The Project Gutenberg EBook of Kultur-Kuriosa, Zweiter Band, by Max Kemmerich This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Kultur-Kuriosa, Zweiter Band Author: Max Kemmerich Release Date: November 18, 2020 [EBook #63801] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KULTUR-KURIOSA, ZWEITER BAND *** Produced by Peter Becker, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)
Anmerkungen zur Transkription
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Zweiter Band
von
Dr. Max Kemmerich
Erstes bis viertes Tausend
Albert Langen, München
Von Dr. Max Kemmerich erschienen bei Albert Langen:
Kultur-Kuriosa Erster Band 7. Tausend
Dinge, die man nicht sagt 5. Tausend
Copyright 1910 by Albert Langen, Munich
Der Erfolg des ersten Bandes der Kultur-Kuriosa hat mich veranlaßt, diesen zweiten, der nach den gleichen Gesichtspunkten geschrieben wurde und nach mancher Richtung hin Ergänzungen enthält, folgen zu lassen. Für die Berichtigung eventueller Irrtümer bin ich dankbar.
Leute, denen ein sittlicher Klerus, ein vorurteilsfreier Gelehrter oder ein gerechter Richter kurios erscheinen, werden sich hoffentlich über dieses Buch geradeso alterieren, wie über seinen Vorgänger. Ich schreibe aber ausschließlich für Gebildete und kann daher auf sie leider keine Rücksicht nehmen.
München, den 5. August 1910
Der Verfasser
Seite
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1.
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Abschnitt: Modernes und Merkwürdiges im Altertum
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2.
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Abschnitt: Wissenschaft
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3.
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Abschnitt: Autoritäten, gelehrte Zunft und Fortschritt
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4.
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Abschnitt: Die »Dilettanten« und Outsider
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5.
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Abschnitt: Von Universität und Schule
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6.
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Abschnitt: Zensur und Prüderie
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7.
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Abschnitt: Frömmigkeit
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8.
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Abschnitt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt
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9.
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Abschnitt: Klerus und Sittlichkeit
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10.
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Abschnitt: Ehe
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11.
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Abschnitt: Rechtspflege
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12.
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Abschnitt: Von allerlei Sitten und Zeremoniell
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Anmerkungen |
Das Interesse, das gerade diesem Kapitel der Kultur-Kuriosa entgegengebracht wurde, rechtfertigt eine Fortsetzung. So seien auch hier zwanglos Tatsachen aneinandergereiht.
Die italienische archäologische Kommission hat bei Ausgrabungen im Königspalast zu Phaistos (Kreta) einen Fund gemacht, der Gutenbergs geniale Erfindung in graueste Vorzeit – etwa Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends – zurückverfolgen läßt. Man fand eine große Terrakottascheibe, die auf beiden Seiten eine Inschrift in Hieroglyphen enthält. Und zwar wurde diese zweihundertundvierzig Zeilen lange Inschrift auf die noch ungebrannte Scheibe mit beweglichen Lettern gedruckt.[1]
Die Römer waren der Erfindung der Buchdruckerkunst außerordentlich nahe. Nicht nur, daß wir aus Quintilian wissen (I, 1. 25), daß Kinder mit beweglichen Lettern spielten, um so leicht buchstabieren zu lernen, Cicero (de natura deorum II, 37) macht die Bemerkung, daß es gerade so undenkbar sei,[S. 2] die Welt sei aus einer zufälligen Verbindung der Atome entstanden, wie die Annahme, aus einem Haufen auf die Erde geschütteter Metallbuchstaben könnten die Annalen des Ennius werden. Also kannte man sogar Metallbuchstaben! Es ist daher viel verwunderlicher, daß die Römer keinen Buchdruck hatten, als es das Gegenteil sein würde.
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Die technischen und chemischen Kenntnisse der ältesten Griechen und deren Vorgänger waren ebenfalls weit bedeutender, als man bisher geahnt hat. Man fand bei den Ausgrabungen des deutschen archäologischen Instituts in Pylos Gegenstände aus Pate vitreuse, schönes blaues Kaliglas und Fayence. Also war die Glasfabrikation den Trägern der mykenischen Kultur bereits um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends bekannt. Ferner besaß man bewundernswerte Kenntnisse in der Farbenbereitung, konnte farbiges Kali- und Natronglas herstellen, wußte Kupfer mit Zinn und Blei in ganz bestimmtem Verhältnis zu legieren, wie man das Kupfer chemisch rein darzustellen vermochte. Ferner konnte man versilbern. In einem Grabe um 2500 v. Chr. fand man eine mit Silberfolie teilweise bedeckte Tonvase.
Am erstaunlichsten sind aber die theoretischen Anschauungen: Man hatte den Begriff der Atome, der Einheit der Materie, deren Unzerstörbarkeit und Unerschaffbarkeit und kannte die Identität von Materie und Energie. D. h. man hatte eine physikalische Weltanschauung, wie wir sie erst seit relativ sehr kurzer Zeit besitzen.[2]
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Daß bereits um 400 v. Chr. mit Gas geheizt wurde, dürfte nicht vielen bekannt sein. Ktesias berichtet, daß in Karamanien das dort entweichende Erdgas als Heizmaterial für den Hausgebrauch Verwendung fand.[3]
Vor achtzig Jahren erhielt der Ingenieur Neilson ein Patent auf ein Heißluftgebläse für Hochöfen. Bei den Ausgrabungen in Tel el Hesey in Südpalästina sind Funde gemacht worden, die es so gut wie sicher erscheinen lassen, daß schon um 1400 v. Chr. die alten Orientalen dieses Verfahren kannten. Man fand einen Hochofen für Eisenbereitung, der eine Vorrichtung besaß, welche bezweckte, die Außenluft vor ihrer Einführung in den Ofen zu erwärmen.[4]
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Daß der Gedanke des Seeweges nach Ostindien und der Entdeckung Amerikas der Antike keineswegs fremd war, ist eine gewiß erstaunliche Tatsache. Krates verlegte – im Gegensatz zu Aristarch – die Wanderfahrten des Odysseus in den Atlantischen Ozean (Gellius 14, 6. 3). Und zwar ließ er den Menelaos von Gadeira (Cadix) aus, Afrika umschiffend, Indien erreichen und nach siebenjähriger Fahrt zurückkehren (Strabo I, 31). Bekanntlich war Vasko de Gama der erste, der im Jahre 1498 auf diesem Wege das Wunderland erreichte. Einen noch kühneren Gedanken sprach fünfzig Jahre später der große Poseidonius mit der Behauptung aus, daß Indien von Spanien aus bei günstigen Ostwinden in kurzer Zeit zu erreichen sei (Strabo II, 6 und Seneca nat. I, prol. 13). Strabo aber wurde bereits im Jahre 1470 von Guarino ins[S. 4] Lateinische übersetzt und war nachweislich dem Kolumbus durch Toscanelli bekannt geworden. Es ist also höchst wahrscheinlich, daß Kolumbus, als er auf dem angegebenen Wege 1492 Amerika entdeckte, nur einen Gedanken zur Ausführung brachte, der ihm aus dem Altertum übermittelt worden war.[5]
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Beim Wort »Amerika« denken wir gern an »unbegrenzte Möglichkeiten«, an Wolkenkratzer und gigantische Projekte. Auch sie sind keineswegs neuen Datums, selbst wenn wir nicht auf die Pyramiden oder die gewaltigen altägyptischen Tempelanlagen blicken. Der berühmten Neu-Yorker Freiheitsstatue ist wohl vergleichbar der Koloß von Rhodos. Dieser war 70 Ellen oder 105 römische Fuß (32 m) hoch und stand in der Nähe des Hafeneinganges. Nur wenige konnten den Daumen der Figur umfassen und jeder seiner Finger war größer wie die meisten Statuen. Nachdem er nur 66 Jahre gestanden hatte, zerbrach er infolge eines Erdbebens 227 v. Chr. Fast 900 Jahre lag er auf der Erde, bis ein arabischer General die Reste im Jahre 672 an einen Juden verkaufte, der 900 Kamele mit dem Erz belud (Plinius 34, 41).
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Noch amerikanischer als der Sonnenkoloß mutet uns der Plan des Stasikrates, eines Schülers des Lysippos an. Er wollte – wie Plinius, Plutarch und Strabo übereinstimmend bezeugen – den felsigen Athosberg in eine Kolossalbildsäule Alexan[S. 5]ders des Großen verwandeln. Diese größte aller existierenden Statuen sollte in der linken Hand eine Stadt halten, groß genug, 10000 Einwohner zu fassen, und in der Rechten eine Urne, aus der sich ein Strom ins Meer ergösse.
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Streiks sind uns auch aus der Antike überliefert. Im Jahre 311 v. Chr. fühlte sich die ehrenwerte Zunft der Musikanten (tibicines) schwer beleidigt, weil der ihnen von alters her zustehende festliche Freischmaus, den sie jährlich einmal auf dem Kapitol in aede Jovis auf Staatskosten abhalten durften, gestrichen worden war. Sie verließen alle Rom und begaben sich nach Tibur. Das war aber für die Behörden höchst peinlich, denn ohne Musik konnten die Opfer nicht abgehalten werden. Man holte sie durch eine List zurück, indem man sie einzeln betrunken machte und voll des süßen Weines auf Leiterwagen nach Rom schaffte. Übrigens gaben die Zensoren nach und billigten den feuchtfröhlichen Musikern ihre alte Gerechtsame wieder zu (Livius IX, 30, Ovid. fast. VI, 665 ff.).
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Nichts wäre irriger als die Anschauung, in prähistorischen Zeiten sei man aller ärztlichen Kenntnisse bar gewesen. Im Gegenteil haben wir es hier mit hervorragenden Chirurgen zu tun. In dem altbajuwarischen Reihengräberfeld bei Allach in Oberbayern fand man z. B. einen Schädel, an dem einst ein taubeneigroßes Stück abgeschlagen, später aber[S. 6] vorzüglich und fast genau an derselben Stelle zum Anwachsen gebracht worden war. Dieser Schädel befindet sich in der prähistorischen Sammlung zu München. Ferner verstand man es, Arm- und Beinbrüche vortrefflich zu heilen. So lieferte das alemannische Reihengräberfeld bei Memmingen ein Beispiel eines Flötenschnabelbruches. In diesem auch für heutige Begriffe sehr schwierigen Falle kann nur ein ausgebildeter Arzt tätig gewesen sein. Ebenso fand man im merowingischen Reihengräberfeld von Wies-Oppenheim einen befriedigend verheilten Schulterknochen. Die Trepanation der Schädeldecke war bereits in der älteren Bronzezeit geübt, wie ein Fund aus Giebichenstein bei Halle lehrt. Das Loch besaß die Größe eines Markstückes und ist in der späteren Lebenszeit der Person durch reichliche Knochenneubildung wieder ganz gefüllt worden.[6]
Daß schon im Altertum eine Ärztin ihre Kunst zu allgemeiner Anerkennung ausübte, lehrt ein Fund, den die österreichische Expedition des Jahres 1892 auf dem Trümmerfeld der alten lykischen Stadt Tlos im südlichen Kleinasien machte. Man fand eine Statuenbasis mit der griechischen Inschrift: »Antiochis, die Tochter des Diodotes aus Tlos, deren ärztliche Empirie von Rat und Gemeinde der Stadt Tlos beglaubigt ist, hat sich das ihr zuerkannte Standbild auf eigene Kosten errichten lassen.« Also auch die weibliche Eitelkeit läßt sich so weit zurückverfolgen!
Mag der amerikanische Zahnarzt auch ein Produkt der Neuzeit sein, seine Leistungen sind es nicht so sehr. So wurde ein antikes künstliches Gebiß in der uralten Etruskerstadt Tarquinii gefunden. Es wird[S. 7] jetzt im Museo Municipale in Corneto, drittes Zimmer, gezeigt.
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Auch Nahrungsmittelfälscher gab es im Altertum, und zwar wurde Brot mit Gips versetzt. Besonders häufig waren Weinpantschereien, wie nach zahlreichen Klagen alter Autoren feststeht. Man setzte dem Gepansch eine Art von Fuchsin zu.
Wer meinen sollte, die berühmte Worcestershire-Sauce sei ohne Vorläufer, wird sich wundern, daß die Römer im Garum (Garon), einer sehr kostbaren, aus Fischen bereiteten Sauce, etwas Ähnliches besaßen. Sogar koschere (garum castimoniale), aus schuppenlosen Fischen bereitete gab es. In Pompeji wurde ein irdenes Gefäß damit gefunden. Plinius (nat. his. XXXI, 93–95) beschreibt die Verfertigung dieser Würze.[7] Apicius (de re coquinaria I, 32) kennt eine Reihe von Speisen, denen er Garum zugesetzt wissen will, z. B. ein Oenogarum, eine Weinbrühe mit Trüffel.
Auch Bowlen kannten die Alten. Der berühmte Feinschmecker Apicius beschreibt nicht nur Rosenbowle (I, 4), Honigwein, der mit verschiedenen Gewürzen gekocht wird (I, 1) und anderes, sondern sogar einen Rosenwein ohne Rosen (I, 4), wie wir ja auch Maibowlen haben, die aus Surrogaten hergestellt sind.
Übersetze ich das Rezept richtig – ich interessierte mich einst sehr für Apicius, den ich in Übersetzung herausgeben wollte, was inzwischen von anderer Seite geschehen sein soll – dann lautet es: »Rosenwein ohne Rosen bereite folgendermaßen: Grüne Zitronen[S. 8]blätter in einem Palmenkörbchen gib in ein Faß Most, bevor er gärt, und nimm sie nach vierzig Tagen heraus. Falls es nötig sein sollte, setze Honig hinzu und bediene dich (dieses Getränkes) statt des Rosenweins«. Genau im Stile der modernen Kochbücher! Vielleicht probiert einmal eine geneigte Leserin dieses oder jenes Rezept, doch empfiehlt es sich, dazu Johann Heinrich Diernbachs »Flora Apiciana« (Heidelberg und Leipzig 1831) zu konsultieren, da hier die Gewürze usw. genau bestimmt sind.
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Die künstliche Bebrütung von Eiern der Gänse, Enten und Hühner, die noch 1829 dem Franzosen Copineau trotz vieler Versuche nicht glücken wollte, war bereits den alten Ägyptern geläufig. Und zwar legten sie die Eier in Kammern aus Lehm, die mittels großer, aus Ziegelsteinen zusammengesetzter und in die Erde hineingebauter Öfen täglich drei bis vier Stunden geheizt wurden. Die Eier lagen auf Stroh und wurden alle sechs Stunden umgewendet, nach zehn Tagen untersucht und die gut befundenen in eine höhere wärmere Abteilung desselben Gemachs gelegt. Die Temperatur wurde natürlich nur nach dem Gefühl abgeschätzt und nach Bedarf durch Öffnen von Luftzügen vermindert (Aristoteles hist. anim. VI, 2, 3 und Diodor I, 74).
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Auch Schneckenzuchtgärten besaß man, wie heute in Frankreich und bei uns besonders in Württemberg. Man war so raffiniert, daß man die verschiedenen Rassen gesondert zog, und verwendete zur Ver[S. 9]feinerung des Geschmacks bei der Fütterung Zucker und gekochten Wein (Plinius nat. hist. IX, 173 und XXX, 45).
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Daß diese Züchtungsmethoden nur auf Grund eingehender Kenntnis der Lebensweise der Tiere möglich waren, ergibt sich von selbst. Die Alten waren keineswegs die schlechten Beobachter, für die wir sie, uns an manche Märchen und Irrtümer klammernd, gerne ausgeben. Daß der Löwe am Ende seines Schwanzes einen in der Haarquaste verschwindenden Knochenstachel besitzt, behauptet Aelian (Peri zoon VI, 1). Niemand wollte das glauben, bis Blumenbach zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Beobachtung bestätigte.
Vom Gorilla wissen wir erst seit etwa 60 Jahren. Vor mehr als 2000 Jahren aber war er schon den Karthagern bekannt, als sie mit einer Flotte von 60 Schiffen der Westküste Afrikas entlang fuhren. Hanno hielt diesen Anthropoiden für einen Menschen (Periplus 17 = Geogr. Graeci min. I, 13, Plinius nat. hist. VI, 200), die Wissenschaft verwies aber seine Entdeckung ins Fabelreich, bis 1847 der erste nach Europa kommende Gorillaschädel die Existenz dieses Menschenaffen bewies.
Aristoteles wußte über die Haifische mehr, als die neueren Naturforscher vor Johannes Müller.
Er kannte auch schon das Prinzip der Korrelation der Organe, die Schutzfärbung der Tiere, sowie den Farbwechsel des Chamäleons als Anpassungserscheinung an die Umgebung. Ferner[S. 10] kannte er den Einfluß, den Klima und Nahrung auf die Größe der Tiere ausüben, ja den des Landschaftscharakters auf ihre Gemütsart. Weder die Tier- noch die Pflanzengeographie war den alten Autoren unbekannt. Die des Theophrast ist geradezu von imponierender Größe.
Im letzten Jahre ging durch die Zeitungen eine Notiz, daß ein Naturforscher die Entdeckung gemacht habe, die Lungen seien Kühlapparate mit dem Zweck, die Bluttemperatur herabzumindern. Wer ahnte, daß Aristoteles bereits diese Tatsache vor dritthalb Jahrtausenden konstatiert hatte?[8]
Der Unterschied der männlichen und weiblichen Pflanzen war schon zu Herodots Zeit bekannt.
Den Spiritismus, und zweifellos auch Hypnotismus und verwandte Phänomene gab es auch schon in der Antike. Auch das Tischrücken, bei uns erst seit wenig mehr als einem halben Jahrhundert bekannt, war den Griechen und Römern nicht neu. Man setze zur Erforschung der Zukunft geweihte Dreifüße in Bewegung. Ein derartiges Verfahren gab unter Valens († 378) Veranlassung zu einem ungeheuern Zaubereiprozeß.
Der hl. Augustinus kannte auch schon das Gedankenlesen (Contra Acad. II, 17).
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Die Frauenrechtlerinnen werden nicht ohne Neid hören, daß Kaiser Heliogabal einen Weiberrat eingerichtet hatte, wie Aelius Lampridius im Leben dieses Monarchen erzählt. Die ihm unterstehenden Fälle waren allerdings nicht welterschütternd. Der auf dem[S. 11] Quirinal tagende Weibersenat hatte nämlich über Kleiderfragen zu entscheiden, ferner darüber, wer auf Wagen, Pferd, Esel oder Tragstuhl befördert werden solle usw., ob dieser Tragstuhl aus Fell oder Knochen gemacht sein sollte, wer Gold oder Edelsteine an den Stiefeln tragen dürfe und Ähnliches.
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Daß im alten Rom griechische Erzieher gehalten wurden und das Griechische überhaupt die Stelle des Französischen bei uns einnahm – besonders instruktiv ist hierfür Suetons Leben des Augustus – ist hinlänglich bekannt. Nicht allzuviele aber dürften wissen, daß unsere halbbarbarischen Vorfahren schon im 12. Jahrhundert Franzosen engagierten, damit die Kinder in der Jugend schon die damals bereits hochgeschätzte Sprache erlernten. So kann z. B. Wolfram von Eschenbach zwar weder lesen noch schreiben, wohl aber französisch reden.[9]
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Bemerkenswert ist der Konservativismus der Kinderspiele. Das Altertum hatte nicht nur Puppen, es kannte auch Steckenpferde, auf denen die jungen Griechen und Römer ganz wie unsere Kinder ritten (Horaz Sat. II, 3. 248, Plutarch, Agesilaos 25 etc.). Ferner spielten sie mit Kreiseln, die wie heute durch Peitschenhiebe in Bewegung gesetzt wurden (Persius, Sat. III, 51). Auch Brummkreisel waren bekannt. Ferner schaukelte sich damals das junge Volk wie heute, spielte auch Blindekuh (Poll. IX, 123), König und Soldaten (Herodot I, 114), Plumpsack oder[S. 12] Der Fuchs geht ’rum (Poll. IX, 115), ferner mit Reifen und Ball. Auch das Anschlagspiel war bekannt (Poll. IX, 117), das Raten auf Grad oder Ungrad und ein Spiel, bei dem einer sich in Gegenwart mehrerer Mitspieler die Augen zuhalten mußte und sich schlagen ließ. Erriet er den Richtigen, dann kam der, der geschlagen hatte, an die Reihe, erriet er ihn nicht, dann mußte er sich solange von den Anwesenden schlagen lassen, bis er den richtigen Namen nannte. Alle diese Spiele haben natürlich im Griechischen und Lateinischen ihre eigenen Namen. Das letztgenannte heißt in gewissen Gegenden Schinkenklopfen.
