Umgebung. Durch sieben Wochen hindurch brannte die Sonne mit ungebrochener Kraft, und Mensch und Tier lechzte nach Erquickung.
Erne Sörensen fand sie allein noch in seinem Spaziergang, der mit großer Regelmäßigkeit in der Herrgottsfrühe um 4 Uhr angetreten wurde. Um sechs Uhr begann schon die lähmende Hitze, und um neun Uhr wurde gewöhnlich die Schule wieder geschlossen. Das war dem Jungvolk beinahe nicht recht. Denn die hohen, neuen Lyzeumsräume waren kühler, als die engen Wohnstuben daheim. Auch war mannigfache Ablenkung vorhanden, die alle Geister rege hielt. Zu Hause durfte man sich kaum rühren, so nervös und übermüdet waren die Eltern von der lastenden Hitze. In der Schule nahmen die Lehrer jede Rücksicht, und nur Fräulein Nissen fand es „albern und anmaßend“, daß an jedem Morgen an der Wandtafel der Spruch prangte:
„Wenn es geregnet hat“, beschied sie die Bittenden.
Und das war doch nicht recht. Wenn es geregnet[S. 285] hatte, dann mußte man sich so arg mit Schuhen und Kleidern in acht nehmen. Dann hing der Heidesand sich an die weißen Röckchen, und man durfte und konnte sich nicht in die glitzernden, nassen Büsche hineinschmiegen. Konnte sich nicht „hinhauen“, wie man es so gern tat, in heißen Heidesand. Nein, gerade so wie jetzt mußte die Sonne brennen, und früh um sechs Uhr mußte man aufbrechen, wie es der „Direx“ tat, damit man den Tag so recht ergiebig ausnutzte. Und abends mußte man wie die Mohren braun gebrannt heimkommen.
In Kinderköpfen und -herzen malt sich die Seligkeit anders als in denen der Großen. Und so zog man von dem mürrischen Fräulein Nissen fort und belagerte das Zimmer des „Direx“ unter Kichern und Seufzen und leisen Beratungen. Bis die Nemesis in Gestalt des Singlehrers Visser kam, der die Aufsicht hatte, aber zu müde war, um sie mit Schelten auszuüben. Er war überhaupt immer müde, ganz anders, als der „herrliche“ Hansohm, der so gern fröhlich mit den Fröhlichen gewesen war. Herr Visser war nur „korrekt“. Und er riet ihnen ganz sachlich, sie sollten eine Abordnung zum Herrn Direktor schicken. Das geschah dann auch, und Erne Sörensen hatte die Freude, neun Sprecher zu empfangen, von jeder Klasse einen. Und während die prima omnium Grete Vahl in wohlgesetzten Worten den in des Worts verwegenster Bedeutung „heißen“ Wunsch der ersten Klasse vortrug, am Sedantage einen „Riesenspaziergang“ zu unternehmen, klappte die kleine lebendige Lise Bransen aus der Neunten nur immer ihre Händchen zusammen, tat unentwegt[S. 286] einen kleinen Luftsprung und rief: „Ach ja bitte! Ach ja bitte!“
Da konnte Erne Sörensen nicht widerstehen, und er hob die kleine Lise hoch in die Luft, was sie nie in ihrem Leben vergaß. —
Und er sagte „ja“.
Da brach gleich drauf im ganzen Lyzeum ein solcher Jubel los, daß Fräulein Nissen von einem „Sonnenstich“ sprach. —
Aber trotzdem wollte sie die Festrede im „Waldhaus“ übernehmen.
So brauchte sie sich nicht an den vielen Vorbereitungen für das Schulfest zu beteiligen, sondern konnte sich zurückziehen und nachdenken, was bei der Hitze entschieden das bessere Teil war.
Das „Waldhaus“ lag einsam mitten in der Heide und lehnte sich an einen Tannenwald, der sich meilenweit ins Land zog. So war es recht geeignet, eine große Schule aufzunehmen, und die Eltern versprachen, vorher verschiedene Erfrischungen hinauszuschaffen. Denn es war kein eigentliches Wirtshaus, sondern eine riesengroße, strohgedeckte Kate, die von einem freundlichen Waldwärter und seiner gutmütigen Frau bewohnt und sehr sauber gehalten wurde.