Wie unsere Kinder törichterweise mit dem Schwarzen Mann, dem Daumenschneider und andern Schreckfiguren geängstigt werden, so die der Alten mit Gespenstern namens Mormo, Lamia, Gello usw. Bezeichnenderweise hieß es noch lange nach 212 v. Chr. bei unartigen Kindern: »Warte, Hannibal kommt!«
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Wer heute über die Baupolizei schimpft – und welcher Hausbesitzer täte das nicht mit dem größten Recht! – mag sich trösten. Auch in Athen gab es diese Behörde schon. Sie hatte dafür zu sorgen, daß altersschwache Bauten nicht einstürzten, daß Neubauten den erlassenen Vorschriften gemäß errichtet wurden usw. (Plato, Legg. VI, p. 763; Aristoteles Polit. VI, 5).
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Wettersäulen, wie wir sie da und dort an Plätzen finden, gab es auch schon vor mehr als 2000 Jahren. Schon der alte Astronom und Hydrauliker Meton stellte kurz vor dem Peloponnesischen Kriege in Athen eine astronomische Säule auf, an der eine von ihm erfundene Art Sonnenuhr angebracht war nebst Registern für Sonnen- und Sternen-Auf- und Niedergang. Diese Wettersäule, die auch die Windrichtung angab, und zwar durch Windfahnen ähnlich wie heute, stand ursprünglich auf der Pnyx, später am Kolonos Agoraios (Aelian, var. hist. X, 7; Diodor XII, 36 etc.).
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Im alten Konstantinopel gab es auch bereits öffentliche Bedürfnisanstalten. Der Häretiker Arius starb in einer solchen im Jahre 336. (Athanasius, de morte Arii c. 2 sq. Sokrates h. e. I. 38.)[10]
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Das Altertum kannte auch den im Deutschen Lift genannten Personen- und Güter-Aufzug. Professor Boni, Direktor der Ausgrabungen am Forum Romanum, hat den Nachweis erbracht, daß man bereits im alten Rom zur Zeit Julius Cäsars den Aufzug benutzte. Man fand am Forum eine Reihe von Nischen, die zweifellos dazu dienten, richtige Lifts unterzubringen, in denen schwere Lasten, wie Gladiatoren und wilde Tiere, aus den unterirdischen Gängen zur Oberfläche befördert wurden. An einen großen unterirdischen Gang sind vier kleinere Quergänge angegliedert, ein jeder dieser[S. 14] Quergänge enthält drei Kammern für das Hebewerk und drei Schächte für die Lifts. In den zwölf Kammern – so wird in La Casa berichtet – sieht man heute noch die großen schweren Würfelblöcke aus Tuffstein, die zum Hebewerk gehörten, und aus der Abnutzung kann man genau erkennen, wie hoch die Lifts liefen und wie stark sie benutzt wurden. Da jeder Aufzug imstande war, fünf bis sechs Menschen zu heben, so konnten gleichzeitig mehr als sechzig Menschen zur Oberfläche des Forums gehoben werden. Übrigens ging der Gebrauch der Aufzüge, wie es scheint, bereits in der Kaiserzeit wieder verloren. Mehr als anderthalb Jahrtausende mußten vergehen, bis der erste Aufzug – und zwar in Jena – wieder eingerichtet wurde. Aber erst seit wenigen Dezennien hat er allgemeine Verbreitung gefunden.
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Zünfte sind ja gewiß nicht mehr modern, aber daß sie ins alte Rom zurückreichen, hat doch erst Mommsen in seiner Schrift »De collegiis et sodaliciis Romanorum« nachgewiesen.
Wer aber hält nicht die Mitteilung, das Altertum habe geraucht, für einen schlechten Witz? Und doch unterliegt es nicht dem allergeringsten Zweifel. Bereits in vorgeschichtlichen Gallo-römischen Gräbern, in Neufville-le-Pollet und in Seine-inférieure in Frankreich, ferner in Schottland, Irland und anderwärts fand man Pfeifenköpfe aus gebranntem Ton, Eisen und Bronce. Ferner in Massen am Hadrianswall, in holländischen Grabhügeln, römische aber noch in der Schweiz, im Berner Jura und natürlich[S. 15] in Rom selbst. Plinius berichtet uns darüber von den Barbaren. Daß die Skythen Hanf rauchten, steht fest, während wir das Material, das sonst verwandt wurde, nicht kennen.[11]
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Daß die Römer in den »tironischen Noten« eine Art Stenographie hatten, ist hinlänglich bekannt. Cicero benutzte diese Kurzschrift nicht nur zur Aufzeichnung seiner Reden, sondern auch für seine Korrespondenz. Aber die Erfindung reicht weit höher in die Vergangenheit hinauf. Ennius kannte bereits 1100 Zeichen, Seneca aber vermehrte den überkommenen Schatz auf etwa 5000 Zeichen und Siegel, so ein ungeheures Material liefernd, das sich zum Teil das Mittelalter hindurch erhielt. Wie nun Louis Prosper und Eugène Guénin in einem »Geschichte der Stenographie im Altertum und im Mittelalter« genannten Werke (Paris 1909) feststellen konnten, ist die Stenographie sogar vorrömischer Herkunft. Sie weist eine so große Ähnlichkeit mit der altägyptischen Kursivschrift, dem sogenannten Demotischen, auf, daß sie unzweifelhaft von diesen vereinfachten Hieroglyphen herstammt. Das Prinzip ist auch das gleiche: ein beschränktes Alphabet, verbunden mit einer Silbenschrift, die durch Ideogramme ergänzt wird. Das Demotische kam auf dem Umweg über Griechenland nach Rom, um dort zur Stenographie zu werden.
Daß die Stenographie erst 1786 von Samuel Taylor wieder erfunden, von Gabelsberger 1817 vervollkommnet, dürfte allgemein bekannt sein. Jedenfalls genügten auch schon die alten Stenographen den[S. 16] an sie gestellten Anforderungen, denn Martial singt (XIV, 208):
»Mögen die Worte auch eilen, die Hand ist schneller als jene Ehe die Zunge ihr Werk, hat es die Rechte vollbracht.«
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Mancher wird geneigt sein, wenigstens Börsenkrachs für eine neuere Erscheinung zu halten. Das ist aber durchaus nicht richtig. Schon das ptolemäische Ägypten hat einen regelrechten Kupferkrach aufzuweisen. Während das Verhältnis des Silberwertes zu dem des Goldes von 1: 15½ vor vier Jahrtausenden und länger schon annähernd bestand und erst bei der großen Silberentwertung der letzten Jahrzehnte wesentlich gestört wurde, ist das beim Kupfer ganz anders. Im Anfang der Ptolemäerzeit war das Wertverhältnis von Silber und Kupfer wie 120: 1. Wenige Jahrzehnte später war der Wert des Kupfers auf ein Drittel bzw. ein Viertel des früheren gesunken, nachdem schon vorher sich im Großverkehr ein Agio für Silber gezeigt hatte.[12]
Die Naturalwirtschaft hat in Deutschland erst zur Zeit der Kreuzzüge der Geldwirtschaft weichen müssen, daß sie völlig verschwand, ist aber erst wenige Jahrhunderte her. Da kann uns nun mit Bewunderung vor der uralten Kultur des Zweistromlandes die Tatsache erfüllen, daß bereits die dem vierten vorchristlichen Jahrtausend angehörigen altbabylonischen Texte der Nippur-Sammlung im K. O. Museum in Konstantinopel den Beweis liefern, daß man längst zur Geldwirtschaft übergegangen war.[S. 17] Allerdings war das Geld sehr teuer. Man zahlte gewöhnlich 33⅓% Zins.[13]
Eine Klage, die man zu Beginn unseres Jahrhunderts, als unsere jungen Männer mit Weltschmerz und runden Rücken herumliefen und Dekadenz tot-chik war, häufig hören konnte, findet sich schon beim Kirchenvater Cyprian. Nachdem er darüber gejammert hat, daß die Welt immer schlechter wird, fährt er fort: »Grauköpfe sehen wir unter den Knaben; die Haare fallen aus, bevor sie wachsen und das Leben hört nicht auf mit dem Greisenalter, sondern fängt mit ihm an.« (An Demetrianus c. 4.)[14]
Die Wissenschaft ist bekanntlich um ihrer selbst willen da. Das rechtfertigt es, wenn Dinge, deren Wert der Laie mit dem besten Willen nicht verstehen kann, mit heiligem Eifer untersucht werden. Es macht es geradezu zur Pflicht. Nicht nur heute, sondern seit je. Dem Gelehrten aber, der sich am meisten plagt, als wolle er ein Thema zu einer Dissertation oder Habilitationsschrift aufstöbern, dem gebührt die Palme der Unsterblichkeit, die wir ihm hiermit überreichen. Daneben mögen in diesem Kapitel einige Meinungen Platz finden, die wir nicht für klug oder richtig halten.
Doch beginnen wir mit einer Ehrenrettung!
Wer wird es wagen, der Kirche noch fernerhin den Vorwurf zu machen, sie sei eine Feindin der Wissenschaft, wenn man tief gerührt liest, was für köstliche Blüten ihrem Schoße entsproßten?
Was will das Forschen unserer Physiker und Chemiker bedeuten gegenüber Fragen, wie sie der große Scholastiker Petrus Lombardus († 1164) aufwirft? Ob ein Vorhersehen und Vorherbestimmen Gottes möglich gewesen wäre, wenn es keine Ge[S. 19]schöpfe gegeben hätte? So lautet eine dieser Fragen, aus seinen vier Libri sententiarum, dem Hauptlehrbuch, nach dem die Theologie in den gelehrten Schulen vorgetragen wurde.
Zweifellos ist das Interesse daran brennend. Aber was bedeutet sie gegenüber der andern: Wo war Gott vor der Schöpfung?
Daß Seelenheil und kultureller Fortschritt unlöslich von der Beantwortung abhängig sind, fühlen wir, auch ohne daß es uns jemand sagte.
Doch der Wissensdrang, nicht etwa der nach nichtigen Dingen, sondern nach solchen von ewiger Bedeutung, war bei Petrus Lombardus unersättlich. So fragte er denn weiter:
Ob Gott mehr wissen kann, als er weiß?
Ob ein Prädestinierter verdammt oder ein Verworfener selig werden könne?
Ob Gott etwas Besseres oder etwas auf bessere Weise machen könne, als er es macht?
Ob Gott allezeit alles könne, was er gekonnt hat?
Doch nicht auf Gott beschränkt sich die Fragefreudigkeit des großen Kirchenlehrers. Beschäftigt er sich auch natürlich am liebsten mit ihm, so ist er doch viel zu leutselig, um sein Interesse nicht bisweilen minder Vornehmen zuzuwenden. So wirft er die Frage auf: Wo die Engel nach ihrer Schöpfung gewesen sind?
Ob die guten Engel sündigen, die bösen rechtschaffen leben können?
Ob alle Engel körperlich sind? (kleiner Schäker!)
Ob die Rangordnung der Engel seit dem Anfang der Schöpfung bestimmt worden sei?
Sogar auf den Menschen dehnt sich der scholastische Frageeifer aus. Probleme von größter Bedeutung beschäftigen die Denker und zeigen uns aufs neue, wie unrecht wir der Kirche tun mit dem Vorwurf, sie habe auf Kosten einer brauchbaren irdischen eine verschrobene überirdische Afterwissenschaft kultiviert.
Wen interessiert es nicht zu wissen, in welchem Alter der Mensch geschaffen worden ist? Warum wurde Eva nun gerade aus der Rippe und nicht aus einem andern Teil des Mannes geschaffen? Und warum schlief Adam dabei? Die Wichtigkeit der Sache hätte schon gerechtfertigt, daß er wach gewesen wäre. Das findet wenigstens Petrus Lombardus.
Interessanter noch ist die Frage, ob der Mensch ewig hätte leben können, wenn er auch nicht vom Baume der Erkenntnis genossen hätte?
Etwas indiskreter lautet: Warum sich die Menschen im Paradies nicht begattet hätten? Jetzt verstehen wir auch des Petrus Lombardus Neugier nach dem Alter, in dem sie geschaffen wurden!
Wie hätten die ersten Menschen sich fortgepflanzt, wenn sie nicht gesündigt hätten? Eine Frage von hochaktuellem Interesse. Gibt es doch heute noch genug Frömmler, die im Geschlechtsverkehr eine Sünde erblicken und damit tatsächlich der Sünde das größte aller Wunder und aller Güter zuschreiben: das Leben.
Petrus muß auch so etwas ahnen, wenn er fragt, ob – ohne den Sündenfall – die Kinder mit vollkommen ausgewachsenen Gliedern und mit dem vollen Gebrauch der Sinne würden geboren worden sein?
Von höchster Neugier zeugt die Frage, warum[S. 21] der Sohn und nicht der Hl. Geist oder der Vater Mensch geworden seien? Mit großem Ernst wurde natürlich alles behandelt, was mit der sogenannten Erlösung zusammenhing. So die Frage, ob Gott das durch Christus dargebrachte Opfer auch hätte annehmen können, wenn dieser ein Weib gewesen wäre.
Mit Rücksicht auf die außerordentliche Wichtigkeit und Vordringlichkeit gerade dieser Frage wurde in der Schule des Petrus Lombardus nicht minder, wie in der seines Schülers Petrus von Poitiers das Thema emsig diskutiert. Man war sich einig, daß nur ein ganz verruchtes Scheusal, dem das schamlose Maul (os impudicum) in gehöriger Weise gestopft werden muß, in dem Sinne hätte antworten können, daß Christus auch als Weib den an einen Erlöser zu stellenden Anforderungen hätte genügen können.[15]
Occam hat in seinem Centilogium folgende Thesen: C. 8–11: »Zulässig sind die Sätze: Gott der Vater ist der Sohn der hl. Jungfrau; der Hl. Geist ist der Mensch, welcher der Sohn der hl. Jungfrau ist; der Vater, der niemals starb, kann gestorben sein, der Sohn, der starb, kann auch niemals gestorben sein.«... C. 29: »Der Leib Christi kann sich zu gleicher Zeit in entgegengesetzter Richtung bewegen und wird faktisch so bewegt, wenn z. B. ein Priester ihn emporhebt und der andere ihn in demselben Moment niederlegt.«[16]
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Unter dem Titel: »Disputatio nova contra mulieres qua probatur eas homines non esse«[S. 22] erschien 1595 ein Büchlein ohne Verfassernamen und Druckort.
Der gelehrte Autor rühmt sich in diesem Elaborat durch 50 unwiderlegliche Stellen der Heiligen Schrift den Beweis geführt zu haben, daß Weiber weder Menschen seien, noch von Christus erlöst wurden.
Er beginnt mit der These, Christus habe nicht für die Frauen gelitten und sie deshalb auch nicht erlöst. Sehr merkwürdig und bezeichnend für den scholastischen Geist und die ganze Rabulistik des Mittelalters ist seine Beweisführung. So heißt es im vierten Absatz: Da die Hl. Schrift alle verflucht, die etwas Gottes Wort hinzufügen, so sind auch alle jene verflucht, die hinzufügen, die Weiber seien Menschen und es glauben. Denn weder im Alten noch im Neuen Testament werde ein Weib Mensch genannt. Wären sie Menschen, dann hätte aber der Hl. Geist sie auch zweifellos so genannt. Wer trotzdem behauptet, sie seien Menschen, der maßt sich an, mehr zu wissen als Gott.
Im achten Absatz heißt es: Eva war kein Mensch, denn sie wurde nicht etwa geschaffen, damit Adam nicht allein sei, sondern damit Adam durch sie Menschen zeugen sollte, deren Dasein ihn von der Einsamkeit befreite.
Im zwölften Absatz sagt der Autor: Da Gott allwissend ist, so wußte er auch bei der Schöpfung Adams, daß er Eva erschaffen würde. Hätte er gewollt, daß sie auch ein Mensch sei wie Adam, dann hätte er nicht im Singularis gesprochen: »ich will einen Menschen schaffen«, sondern er hätte gesagt:[S. 23] »ich will Menschen schaffen«. Weil er aber so sprach, besitzen wir den sichersten Beweis aus Gottes eigenem Munde, daß Gott nicht gewollt habe, daß das Weib ein Mensch sei, und daß er nur einen Menschen geschaffen hat und nicht etwa zwei.
Auch aus dem Sündenfall folgt im 14. Absatz die weibliche Unebenbürtigkeit: Wäre das Weib dem Adam gleich gewesen, dann hätten im Paradiese zwei Menschen gesündigt. Denn Eva beging denselben Fehltritt wie Adam. Der Apostel sagt aber ausdrücklich: durch einen Menschen sei die Sünde in die Welt gekommen. In diesem Stile wird der »Beweis« weiter geführt, um mit der gewiß vielen Damen schmerzlichen Konstatierung zu schließen, daß das Alte Testament so gut wie das Neue den Weibern nicht nur ihr Menschentum abspreche, sondern daß Christus auch nicht für sie gestorben sei.
Doch der Anonymus hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Diese Einmischung in ihre Domäne konnten sich die Erbpächter der Unsterblichkeit nicht bieten lassen. Noch im gleichen Jahre 1595 erschien die Schrift: »Admonitio Theologicae Facultatis in Academia VVittebergensi ad scholasticam Juventutem, de libello famoso & blasphemo recens sparso, cuius titulus est: Disputatio Nova contra mulieres, qua ostenditur, eas homines non esse«. Wiewohl die theologische Fakultät in der Einleitung ausdrücklich sagt, daß es möglich sei, daß impurus iste canis (»jener unreine Hund«), wie die milden Streiter Gottes sich so geschmackvoll ausdrücken, nur im Spaß seinen Angriff gemeint habe, sieht sie sich doch genötigt, nicht nur durch Worte der heiligen[S. 24] Schrift zu beweisen, daß das Weib doch ein Mensch sei, sondern sich hochoffiziell zu unterschreiben: »12. Januar 1595 Decanus, Senior et Professores Theologicae Facultatis in Academia VVittebergensi.« Man hielt es also offenbar für sehr notwendig, mit schwerem Geschütz den Angreifer der Weiber niederzukämpfen. Sei es, daß man ein schlechtes Gewissen hatte, sei es, daß er begeisterten Beifall gefunden hatte.
Trotz dieser Kathedralentscheidung scheinen die Verächter der holden Weiblichkeit noch lange nicht Ruhe gegeben zu haben. Wenigstens liegt mir noch aus dem Jahre 1690, also nach einem vollen Jahrhundert, unter dem Titel »Mulier homo« ohne Erscheinungsort und Verfassernamen ein Neudruck vor. Hier ist auch der feierliche Schluß fortgelassen. Sollten etwa trostbedürftige Ehemänner die Abnehmer gewesen sein?
Noch im Jahre 1767 erschien unter dem Titel »Beantwortung der Frage, ob das Frauenzimmer ein notwendiges Uebel sey« zu Frankfurt und Leipzig ein Büchlein, das allerdings das Thema mehr humoristisch behandelt, auch keinen Verfassernamen trägt.
Ja, noch aus dem Jahre 1791 liegt mit eine Broschüre über das Thema vor. Sie trägt den Titel »Apologie des schönen Geschlechts oder Beweis, daß die Frauenzimmer Menschen sind«, wurde von Heinrich Nudow aus dem Lateinischen übersetzt und erschien in Königsberg.
Interessant ist die Bemerkung der Vorrede, »daß einige neuere spekulative Naturforscher des schönen Geschlechts« zu der »sehr wahrscheinlichen« Annahme gelangt seien, daß »der Sitz der Seele bei den[S. 25] Frauenzimmern nicht wie bei den Männern im Gehirn, sondern in der Gebärmutter seyn soll; – daß da sich alles Leben und Seyn, – alles Dichten und Trachten beim andern Geschlecht von einem gewissen inneren Triebe ableiten, und wieder darauf zurückführen läßt, dem die Natur jenes Eingeweide zu einem Hauptwerkzeug bestimmte, auch wohl das andere Geschlecht großenteils (und vielleicht gänzlich) nur durch die Gebärmutter denken dürfe.« Der Verfasser konstatiert und beweist übrigens die Menschheit des schönen Geschlechts.