Als Sörensen und sein Kollegium mit der jungen Schaar um sechs Uhr früh in die Weite zog, die Kinder festlich geschmückt mit weißen Kleidern und schwarzweiß-roten Schärpen und Fahnen, begegnete ihnen der Heidekamper Wagen.
Der alte Freiherr zog den Hut und schwenkte ihn freundlich, und die Kinder lachten ihn lustig an, winkten und grüßten mit Fahnen und weißen Tüchern, und machten fast die stattlichen Pferde scheu.
In all dem fröhlichen Tumult grüßten sich ernst zwei Augenpaare. Und es schien Sörensen, als ob die junge, vornehme Dame wohl ganz gern ausgestiegen wäre, um wieder mit der lieben Schule wie einst durch die rote, blühende Heide zu wandern. Aber er verwarf gleich diese törichte Annahme. — Auf dem Kutschbock stand ein größerer Koffer, und auf dem Rücksitz thronten ein paar elegante Handtaschen. — Man fuhr dem Bräutigam entgegen. Und von der Vorahnung kommenden Glückes war das junge, trotzige Gesicht, das er eigentlich nur mit einer Falte zwischen den Brauen kannte, erhellt gewesen...
Der Wagen fuhr vorbei, dem Bahnhof zu.
Und Direktor Sörensen ging zu den Kleinen der untersten Klasse, die ihn jubelnd umringten. Er nahm Lisel Bansen bei der Hand und setzte sich an die Spitze des Zuges. Wie lustig das war!
Ganz, ganz fest drückte der Herr Direktor das kleine Händchen der Lise. Beinahe mußte sie ein wenig weinen, so weh tat es.....
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Im dichten Tannenwald hinter der Waldkate war es drückend heiß. Man stürzte sich auf die Erfrischungen, die von dem umsichtigen Waldhüter sorgfältig in dem tiefen, kühlen Keller verstaut worden waren. Und nachdem man in Wald und Heide gründlich durchgeschmort war,[S. 288] nahm man die Aufforderung, nun zur Feier und Festrede in die kühle Diele der Kate einzutreten, mit Genugtuung auf.
Die vier jüngsten Klassen blieben unter Aufsicht von Fräulein Henny Freytag, sowie des Lehrers Visser und der Turnlehrerin draußen zurück. Und das ewig neue und geistreiche Spiel: ich sehe was, was du nicht siehst, was hat’s denn für ’ne Farbe? verfehlte nicht seine Anziehungskraft auszuüben. Der unendlich bequeme Visser hatte es vorgeschlagen. —
Die Diele sah sehr festlich aus durch die Lampions, die angezündet den sonst halbdunklen Raum in einen magischen Festsaal verwandelten. Freilich saß und stand man in drangvoll fürchterlicher Enge, und immer mehr Kinder und Eltern drängten herein.
„Vielleicht war diese Dielenfrage doch eine verfehlte Idee“, raunte Sörensen seinem neuen Kollegen Oberlehrer Jensen zu, „ich fürchte, die Luft wird uns hier knapp.“
Und als endlich Ruhe eingetreten war, aber auch niemand mehr ein Glied rühren konnte vor Fülle der angestauten Menschheit, rief er mit seiner vollen Stimme in den Raum: „Wir haben zu Ehren unseres Sedantages hier festlich illuminiert und den schönen Anblick ausgiebig genossen. Nun lassen Sie jeden von uns, der neben einem Laternchen steht, dieses vorsichtig löschen und uns mit Mutter Sonne begnügen, die immer noch die herrlichste Leuchtkraft der Welt bedeutet.“
Ein allgemeines „Oh“ des Bedauerns löste diese Auf[S. 289]forderung aus, man zögerte und rief dagegen, aber Sörensen machte rasch und sicher mit zwei Lichtern in seiner Nähe den Anfang, und so mußten die andern nachfolgen. Zugleich stieß er mit starken Armen eine Luke auf, die man vorher nicht entdeckt, und goldenes Sonnenlicht erfüllte nun einen Teil des Raumes.
„Wie genial!“ sagte noch Oberlehrer Jensen lachend zu Sörensen, „Herr Sörensen, Sie hätten Branddirektor werden sollen.....“
Nur ein kleines, eigenwilliges Mädchen wollte ihre Laterne nicht hergeben und rang buchstäblich mit ihrer unvernünftigen Mutter, die das noch nicht schulpflichtige Kind verbotener Weise mit auf die Diele geschmuggelt hatte. Wie es dann kam, es konnte niemand recht beschreiben. Aber alle wollten beschwören, daß sie sämtliche Lampions gelöscht hätten....
Und doch, nachdem Fräulein Nissen eben ihre Festrede begonnen, dies gellende Geschrei: „Feuer! Feuer!“
Niemand vergaß es je, der es gehört.
„Feuer! Feuer!“
Ein größeres Kind, das neben der kleinen Unbotmäßigen stand, brannte lichterloh. Die anderen schrien jammervoll. Sörensen zog seinen Rock aus, hatte das Kind mit festem Griff an sich gerissen und wickelte es fest ein. Dann schwang er sich mit seiner Last durch das niedere Lukenfenster, unter dem ein Brunnen stand. Oberlehrer Jensen sprang ihm nach und half, die Flammen zu ersticken. —
Gottlob, das Kind war mit wenigen leichten Brand[S. 290]wunden davongekommen. Still blieb es auf Weisung des Direktors in seinem Rock am Brunnen sitzen und kühlte die wehen Hände.
Sörensen schwang sich mit völlig versengtem Bart durch das Fenster zurück. Dichter Qualm schlug ihm entgegen, Heu und Stroh auf dem Oberboden brannten, und durch die offenen Luken fiel es in leuchtenden, verzehrenden Garben auf die schreienden Kinder nieder.
Draußen arbeitete der Waldwärter und Oberlehrer Jensen mit Axt und Säge, und die Tür flog auf, und die Fensterrahmen stürzten ein.
Ruhe! Ruhe! Unermüdlich schrie es Sörensen durch Rauch und Qualm, und als der große Strom sich längst hinausergossen, stürzte er sich innen wieder in die brennende Diele zurück, um die ohnmächtig gewordenen Kinder auf seinem Arm hinauszutragen.
Sein erschütternder Frageruf: Ist noch jemand hier? Ist noch jemand hier? gellte durch Mark und Bein. Mit beiden Händen tastete er am Boden und dann in den Ecken, umher, er taumelte vor Schmerz und Atemnot.
Fieberhaft arbeiteten draußen die Lehrer und Lehrerinnen, um allen Hilfe zu bringen. Sie ordneten und zählten.
„Es fehlt niemand, niemand, niemand!“ schrien sie in die qualmende Diele.
Da sprang Sörensen vom Boden auf und sog an seinen blutenden und verbrannten Fingern.
Und tappte an den Wänden hin, den Stimmen nach, die ihn riefen.
Entsetzt sahen sie ihn an, als er aus der Tür taumelte mit völlig geschwärztem Gesicht, versengtem Haar und Bart und roten entzündeten Augen. Seine furchtbar zugerichteten Hände wickelte man in nasse Tücher.
Dann schlug er hin wie ein gefällter Baum. —
Prasselnd brannte die Waldkate nieder.
Weithin leuchtete der rote Feuerschein.
Und sie kamen aus den Heidedörfern gefahren und gelaufen und konnten nichts weiter helfen, als die verstörten Kinder auf Leiterwagen zur Stadt zurückzufahren. Sie waren alle gerettet und fast unversehrt.