Lassen wir dahingestellt, was in diesen Schriften, die wir keineswegs vollzählig aufführten, Ernst, was Witz ist, so viel steht unwiderleglich fest, daß eine ganze theologische Fakultät es für notwendig hielt, feierlich dagegen Stellung zu nehmen, daß das Weib kein Mensch sei. Wäre es ihnen nicht möglich gewesen, durch Bibelworte den Gegenbeweis zu führen, so hätte selbstverständlich die fromme Herde noch etliche Jahrhunderte lang das Weib für ein Tier gehalten.
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Ein gewisser Georgius Fridericus Gublingius schrieb im Jahre 1725 eine Dissertation in Wittenberg mit dem Titel: De barba Deorum ex priscarum Graeciae et Latii maxime Religionum monumentis. Behandelte er in dieser gelehrten Schrift die Frage, ob die Götter bärtig waren, so in einer andern im gleichen Jahre ebenfalls in Wittenberg erschienenen unter dem Titel: »De causis barbae Deorum«, die[S. 26] ebenso wichtige nach den Gründen dieser Bärtigkeit.
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Eine außerordentliche gelehrte Arbeit erschien 1705 zu Leipzig mit folgendem Titel: »Cogitationes admodum probabiles de vestimentis Israelitarum in deserto an per miraculum duraverint aut creverint in dissertatione academica indultu Philosophici Ordinis Lipsiae ad II. Aprilis A. MDCCV habenda eruditorum examini exhibitae a Gottfrido Zeibigio & Johann Andrea Beckero.« Die philosophische Fakultät promovierte also zwei Doktoranden, die Herren Zeibig und Becker, weil sie Betrachtungen darüber anstellten, ob die Kleider der Juden in der Wüste durch ein Wunder alle Strapazen ausgehalten haben oder gar nachwuchsen!
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Ein gewisser Paul Christian Hilscher prüft in Dresden 1703 in einer seinem Schwiegervater, dem Dr. der Theologie und Superintendenten zu Freiberg, Christian Lehmann gewidmeten Gratulationsschrift zum 60. Geburtstage die hochwichtige Frage nach der Bibliothek Adams. (De bibliotheca Adami.) Das Heftchen ist mit wundervollen Schriftzeichen geschmückt und natürlich grundgelehrt. So eine Art Seitenstück also zu Beringers Würzburger Petrefaktenbuch, das wir bald kennen lernen werden.
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Christian Tobias Ephraim Reinhard, ein sonst ganz ernster Schriftsteller, der auch über die in der[S. 27] Bibel vorkommenden Krankheiten geschrieben hat, veröffentlichte im Jahre 1752 zu Hamburg eine Schrift: »Untersuchung der Frage, ob unsere ersten Urältern Adam und Eva einen Nabel gehabt.« Er kommt im § 17 dieser Abhandlung, die wohl ernst gemeint sein dürfte, zu folgendem Resultat: »Genug, Adam und Eva sind nicht gebohren, sondern gemacht, nicht gezeuget, sondern geschaffen worden, und wer hieran zweifelt, der ist kein würdiges Glied der Kirche, sondern wird kraft meines Amts dem Teufel übergeben. Von dieser Wahrheit gibt der heilige Geschichtschreiber Moses in seinem Buche von der Erzeugung das allerbewährteste Zeugnis. Da es nun eine unumstößliche Wahrheit bleibet: daß unsere ersten Stammväter nicht gebohren worden sind, so muß es auch wahr sein, daß sie keinen Nabel nöthig gehabt haben. Denn da dieselben niemals im Mutterleibe verborgen gewesen sind, so hat ihnen fraglich keine Nabelschnur zu statten kommen dürfen. Haben sie nun keine Nabelschnur nöthig gehabt, so haben sie auch keinen Nabel, als dessen Überrest derselbe ist, besitzen können.«
Reinhard war »Der Arzneygelahrtheit Doktor und Heilarzt zu Camenz«, wie er auf dem Titelblatt des Schriftchen vermerkt.
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Das erleichtert uns den Übergang zu den Naturwissenschaften.
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Jahrhunderte nahm man an, die Meergänse sollten aus einer Muschel, der Entenmuschel, hervorgehen.[S. 28] Diese Theorie ist weniger verwunderlich, als die Tatsache, daß bedeutende Gelehrte sich durch Augenschein davon überzeugt haben wollten. So schrieb der Leibarzt Rudolfs II., Michael Mayer, er habe in den Muschelschalen den wie in seinem Ei liegenden Fötus des Vogels selbst gesehen und sich überzeugt, daß er Schnabel, Augen, Füße, Flügel und selbst angehende Federn besaß. Der gleichfalls im 17. Jahrhundert lebende Sir Robert Moray, dessen Bericht in den Schriften der Londoner königlichen Gesellschaft 1677–78 veröffentlicht ist, behauptete, in jeder Entenmuschel, die er öffnete, ein vollkommen ausgebildetes Vögelchen gefunden zu haben.[17]
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Daß auch die Universitäten ähnliche Fabeln verbreiteten, zumal dort, wo die Jesuiten für das Fortbestehen des Autoritätsglaubens wirkten, kann nicht verwundern.
Unter dem Titel: »Positiones ex universa philosophia Aristotelis tum contemplativa tum politica, quas in Alma ac Celeberrima Herbipolensium Universitate pro suprema Doctoratus philosophici laurea praeside R. P. Ignatio Zinck e Soc. Jesu AA. LL. & Philos. Magistro e jusdemque in praedicta Universitate Professore publice defendendas suscepit D. Joannes Bernardus Dill Herbipolensis etc. etc.« erschien im Jahre 1700 eine philosophisch-naturwissenschaftliche Dissertation zu Würzburg. Das hochgelahrte Werk, das den Joh. Bernh. Dill zum Verteidiger, den Jesuiten Prof. P. Ignaz Zinck zum Verfasser hatte, läßt schon[S. 29] ahnen, welch außerordentlichen Ruhm diese christ-katholische Universität noch erringen sollte.
Da wird erzählt, wie der Blick eines Vogels heile, verschiedene Steine auf den Menschen wirkten, z. B. Jaspis die Lebensgeister wecke, der Amethyst, auf den Nabel des Berauschten gelegt, die Dünste aus dem Kopf zieht und die Trunkenheit verscheucht oder der im Magen des Haushahns sich bildende lapis alectorius denjenigen, der ihn im Munde trägt, mutig und tapfer macht. Als Belege für die Möglichkeit ewigen Feuers wird erzählt, daß im Jahre 1041 im Grabe des von Turnus getöteten Pallas eine Lampe gefunden wurde, die bereits 1611 Jahre brannte und vielleicht noch brennen würde, wenn sie damals nicht zerbrochen und das künstlich präparierte Öl verschüttet worden wäre. Ferner brannte die unter Paul III. gefundene Grablampe von Ciceros Tochter Tulliola ebenfalls noch.
Mit dem gleichen Ernst gibt diese Dissertation den Bericht des Jesuiten Schott wieder, daß in Schottland, auf den Hebriden und in einigen Gegenden Indiens an den Bäumen Enten und andere Vogelarten wachsen, die wie Blätter hervorsprossen, dann wie Obst sich runden, endlich Vogelgestalt bekommen und an dem Schnabel gleich dem Stiele herabhängen, bis sie ganz ausgereift abfallen und davonfliegen.
Auf die Autorität des »Apostels« hin wird endlich gelehrt: im künftigen Leben werden »wir Auserwählten alle« eine Größe von 4 Ellen = 6 Fuß haben, nicht mehr und nicht weniger, denn dies sei, wie die Geschichtschreiber und Väter allenthalben berichten, die Größe Christi gewesen. Den[S. 30] Größeren werden – so fügt der englische Lehrer bei – der Überschuß über die Normalgröße genommen und damit die Kleinen aufgebessert werden.[18]
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Im Jahre 1726 erschien zu Würzburg ein Buch, das für uns unschätzbaren Wert besitzt. Es trug nach dem Gebrauche der Zeit folgenden etwas langatmigen Titel: LITHOGRAPHIAE WIRCEBURGENSIS, DUCENTIS LAPIDUM FIGURATORUM, A POTIORI INSECTIFORMIUM, PRODIGIOSIS IMAGINIBUS EXORNATAE SPECIMEN PRIMUM, Quod IN DISSERTATIONE INAUGURALI PHYSICO-HISTORICA, CUM ANNEXIS COROLLARIIS MEDICIS, AUTHORITATE ET CONSENSU INCLYTAE FACULTATIS MEDICAE, IN ALMA EOO-FRANCICA WIRCEBURGENSIUM UNIVERSITATE, PRAESIDE Praenobili, Clarissimo Expertissimo Viro ac Domino, D. JOANNE BARTHOLOMAEO ADAMO BERINGER, Philosophiae & Medicinae Doctore, Ejusdémque Professore Publ:Ordin:Facult:Medicae h. t. Decano & Seniore, Reverendissimi & Celsissimi PINCIPIS (sic!) Wirceburgensis Consiliario, & Archiatro, Aulae, nec non Principalis Seminarii DD. Nobilium & Clericorum, ac Magni Hospitalis Julianaei Primo loco Medico, Exantlatis de more rigidis Examinibus, PRO SUPREMA DOCTORATUS MEDICI LAUREA, annexisque Privilegiis ritè consequendis, PUBLICAE LITTERATORUM DISQUISITIONI SUBMITTIT GEORGIUS LUDOVICUS HUEBER Herbipolensis, AA. LL. &[S. 31] Philosophiae Baccalaureus, Medicinae Candidatus. IN CONSUETO AUDITORIO MEDICO.
Dieser schöne Titel, auch typographisch bedeutend reicher, als es hier zum Ausdruck kommt, dazu ein schöner Titelkupferstich stehen zu Beginn eines Buches, das auf Erden nicht viele Rivalen haben dürfte.
Georg Ludwig Hueber heißt also der Verfasser, dessen medicinische Habilitationsschrift vor uns liegt, sein Lehrer aber Johann Bartholomäus Adam Beringer, ein Mann schwer an Weisheit, Würden und Titeln, Professor, Leibarzt des Fürstbischofs und anderes mehr. Da es damals Sitte war, daß die Promotionsschrift vom Professor abgefaßt wurde, so war Beringer der eigentliche Autor.[19]
Es handelt sich um eine großartige Entdeckung, die er gemacht hatte oder doch gemacht haben wollte. In der Nähe von Würzburg waren Petrefakte gefunden worden, die er auf schönen Kupfertafeln gewissenhaft abbildete. Da gab es Blumen und Frösche, Fische und anderes Getier. Auch eine Spinne mit Netz war versteinert (Taf. X), ferner eine Spinne im Begriff eine Fliege zu fangen, zusammen mit ihrem Opfer, ein reizendes Tierstückchen! Aber auch Stilleben fehlten unter den Versteinerungen nicht, so ein Schmetterling, der an einer Blume saugt (Taf. VI). Noch viel abenteuerlichere Dinge waren vom hochgelahrten Herren zutage gefördert worden: ein versteinerter Stern, ein Halbmond, ein Stern mit Halbmond, ja Figuren so ähnlich aussehend, wie die primitive Kunst Kometen zeichnet (Taf. III). Das und noch vieles andere war auf den schönen Kupfertafeln zu sehen. Besonderes Interesse verdienten Versteine[S. 32]rungen, auf denen in hebräischen Lettern Jehova und ähnliches stand (Taf. VII).
Natürlich war auch für begleitenden Text gesorgt. War doch die Entdeckung so verblüffend, so über alle Maßen großartig, daß ein ausgiebiger Kommentar sich von selbst verstand. So bewies Beringer vor allem, daß es sich hier nicht etwa um Überreste aus heidnischer Zeit handle, auch nicht um Kunstgegenstände jüdischer Herkunft. O nein, es war alles Natur. Es waren Versteinerungen von Tieren und Pflanzen, die vor unvordenklichen Zeiten das Meer ausgespült hatte (vgl. Kap. 4 und 13). Daran ließen sich natürlich die weitgehendsten Schlüsse knüpfen sowie Ausfälle auf Zweifler. Und das tat auch der gelehrte Verfasser.
Aber leider blieb seine große wissenschaftliche Tat nicht vom Neide der Götter verschont. Es stellte sich heraus, daß Schüler und Gegner des Professors aus Ulk Pseudopetrefakte künstlich hergestellt hatten und in dem Steinbruch finden ließen, den der Professor häufig besuchte.
Es dürfte sich hier um eine der größten akademischen Dummheiten handeln, von der die Geschichte der Wissenschaften weiß. Das fühlte auch Beringer, denn er ließ alle erreichbaren Exemplare des Werkes vernichten, so daß es zur großen Seltenheit wurde. Die kgl. Hof- und Staatsbibliothek in München ist im Besitze eines tadellos erhaltenen Exemplars.[20]
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Auf moralischem Gebiete hat aber Beringer einen Konkurrenten in der Person des nicht unbedeutenden[S. 33] Kulturhistorikers Friedrich von Hellwald. Wenn er die Ursache unserer heutigen Milde und unseres Entsetzens über die früheren Gräuel der Hexenprozesse nicht darin findet, daß wir so viel bessere Menschen als unsere Vorfahren sind, sondern einfach, weil wir wissen, daß es keine schädlichen Hexen gibt, so hat er recht. Wahrscheinlich würden wir uns nicht viel anders als das Mittelalter benehmen, wenn wir noch heute unter dem verdummenden Einfluß der Kirche ständen. Grotesk aber ist die Art, wie Hellwald zu beweisen versucht, daß die Inquisition gar nicht so schlimm war. Er ähnelt darin einem gewissen Hoeniger, dessen Methode die Harmlosigkeit des Dreißigjährigen Krieges zu beweisen, wir im I. Bande (S. 126) kennen lernten.
Hellwald schreibt (mit Kürzungen): »Nach Llorente, Histoire critique de L’Inquisition d’Espagne, 1815–1817, sollen von 1481–1808 in Spanien 31912 Menschen verbrannt worden sein. Nach glaubwürdigen Quellen betrug die Bevölkerung Spaniens um 1500 n. Chr. 9320691, welche Ziffer 2½ Jahrhunderte, bis 1768 (Jahr der ersten verläßlicheren Volkszählung) stationär blieb.
Gesetzt nun, die Ketzerverbrennungen wären über diese Periode gleichmäßig verteilt gewesen, so hätten dieselben alljährlich 97,6 oder rund 100 Menschen, d. h. 1 : 90000, das Leben gekostet. Nun soll aber Torquemada in den 15 Jahren von 1483–1498 allein 8300, d. h. durchschnittlich 586 Menschen jährlich, nach den glaubwürdigen Angaben Marianas, dem Maurenbrecher folgt, 1481–1498 nur 2000 Opfer zum Scheiterhaufen gesandt haben; diese Ziffern wären also von den[S. 34] obigen abzuziehen, d. h. auf 312 Jahre entfallen 23112 Opfer = 74 im Jahre = 1 : 121756. Diese Zahlen sind nicht so furchtbar groß, wie nachstehendes, der Gegenwart entnommenes Beispiel illustriert. Nach dem »American Railroad Journal« fanden im Jahre 1873 im ganzen 576 Menschen den Tod durch Unglücksfälle auf Eisenbahnen im Gebiete der Vereinigten Staaten, 1112 wurden verletzt. Diese Ziffern findet das genannte Blatt ziemlich unbedeutend und in der Tat fällt es niemandem bei, über dieselben ein Klagegeschrei zu erheben. Wenn nun diese Ziffern immer so ›unbedeutend‹ blieben, so würden in dem gleichen Zeitraume von 327 Jahren nicht weniger als 188352 Tote und 363624 Verwundete diesem Fortschritte der Zivilisation zum Opfer fallen.«
Daß der relative Menschenverlust nicht allzu groß war, wenn auch die Opfer der Inquisition bedeutend unterschätzt sind und tatsächlich einzelne Ortschaften und Landstriche entvölkert wurden, sei zugegeben. Aber ist deshalb der Wahn weniger gräßlich?
Köstlich ist auch folgende Meditation: »Endlich, so banal es klingt, so wahr ist doch, daß alle die beklagenswerten Opfer menschlicher Torheit eines anderen Todes einmal hätten sterben müssen. Ihr Leben ist wohl verkürzt worden, doch käme es noch sehr darauf an zu wissen, wie groß der durch diese Verkürzung verursachte Schaden war. Dazu müßte man genau kennen: Lebensalter und Lebensverhältnisse, leibliche Konstitution und geistige Gaben dieser vorzeitig Gestorbenen; wie viele dem Greisenalter gehörten und schon zeugungsunfähig waren, wie vielen eine kränkliche Organisation nur mehr eine kurze[S. 35] Lebensfrist gegönnt hätte; man müßte veranschlagen, wie viele durch anderweitige Zufälle oder in Ausübung ihres Berufes ohnedies ein vorzeitiges Ende gefunden hätten, wie viele von akuten Krankheiten dahingerafft worden wären u. dgl. Erst die Eliminierung aller dieser komplexen Faktoren würden gestatten, den erlittenen Verlust auf ein annähernd richtiges Maß zurückzuführen.«[21]
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Bekanntlich behaupten die bayerischen Lyzeen, den Universitäten im Range gleichstehende Hochschulen zu sein, und die schwarze Gesellschaft wird zu betonen nicht müde, daß die wissenschaftlichen Leistungen diesem Range auch völlig entsprechen.
Wir können ohne Zaudern weiter gehen: sie übertreffen ihn! Sie lassen alle weltlichen Bildungsstätten weit hinter sich.
Ihr fordert Beweise? Nichts einfacher als das. Wo hätte uns je eine Universität eine Topographie der Hölle geschenkt, wenn nicht Münster, das glorreiche Wirkungsfeld des großen Bautz? (Vgl. 1. Bd. S. 225 ff.)
Wären wir etwa über Satan informiert, wenn nicht David Leiste, Professor der Moraltheologie, Patrologie und Pädagogik am k. Lyzeum in Dillingen unter dem Titel »Die Besessenheit« ein Programm im Jahre 1886/87 darüber veröffentlicht hätte. Ein grundgelehrtes Werk noch dazu. Wir schlagen auf gut Glück S. 24 ff. auf.
»Die Wirklichkeit dämonischer Erscheinungen in einem objektiv wirklichen, materiellen Körper, nicht[S. 36] etwa in einem bloß eingebildeten imaginären, bezeugt die Heil. Schrift. Nach ihrem Bericht hat Satan die Eva in sichtbarer Schlangengestalt versucht; daß auch die Versuchung Christi eine rein äußerliche war, ist zweifellos; es ist gewöhnliche, wenn auch nicht ausdrücklich durch die Heil. Schrift verbürgte Annahme, daß Satan hiebei sich mit einem materiellen Leibe umkleidet habe, der ihn als Geist der Hölle verbergen solle. Wieder wird Satan in die Erscheinung treten am Ende der Menschengeschichte in den großen Kämpfen des Reiches Gottes mit dem Antichrist.
Es bestätigen uns dann auch die hl. Väter und Theologen die Tatsache, daß Satan zum Zwecke der Menschenverführung und Menschenplage auf Erden sich zeige in der angenommenen Gestalt von Verstorbenen, von wilden Tieren, von Vögeln. Unter den verschiedensten Tiergestalten ist Satan schon erschienen, nur die der Taube und des Lammes, sagt Majolus, glaubt man, sei ihm verboten. Die Form der Ziege und des Bockes kommt gar häufig in den Versuchungen vor. »Weil im großen Drama des Weltgerichts dem Bock als Symbol des Sklaven der Sünde seine Rolle zugewiesen ist, so steht der Annahme, der Dämon habe je bisweilen unter dieser oder einer entsprechenden Gestalt seine Besuche gemacht, nichts im Wege.« (Rütjes, Der Teufel, Essen 1878, S. 60.) Majolus sagt, diese Erscheinungsgestalt komme ihm zu, weil dies geile und hochmütige Tiere seien. Satan ist ferner schon erschienen als Löwe, Wolf, Bär, Stier, Schwein, Fuchs, als schwarzer Kater oder Hund. So z. B. erblickten der hl. Stanislaus und der ehrwürdige Pfarrer von Ars den Teufel in[S. 37] Hundegestalt, mit feurigen Augen, also in der Gestalt eines Tieres, das als Sinnbild der Schamlosigkeit bekannt ist; letzterer sah ihn auch in der Gestalt eines Kopfkissens, oder die bösen Geister belästigten ihn auch in der Gestalt von Fledermäusen. Ferner zeigte sich Satan als Hahn, Eule, Geier, Drache, Schlange, Kröte, Eidechse, Skorpion, Spinne, Fliege, Mücke, Wespe. Auch die Menschengestalt gebraucht er als Hülle und erscheint als Bauer, Schiffer, Geistlicher, als geputztes, verführerisches Weib, als Mädchen. Der ehrwürdigen Maria Crescentia von Kaufbeuren zeigte sich der Teufel in Gestalt einer Nonne, eines Negers, eines Jägers oder auch in verschiedenen Tiergestalten« etc.