Sörensen lag auf weichem Waldboden. Vier Menschen kauerten neben ihm. Der ehemalige Schulwart Harks war mit dem Heidekampschen Auto zur Brandstelle gejagt, und nun ratterte dieses nach Birkholz, um den neuen Krankenwagen des Branddirektors Kofahl zu holen. Der Kopf von Erne Sörensen ruhte im Schoß des alten, treuen Dieners, dessen Tränen unaufhaltsam rannen. Die kleine, zuerst gerettete Schülerin, die noch immer in Sörensens Rock steckte, hockte neben ihm und wollte ihren Retter nicht verlassen. Und die Mutter des kleinen Mädchens, ganz Mitleid, Dank und grenzenlose Freude, hatte die Hände gefaltet und schickte aus Mutterherzens tiefem Grunde ihre Gebete aus.
Oberlehrer Jensen sah auf seinen Direktor nieder und dachte, daß sein höchster Lebenswunsch erfüllt sei, wenn dieser versehrte, sieche Mann genesen könnte, und sein Freund würde.
Nach qualvoller Wartezeit fuhr der Krankenwagen[S. 292] vor. Vorsichtig bettete man Erne Sörensen hinein. Und langsam fuhr der Wagen den Wunden durch die dämmernde Heide. —
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Mein alter Foliant, grüß dich Gott!
Und Gott sei’s gedankt, daß ich dich wiedersehe!
Zwar mit dem Wiedersehen, da hat es so seinen Vorbehalt und Haken. Noch trage ich den grünen Schirm und die schwarze Brille und das Zimmer ist leicht verdunkelt, aber gegen die schwarze Nacht voll Bangnis der letzten zehn Wochen ist dieser Zustand lichte Helle. — Und es schadet nichts, mein Alter, wenn Krakelfüße auf deinen gelben Blättern stehen. Denn meine Schrift kann ich noch nicht erkennen.
Von dem Feuer draußen im Waldhause will ich dir nicht erzählen......
Einst nahm mir Gott zwei holde Kinder.
Die Stimme dieser beiden Lieblinge gellten mir in den Ohren, als hundert Kinder um Hilfe schrien.
Und hundertfach wär mir mein eigen Fleisch und Blut noch einmal gestorben, wenn Gott nicht gnädig war. —
Aber Er war’s. Und selbst für die furchtbaren Schmerzen, die Er mir auferlegte, weiß ich Ihm Dank. —
Jetzt ist mir Birkholz wahrhaft ins Herz eingebrannt.
In meinen Fieberträumen rang ich mit jedem Bewohner von Birkholz.
Jeder machte mich verantwortlich für sein Kind, und zeigte mir ein armes, verbranntes, entstelltes Gesichtchen, das man draußen auf roter Heide gebettet hatte.
Und ich fühlte, daß keine Strafe groß genug sei für den Lehrer und Schulleiter Sörensen, und daß Siechtum und Blindheit kaum eine Sühne bedeuteten.
Und währenddem brachte mir Birkholz Blumen.
Die Väter der Kinder sind an mein Bett draußen im Krankenhause getreten und haben meine wunden Hände gestreichelt. Namen und unbehilfliche Worte hörte ich, denn ich konnte niemand sehen unter der schwarzen Binde, die meine versehrten Augen barg.
Mütter hörte ich schluchzen, — sie weinten wohl über mich. Aber ich lachte, und wandelte alles in Freudentränen über die geretteten Kinder. —
Gestern haben mich die Ärzte entlassen.
Fräulein Tingleff holte mich selbst in ihrer Urväterkalesche ab. Ihre Bewegung verbarg sie unter lauter groben Worten: „Schöner sind Sie wahrhaftig nicht geworden, lieber Freund, mit Ihrem geschorenen Haupt und den tausend Narben, mit dem glattrasierten Gesicht und der schwarzen Brille. Wo ist mein Stolz, Ihr schöner Vollbart?“
Und dabei stieß sie der Bock, und sie schluckte und stöhnte, denn sie hatte seit fünfzig Jahren das Weinen verlernt.
Einen Trost habe ich, man muß mich doch für recht gesund halten, denn all die Überraschungen hätten mir eigentlich den Garaus machen müssen. —
Hier im Hause empfing mich wieder Frau Dietz.