Trotzdem brauchen wir keine allzu große Furcht zu haben. Denn – und daß er das zu unserer Beruhigung sagt, spricht für das gute Herz des Herrn Verfassers – »Seinem Erscheinungsleibe das Bild eines vollkommenen Leibes aufzudrücken, ist Satan nicht allweg gestattet; er ist genötigt, ihm teilweise eine tierische Bildung oder eine andere verzerrte und fratzenhafte Form zu geben. Und während der gute Engel seinen Leib aus edlen, ätherischen Stoffen bildet, ist der Teufel für diesen Zweck auf unreine, schmutzige Materien angewiesen.« (S. 28.)
Die historische Tatsächlichkeit wenn auch nicht aller, so doch vieler Teufelserscheinungen steht fest. »... sicherlich (ist) ein bedeutender Teil der von der Geschichte aufbewahrten Vorgänge dieser Art als historisch glaubwürdig anzunehmen und haben wir es nicht mit lauter ›Teufeleien der Mönchsphantasie‹ zu tun.« (S. 30.)
Das ist ja entschieden unheimlich. Und doch braucht es uns nicht ins Bockshorn zu jagen. Denn wie der gelehrte Autor auf S. 139 ff. ausführt, hat der Satan gegenwärtig die Taktik geändert und die offenkundige leibliche Besessenheit hat – hurra! – abgenommen. Und doch ist die Sache nicht ganz geheuer. »Sollte es vielleicht eine furchtbare Strafe der so weit verbreiteten Apostasie sein, daß Gott dem Teufel die Taktik erlaubt hat, inkognito sein Geschäft zu treiben und so die blinden Seelen um so sicherer in den Abgrund zu jagen?« (S. 145 f., zitiert nach dem Kirchenlexikon, 2. Aufl., II, S. 517 ff., Art. Besessene.) Daß die spiritistischen, somnambulistischen und verwandten Phänomene auf den Teufel zurückgehen, steht fest.
Verlassen wir dies unheimliche Thema, um uns heiterern Gesichtern zuzuwenden.
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Papst Alexander VI. schenkte durch die Bulle Inter cetera vom 4. Mai 1493 den Spaniern alle entdeckten und noch zu entdeckenden Länder nicht nur westlich, sondern auch südlich eines bestimmten Längengrades! Und zwar tat das der damals noch fehlbare Nachfolger Petri »ex certa scientia«. Er wußte es also ganz genau![22]
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Da lobe ich mir doch die deutsche Gründlichkeit. Bekanntlich entdeckte ein Gelehrter bereits die Wichtigkeit von Goethes Wäschezettel für die deutsche Literatur. Er wird aber noch übertroffen vom »Altmeister der chemischen Geschichtsforschung H. Kopp«,[S. 39] der die Worte Encheiresin naturae aus der Schülerszene des Faust zum Gegenstand jahrzehntelanger Nachforschungen machte.[23]
Zu diesem Kapitel gehört auch folgendes: In der Berliner Wochenschrift »Die Standarte« schreibt ein Germanist, er habe in einem Goetheseminar der Berliner Universität tagelang an der Frage gearbeitet, ob in einem Heft Goethes die Ausstreichungen mit schwarzer oder roter Tinte oder mit Bleistift gemacht worden sind. Das tiefe Problem, ob der vorgoethische Faust mit Vornamen Heinrich oder Johann geheißen habe, läßt die Forscher nicht zur Ruhe kommen. Und von höchster Bedeutung ist, ob Goethe Lieschen oder Liesgen geschrieben hat, wie der Wasserstempel im Konzept zu den »Wahlverwandtschaften« aussieht, ob eine Notiz am 21. oder 22. oder gar – wie Pniower behauptet – am 24. Oktober eingetragen ist. Das ist Goetheforschung! Wer aber etwa gar denkt, es sei gleichgültig, ob das »Kophtische Lied« 1789 oder 1791 geschrieben sei, wird erbarmungslos aus diesem geweihten Kreise verbannt.[24]
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Auf diesen Ton ist auch die Gründlichkeit wissenschaftlicher Kritiken und Kontroversen gestimmt. In der Historischen Vierteljahrsschrift, einem angesehenen Fachorgane, finde ich – um ein Beispiel für unzählige zu nennen – folgende schöne Stelle: »Eine ›mißverständliche‹ Äußerung ist nach meinem Sprachgebrauch keine solche, die von Mißverständnis zeugt, sondern die Mißverständnis erzeugen könnte. ›Miß[S. 40]verständlich› in diesem Sinne erschienen mir die Worte: ›B. setzt die Urkunde nach 1162‹. Setzen ist ein örtlicher Ausdruck; man kann also richtig sagen: ›B. setzt die Urkunde vor 1162‹, weil wir die Präposition vor ebensowohl örtlich als zeitlich gebrauchen. Der richtige Gegensatz zu dem örtlichen vor ist aber nicht nach, sondern hinter (hinter 1162), während nach in örtlichem Gebrauche uns zunächst die Richtung bedeutet, aber damit zugleich häufig die Vorstellung des ›hinein in‹ verbindet; man vergleiche: ›er ist nach Frankfurt gesetzt‹ und ›das Regiment ist nach Krefeld verlegt‹. Ein Leser von korrektem Sprachgefühl, der B.s eigene Darstellung noch nicht kennt, muß hier also geradezu verstehen: ›B. setzt die Urkunde in das Jahr 1162‹, wiewohl die S.sche Ausdrucksweise häufiger vorkommen mag. Müßig war meine Bemerkung also nicht.«[25]
Im engen Kreis verengert sich der Sinn.
Mir selbst ist eine ähnliche Geschichte, die mich königlich amüsierte, mit einem Geheimrat Harry Breßlau passiert. In meiner »Frühmittelalterlichen Porträtplastik in Deutschland« hatte ich auch die Siegelkunde gestreift und zum Belege dafür, daß mir der Beweis, bereits die frühmittelalterliche Kunst habe eine gewisse Porträtfähigkeit besessen – was bisher unbekannt war und von einem großen Teil der gelehrten Zunft heute noch bestritten wird – u. a. auf folgendes hingewiesen: Im Allgemeinen Reichsarchiv in München befindet sich – auch unter der Abgußsammlung echter Kaisersiegel – ein Siegel, das bisher den Namen Heinrichs II. trug. Ich sah sofort, daß hier ein Irrtum vorliege und es eine[S. 41] Porträtdarstellung Heinrichs III. sei. Daraufhin wurde dann der Irrtum richtiggestellt.
Das muß nun den Herrn Geheimrat tief empört haben, denn er schreibt im 35. Bde. des Neuen Archivs der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde S. 297: »Wenn die Kenntnisse und die Sorgfalt des Herrn ebenso groß wären, wie sein Selbstbewußtsein, würde er vielleicht einen Blick in den dritten Band unserer Diplomata-Ausgabe geworfen und sich überzeugt haben, daß die Tatsache bereits in der Note p. zu DH. H. 332 b auf S. 421 festgestellt war.«
Tant de bruit!!!
Schon an anderer Stelle habe ich meine Ansichten über das Versagen der sogenannten Autoritäten nicht minder als der ganzen gelehrten Zunft dem Genialen und Neuen gegenüber ausgesprochen. Der letzte Abschnitt des ersten Bandes dieses Buches enthält genügend Material zum Beweise dafür, daß der Fortschritt sich nicht durch, sondern trotz Autoritäten vollzieht und daß keineswegs nur im Mittelalter, sondern auch heute noch vorgefaßte Meinungen, Theorien und Hypothesen höher bewertet werden, als gut beglaubigte Beobachtungen, falls sie ihnen widersprechen. Dazu kommt das Gesetz der Trägheit, das gerade in Gelehrtenkreisen unverbrüchlich befolgt wird. Weiteres Material in dieser Richtung zu sammeln, war mir eine besondere Freude.
Beginnen wir mit den Naturwissenschaften.
Bekanntlich war Aristoteles das ganze Mittelalter hindurch eine unbestrittene Autorität in allen weltlichen Fragen. Wie wir noch später bei Betrachtung[S. 43] der Universitäten sehen werden, durfte niemand von seiner Lehre abweichen, es sei denn, sie widersprach einem Dogma. Galens Autorität als Arzt war nicht geringer, die der Bibel in allen Fragen ist hinlänglich bekannt. So werden wir denn sehen, daß es vor allem die genannten Autoritäten sind, denen der Fortschritt im harten Kampfe fußweise den Boden abgewinnen muß, um – andere Autoritäten dafür einzutauschen.
Galilei, 25jährig im Jahre 1589 zum Professor an der Universität Pisa ernannt, trat öffentlich gegen Aristoteles auf, indem er durch Vernunftschlüsse bewies, daß alle Körper gleich schnell fallen. Gleichzeitig trat er den experimentellen Beweis an, indem er vom schiefen Turm der Stadt unter anderem eine 100pfündige Bombe und eine halbpfündige Kanonenkugel fallen ließ, die bei der ungefähren Fallhöhe von 70 m kaum eine Handbreit abwichen. Trotzdem vertrauten die peripatetischen Kollegen ihrem Aristoteles mehr, als der direkten Naturbeobachtung, ja, sie empfingen den unbequemen Gegner mit Pfeifen. Dadurch wurde der große Forscher gezwungen, die Universität zu verlassen, um einer Kündigung seines Kontraktes zuvorzukommen. Als er die Jupitermonde entdeckt hatte, scheuten sich die peripatetischen Professoren, in ein Fernrohr zu sehen, aus Furcht, sie könnten diese Beobachtung bestätigt finden! Daß sie später die kirchliche Hilfe in Anspruch nahmen, um den Mann zu vernichten, der es gewagt hatte, das Aristotelische Himmelsgebäude zu stürzen, ist hinlänglich bekannt. Aber auch die wissenschaftlichen »Autoritäten« traten[S. 44] gegen seine Verteidigung des Kopernikus und der Drehung der Erde auf. Der Professor der Philosophie in Pisa, Scipione Chiaramonti (1565–1652), schrieb heftig gegen seine epochemachende Vergleichung des Ptolemäischen und Kopernikanischen Weltsystems und der Peripatetiker Claude Berigard (1578–1663) behauptete, Galilei habe dem Simplicius nicht die stärksten Gründe gegen die Bewegung der Erde in den Mund gelegt.[26]
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Da J. Baptista Benedettis mechanische Entdeckungen wiederholt Aristoteles widersprachen, fanden sie nicht die verdiente Beachtung. Im 16. Jahrhundert mußte die Physik nach Aristoteles oder zur Not, wenn es sich um statische Verhältnisse handelte, nach Archimedes gelehrt werden. Sonst konnte das Werk nicht den Beifall der zünftigen Gelehrten finden und wurde, soweit irgend möglich, totgeschwiegen.[27]
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Tycho de Brahe lehnte das Kopernikanische System ab, unter anderem, weil die Bibel (Josua 10, 12) direkt der Bewegung der Erde widerspräche. Allerdings stürzte er das bisher herrschende Ptolemäische System.[28]
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Peter Ramus (Ramée geb. 1515), ein verdienstvoller französischer Mathematiker, der auch als Lehrer der Beredsamkeit und Philosophie tätig war, griff Aris[S. 45]toteles, dessen Logik er noch nicht einmal gelten lassen wollte, kühn an. Dadurch entfesselte er einen förmlichen Sturm der Entrüstung an allen Universitäten, der für ihn die schlimme Folge hatte, daß er seiner Lehrerstelle in Paris entsetzt wurde und aus der Stadt fliehen mußte. Als er später zurückzukehren wagte und seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm, wurde er in der Bartholomäusnacht 1572 ermordet, wie man sagt auf Anstiften des Carpentarius, seines scholastischen Gegners.[29]
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Newton, der erst im 12. Lebensjahre auf die Schule kam und dort anfänglich als schlechter Schüler galt, veröffentlichte 1687 in seinem berühmten Werke Philosophia naturalis principia mathematica das bereits früher von ihm entdeckte Gravitationsgesetz. Statt nun anzuerkennen, was Newton unwiderleglich bewiesen hatte, daß alle Himmelserscheinungen wenigstens so vor sich gehen, als strebten alle Körper nach dem direkten Verhältnis ihrer Massen und dem indirekt quadratischen Verhältnis ihrer Entfernungen zueinander, negierten seine Cartesianischen Gegner einfach Newtons große Entdeckung.[30]
Später erklärte er kategorisch, »Hypothesen bilde ich nicht«. Durch die Autorität, die dieser Mann, dessen Schüler nach und nach mehr oder weniger alle Physiker wurden, im Laufe der Zeit erlangt hatte, bekamen die Hypothesen lange Zeit einen verächtlichen Beigeschmack und verschwanden mehr als nötig und dienlich aus der Physik.
Cotes, der Schüler Newtons, erklärte, allerdings nicht ohne seines Meisters Verschulden, die Schwere für eine einfachste, vom Schöpfer der Materie direkt eingepflanzte Ursache. Er hält es für irreligiös, nach weiteren Erklärungen derselben zu suchen und so den Schöpfer ganz eliminieren, oder doch ganz begreifen zu wollen. In der von ihm zu Newtons Lebzeiten veranstalteten 2. Auflage der »Principien« erklärte er schon das Suchen nach der Ursache der Schwere oder Vermittlung der Fernwirkung als ein Zeichen des Atheismus![31]
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Huygens veröffentlichte 1690 seine bereits 1678 vor der Pariser Akademie verlesene Abhandlung über das Licht, in der er eine vollständige Undulationstheorie des Lichtes entwickelte, die bis auf einen Hauptpunkt ganz mit unserer jetzigen Lichttheorie übereinstimmt. Huygens setzt nämlich einen höchst feinen und beweglichen, durch das ganze Weltall verbreiteten Stoff, den Äther, voraus. Wird an einer Stelle ein Ätherteilchen in Schwingung versetzt, so teilen sich die Schwingungen allen benachbarten Teilchen mit und durch den Raum pflanzt sich eine Ätherwelle fort, die jenes Teilchen zum Mittelpunkt hat. Trifft eine solche Welle unser Auge, so haben wir die Empfindung von Licht. Dank dieser Theorie gelang es für jede Richtung des in einen Doppelspat einfallenden Lichtstrahles die Richtung auch des außerordentlich gebrochenen Strahles durch Rechnung oder Konstruktion ohne jede weitere Beobachtung zu finden. Dieser Traité de la lumière, bzw. diese Undulations[S. 47]theorie fand nicht die Anerkennung Newtons. Die Abhandlung wurde von den Physikern einfach totgeschwiegen und blieb in der Folgezeit ohne jede Wirkung. Sie war für ein ganzes folgendes Jahrhundert so gut wie nicht geschrieben. Noch die bedeutenden Geschichtschreiber zu Ende des 18. Jahrhunderts erwähnen das Werk fast nur als Kuriosität![32]
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Jean Richer († 1696) wurde von der Pariser Akademie im Jahre 1671 nach Cayenne geschickt, und kehrte zwei Jahre später von dieser Reise heim. Anfänglich wurde er wegen der Genauigkeit seiner Arbeiten sehr belobt, doch brachte er auch eine Entdeckung mit, die den Akademikern bald sehr unangenehm wurde. Er hatte von Paris nach Cayenne eine gute Pendeluhr mitgenommen, fand aber, daß sie in Cayenne täglich um zwei Minuten zu langsam ging und daß er das Pendel um 1,25 Linien verkürzen mußte. Er glaubte zuerst an einen Irrtum seinerseits, als er aber bei seiner Rückkehr nach Paris das Pendel wieder auf die frühere Länge stellen mußte, behauptete er mit Sicherheit die Veränderlichkeit der Länge des Sekundenpendels mit der geographischen Breite. Richer erklärte diese daraus, daß durch die Umdrehung der Erde die Schwere am Äquator verringert werde und daß auch vielleicht die Erde an den Polen abgeplattet sei und darum die Schwere nach den Polen hin zunehme. Die Akademie aber wollte durchaus nicht an eine Abplattung der Erde glauben. Übrigens widersetzte sich die Pariser Akademie auch dieser Tatsache, als Newton sie[S. 48] 1687 bewies. Man führte die Verlängerung des Pendels auf das heiße Klima zurück, wiewohl Newton nachwies, daß die Ausdehnung durch die Wärme viel zu gering sei.