Sie brachte mir warme Grüße vom alten Heidekamper, der hart von Ischias geplagt und an seinen Sessel gebunden ist. Trotzdem schickte er „die Dietzen“, weil ich pflegebedürftiger sei als er, und er „genügend Jungvolk um sich habe“.....
Es ist wunderlich, wenn man nicht sehen kann und die, so einem gegenüberstehen, sprechen nicht, sondern weinen. —
Vier Hände legten sich in die meinen.
Sie gehörten Klaus Hansohm und Dora Stavenhagen. Halb erstickt schlugen die Namen an mein Ohr.
„Seid ihr’s, Kinder?“ fragte ich scherzend, und gab ihnen in meiner großen Herzensfreude das brüderliche du. Das wollen wir nun auch beibehalten. Und immer noch sprachen sie nicht. Wie erschreckend mag ich aussehen! „Ja, ihr beiden,“ sagte ich, „das ist aus mir geworden. Ihr hättet mich nicht so lange allein und ohne Aufsicht lassen müssen.“
Dann haben wir lange beieinander gesessen.
Klaus Hansohm ist nun schon wieder fort zu seiner Kunst. Ein einziges Schubertlied sang er uns, weil ich so sehr bat: „Was vermeid ich denn die Wege, wo die andern Wandrer gehn....?“
Edel und herrlich hat sich seine Stimme entwickelt.
Fräulein Doktor ist ganz „Studium“. Sie kam mir wunderlich abstrakt vor. Dem alten Fräulein Tingleff ging es ebenso. Aber während ich darüber schwieg, äußerte sie sich drastisch: „Du liebe Zeit, Doktorsche, ich hatte[S. 295] gehofft, Sie würden einen abkriegen auf Ihren vielen Reisen, und ich könnt nochmal Gevatter stehn.“
Aber Dora Stavenhagen lachte herb als Antwort...
Schade. —
Aber daß sie beide zu mir kamen, — der Klaus und die Kollegin aus bitterschwerer Zeit, — das vergesse ich ihnen nicht. —
Und nun, mein alter Foliant, muß ich dir wohl erst einmal für lange Lebewohl sagen.....
Noch beruhigen mich deine Blätter nicht, dazu bin ich doch wohl noch zu jung.
Zu viel Heideduft steigt auf aus deinen Seiten, zu viel Erinnerung.... Dann komme ich ins Träumen. Und die Jahre fallen von mir ab und ich bin mit einemmal ein junger Bursche. Und halte mein feines Mägdlein im starken Arm und zwinge es mit meinen heißen Küssen. Bis der trotzige Mund mir demütig Abbitte tut. —
Nein, — nichts soll mich weich machen. —
Gesund will ich werden, damit ich die zwei Leben weiterleben kann, das eine, des von lebendig-frischer Jugend umringten Schulleiters, und das des einsamen Mannes Erne Sörensen. — —
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Ganz still war es im Studierzimmer.
Die Dämmerung war hereingebrochen, sorglich hatte Frau Dietz die Vorhänge zugezogen und die grüne Studierlampe angezündet.
Denn der Genesende sollte immer Licht um sich haben,[S. 296] hatte der Leiter der Augenklinik ihr eingeschärft. Freilich nur gedämpftes, aber doch Licht.
Und lachen dürfe er vorläufig nicht arg laut, und weinen erst recht nicht, und schwere Aufregungen müßten ihm ferngehalten werden....
„Herr Geheimrat“, hatte die Frau Dietz geantwortet, „es wird Punkto alles so gemacht. Zu lachen gibt es nichts in Birkholz, und erst recht nicht für meinen Herrn. Und geweint hat der Herr Goliath wohl in seinem ganzen Leben noch nicht, und die Aufregungen schluckt er unter und denn sind sie weg. Auf die Schultern von meinem Herrn Sörensen kann man die ganze Welt packen, das ist ein wahrer Christophorus.“
Das war eine lange Rede gewesen und die Herrn Doktors hatten alle geschmunzelt....
Aber für außergewöhnliche Fälle, die gar nicht mit Lachen oder Weinen oder Aufregung zusammenhingen, hatte der Herr Geheimrat ihr keine Verhaltungsmaßregeln gegeben, und so war sie ganz und gar unschlüssig, ob sie die alte, weißhaarige Frau mit dem schwarzen Umschlagetuch und der wunderlichen Haube einlassen sollte.
Aber das schlanke, junge Mädchen, das daneben stand, schob das Mütterchen einfach durch die Tür und schaute Frau Dietz sehr energisch an. Du lieber Gott, die trotzigen Blauaugen kannte ganz Birkholz.....
Draußen auf der Diele mußte sich das Mütterchen in einen Sessel setzen, und die junge Dame klopfte ganz sacht an das Studierzimmer und ging gleich hinein.
Frau Dietz wusch ihre Hände in Unschuld....
„Wer ist da?“ fragte Erne Sörensens ruhige Stimme.
„Ich bin es!“
Er bog sich weit vor, und seine Hand griff nach dem grünen Schirm, der noch über der dunklen Brille befestigt war. Aber er ließ sie wieder sinken. —
In peinlicher Unbeholfenheit fragte er rauh: „Ich muß bitten, es mir zu sagen — — wer ist da?“
„Ich bin’s, — Sörine Heidekamp.“
Er warf die Decke fort, die über seinen Knien lag, und sprang auf.
„Was soll das“, sagte er hart.
Seine Hand tastete nach einem Halt.
Sörine nahm sie mit festem Druck: „Ich bitte Sie von ganzem Herzen, Herr Direktor, setzen Sie sich still hin, — meine Verantwortung ist ja so groß. Ganz eigenmächtig bin ich hereingegangen.....“
Er gehorchte ihr aus dem einfachen Grunde, weil die Füße ihn nicht mehr trugen. Und sie zog für sich einen niederen Schemel heran und setzte sich an seine Seite. —
„Wenn ich doch noch einmal so ganz ruhig zu Ihnen sprechen könnte, wie als Kind“, bat Sörine... „würden Sie mich wohl anhören?“
„Sie durften nicht herkommen“, stieß er heraus.
„Doch, das mußte ich sicher. Denn ich hatte ja — — in meinem heißen, kindischen Zorn vor vier Jahren....“
„Mir die Tür gewiesen. Erinnern Sie mich nicht daran...“
„Doch, deshalb komme ich ja. Wie soll ich’s denn[S. 298] sonst gut machen? Es waren so einsame vier Jahre für mich....“
Sörensen trank die weiche Stimme in sich hinein, aber er wappnete sich.
„Sie durften nicht herkommen, Sörine von Heidekamp. Sie sind noch derselbe unberechenbare Kindskopf von ehedem.“
„O ich wußte, daß Sie schelten würden“, sagte sie traurig. „Vier Jahre lang habe ich diese Schelte gefürchtet .... Aber heute dürfen Sie nicht schelten, ich habe ja die Mutter mitgebracht, da darf doch Birkholz nichts sagen.....“
„Die Mutter? — Welche Mutter?“
„Die Mutter Gesine aus Einingen, — ich hab sie geholt ....“
„Sörine,“ rief er gequält, „warum tun Sie das alles???“
„Weil — weil....“ Sie beugte sich nieder und legte ihren Kopf auf seine verbundene rechte Hand. Weh schluchzte sie auf.
„Weil Sie Mitleid mit dem Totwunden hatten, — nicht wahr, Sörine? Sie waren immer so ein impulsives kleines Geschöpf.... Aber ich möchte kein Mitleid von Ihnen annehmen. —“
„Ach nein“, sagte sie kindlich. „Mitleid habe ich gar nicht mit Ihnen. Dazu sind Sie ja viel zu groß. Eher ein bißchen Angst....“
Da lächelte er schattenhaft.