Für Richer war seine Entdeckung sehr verhängnisvoll. Die eine unbequeme, weil in den Augen der Akademiker der geltenden Theorie widersprechende Beobachtung verringerte den Wert aller übrigen, so daß er schwer darunter leiden mußte und kränkelnd von der Reise zurückgekehrt, hinfort nur mehr geringen Anteil an den Arbeiten der Akademie nahm.[33]
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Thomas Youngs Arbeiten, durch die er zu einem Reformator der Theorie der Optik wurde, hatten zu seinen Lebzeiten gar keinen Erfolg. Henry Brougham (1778–1868) schrieb in der angesehenen Edinburgh Review vom Jahre 1803 sehr ungünstig über seine Arbeiten. Er vermochte in denselben absolut nichts, was den Namen einer Entdeckung, ja nur eines wissenschaftlichen Experiments verdiente, zu finden und konnte seinen Bericht überhaupt nicht schließen, »ohne die Aufmerksamkeit der Royal Society darauf zu lenken, daß sie in den letzten Zeiten so viele flüchtige und inhaltsleere Aufsätze in ihre Schriften aufgenommen habe«. Als William Hyde Wollaston sich für Youngs Interferenztheorie günstig ausgesprochen hatte, äußerte Brougham auch darüber seine Unzufriedenheit, »daß ein so genauer und scharfsinniger Experimentator die seltsame Undulationstheorie angenommen hat«. Die englischen Gelehrten gingen über Youngs Arbeiten ohne weitere[S. 49] Diskussion zur Tagesordnung über, die Deutschen übersetzen sie, ohne Gebrauch davon zu machen und die Franzosen lernten sie gar nicht oder doch nur ganz unvollkommen kennen. Schließlich wurde Young selbst wankend und bereit sein System aufzugeben![34]
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Als Fresnel durch seine Arbeiten die feste Begründung der Undulationstheorie des Lichtes gab, die Theorie der Interferenz und Beugung des Lichtes durch seine meisterhaften Messungen bestätigte, die Gesetze der Reflexion und Brechung des polarisierten Lichtes entwickelte, desgleichen die der Doppelbrechung des Lichtes in Kristallen u. a. m. konnte er doch den vollen Sieg seiner Ansichten nicht mehr erleben. Der gefeierte Physiker Biot vertrat nach wie vor die Emanationstheorie. Ganz ungeheuerlich aber erschien den Physikern die Annahme der Transversalschwingungen des Äthers. Weder Arago noch Laplace noch Poisson konnten sich zu ihr bekehren. Noch bis 1830 blieb die Allgemeinheit der Physiker dabei, daß Emissionstheorie und Undulationstheorie die optischen Erscheinungen ungefähr gleich gut erklären. Brewster lehnte die letztere sogar noch 1833 erbittert ab.[35]
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Als Fraunhofer im Sonnenspektrum die bekannten Linien fand und feststellte, daß sie immer unter denselben Umständen vorhanden waren und unter allen Umständen in denselben Farbentönen liegen blieben, was er im I. Band der Denkschriften für die Münchener Akademie der Wissenschaften[S. 50] 1814/15 veröffentlichte, legten die Physiker den Linien wenig theoretische Wichtigkeit bei. Biot erwähnte sie selbst in der 3. Auflage seines Lehrbuches noch nicht und die ersten Bände von Gehlers physikalischem Lexikon machten auch nur wenig Aufhebens von ihnen.[36]
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Die Theorien der Elektrodynamik und des Elektromagnetismus, die Ampère aufstellte, wurden anfänglich von den Physikern abgelehnt. Biot war des Unterganges dieser Lehren ganz sicher und erhoffte von den Physikern, daß sie ihm seinerzeit die Ehre zollen würden, daß er von Anfang an diese Hypothesen abgelehnt habe.[37]
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Als Sadi Carnot 1824, 28jährig, sein Werk »Réflexions sur la puissance motrice du feu et les machines propres à développer cette puissance« veröffentlicht hatte, durch das er der Vater der neueren Wärmetheorie wurde und in dem er zum ersten Male klar und deutlich die Erschaffung mechanischer nicht bloß, sondern auch physischer Kräfte leugnete und das perpetuum mobile mechanicum so gut wie das perpetuum mobile physicum, wenigstens soweit es thermodynamische Maschinen betraf, für unmöglich erklärte, erfuhr sein Werk völlige Nichtbeachtung. Weder Berzelius noch Gehlers Wörterbuch der Physik erwähnen Carnot. Erst nach der Entdeckung des mechanischen Äquivalents der Wärme fanden seine Arbeiten die verdiente Aufmerksamkeit.[38]
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Die von George Green 1828 gefundene Potentialfunktion wurde überhaupt nicht beachtet, ebenso die Arbeiten Hamiltons über dasselbe Thema nur wenig. Erst als Gauß 1840 die von ihm kurz Potential genannte Funktion bearbeitete, fand sie allgemeine Verbreitung und Anerkennung.[39]
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Faradays Bemerkungen über die Influenz fanden keine ungeteilt günstige Aufnahme und die meisten Physiker, zumal die deutschen, waren mit seiner Gegnerschaft gegen die actio in distans durchaus nicht einverstanden. Man hielt seine Ideen von einer vermittelten Fernwirkung für Gebilde einer ausschweifenden Phantasie oder verkehrt geleiteter Philosophie.[40]
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Euler führte 1762 Licht, Wärme und Elektrizität auf eine allgemeine Ursache, den Äther, zurück. Damit kam er, trotz mancher Mängel der Hypothese, dem Gesetz der Umwandlung der Kräfte sehr nahe und verdient unsere höchste Bewunderung dafür, daß er vor mehr als einem Jahrhundert nicht nur auf eine gemeinsame Wurzel aller Kräfte hinwies, sondern daß es ihm auch gelang, wenigstens teilweise die Erscheinungen aus ihr abzuleiten. Da er jedoch mit Newtons Autorität kollidierte, wußten seine Zeitgenossen sein Verdienst nicht zu schätzen. Bezeichnend ist, daß Priestley in seiner zu London 1772 erschienenen Geschichte der Optik in bezug auf den großen Mathematiker es ablehnt, »den Leser mit bloßen Hypothesen aufzuhalten«.[41]
Graf Rumford (1753–1814) hatte durch Beobachtungen beim Kanonenbohren in den Werkstätten des Militärzeughauses zu München und daran anschließende Versuche festgestellt, daß durch Reiben zweier Körper aneinander unbestimmte, vielleicht unbegrenzte Mengen von Wärme erzeugt werden könnten. Daraus folgerte er, daß man unmöglich diese Wärme selbst als einen Stoff annehmen könne – dies nach der gültigen Phlogistontheorie geschah –, sondern was durch Bewegung immer unerschöpflich erzeugt werden könne, selbst nur Bewegung sei. Daher müsse man alle Wärmeerscheinungen als Bewegungserscheinungen auffassen.
Humphry Davy (1778–1829) prüfte Rumfords Versuche nach und erzeugte Wärme sogar durch Reibung von Eisstücken, wobei sich herausstellte, daß das sich bildende Wasser eine höhere Temperatur erhielt, als die Lufttemperatur gerade betrug. Das war eine glänzende Bestätigung von Rumfords Versuchen. Er stellte eine Vibrationstheorie auf und erklärte alle Erscheinungen der Wärme durch die Annahme, daß in einem festen Körper die Teilchen in beständig schwingender Bewegung sind. Auch Thomas Young, der Wiedererwecker der Undulationstheorie des Lichtes, bekannte sich zur Vibrationstheorie und gelangte zur Überzeugung, daß Licht und Wärme aus ganz gleichartigen Schwingungen bestehen, die sich nur dadurch unterscheiden, daß die Wärmeschwingungen langsamer sind, als die des Lichtes. Trotzdem fühlten sich die Physiker nicht veranlaßt, diesen Behauptungen Youngs eine größere Beachtung zu schenken, als seinen Bemühungen um die Reform[S. 53] der Optik. Die meisten Physiker kehrten, wiewohl sie merkten, daß sich die genannten Versuche mit der Annahme eines Wärmestoffes schwer vereinigen ließen, doch zu ihm zurück. Man betrachtete die Erzeugung der Wärme durch Reibung nur als einen nicht geklärten dunklen Punkt an dem sonst reinen Himmel der herrschenden Theorie, und bemühte sich mit gutem Erfolg, diesen dunklen Punkt ganz zu übersehen.[42]
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Giovanni Battista Guglielmini († 1817) stellte Berechnungen an über die Abweichung fallender Körper von der Lotlinie und fand, daß die östliche Abweichung eines von der St. Peterskirche in Rom 240 Fuß hoch fallenden Körpers durch die Rotation der Erde ½ Zoll von der Vertikalen betragen müsse. In den Jahren 1790 und 1791 machte er diesbezügliche Versuche, die mit den Resultaten seiner Berechnung ziemlich gut übereinstimmten. Wunderbarerweise fand er aber auch gleichzeitig eine, allerdings geringe, südliche Abweichung. Laplace schloß aus dieser Abweichung, die ihm theoretisch unmöglich erschien, nur, daß die ganzen Versuche gänzlich ungenau und ihr Zeugnis für die Achsendrehung der Erde ganz unkräftig sei.
Auch als Benzenberg im Jahre 1802 vom Michelsturm in Hamburg und im nächsten Jahre in einem Kohlenschacht zu Schlehbusch in der Mark die Versuche mit gleichem Resultat wieder aufnahm, gelang es ihm nicht, die meisten Physiker davon zu[S. 54] überzeugen, daß die südliche Abweichung in Zusammenhang mit der Schwere und Rotation der Erde stünde.[43]
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Als es Davy, der übrigens als Lehrling bei einem Chirurgen und Apotheker seine glänzende Laufbahn begonnen hatte, gelungen war, noch vor dem Jahre 1812 das elektrische Bogenlicht zu erzeugen, mit dem er Platina, Quarz, Kalk etc. schmolz, erregten diese Entdeckungen nicht das Aufsehen, das man hätte erwarten dürfen. Ja, theoretisch erschien die kolossale Wärme- und Lichtproduktion bei der geltenden materiellen Theorie der Wärme sogar beunruhigend und unbequem! Man beobachtete hinfort unter den Physikern über dieses Thema Schweigen![44]
Dufay (1698–1733) war es ein Jahrhundert früher nicht besser ergangen. Er hatte u. a. die Verschiedenheit der positiven von der negativen Elektrizität entdeckt. »Das entscheidende Kennzeichen besteht darin, daß sie sich selbst abstoßen und im Gegenteil eine die andere anzieht.« Dieses äußerst wichtige Prinzip fand nicht gleich die verdiente Anerkennung und ist später erst zur Geltung gebracht worden, ohne daß man dabei die Verdienste Dufays anerkannt hätte.[45]
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Der geniale Erfinder Papin, der bereits den Gedanken hatte, Wagen durch Dampfkraft zu bewegen, der Versuche mit einem Taucherschiff anstellte, eine Zentrifugalpumpe erfand, die ohne Ventile und Klappen[S. 55] kontinuierlich das Wasser heben und auch als Blasebalg gut verwendbar sein sollte, der ferner den nach ihm benannten Dampfkochtopf erfand, der aber auch erst der Neuzeit die Dienste leistete, die Papin sich von ihm versprach, hatte den Plan, ein Schiff durch Dampfkraft zu bewegen. Es gelang ihm jedoch nicht, die Royal Society, die überhaupt die Entwicklung der Dampfmaschine wenig beachtete, für seine Idee zu gewinnen. Er starb in Dürftigkeit.[46]
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Im Jahre 1663 erschien aus der Feder des Edward Somerset, Marquis of Worcester, in London ein Schriftchen unter dem Titel: A century of the names and scantlings of such inventions as at present I can coll to mind to have tried and perfected. Hier erwähnt unter No. 68 Worcester eine Maschine, die, mit Dampf betrieben, Wasser in beliebiger Menge auf beliebige Höhe fortdauernd zu heben vermag. Obwohl er auf diesen Vorläufer der Dampfmaschine im gleichen Jahre für sich und seine Erben ein Patent auf 90 Jahre erhielt, geriet die Erfindung mit seinem 1667 erfolgten Tode bereits in Vergessenheit.[47]
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Als Poggendorf im XLVIII. Bande seiner Annalen 1839 (S. 193) einen Aufsatz über Daguerres Erfindung der Photographie brachte, rechtfertigte er die Veröffentlichung folgendermaßen: »Bei dem allgemeinen und, man kann wohl sagen, über[S. 56]triebenen Interesse, welches die Anzeige von Herrn Daguerres Entdeckung im Publikum gefunden hat...« Das Publikum, d. h. die Nichtzünftler, hat allerdings häufig genug mehr Verständnis für das Neue bewiesen, als die Hochgelahrten.
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Das Telephon, die Erfindung des Autodidakten Philipp Reis, wurde zwar in wissenschaftlichen Werken, ja sogar in populären Schriften erwähnt. Das hinderte aber nicht, daß es allmählich in Vergessenheit geriet. Und zwar so gründlich, daß die mit Unterstützung der historischen Kommission der bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene »Geschichte der Technologie« von Karl Kramarsch (München 1872) weder den Namen des Erfinders Reis, noch die von ihm geprägte Bezeichnung Telephon aufführt. Erst als Graham Bell, der den Apparat verbesserte, auch die Idee für sich in Anspruch nahm, erinnerte man sich in Deutschland des ursprünglichen Erfinders, dessen Tage gezählt waren.[48]
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Die »Edinburgh Review« forderte das Publikum auf, Thomas Gray in eine Zwangsjacke zu stecken, weil er den Plan von Eisenbahnen entwarf.
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Ein so großer Gelehrter wie Sir Humphry Davy lachte über die Vorstellung, daß London einmal mit Gas beleuchtet werden solle.
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Die französische Akademie der Wissenschaften verspottete den großen Astronomen Arago, als er nur das Verlangen stellte, über das Projekt eines elektrischen Telegraphen eine Diskussion zu eröffnen.
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Als Stephenson vorschlug, Lokomotiven auf der Liverpool- und Manchestereisenbahn zu benutzen, führten gelehrte Männer den Beweis, daß es unmöglich sei, zwölf englische Meilen in einer Stunde zurückzulegen. Eine andere hohe wissenschaftliche Autorität erklärte es für gleich unmöglich, daß Meeresdampfer jemals den Atlantischen Ozean durchkreuzen könnten.[49]
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Als die Gasbeleuchtung der Straßen eingeführt werden sollte, eiferte die Kölnische Zeitung in der Nummer vom 23. April 1828 aus theologischen Gründen dagegen. Es sei unzulässig, die von Gott dunkel geschaffene Nacht zu erhellen.
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Helmholtz erklärte im Jahre 1872 als Mitglied einer vom preußischen Staate eingesetzte Kommission zur Prüfung äronautischer Fragen für nicht wahrscheinlich, daß der Mensch, auch durch den allergeschicktesten flügelähnlichen Mechanismus, den er durch seine eigene Muskelkraft zu bewegen hätte, jemals sein eigenes Gewicht in die Höhe heben und dort erhalten könne. Mag der große Gelehrte mit[S. 58] der menschlichen Muskelkraft auch recht behalten haben, so lähmte doch anderseits seine Autorität die aviatischen Bestrebungen überhaupt.[50]
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Der Professor am Polytechnikum in Hannover und dessen nachmaliger Rektor Wilhelm Launhardt (geb. 1832), ein hochangesehener Ingenieur und Fachschriftsteller, warnte seine Zuhörer davor, sich mit den stets vergeblich gewesenen Versuchen zur Erfindung eines Automobils abzuplagen.[51]
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Wenden wir uns nun der Medizin zu, in der es den großen Männern um kein Haar besser erging als in den Naturwissenschaften oder der Technik.
Leopold Auenbrugger (1722–1809), Arzt in Wien, erfand die Perkussionsmethode, über deren Unentbehrlichkeit zur physikalischen Untersuchung des Körpers niemand im Zweifel ist. Und zwar fand er nicht durch Zufall diese großartige Erleichterung der Diagnose, sondern durch Nachdenken und Experiment, dabei ganz unvorbereitet und ohne jegliche Andeutung früherer Beobachter. Er veröffentlichte seine hochbedeutende Erfindung im Jahre 1761 in Wien nach siebenjähriger Vorarbeit unter dem Titel Inventum novum ex percussione thoracis humani ut signo abstrusos interni pectoris morbos detegendi.
Es handelt sich hier um einen der ersten und glänzendsten Triumphe der anatomischen Forschung, und der Gedanke liegt nahe, daß das auch die Zeit[S. 59]genossen erkannt hätten. Wer aber das Verhalten der Zunft und Autoritäten dem Neuen gegenüber kennt, wird es weniger erstaunlich finden, daß nur ein einziger Arzt namens Stoll den Wert der Untersuchungsmethode durch Perkussion, wenn auch nicht ihrem vollen Umfange nach, erkannt und dieselbe geübt hat. Van Swieten und de Haën schenkten Auenbruggers großer Leistung keine Aufmerksamkeit. Von einigen Seiten wurde die Entdeckung lächerlich gemacht, von andern mißverstanden. So schrieb unter andern Vogel in einer Kritik der Auenbruggerschen Schrift (Neue med. Bibliothek 1766, VI, S. 89), daß dieses Inventum mit besserem Recht novum antiquum, als novum hätte benannt werden können, da es nichts anderes als die von Hippokrates geübte Sukkussion sei.
Es ist ja eine beliebte Methode, das Neue zunächst als schlecht abzulehnen. Dann den Nachweis zu erbringen, daß es überhaupt nicht neu ist. Leute, deren Sitzorgane in umgekehrtem Verhältnis zu den Denkorganen entwickelt sind, werden auch stets Anklänge in irgendeinem alten Schmöker finden. Vogel war jedenfalls vorsichtig, als er das hohe Alter einer Erfindung festzustellen versuchte, bevor deren Wert anerkannt worden war. Bezeichnend ist das Urteil des berühmten Haller (Göttingische gelehrte Anzeigen 1762, S. 1013). »Alle dergleichen Vorschläge verdienen zwar nicht auf der Stelle angenommen, aber mit Achtung gehört zu werden.« Nur keine Eile!
Da die wenigen günstigen Urteile keine Beachtung fanden, geriet Auenbruggers Erfindung und Schrift in völlige Vergessenheit, bis der große[S. 60] Pariser Arzt Corvisart ihr den ihr gebührenden Platz in der praktischen Heilkunde sicherte. Im Jahre 1808, also ein Jahr vor des genialen Erfinders Tode, aber 47 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, gab er unter dem Titel »Nouvelle methode pour reconnaître les maladies internes de la poitrine par la percussion de cette cavité« eine Übersetzung des Werkes heraus, deren Vorwort bewies, daß er als erster die Bedeutung dieser Erfindung für das Heil der Kranken in ihrem ganzen Umfange vollkommen gewürdigt hatte.[52]
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Ganz ähnlich wie der Perkussion erging es der zur Diagnose nicht minder wichtigen Auskultation. Der selbständige Erfinder der klinischen Auskultation war der bekannte französische Arzt Laënnec (1781 bis 1826). Zwar hatten bereits die alten griechischen Ärzte diese Methode angewandt, sie war aber völlig in Vergessenheit geraten, so daß Laënnecs Erfinderruhm nicht gemindert wird, um so weniger, als er auch das Stethoskop anwandte und sich als Meister in der Determination akustischer Zeichen erwies. Der von ihm in die Auskultation eingeführten Nomenklatur bedienen sich noch die heutigen Ärzte. Sein Werk ist ein vollständiges Handbuch der Diagnostik, zumal in seiner zweiten 1826 erschienenen Auflage. Übrigens gedenkt Laënnec auch der Perkussion, nur daß er die Leistungen dieser Methode für sich allein für eng begrenzt und zweifelhaft hält.
Zunächst fand Laënnec auch bei seinen Landsleuten keine allgemeine Anerkennung. Man[S. 61] eiferte von mancher Seite gegen die »Cylindromanes«. Besonders Broussais (Examen des doctrines médicales ... T. II, Paris 1821) hatte vielfache oft recht kleinliche Bemängelungen und Ausstellungen. Am ersten wurde die neue Methode in England, zuletzt in Deutschland angenommen.[53]
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Franz Anton Mesmer (1733–1815) suchte nachzuweisen, daß die Himmelskörper durch ihre gegenseitigen Anziehungskräfte einen Einfluß auf unser Nervensystem ausüben (de Planetarum influxu 1766). Ferner beschäftigte er sich viel mit Magnetismus, den er für heilkräftig hielt und mit dem er auch Heilungen vollführte. Als er bemerkte, daß auch ohne Anwendung des Magnetes durch bloßes Streichen mit den Händen eigentümliche Wirkungen hervorgebracht wurden, schloß er daraus auf eine von ihm ausströmende, dem Magnetismus verwandte Kraft, die er »tierischen Magnetismus« nannte und in sein Heilsystem aufnahm. (Sendschreiben an einen auswärtigen Arzt über die Magnetkunde, Wien 1775.) Tatsächlich gelang es ihm, Schlaf zu erzeugen, er beobachtete den Somnambulismus und das Hellsehen, ließ mit den Fingerspitzen verschlossene Briefe lesen u. a. m. Andere identifizierten die zugrundeliegende geheimnisvolle Kraft nicht mit dem Magnetismus, sondern, wie Reichenbach mit dem von ihm angenommenen Od, oder wie Kieser, Gmelin, Passavant mit Tellurismus, Siderismus oder Nervenäther.
Doch die Erklärungsversuche der Phänomene haben für uns weniger Interesse, als die Stellung der[S. 62] wissenschaftlichen Welt zu Mesmer. In Wien hatte er wenig Glück. Eine Partei tat das, was dem unbequemen Neuen gegenüber immer das Naheliegendste ist und was deshalb unsere offizielle Wissenschaft auch heute noch den okkulten Phänomenen gegenüber tut: sie leugnete kurzweg alles. Selbst Wiener Augenzeugen (Störck, Barth, Ingenhouß) sprachen sich nicht für die Glaubwürdigkeit seiner magnetischen Kuren aus. Nur wenige Ärzte, die die Vorgänge an Magnetisierten beobachtet hatten, gaben ein, wenn auch nicht absolut günstiges, so doch reserviertes Urteil über die Vorgänge ab. Zwar begründete Mesmer in Wien ein Spital zur Ausübung seiner Heilmethode, mußte die Kaiserstadt aber 1778 verlassen, um sich nach Paris zu begeben. Hier wurde der Magnetismus zur Modesache. Das hinderte aber – und mit Recht – die Gelehrten natürlich nicht, nach wie vor ihm kritisch gegenüberzustehen. Daß die Pariser Akademie der Wissenschaften und die medizinische Fakultät, Instanzen, denen 1784 die Untersuchung übertragen war, und in denen Männer wie Leroy, Bailly, Lavoisier u. a. saßen, die Heilerfolge einfach auf die Macht der Einbildung zurückführten und damit alle Mesmerschen Experimente leugneten, zeugt allerdings nicht von übergroßem Scharfblick. Mesmer sah sich daraufhin gezwungen, nach Deutschland zurückzukehren.
Daß sich Mystik und Schwärmerei der wunderbaren Entdeckung bemächtigten, liegt nahe, ebenso daß dadurch ernste Männer zu erhöhter Skepsis veranlaßt wurden. Tatsächlich fiel bereits in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts der tierische Magnetismus bei den Ärzten in Mißachtung, nachdem er eine[S. 63] Zeitlang Anhänger gehabt hatte. Mesmer aber galt hinfort als Schwindler.