Und dies Lächeln gab ihr Mut: „Wiegt denn kindisches[S. 299] Vergehn so schwer?“ fragte sie dringend. „Haben Sie denn nie und nie etwas Unüberlegtes getan, als Sie jung waren....?“
Er atmete schwer. Aber er sprach kein Sterbenswort. Nur seine Gedanken jagten sich und raunten: „Sprich weiter, kleine Deern. Ich habe dir in dem Augenblick schon verziehen, als du so töricht und unüberlegt vor mir standest. Was für ein seelengutes Herz du hast, Sörine, meine junge Schülerin von einst. Sprich weiter, aber laß mich schweigend neben dir sitzen. Denn sonst begehe ich die größte Torheit meines Lebens und nehme dich in meine Arme und drücke dich tot.“
Aber sein strenges Gesicht verriet mit keinem Zug die Qual seines Herzens.
„Wie hart und unversöhnlich Sie sind“, stieß Sörine hervor. „Und ich weiß, Sie finden es entsetzlich, daß ich hier bin. Aber ich war so einsam. — Ich habe ja nie eine Mutter gehabt. Deshalb holte ich mir die Mutter aus Einingen. Die sollte mir den rechten Weg zeigen.... Beinahe gestorben bin ich vor Heimweh nach Ihnen. Und Sie müssen mir verzeihen, — müssen — müssen — ich gehe nicht fort....“
Er fuhr sie ungestüm an: „Sörine, Sie dürfen so etwas nicht sagen... Herrgott, wie quälen Sie mich....“
Da sprang sie auf. „Ich will die Mutter holen“, sagte sie tonlos. „Die Mutter ist dran Schuld, — die liebe Mutter....“ Ihre Worte überstürzten sich: „Ich hatte es der Mutter gesagt, — — daß — ich so einsam geworden bin, — und daß ich Sie am liebsten habe von allen[S. 300] Menschen auf Gottes weiter Welt, und daß ich so gern bei Ihnen bleiben möchte..... Und da hat mir die Mutter so viel Liebes erzählt“.....
Sie schlug die Hände vor das Gesicht in bitterer Scham: „Und nun ist alles nicht wahr....“
Da riß er sie an sich. „Sörine!“ stammelte er, — „Kind, Kind, geliebtes süßes Kind. Weißt du denn, was du sprichst? Ich darf dich ja nicht nehmen. Du bist so jung — — sieh doch mein graues Haar. Und sieh doch wie häßlich ich bin, — voll Narben — halbblind.....“
Aber er hielt sie fest. Und sie schmiegte sich an ihn, und ihr feines Köpfchen lag an seiner breiten Schulter. „Meine Heimat“, sagte Sörine, „meine liebe Heimat!“
Er zwang die Sehnsucht, sie zu küssen. „Und Herr von Heidekamp?“ fragte er, „was wird Großvaterli sagen? O Kind, wie viel Unausgesprochenes liegt zwischen uns! Durch welche Tiefen bin ich gegangen! Wird mein kleines Mädchen mich da verstehen? Und du??? Ich wähnte dich als Eigentum von deinem Vetter.... Müssen wir unser Glück auf dem Leid eines anderen aufbauen?“
Sörine sah ihn ernst an.
„Dies Leid liegt schon drei Jahre zurück, — wenn es wirklich eins war. Ich habe Kurt wie einen guten Bruder lieb gehabt.... Und Großvaterli hat mir längst verziehen, daß ich seinen Wunsch nicht erfüllen konnte. Er ist ja so himmlisch gut. Er weiß auch.... daß ich hier bin. Ich tue nichts mehr hinter seinem Rücken. Er will einzig nur mein Glück. So wenig glückliche Heidekamperinnen hat es gegeben“.....
„Du süße Deern, mein Kleinod, vergib, wenn ich dich quäle. Aber du bist in allem andern mir so fern. Du bist reich, — verwöhnt, — ich hab dir nichts zu bieten als meine Liebe. Und ich würde auch der Herrin von Heidekamp gegenüber der Herr sein wollen. Hat das wohl auch dein Großvaterli bedacht?“
Sörinens Stimme bebte. „Ja, Sie quälen mich sehr. Großvaterli war gütiger. Ich kam in meiner Herzensnot zu ihm und fragte um alles. Da sagte er: Wenn du diesen Sörensen mehr liebst, als dich selbst, dann sollst du handeln wie eine echte, aufrechte Heidekamperin. Die haben alle zu ihren Gatten gesprochen: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehn — dein Gott ist mein Gott.“ So hat das Großvaterli gesagt.“
Da stieß Sörensen einen urwüchsigen, gewaltigen Juhuuschrei aus. Als sei er nicht der gestrenge und nebenbei arg verwundete Lyzeumsdirektor, sondern ein junger übermütiger Bursch, der in der roten Heide liegt, die seine Heimat ist. —
Und Erne Sörensen küßte inbrünstig sein feines, schönes Mädchen.