Wir wollen hier natürlich keine Lanze für den tierischen Magnetismus brechen, noch für Reichenbachs Od oder andere Erklärungsversuche. Wohl aber legen wir Gewicht auf die sich auch hier wiederholende Erscheinung, daß Tatsachen geleugnet werden, weil sie in das gerade herrschende System nicht passen, oder weil Phantasten aus ihnen zu weit gehende Schlüsse ziehen.
Doch Mesmer sollte eine, allerdings sehr späte, Rechtfertigung erfahren. Im Jahre 1841 machte der Arzt James Baid (1795–1860) in Manchester die Entdeckung, daß bei einzelnen Individuen durch jedes beliebige Verfahren, das die Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenkt, ein eigentümlicher Schlaf hervorgerufen werden kann und daß dieses Verfahren sich unter Umständen auch als Heilmittel empfehle. In seiner 1843 erschienenen Schrift nannte er diese Erscheinung Neurypnologie (so der Titel des Buches) oder Hypnotismus. Er beobachtete dieselben Erscheinungen wie beim Mesmerismus, verwahrte sich aber – vielleicht durch das Beispiel jenes gewarnt – mit aller Entschiedenheit gegen die Annahme einer besonderen, vom Arzt ausgeübten, Kraft und betonte, daß sie lediglich auf einer eigentümlichen subjektiven Stimmung beruhe, in der das Individuum durch nervöse Erregung, herbeigeführt durch Konzentration des Geistes auf einen Gedanken, versetzt werde oder sich selbst versetze. Erst im Todesjahre Braids 1860 wurde durch Broca und Azam der Braidismus als ein wichtiger Fortschritt erkannt und der Pariser[S. 64] Akademie der Wissenschaften davon Mitteilung gemacht. Trotzdem blieben diese Erscheinungen bis zum Ende der siebziger Jahre ziemlich unbekannt. Erst durch das Auftreten des gewerbsmäßigen Hypnotiseurs Hansen 1879 angeregt, haben seit 1880 die exakten Untersuchungen von seiten kompetenter Naturforscher die Realität der mit dem Namen Hypnotismus bezeichneten Erscheinungen und die Identität derselben mit den von fremden Zutaten entkleideten Beobachtungen Mesmers außer aller Frage gestellt.[54]
Virchow blieb bekanntlich zeitlebens ein Leugner und Hauptgegner des Hypnotismus.
Bedenkt man nun, daß Suggestion, Hypnotismus, Somnambulismus, Hellseherei und wie diese Erscheinungen alle heißen mögen, seit vielen Jahrtausenden bekannt und geübt sind, daß Mesmer zuerst die Augen des gebildeten Europa mit negativem Erfolg auf seine Experimente richtete und daß nach seinem Tode 70, nach der ersten Veröffentlichung seiner Beobachtungen mehr als 100 Jahre vergingen, dann wird man gegen Negationen von Autoritäten und Akademien nicht minder mißtrauisch werden, als man vorurteilslos an irgendwelche noch so phantastisch erscheinende Behauptungen herantreten wird. Was aber Hypnotismus und Suggestion ihrem Wesen nach sind, weiß man heute ebensowenig, wie in Mesmers Tagen. Man begnügt sich mit Beschreibung der Beobachtungen und Anwendung der gemachten Erfahrungen. Ob das aber prinzipiell den Hypothesen eines Mesmer und Reichenbach gegenüber ein Fortschritt ist, sei dahingestellt. Auch auf diesem Felde wird die Zukunft[S. 65] uns nicht durch, sondern trotz der Autoritäten die Wahrheit entschleiern.
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Die Dialectical Society in London hielt im Jahre 1869 eine große Anzahl von Sitzungen zur Erforschung der sogenannten okkulten Phänomene ab, an denen unter anderen bedeutenden Männern auch Alfred Russel Wallace teilnahm. Die Resultate über Tischrücken, Klopfen, Bewegung von Gegenständen ohne Kontakt etc. waren so erstaunlich, daß mehrere Mitglieder der Gesellschaft sich weigerten, die Schlüsse anzuerkennen, es sei denn, der Chemiker Crookes hätte sie nachgeprüft. Der berühmte Gelehrte unterzog sich dieser Aufgabe mit dem Erfolge, daß er die erstaunlichsten Beobachtungen der Dialectical Society nicht nur bestätigen, sondern sogar ergänzen konnte. Z. B. gelang es, eine Ziehharmonika ohne Berührung zum Spielen zu bringen, Gewichtsveränderungen von Körpern zu erzielen, Tische und Stühle, ja menschliche Körper ohne Berührung in die Höhe zu heben etc. Hatte früher Crookes Bereiterklärung, sich der Nachprüfung zu unterziehen, das Entzücken aller Kritiker geweckt, schlug die Stimmung ins konträre Gegenteil um, als die Hoffnungen, der Gelehrte werde ein neues Zeugnis zugunsten ihrer Ansichten bringen, sich nicht erfüllten. Die Königliche Gesellschaft in London aber, deren Mitglied Crookes ist, und die seine Beteiligung an den okkulten Forschungen gebilligt hatte, solange sie annehmen konnte, es handle sich um Schwindel, nahm seine Schrift nicht an, als er den Bekennermut bewies, das zu bestätigen,[S. 66] was er gesehen hatte. Professor Stokes, der Sekretär der Gesellschaft, weigerte sich, sich mit diesem Gegenstande zu befassen und auch nur den Titel unter den akademischen Publikationen einzutragen. Es war die genaue Wiederholung dessen, was an der Akademie in Paris im Jahre 1853 den Versuchen des Grafen Gasparin gegenüber geschehen war und was die Londoner Gesellschaft einst Franklins Blitzableiter gegenüber getan hatte.[55]
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Als Lombroso den Nachweis erbracht hatte, daß das Pelagra, eine in Italien furchtbare Opfer fordernde Krankheit, durch Vergiftung mit verdorbenem Mais entstehe, wurde diese Theorie jahrelang mit wahrer Wut bekämpft, bis sie sich allgemein durchsetzte. Heute zweifelt niemand mehr daran, daß Lombroso die Ursache des Pelagra richtig erkannte.
Ähnlich ging es ihm mit der Theorie des geborenen Verbrechers, die auch heute noch von vielen abgelehnt wird. Immerhin ist sie ins Strafrecht eingedrungen, z. B. in Ungarn, aber auch in Deutschland, wo man versucht, der Person des Verbrechers Rechnung zu tragen.
Diese einem Aufsatz von Lombrosos langjährigem Freunde A. Pfungst entnommenen Angaben sind auch deshalb interessant, weil der Autor das Eintreten des italienischen Gelehrten für Okkultismus und Spiritismus damit entschuldigt, »daß das Alter seine eminente Beobachtungsgabe, auf die er sich bei den spiritistischen Experimenten blindlings verließ, schon[S. 67] sehr geschwächt hatte« (S. 641). Also auch hier Theorie gegen Beobachtung und Experiment.[56]
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Karl Schleich, der Erfinder der subkutanen Einspritzung zur Erreichung der Anästhesie wurde von den Kollegen heftig bekämpft.
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Lord Lister (geb. 1827), der Vater der modernen Wundbehandlung, der zuerst Desinfektion der Wunde, dann aller mit der Wunde in Berührung kommenden Gegenstände anwandte und empfahl, hatte zwar in Deutschland größeren Erfolg als in seinem Vaterlande, aber auch bei uns wurde seine großartige Entdeckung von einigen bedeutenden Chirurgen skeptisch aufgenommen. Und doch wüteten damals Pyämie (Eiterfieber), Septichämie (Blutvergiftung), Wundrose, Hospitalbrand, Lymphgefäß- und Venenentzündung in entsetzlicher Weise. In Nußbaums Krankenhaus verfielen diesen Infektionskrankheiten alle komplizierten Brüche, fast alle Amputationen. 1872 kam dazu der Hospitalbrand, der sich bis 1874 so vermehrte, daß 80% aller Wunden und Geschwüre von ihm ergriffen, vielfach Knochen abgestoßen, Gefäße angefressen wurden, und zwar in Fällen, die vielleicht wegen eines entzündeten Fingers, einer Schrunde am Kopf oder einer anderen Kleinigkeit ins Spital kamen. »Eine wirklich glatte Heilung hat man vor dem Jahre 1875 auf dieser Klinik nie gesehen.« Wie durch einen Zauber[S. 68] verschwand das alles durch Listers große, von Nußbaum in ihrer Tragweite erkannte Erfindung.[57]
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Der Pfarrer I. F. Esper (1742–1810) hatte in den Gailenreuther Höhlen der Fränkischen Schweiz zwischen den Resten vorweltlicher Tiere auch Menschenknochen entdeckt, und die Fundgeschichte 1774 veröffentlicht. In seinem Werke »Ausführliche Nachricht von neuentdeckten Zoolithen«, das sich durch heute noch vollkommen brauchbare Abbildungen der von ihm entdeckten diluvialen Höhlentiere auszeichnet, hatte er ganz im Sinne der modernen Wissenschaft argumentiert: Der Mensch, dessen Reste mit denen der diluvialen Säugetiere im Höhlenschlamme begraben wurden, muß auch mit diesen Tieren gelebt haben, er war sonach Zeuge der »großen Flut«.
Daß sein Fund falsch gedeutet wurde, war des großen Cuvier (1769–1832) Schuld. Er erkannte zwar die wissenschaftliche Richtigkeit des Esperschen Fundes an, aber für den diluvialen Menschen war in seinem Weltsystem kein Raum. Seine bis vor wenigen Jahrzehnten in der Wissenschaft herrschende Katastrophentheorie nahm gewaltige Erdrevolutionen an, die die organischen Schöpfungen der vorausgehenden geologischen Periode vollkommen vernichteten, so daß durch Neuschöpfung sich nach jeder solchen Revolution die Erde neu bevölkern mußte. Da sei es undenkbar, daß der Mensch, der Periode des Alluviums angehörig, die Katastrophe, die vor 5–10000 Jahren das Diluvium mit Mammut, Elefant, Nashorn etc. vernichtete, überdauert hätte.
Cuviers Autorität wurde noch gestützt durch die der Bibel, deren Sintflutsage er eine gewisse wissenschaftliche Stütze gewährte. Deshalb wurde dieser Katastrophentheorie besonders in England, »wo theologische Vorurteile von jeher die geologischen Anschauungen beeinflußten«, gehuldigt. Sie erschwerte Darwin und Lyell den Sieg der Evolutionstheorie, die uns heute beherrscht.
Ohne Cuvier würde man ohne Zweifel den Homo diluvii testis, den Diluvialmenschen, weiter gesucht haben, wie Scheuchzer (1672–1733) ihn ja bereits gefunden zu haben glaubte. Allerdings erkannte Cuvier in der Versteinerung, die Scheuchzer in einem vortrefflichen Kupfer publizierte und mit dem schönen Vers:
zierte, statt eines Kindes, einen 1 m langen Wassermolch.[58]
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Im Jahre 1856 wurde im Devonkalk des Neandertales bei Düsseldorf ein Skelett gefunden, das nach den geologischen Umständen des Ortes zweifellos in außerordentlich hohe Vorzeit hinauf reicht. Heute weiß man, zumal inzwischen in Spy, Krapina, Brünn, La Naulette und anderwärts ähnliche Reste gefunden wurden, daß es sich hier um Überbleibsel einer tiefstehenden fossilen Menschenrasse handelt. Das hatte bereits Dr. Fuhlrott, dem die betreffenden Skelettteile zuerst übermittelt wurden, festgestellt. Daß er[S. 70] damals mit seiner Ansicht vom europäischen Urmenschen nicht durchdrang, lag an den Autoritäten. Professor Mayer in Bonn meinte, die Gebeine rührten von einem 1814 gestorbenen Kosaken her, Professor Rudolf Wagner in Göttingen erkannte in ihnen einen alten Holländer wieder, Dr. Pruner-Bey in Paris aber einen Kelten. Maßgebend blieb die Ansicht Virchows, der größten damaligen Autorität, der die Reste mit einem gichtbrüchigen Greis identifizierte. Ihm war es zuzuschreiben, daß lange Zeit die Anthropologen von der richtigen Deutung abgehalten wurden.[59]
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Abraham Gottlob Werner (1750–1817), hervorragender Mineraloge und Vater der Geognosie, stellte die »neptunische Lehre« auf, d. h. die Hypothese, daß der Ozean der Quell aller Bildungen der Erde sei und jede neue Gestaltung im Mineralreich sich aus dem Wasser bilde. Sein Schüler Voigt bestritt das, besonders mit Rücksicht auf den Basalt, erlitt aber durch Werners Autorität eine Niederlage. Erst nach seinem Tode konnte Buchs und Humboldts Vulkantheorie Boden fassen.[60]
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Über den großen 1751 bei Agram gefallenen Meteorstein schrieb der gelehrte Wiener Professor Stütz 1790: »daß das Eisen vom Himmel gefallen sein soll, mögen wohl 1751 selbst Deutschlands aufgeklärte Köpfe bei der damals unter uns herrschenden[S. 71] Ungewißheit in der Naturgeschichte und Physik geglaubt haben, aber in unseren Zeiten wäre es unverzeihlich, solche Märchen auch nur wahrscheinlich zu finden.«
An mehreren Museen wurden solche Meteorsteine sogar weggeworfen, »um sich nicht durch das Behalten derselben lächerlich zu machen«.
Im gleichen Jahre 1790 fiel ein Stein bei Juillac in Frankreich nieder, und der Maire dieser Stadt sandte einen mit der Unterschrift von 300 Zeugen versehenen Bericht an die Akademie der Wissenschaften. Aber die Herren Akademiker waren ihrer Sache zu sicher.
Der Referent Bertholon sagte, man müsse eine Gemeinde bemitleiden, welche einen so törichten Maire habe, daß er solche Märchen glaube. Und er fügte hinzu: »Wie traurig ist es nicht, eine ganze Munizipalität durch ein Protokoll in aller Form Volkssagen bescheinigen zu sehen, die nur zu bemitleiden sind. Was soll ich einem solchen Protokoll weiter beifügen? Alle Bemerkungen ergeben sich einem philosophisch gebildeten Leser von selbst, wenn er dieses authentische Zeugnis eines offenbar falschen Faktums, eines physisch unmöglichen Phänomens liest.«
Alle, die den herrschenden Ansichten dieser Gelehrten nicht beistimmen wollten, wurden verlacht.
Der sonst sehr ruhig denkende Gelehrte A. Deluc sagte sogar: Wenn ihm ein solcher Stein vor die Füße fallen würde, müßte er zwar sagen, er habe es gesehen, könne es aber doch nicht glauben. Auch Vaudin sagte, man müsse so unglaubliche[S. 72] Dinge lieber wegleugnen, als sich auf Erklärungen derselben einlassen.
Das war die Ansicht der französischen Akademie, die damals unter dem Vorsitz des berühmten Laplace in der Wissenschaft unbedingt dominierte.[61]
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Als Piazzi im Jahre 1801 die Entdeckung des ersten Planetoiden Ceres machte, wies sie Hegel (De orbitis planetarum, Jena 1801) aus philosophischen Gründen zurück.[62]
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Bekanntlich ist heute noch nicht der Kampf zwischen Lamarckismus und Darwinismus völlig entschieden und wird es wohl auch nur im Sinne einer Verschmelzung beider Lehren werden können. Da ist es nicht nur erstaunlich, daß Lamarcks »Philosophie zoologique«, wiewohl sie in einem naturphilosophischen Zeitalter erschien, fast unbeachtet blieb, mehr noch ist es des großen Darwin Urteil über dieses hervorragende Werk. Er nennt die Philosophie zoologique ein wertloses Buch, aus dem er nicht eine Tatsache und nicht eine Idee entnommen habe. Mit diesem widersinnigen Buche habe Lamarck der Abstammungslehre mehr geschadet als genützt.[63]
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Herbert Spencer (1821–1903), der größte englische Philosoph des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wurde in solchem Maße als Autodidakt behandelt,[S. 73] daß sein bedeutendes Buch »Social Statics«, das im ganzen nur in erster Auflage in 157 Exemplaren erschien, erst in 14 Jahren abgesetzt wurde. Als nach 24jähriger Tätigkeit sein Erfolg gesichert war, lehnte er die dem unstudierten Manne von den Universitäten von St. Andrews, Bologna, Cambridge, Edinburgh und Budapest zugedachte Würde eines Ehrendoktors ab, wie er auch den Antrag der Akademien von Rom, Turin, Neapel, Paris, Philadelphia, Kopenhagen, Brüssel, Wien und Mailand, ihn zum korrespondierenden Mitglied zu ernennen, zurückwies.[64]
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Wie Robert Mayers erste Arbeiten überall totgeschwiegen wurden, und zwar so gründlich, daß weder in akademischen Zeitschriften darüber referiert noch in anderen Werken von ihnen Notiz genommen wurde, so erging es auch ähnlich Helmholtz’ Abhandlung »Über die Erhaltung der Kraft«. Er sagt selbst darüber: »Die Aufnahme meiner Arbeit in Poggendorffs Annalen wurde mir verweigert, und unter den Mitgliedern der Berliner Akademie war es nur C. G. Jacobi, der Mathematiker, der sich meiner annahm. Ruhm und äußere Förderung war in jenen Zeiten mit der neuen Überzeugung noch nicht zu gewinnen, eher das Gegenteil!«[65]
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Auch die prophetischen Worte E. H. Webers, die er im Jahre 1835 über die zukünftigen Funktionen des elektromagnetischen Telegraphen sprach, blieben vom Spott nicht verschont.[66]
Übrigens hat der gleiche große Physiologe Ernst Heinrich Weber zu wiederholten Malen Zöllner gegenüber geäußert, daß von allen wissenschaftlichen Theorien Virchows auch nicht eine einzige das Ende seines irdischen Daseins überdauern würde.
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Als William Jones und Henry Thomas Colebrooke (1765–1857) das Sanskrit erstmalig gründlich studiert, teilweise übersetzt und gefunden hatten, daß es eine reiche Literatur und nicht geringe Verwandtschaft mit den klassischen Sprachen aufwies, stießen sie auf nicht geringen Widerstand. Da sich mit dieser innigen Beziehung des Sanskrits zu den geographisch so weit entlegenen europäischen Sprachen die alten Anschauungen, welche entweder alle Sprachen aus dem Hebräischen ableiteten oder größtenteils von einander isolierten, nicht in Einklang bringen lassen, so ergriff der berühmte Philologe Dugald Steward (1753–1828) den einfachsten Ausweg, indem er die ganze Geschichte mit der Sanskritsprache für eine Lüge erklärte. Er schrieb einen Essay, in dem er zu beweisen suchte, daß sie von den spitzbübischen Brahmanen nach dem Muster des Griechischen und Lateinischen zusammengeschmiedet sei und die Sprache sowohl als auch die Literatur eine Fälschung seien. Diese Ansicht entwickelte noch im Jahre 1840 der Professor in Dublin, Charles William Wall, weitläufig (Göttingische gelehrte Anzeigen 1842 S. 1888).[67]
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Endlich wollen wir die Niederlage nicht vergessen, die sich Autoritäten und Fachleute noch in allerletzter Zeit in der Frage der Wünschelrute holten. Bekanntlich versteht man darunter eine Rute oder auch einen Draht, der in der Hand gewisser besonders dazu disponierter Leute durch heftiges Ausschlagen das Vorhandensein von unterirdischen Wasserläufen anzeigt. Auch Erzlager sollen auf diese Weise auffindbar sein. Das Gerücht von der wunderbaren Kraft der Wünschelrute, die zumeist aus Hasel oder Weide gemacht wird, geht seit Urzeiten im Volke. Statt nun nachzuprüfen und dabei zu finden, daß die Beobachtungsgabe des Volkes, wie sich schon oft zeigte, der der Gelehrten kaum nachsteht, wenn auch die kritische Sichtung mangelhaft ist, wurde das Phänomen von den Gelehrten rundweg als Humbug abgelehnt.
Das geschah auch, nachdem Landrat von Uslar unbestreitbare Erfolge in Südwestafrika aufzuweisen hatte. Im »Prometheus« wurde in den neunziger Jahren ein heftiger Kampf über die Möglichkeit des Phänomens bzw. dessen Wirklichkeit zwischen Theoretikern, die negierten, und Praktikern, die auf die unleugbaren Erfolge hinwiesen, geführt. Besonders ein Ingenieur H. Ehlert konnte sich in gehässigen Angriffen nicht genug tun.
Da griff in den Jahren 1908 und 1909 der Münchner Arzt Dr. Aigner, also natürlich wieder ein Laie, die Frage auf und es gelang ihm durch eine große Zahl praktischer Beweise, die er in Gegenwart von Vertretern des Magistrates erbrachte, festzustellen, daß die Wünschelrute tatsächlich in den Händen[S. 76] von gewissen Leuten die ihr zugeschriebene Wirkung ausübt.
Über die Erklärung des Phänomens mögen sich die Fachleute in die Haare geraten. Das Wichtigste ist die Konstatierung der Tatsächlichkeit. Der dem Mittelalter gemachte Vorwurf, statt die eigenen Augen zu gebrauchen, nach »Beweisen« bei Aristoteles, Galen und anderen Autoritäten zu fahnden, kann auch der gelehrten Zunft von heute nicht erspart werden. Auch sie lehnt schlankweg alles ab, was nicht in ihre Theorien und Hypothesen paßt, statt die Phänomene zu prüfen und von der festen Basis des Experimentes aus die Richtigkeit der Theorien zu untersuchen.[68]
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Nicht nur auf dem weiten Felde der Wissenschaft, nicht minder im Reiche der Kunst deckt sich eine Geschichte der Kritik mit einer solchen der Blamage der Autoritäten und Sachverständigen. Es sei zugegeben, daß gerade in der Musik sehr viel auf den Geschmack ankommt, da es einen objektiven Maßstab entsprechend der wissenschaftlichen Wahrheit nicht gibt. Immerhin ist es amüsant und lehrreich zu sehen, wie auf allen Gebieten der Fortschritt sich nur im harten Kampfe mit dem Bestehenden durchsetzen konnte.
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Im »Musikalischen Wochenblatt« sprach ein zeitgenössischer Leser seine »freimütigen Gedanken« über Mozart aus und zwar nach dessen Don Giovanni:
»Niemand wird in Mozart den Mann von Talenten und den erfahrenen, reichhaltigen und angenehmen[S. 77] Komponisten verkennen. Noch habe ich ihn aber von keinem gründlichen Kenner der Kunst für einen korrekten, viel weniger vollendeten Künstler halten sehen, noch weniger wird ihn der geschmackvolle Kritiker für einen in Beziehung auf Poesie richtigen und feinen Komponisten halten.«[69]
Übrigens beschuldigte man Mozart auch des Plagiats in der Ouvertüre zu Don Giovanni.[70]
Mozart war, wie Brendel in seiner Geschichte der Musik schreibt, den Zeitgenossen ein Buch mit sieben Siegeln. »Man traut seinen Augen nicht, wenn man die damaligen Zeitungen nachliest und kaum hie und da eine dürftige Notiz über ihn findet. Erst die Zauberflöte machte ihn populär.«
Doch selbst das trifft nicht ganz zu. In Schauls Briefen über Geschmack wird gefragt, ob sich der Anfang des zweiten Finales, dem er eine schöne Melodie zugesteht, mit der gesunden Vernunft vertrüge, da drei kleine Knaben in so schweren Halbtönen singen müßten, daß es einem geübten Sänger schwer werde, sie rein zu treffen. Man warf ihm auch vor, für die Instrumente Unmögliches zu schreiben. Einer der drei Posaunisten in der Friedhofsszene erklärte: »Das kann man so nicht blasen und von Ihnen werde ich es auch nicht lernen!«
Beethoven erging es von seiten der Kritik nicht besser. Er hatte das gemein mit allen genialen Menschen, die neue Wege einschlugen. Die Allgemeine Musikalische Zeitung in Leipzig, damals das einzige deutsche kritische Organ von allgemein anerkannter Autorität, schreibt in einer Besprechung der drei Violinsonaten op. 12: »Herr van Beethoven geht[S. 78] einen eigenen Gang; aber was ist das für ein bizarrer, mühseliger Gang! Gelehrt, gelehrt und immerfort gelehrt und keine Natur, kein Gesang!«[71]
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Im gleichen Organ erschien 1805 über die Eroika folgende verständnisvolle Kritik: »Diese lange, äußerst schwierige Komposition ist eigentlich eine sehr weit ausgeführte kühne und wilde Phantasie. Es fehlt ihr gar nicht an frappanten und schönen Stellen, in denen man den energischen, talentvollen Geist ihres Schöpfers erkennen muß: sehr oft scheint sie sich ins Regellose zu verlieren.«
C. M. von Weber, der Komponist des »Freischütz«, schrieb 23jährig über Beethoven folgendes erstaunliche Urteil: »Die feurige, ja beinahe unglaubliche Erfindungsgabe, die ihn beseelt, ist von einer solchen Verwirrung in Anordnung seiner Ideen begleitet, daß nur seine früheren Kompositionen mich ansprechen, die letzteren hingegen mir nur ein verworrenes Chaos, ein unverständliches Ringen nach Neuem sind, aus denen einzelne himmlische Genieblitze hervorleuchten, die zeigen, wie groß er sein könnte, wenn er seine üppige Phantasie zügeln wollte.«
Die Kreutzersonate (op. 47) wurde zu Beethovens Zeit als unaufführbar erklärt. (Nach Schindler.)
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Als Franz Schubert der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien seine große C-dur-Symphonie aus Dankbarkeit für eine ihm dargebrachte Huldigung übergab, wurde sie von den Künstlern der Gesellschaft als unaufführbar abgelehnt.[72]
Tieck nennt den »Freischütz« das »unmusikalischste Getöse, das je über die Bühne getobt ist«. Ludwig Spohr urteilte über die Oper auch ungünstig.
Über die Euryanthe schreibt die »Zeitung für Literatur, Kunst, Theater und Mode«, nachdem sie dem Komponisten Bizarrerie und Mangel an Einheit und Klarheit vorgeworfen hat. »Mangel an Melodie zeige sich da gerade am meisten, wo sie am ehesten zu erwarten gewesen wäre....«
Franz Schubert sagt vom gleichen Werk, daß es »keine Musik, keine legitime Form und Durchführung enthalte, sondern lediglich auf Effekt berechnet sei und weit hinter dem Freischütz zurückstehe.« (Nach La Mara.)
Dem melodienreichen Oberon ging es nicht besser.
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Daß Wagners Tristan für unaufführbar gehalten wurde, ist allgemein bekannt. Merkwürdig ist, daß Mozarts Biograph Otto Jahn in seinen Gesammelten Aufsätzen über Musik nicht nur Tannhäuser ablehnt, sondern Wagner schöpferisches Genie abspricht!!
Der bekannte Tadel gegen Wagner, er übertöne mit seinen Instrumenten die Sänger, findet sich auch schon Mozart gegenüber. Kaiser Josef II. äußerte es gegen Dr. Hersdorf.
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Endlich noch einige Urteile über Goethe.
Im Oktoberheft des Jahres 1832, ein halbes Jahr nach seinem Tode, schreibt im »Sachsenfreund«, einer damals viel gelesenen Monatsschrift, ein Anonymus aus Weimar:
»Unser Goethe ist vergessen, wie zu erwarten war, zu erwarten nicht der Unempfänglichkeit halber, welche die Weimaraner für achtbare Erscheinungen hätten, sondern seiner eigenen Individualität wegen. Der Mensch fühlt sich nur vom Menschlichen angezogen, solange er es hat, und sieht ihm trauernd nach, wenn’s ihm entrissen wird. Menschliches aber hatte Goethe nicht, wie alle wissen, die ihn näher kannten, und nicht, wie eine Handvoll hiesiger Goethemanen, mit Blindheit über ihn geschlagen sind. Er fühlte und litt mit keinem menschlichen Wesen außer ihm, und die großen Interessen der Menschheit waren ihm völlig fremd, insofern nicht etwa im Gefolge derselben die aristokratischen Gesellschaftsverhältnisse bedroht waren, an denen sein Herz hing. Er war eine in sich abgeschlossene Marmorstatue, in welcher nur das große Talent wohnte, die Welterscheinungen, die sich an und in ihr abspiegelten, mit der objektivischen Anschaulichkeit und Vollendung wiederzugeben. Einen Eindruck brachten sie aber nicht auf ihn hervor. Denn dazu gehört das Medium des Gemütes, und das hatte Goethe nicht. Darum kamen seine Ansichten und Maximen, wenn sie ihm einmal über die weniger bewachte Lippe fuhren, dem gemütvollen Menschen fast schauerlich vor, und man hatte Mühe, sich von der ihm innewohnenden Selbstsucht und Härte einen angemessenen Begriff zu machen. Nie tat er einem wohl, der ihm nicht persönlich dienstfertig dafür wurde, und für Wohltaten wußte er seinen größten Gönnern nicht Dank. Das Testament, das er hinterließ, zeugt für jenes, und der Mann, der fast ohne alle unmittelbar[S. 81] geleisteten Dienste Weimar in mehr als 50 Jahren Hunderttausende kostete, vermachte den Armen oder irgendeinem milden Institut bei seinem Tode – nicht einen Heller. Seine Werke, nun ja, sie werden ihn überleben, nämlich die sechs bis acht Bände, in die eine kritische Hand einmal die Weizenkörner sammelt, welche in vierzig und mehr Bänden voll Spreu enthalten sind. Diese Spreu wird aber vergessen werden. Die Nemesis wird auch hier ihr Amt verwalten, wie sie es in Hinsicht seiner häuslichen Verhältnisse tat.«[73]
Des Witzes halber seien diesem klassischen Urteile eines Anonymus noch einige neuere von katholischen Autoritäten angereiht.
Baumgarten S. J. schreibt in »Goethes Lehr- und Wanderjahre« (Freiburg 1882, S. 99) über die Sturm- und Drangperiode:
»Da sitzen nun die Götterjünglinge, Goethe, Lenz, Klinger, Kaufmann, gelegentlich auch Herder und Wieland; von ferne hört man ein Waldhorn, und der Mond hat nichts zu tun, als das phantasiebedürftige Conciliabulum anzuscheinen. Sehen Sie, meine Herren! Hier haben wir die Anfänge unserer unsterblichen deutschen Nationalliteratur, welche alle bisherigen Literaturen und Kulturen eminent in sich begreift, wie der erwachsene Mann alle früheren Stadien des Lebens. Da die Poesie der beiden Sturm- und Drangpoeten Lenz und Klinger sich hauptsächlich in der Analyse der gemeinsten und wütendsten Leidenschaften, toller Liebe, Eifersucht, Unzucht, Kindsmord und anderer schauerlicher Greuel bewegte, und da sie in Sprache und Ausdruck keine Grenzen kannte, so läßt sich denken, was sie in halben und[S. 82] ganzen Nächten in Goethes Gartenhaus verhandelt haben mögen. Gevatter Wieland hatte an solchen Kapiteln auch seinen Spaß.«
Über »Hermann und Dorothea« urteilt Norrenberg in seiner Allgemeinen Geschichte der Literatur (Münster 1884, III. Bd., S. 181):
»Nirgendwo offenbart sich Goethes Gesinnung abstoßender als in ›Hermann und Dorothea‹. Das glaubens- und inhaltsleere, trotz aller Noblesse spießbürgerliche Gesellschaftsleben des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts ist nie mit einer so abschreckend photographischen Treue geschildert worden, als in diesem Epos. Man muß den blasierten Quietismus des Weimarer Lebens kennen, das versumpft in dem deistischen Humanismus, auch in der so nahen Perspektive der tragischen Ereignisse der französischen Revolution nicht im mindesten religiösen oder patriotischen Aufschwungs fähig war, um diese Dichtung zu verstehen. Ich kann mir keine entnervendere Lektüre für die Jugend denken, als ›Hermann und Dorothea‹.«
Der verstorbene Bischof Paul Haffner (Frankfurter zeitgemäße Broschüren II, 9 [1880]) stellt fest:
»Es ist bezeichnend für unsere heutige Bildung, daß von Goethes Schriften diejenigen am meisten gelesen werden, welche an obszönen Stellen am reichsten sind.«[74]
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Heinrich Heine hatte im Jahre 1910, außer dem in den Herzen des Volkes errichteten, noch kein Denkmal in Deutschland. Oder wollen wir das lite[S. 83]rarische, das der Heinetöter Adolf Bartels Heine und sich errichtet, dafür gelten lassen?[75] Das einzige ihm von der Kaiserin Elisabeth in Korfu geweihte wurde entfernt, nachdem das Achilleion in den Besitz Kaiser Wilhelms II. übergegangen war.
Die immer fortschreitende Spezialisierung der Wissenschaften, deren Umfang in gleicher Proportion zunimmt, wie der Gesichtskreis ihrer Vertreter sich verengert, hat nicht nur zu einer kaum je dagewesenen Unterschätzung des gesunden Menschenverstandes, ja des Genialen geführt, sie geht auch mit einer übermäßigen Hochschätzung der technischen, handwerksmäßigen Routine einher. Nur was der Spezialist leistet, vermag sich heute durchzusetzen. Unter diesen Umständen scheint es nicht zwecklos, den Beweis zu erbringen, daß auf allen Gebieten nicht dem Fachmann, sondern dem »Dilettanten«, dem Outsider die größten Entdeckungen und Erfindungen zu danken sind. Daß eine Reihe der Größten Autodidakten waren, ist nicht ohne Interesse.
Während sich um den Fachmann, der immer mehr zum Handwerker wird, die hohen Mauern seiner Spezialdisziplin im immer enger werdenden Kreise schließen, ist es das verächtlich »Dilettant« genannte Genie oder doch Talent mit weitem Horizont, das allein die Flugkraft besitzt, sie zu überwinden. Gleicht letzteres dem Entdecker neuer Länder, so ist es der
Zünftler, der dort Käfern und Läusen nachjagt, um sie in dicken Folianten zu edieren.
Diesem schon wiederholt von mir ausgesprochenen Gedanken mögen die Beweise nun folgen.
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Otto von Guericke (1602–1686), der größte deutsche Physiker des 17. Jahrhunderts, war von Beruf Jurist, wenn er sich auch kurze Zeit in Leyden neben neueren Sprachen mit Physik, angewandter Mathematik, Mechanik und Fortifikationslehre beschäftigt hatte. Im Jahre 1626 trat er in das Ratskollegium seiner Vaterstadt Magdeburg ein, wurde dann Schutz- oder Kriegsherr der Stadt, in welcher Stellung er während der Belagerung durch Tilly (1631) vollauf seine Pflicht tat, wurde später Generalquartiermeister und Ingenieur Gustav Adolfs, beteiligte sich am Wiederaufbau der Stadt Magdeburg, wo er eine Schiffbrücke über die Elbe legte und trieb daneben Ackerwirtschaft und Bierbrauerei. Im Jahre 1646 wurde er zum Bürgermeister erwählt und vorzugsweise zu diplomatischen Geschäften verwandt. So nahm er auch an den Friedensverhandlungen in Osnabrück teil. Erst seit 1660 konnte er nach vielen Missionen in Ruhe zu Hause leben. Seine physikalischen Versuche konnte er also nur neben seinem Berufe ausführen!
Guericke kam zu seiner Erfindung der Luftpumpe im Bestreben, den alten philosophischen Streit über die Existenz eines leeren Raumes zu entscheiden, und zwar als erster auf experimentellem Wege. Er wies durch seine Versuche sowohl die bedeutende Größe des Luftdrucks, wie die [S. 86]Elastizität der Luft nach, und zwar erbrachte er den öffentlichen Beweis 1654 auf dem Magdeburger Reichstage, also mitten in seiner anderweitigen Berufstätigkeit. Vielleicht machte er alle seine Entdeckungen bereits in den Jahren 1632–1638, jedenfalls sind alle vor 1663 abgeschlossen. Dieser Dilettant erfand ferner 1657 oder 58 ein Wasserbarometer, 1661 das Manometer, bestimmte die Schwere der Luft, bewies, daß zum Brennen Luft gehöre und die Flamme die Luft verzehre, konstruierte eine primitive Elektrisiermaschine, die hinreichte, um die Tatsache des elektrischen Abstoßens und Leuchtens zu finden und vervollständigte die magnetischen Kenntnisse seiner Zeit. Ferner stellte er zuerst im Mittelalter die Meinung auf, daß die Wiederkehr der Kometen sich bestimmen lassen müsse.[76]
Wie Herr Professor A. Gudemann mir mitzuteilen die Liebenswürdigkeit hatte, war auf letzteren Gedanken bereits Seneca (nat. Quaest. 7, 25, 7) gekommen. »Es wird einmal jemand kommen, der beweist, in welchen Teilen die Kometen umlaufen, warum sie so getrennt von den anderen umlaufen, wie viele und in welcher Beschaffenheit sie sind.«
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Simon Stevin (1548–1620) war ursprünglich Kaufmann, dann Steueraufseher in seiner Vaterstadt Brügge, endlich Oberaufseher der Land- und Wasserwerke in Holland, dann Generalquartiermeister. Er erwarb sich große Verdienste um das Artillerie- und Befestigungswesen, erfand den Segelwagen und den Segelschlitten, stellte 1586 die erste richtige Theorie[S. 87] über die schiefe Ebene auf, deutete den Satz vom Parallelogramm der Kräfte an, erklärte das Gleichgewicht in kommunizierenden Röhren, führte die Dezimalbruchrechnung 1596 ein und sprach schon aus, daß dadurch die Dezimalteilung von Maßen, Gewichten und Münzen nötig würde. Endlich erwarb er sich als Geograph und durch die unter dem Namen Hylokinese veröffentlichten Prinzipien der tellurischen Morphologie Verdienste.[77]
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J. Baptista Benedetti (1530–1590) hatte nie eine Schule besucht und nur unter Tartaglia die vier ersten Bücher des Euklid gelesen, wonach er sich dann allein weiterbildete. Trotzdem ließ er schon mit 23 Jahren das bedeutende Werk »resolutio omnium Euclidis problematum« erscheinen, in welchem er alle Probleme des großen Griechen mit einer Zirkelöffnung lösen lehrte. In einem späteren Werke bewies er Kenntnis der Beharrung eines Körpers auch in der Bewegung, behauptete, daß alle Körper ohne Rücksicht auf ihr Gewicht von gleicher Höhe in gleicher Zeit zur Erde fallen und daß im Kreise geschwungene Körper, sich selbst überlassen, in der Tangente des Kreises fortgehen. Endlich löste er die Aufgabe vom schiefen Hebel.[78]
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Giambattista della Porta (1538–1615), ein reicher neapolitanischer Edelmann, betrieb die Physik als Liebhaberei. Trotzdem haben wir in ihm den Erfinder der camera obskura und einer Art laterna magica zu erblicken. Er erkannte auch zuerst, daß[S. 88] man in einem Hohlspiegel die Brennpunkte aller Strahlen, die in der Nähe der Achse einfallen, ohne merklichen Fehler in den Mittelpunkt des Halbkreises setzen könne. Porta wurde später von der Inquisition der Zauberei und übernatürlicher Kräfte angeklagt.[79]
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Der Begründer der Pflanzenphysiologie war Stephan Hales (1677–1761), ein sehr tüchtiger Theologe und Pfarrer in verschiedenen Grafschaften. Noch einmal zeigte sich in ihm der originelle Erfindergeist und die gesunde, urwüchsige Logik der großen Naturforscher aus Newtons Zeitalter. Sein »Statical essays« (1727) war das erste umfangreiche, ganz der Ernährung und Selbstbewegung der Pflanzen gewidmete Werk. Es berücksichtigte zwar die ältere Literatur, teilte aber doch im wesentlichen neue Untersuchungen des Verfassers mit. Eine Fülle neuer Experimente und Beobachtungen, Messungen und Berechnungen vereinigen sich hier zu einem lebensvollen Bild.[80]
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Halley (1656–1742), übrigens der Sohn eines Seifensieders, hatte bekanntlich die Wiederkehr des nach ihm benannten Kometen, der auch in diesem Jahre erschien, im Jahre 1703 berechnet und auf den Anfang des Jahres 1759 vorherbestimmt. Alle Astronomen Europas suchten daher, als das Jahr 1758 seinem Ende sich näherte, den Himmel mit Fernrohren ab, jedoch vergeblich. Anders der Bauer[S. 89] Johann Palitzsch (1723–1788). Schon als Hüterjunge hatte er sich für die Sternenwelt interessiert, dann sich durch Selbststudium ansehnliche astronomische Kenntnisse erworben. Als nun der Siebenjährige Krieg sein Vaterland Sachsen heimsuchte, versteckte er seine primitiven astronomischen Instrumente, aus Furcht, sie könnten ihm gestohlen werden. Um die Weihnachtszeit 1758 trat in der Kriegsführung eine Pause ein. Diese benutzte er dazu, um sein Fernrohr auszugraben und die Stelle des Himmels abzusuchen, wo er den Komet erwartete. Tatsächlich entdeckte er ihn als erster als nebeligen Stern im Sternbild der Fische. Damit hatte der Bauernastronom einen Vorsprung vor der ganzen Welt gewonnen und sein Name wurde überall genannt. In Paris sah man ihn erst vier Wochen später. Palitzsch blieb hinfort mit der Londoner Akademie in ständiger Korrespondenz. Übrigens war er nichts weniger als einseitig, besaß vielmehr bedeutende botanische und physikalische Kenntnisse, die ihn dazu befähigten, im Großen Garten zu Dresden einen Süßwasserpolypen zu entdecken. Er errichtete auch als erster in Sachsen 1775 einen Blitzableiter und zwar auf dem Schloßturm in Dresden. Er blieb bis zu seinem Tode, durch zahlreiche Ehrungen ausgezeichnet, ein schlichter Landmann.[81]
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Thomas Young (1773–1829) studierte Medizin und betrieb nur nebenbei mathematische, physikalische, botanische und philologische Studien. Von 1801 bis 1804 war er Professor an der Royal Institution, von[S. 90] 1811 bis zu seinem Tode war er Arzt am St. Georges-Hospital in London. Seine wissenschaftlichen, überall wertvollen Arbeiten betreffen Mechanik, Optik, Wärmetheorie, Akustik, theoretische Chemie, die Bewegung des Blutes, den Schiffbau, die mittlere Lebensdauer des Menschen, die Dichte der Erde, das wahrscheinlich richtigste Resultat aus mehreren Beobachtungen, die Ursache der Schwere, Ebbe und Flut, die Figur der Erde, die Mondatmosphäre. Er leistete auch wichtige Dienste für die Entzifferung der Hieroglyphen. Außerdem war er schriftstellerisch tätig, ein gründlicher Kenner der Musik, ausgezeichneter Maler und geübter Reiter, der gegen Kunstreiter Wetten gewann. Er war ein Vorkämpfer gegen die Emissionstheorie, von der er sich bereits 1801 in einer der Royal Society vorgelegten Abhandlung zugunsten der Undulationstheorie lossagte. Schon in seiner 1800 erschienenen akustischen Abhandlung hatte er eine epochemachende Entdeckung gemacht, die ihn zum Reformator der Theorie der Optik werden ließ: die Interferenz von Wellenbewegungen.[82]
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Humphrey Potter war, wie berichtet wird, an der Konstruktion der ersten praktisch tätigen Dampfmaschine, die 1711 zu Wolverhamton für einen Herrn Back zum Heben von Wasser aufgestellt wurde, beteiligt. Und zwar sei er als Knabe mit dem Auf- und Zudrehen der Hähne, welche den Dampf oder das kalte Wasser vom Dampfzylinder abschlossen, beauftragt gewesen. Weil ihm diese Manipulationen[S. 91] zu langweilig wurden, habe er die Hähne durch Bindfäden so mit dem Balancierer der Maschine verbunden, daß dieser statt seiner das Umstellen derselben zur richtigen Zeit besorgte. Daß diese geniale Erfindung der Vervollkommnung der Dampfmaschine vorausgehen mußte, ist hinlänglich bekannt.[83]
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Der geniale Erfinder Denys Papin (1647–1710, vgl. S. 54) war studierter Mediziner.