— — — — — — — — — — — — —
„Ich glaube, mein Sohn Erne ist gesund geworden“, sagte draußen auf der Wohndiele Mutter Gesine zu Frau Dietz. „Aber mich haben sie, scheint’s, vergessen...“
Und sie klinkte leise die Tür auf, hinter der das Glück wohnte. —
Ein Weniges erschrocken war sie über ihres Erne verändertes Aussehen, denn man hatte ihr das Ärgste[S. 302] verschwiegen von dem furchtbaren Brande da draußen. Aber er tröstete und beruhigte das kleine, weinende Mutterchen. „In acht Tagen darf ich die Brille abnehmen, — denk, Mutter, dann bin ich gesund....“
„Und dann können Sie mich auch sehen“, sagte Sörine ernsthaft.
Er lachte sein altes, schönes, sonores Lachen. „Sörine, du hast mich einst feierlichst gebeten, dich ‚Sie‘ zu nennen, aber nun muß ich dich ebenso feierlich bitten, ‚Du‘ zu sagen, kleine, närrische Deern.“
Da küßte sie seine Hand, die er ihr erschrocken entzog. „Ich will alles tun, was du willst, Erne Sörensen.“ Und hinterher kam ihr frohes Kinderlachen, um das er sie einst beneidet. Das sollte nun sein einsames Haus durchwärmen und durchleuchten, es war schier nicht auszudenken. „Ich habe ja ein halbes Jahr Schule nachzuholen“, rief sie glücklich. „Das sagte ich auch dem Großvaterli, als er mich in einer frohen Stunde neckte, und immer rief: Sörine! Ausgerechnet ein Schulmeister! Dann meinte er: So muß ich wohl schon wegen Schulgeldersparnis zufrieden sein. — Ach Erne, wenn Ihr erst ganz zusammen seid, Großvaterli und du! Er sagte, du wärst ein Dickkopf, und würdest mich gar nicht wollen....“
So plauderte der junge Mund und Sörensen dachte, daß diese Stunden alles auslöschten, was er Herbes durchlebt.
Und die Mutter sah auf die junge, feine Tochter und nahm ihre Hand und streichelte sie scheu. Gottes Segen[S. 303] über dich, kleines Mädchen, du willst meinen Sohn gesund machen an Leib und Seel. —
*
**
Mutter Gesine und Sörine fuhren nach Heidekamp.
Nur für eine Nacht. Morgen wollte die Mutter die Pflege des Sohnes übernehmen.
Sörine hielt fest einen großen Brief auf ihrem Schoß.
Der barg in kurzen, markigen Zügen das Bild von Erne Sörensens harter Vergangenheit. Und er enthielt die ehrerbietige Bitte des gereiften Mannes an den alten Herrn von Heidekamp, ihm sein Kleinod Sörine zum Weib zu geben, das er, Erne Sörensen, hüten und hegen wolle, so wahr ihm Gott helfe. —
Und oben im alten Patrizierhause saß Sörensen am Fenster, und wenn er auch die Sonne nicht sah, die in wonnevoller Schönheit hinter den Föhren unterging, so leuchteten dafür drei Glückssonnen in seinem ehrlichen Herzen: Sohnesliebe, Mannesliebe und Heimatliebe.
Und er streckte seine in heißem Dank gefalteten Hände der braunen Heide draußen entgegen.
Ende.
Romane von
Felicitas Rose
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Romane von
Felicitas Rose
Jeder Band in Ganzleinen gebunden 6.50 M.,
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Arndt, 4 Bde.
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