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Maupertuis (1698–1759) war ursprünglich Soldat und zwar von 1718–1723. Er entdeckte das Prinzip der kleinsten Wirkung, nach dem alle mechanischen Probleme analytisch zu lösen waren.[84]
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Benjamin Franklin (1706–1790) war der Sohn eines unbemittelten Seifensieders, besuchte, da er früh seinem Vater im Geschäft helfen mußte, eine mittelmäßige Schule mit nur geringem Erfolg und erwarb sich später seine Kenntnisse ohne Lehrer. Ohne jegliche Gymnasial- oder gar Universitätsbildung, allein durch Selbststudium, brachte er es nicht nur zu einem hervorragenden Staatsmann, sondern auch zu einem epochemachenden Gelehrten. Seine Erfindung des Blitzableiters und andere große Taten sind zu bekannt, um hier näher dargelegt zu werden. Sicher ist, daß die Welt es nur dem Fehlen der ge[S. 92]lehrten Zunft und des Befähigungsnachweises in Amerika zu danken hat, wenn dieser seltene Mann seinen Fähigkeiten gemäß Großes leisten durfte.[85]
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Doch wie so oft zwei Personen gleichzeitig ein Problem lösen, so auch beim Blitzableiter. Gleichzeitig und unabhängig von Franklin wurde er auch in Europa erfunden, und zwar von Prokop Divisch zu Prenditz bei Znaim im Jahre 1750. Der Erfinder war wieder kein Fachmann, sondern ein Pfarrer.[86]
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Luigi Galvani (1737–1798) war Professor der Medizin und beschäftigte sich besonders mit vergleichender Anatomie und Physiologie. Ist die Tatsache, daß hier wieder kein Fachmann, sondern ein Outsider eine der großartigsten Entdeckungen machte, schon bemerkenswert genug, so sind es die Nebenumstände nicht minder. Wie er in seiner 1791 erschienenen Schrift »De viribus electricitatis in motu musculari commentarius« erzählt, trug sich die Geschichte seiner Entdeckung folgendermaßen zu: »Ich zerschnitt einen Frosch..., legte ihn, ohne etwas zu vermuten, auf die Tafel, worauf die Elektrisiermaschine stand, die gänzlich vom Konduktor getrennt und ziemlich weit davon entfernt war. Als aber einer meiner Zuhörer die Spitze des Messers von ungefähr ein wenig an die inneren Schenkelnerven brachte, wurden die Muskeln aller Glieder sogleich zusammengezogen, als ob sie von heftigen Konvulsionen ergriffen würden. Ein anderer von den Anwesenden glaubte zu bemerken, es geschähe nur zur Zeit, wenn der[S. 93] Konduktor einen Funken gäbe. Er bewunderte die Neuheit der Sache und machte mich, der ich eben etwas ganz anderes vorhatte, aufmerksam darauf.«
Wer der »andere von den Anwesenden« war, ist niemals mit Sicherheit festgestellt worden. In Bologna ging das Gerücht, es sei die eigene Gattin Galvanis gewesen. Danach gebührte ihr ein nicht geringes Verdienst an dieser unsterblichen Entdeckung.[87]
Wie Wilhelm Ostwald in seiner »Entwicklung der Elektrochemie« erzählt, verdankte Galvani gerade der Lückenhaftigkeit seiner Kenntnisse diese Entdeckung, da die damaligen Theorien, wenn er sie gekannt hätte, eine Erklärung des Phänomens geboten hätten.
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Etienne Louis Malus (1775–1812) war auf der polytechnischen Schule gebildet, wurde 1796 Kapitän im Geniekorps, erkrankte als Teilnehmer an der ägyptischen Expedition an der Pest, wurde, nach Frankreich zurückgekehrt, von 1806–1808 Unterdirektor der Fortifikationen in Straßburg und im folgenden Jahre Examinator an der polytechnischen Schule in Paris. Dieser Offizier entdeckte die Polarisation des Lichtes, was er schon 1808 dem Institute von Frankreich mitteilte. Er gab auch alle Methoden an, die zu einer richtigen Beschreibung und Messung der Polarisationserscheinungen dienlich sind.[88]
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Augustin Jean Fresnel (1788–1827), der in höchst genialer Weise die Anwendung der Undulationstheorie auf die Polarisation und Doppelbrechung[S. 94] des Lichtes bewerkstelligte, war Ingenieur, also ebenfalls kein Fachmann.[89]
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Johann Fraunhofer (1787–1826) war der Sohn eines armen Glasers, in dessen Geschäft er so viel helfen mußte, daß er bis zum 14. Jahre des Lesens und Schreibens unkundig blieb. Nachdem er schon vorher bei einem Spiegelmacher und Glasschleifer in der Lehre gewesen war, kam er 1806 in das mechanisch-optische Institut von Utzschneider in Benediktbeuern, in das er 1809 als Teilhaber eintrat. Als die Anstalt 1819 nach München verlegt worden war, wurde er dort Professor. Die genialen Arbeiten dieses Selfmademan über das Spektrum, sowie seine Fernrohre sind hinlänglich bekannt. Zu beachten aber ist, daß viele dieser großen Entdecker nicht nur Dilettanten im Sinne der Zunft waren, sondern auch im jugendlichsten Alter in bahnbrechender Weise die Wissenschaft förderten.[90]
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Besonders das mathematische Talent zeigt sich häufig sehr früh. So bezog William Thomson, der von nahezu beispielloser Frühreife war, im Alter von 10 Jahren die Universität. Gauß schrieb seine 1804 erschienenen »Disquisitiones Arithmeticae«, die höchste seiner Leistungen, als Primaner. Evariste Galois, dem manche die größte mathematische Begabung aller Zeiten zuerkennen wollen, schrieb eine Reihe von Arbeiten als 20jähriger Jüngling innerhalb von drei Wochen, einer ihm bis zu einem Duell, in dem er fiel, verbleibenden Frist. Die Pariser Akademie, die diese Arbeiten gegenwärtig herausgibt, ist bereits bis zu ihrem achten Bande gekommen!
Niels Henrik Abel schrieb seine ersten Abhandlungen mit 18 Jahren und starb mit 27 Jahren, nachdem er seinen Namen gegen den des großen Gauß gestellt hatte. William Thomson aber löste noch als Knabe an der Universität Glasgow eine Preisaufgabe über die Gestalt der Erde und behandelte in Cambridge mit 18 Jahren in einer grundlegenden Abhandlung die Analogie der Theorie der Wärmeleitung in festen Körpern mit der der elektromagnetischen Anziehung streng mathematisch.[91]
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Hier mag auch an die bekannte Tatsache erinnert werden, daß Pierre Fermat (1601–1665), ein so hervorragender Mathematiker, daß bis heute noch trotz eines Preises von 100000 M. es nicht gelingen wollte, seine berühmte Gleichung elementar zu lösen, Jurist war.
André Marie Ampère (1775–1836) wuchs auf einer kleinen Besitzung seiner Eltern bei Lyon auf. Hier war der Knabe viel auf sich selbst angewiesen und versuchte seinen Wissensdurst durch das Studium des großen Dictionnaire von D’Alembert und Diderot zu stillen, dessen 20 Bände er gründlich und ohne Auslassung durcharbeitete. Später – nach der Hinrichtung seines Vaters war er ein Jahr in geistige Apathie verfallen – regte ihn die Botanik und das Studium der lateinischen Dichter vor allem an. Um sich eine Lebensstellung zu schaffen, wurde Ampère 1796 Privatlehrer der Mathematik in Lyon und studierte in den Mußestunden die Chemie von Lavoisier.[S. 96] Dieser geniale Autodidakt wurde Lehrer der Physik an der Zentralschule zu Bourg im Jahre 1807, später Professor an der polytechnischen Schule zu Paris. Von 1800–1820, wo seine elektrischen Untersuchungen begannen, beschäftigte er sich viel mit mathematischen Arbeiten. Über ihn urteilt Maxwell (Lehrbuch der Elektrizität, Berlin 1883, II, S. 216): »Ampères Untersuchungen, durch die er die Gesetze der mechanischen Wirkungen elektrischer Ströme aufeinander begründete, gehören zu den glänzendsten Taten, die je in der Wissenschaft vollbracht worden sind. Theorie und Experiment scheinen in voller Macht und Ausbildung dem Hirn des ›Newton der Elektrizität‹ entsprungen zu sein. Seine Schrift (Théorie des Phénomènes etc.) ist in der Form vollendet, in der Präzision des Ausdrucks unerreichbar, und ihre Bilanze besteht in einer Formel, aus der man alle Phänomene, welche die Elektrizität bietet, abzuleiten vermag, und die in allen Zeiten als Kardinalformel der Elektrodynamik bestehen bleiben wird.«[92]
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Die Voltasche Säule wurde von Cruikshank (1745–1800), Arzt und Chemiker seines Zeichens, verbessert durch einen Trog, in den 60 aufeinandergelötete Plattenpaare von Zink und Silber eingelassen wurden. Die Zwischenräume zwischen den Plattenpaaren füllte er mit salzsaurem Ammoniak. Eine bedeutende Verbesserung brachte Wilkinson, ein Londoner Wundarzt, an, indem er diese Trogapparate in ihrer äußeren Einrichtung den heutigen Tauchbatterien annäherte. Weiter auf diese Details einzugehen ist[S. 97] zwecklos. Desto interessanter aber die Feststellung, daß zwei so wichtige Fortschritte elektrotechnischer Art von Nichtfachleuten herrühren.[93]
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Chladni (1756–1827), der Vater der Akustik, der unter anderem die nach ihm genannten berühmten Klangfiguren entdeckte, studierte auf den Wunsch seines Vaters Jura und erst nach dessen Tode Naturwissenschaften. Erst im Alter von 19 Jahren fing er an, Klavier zu spielen und erfand 1790 im Euphon ein neues Toninstrument, mit dem er als Virtuose Kunstreisen machte, von deren Ertrag er sich ein beträchtliches Vermögen ersparen konnte.[94]
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Thomas Johann Seebeck (1770–1831), der Entdecker des heute Thermoelektrizität genannten »Thermomagnetismus«, hatte Medizin studiert, lebte dann als Privatmann in Jena, Bayreuth und Nürnberg und wurde 1818 Mitglied der Berliner Akademie. Also auch er war kein Fachmann; so wenig wie Carnot, der Vater der neuen Wärmetheorie, insofern dieselbe mathematisch ist und man die Größenverhältnisse der Wirkungen betrachtet. Er war nach Absolvierung der polytechnischen Schule 1814 französischer Genieoffizier, trat 1819 als Leutnant in den Generalstab ein und wandte sich, da er nicht befördert wurde, dem Studium der Wärmeerscheinungen zu. Nachdem er 1828 seinen Abschied genommen hatte, starb er 1832 im Alter von 36 Jahren. Aus hinterlassenen Papieren geht hervor, daß er bereits den Satz von der Erhaltung der Kraft allgemein[S. 98] ausgesprochen hat, in der Form, »daß die bewegende Kraft in der Natur eine unveränderliche Größe ist, daß sie im eigentlichen Sinne des Wortes weder geschaffen noch zerstört wird«.[95]
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Michael Faraday wurde 1791 als Sohn eines Hufschmiedes geboren. Im Alter von 13 Jahren trat er bei einem Buchhändler und Buchbinder ein, um dort acht Jahre zu bleiben. In seinen Mußestunden las er Mrs. Marcets Gespräche über Chemie und aus der Encyklopädia Britannica die Abhandlungen über Elektrizität und bemühte sich auch, die dort angegebenen Versuche zu wiederholen. 1810 und 1811 erlaubte ihm sein Meister, an einigen Abenden populäre Vorlesungen eines Herrn Tatum über Physik zu besuchen. 1812 hörte er die vier letzten Vorlesungen Humphrey Davys. Auf Grund seiner Ausarbeitung der gehörten Vorlesungen, die er an Davy sandte, erhielt dieser Autodidakt 1813 die Stelle eines Assistenten am Laboratorium der Royal Institution, trat dann mit Davy eine größere Reise an und hielt 1816 seine erste Vorlesung. 1824 wurde er, nicht ohne vorheriges Widerstreben Davys, zum Mitglied der Royal Society gewählt, und nun folgten die Ehren schnell.
Faraday war einer der bedeutendsten Naturforscher aller Zeiten, dessen Entdeckungen zahllos sind. Er hatte auch schon die klare Einsicht in die Einheit aller Naturkräfte, welche die moderne Physik erst nach längerer Zeit und nach vielen[S. 99] Kämpfen sich erworben hat. Die Idee der gegenseitigen Umwandlungsfähigkeit der Naturkräfte war bei seinen bedeutendsten Entdeckungen der leitende Gedanke.[96]
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George Green (1793–1841), der 1828 die Potentialfunktion zur Bestimmung physikalischer Kräfte zuerst einführte, war Sohn eines Bäckers und Müllers und setzte anfangs das Gewerbe seines Vaters fort, um später in Cambridge zu studieren.[97]
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Siméon Denis Poisson (1781–1840) wurde in der Jugend zu einem verwandten Chirurgen in die Lehre geschickt, da der Familienrat ihn der geistigen Anstrengungen eines Notariates nicht für gewachsen hielt. Hier war er gänzlich unbrauchbar. Als er 1798 in die polytechnische Schule eintrat, behauptete er immer den ersten Platz, wurde bereits 1800 Repetent und 1806 Professor. Er hat sich um die mathematische Mechanik große Verdienste erworben.[98]
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Julius Robert Mayer (1814–1878), der Entdecker des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, aus dem er die Äquivalenz von Arbeit und Wärme folgerte und das mechanische Äquivalent der Wärme berechnete, war Arzt. Als Schiffsarzt machte ihn 1840 in Java die veränderte Farbe des Venenblutes darauf aufmerksam, daß zwischen dem Stoffverbrauch und der produzierten Wärme im menschlichen Körper[S. 100] ein direkter Zusammenhang bestehen müsse. Seiner Arbeit »Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur« versagte Poggendorff die Aufnahme in seine Annalen der Physik und Chemie, wie er auch keine der späteren Arbeiten Mayers abdruckte.
Also auch der Entdecker eines der größten physikalischen Gesetze war kein Fachmann, sondern ein junger Arzt.[99]
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Das andere Genie, das sich mit diesem Thema befaßte, das uns in ungeahnter Weise einen Einblick in die Ökonomie des Weltalls eröffnet, und der auch das Glück hatte, Anerkennung zu finden, war ebenfalls kein Physiker, sondern der Besitzer einer Bierbrauerei: James Prescott Joule (1818–1889). Er begründete die mechanische Wärmetheorie auf experimentellem Wege und zwar in völliger Unabhängigkeit von Mayer.
Die Hauptabhandlung des 32jährigen erschien 1850, nachdem er bereits 1843 Gedanken geäußert hatte, die an Kühnheit den Mayerschen von 1845 fast gleichkamen. Übrigens war Joule auch der Begründer der Kinetischen Theorie der Gase.[100]
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Auch H. Helmholtz, der dritte Große auf diesem Felde, war, als er im Jahre 1847 seine Abhandlung »Über die Erhaltung der Kraft« veröffentlichte, in der er mathematisch das Gesetz bewies, nicht Physiker oder Mathematiker, sondern ein junger Arzt. Helmholtz, 1821 geboren, studierte Medizin, wurde 1843 Militärarzt in Potsdam, 1848 Lehrer der Anatomie an[S. 101] der Kunstakademie in Berlin und erst 1871 – nach verschiedenen anderen Stellen als Professor der Physiologie – Professor der Physik in Berlin.[101]
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Leclerc de Buffon (1707–1788) studierte Mathematik und Physik und war Intendant des Jardin royal des plantes in Paris. Wiewohl er also nicht Geologe von Fach war, ja auf geologischem Gebiete nur in beschränktem Maße als Beobachter und Forscher tätig war, bekämpfte er bereits die Annahme einer universellen Sintflut und erkannte u. a., daß ein Teil der in der Erde begrabenen Fossilien zu erloschenen Arten gehört. Auch lehrte er die Abplattung der Erde an den Polen und Erhöhung am Äquator. Zittel sagte von Buffon: »Ein Vergleich der Epoques de la nature (1778) mit den zum Teil kindischen Hypothesen seiner Vorgänger und Zeitgenossen zeigt am deutlichsten die geistige Überlegenheit des großen Naturforschers.« Die Grundgedanken dieses Outsiders haben sich als richtig bis heute bewährt.[102]
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Leopold von Buch (1774–1852) galt mit vollem Recht für den größten Geologen seiner Zeit. Weder er noch Alexander von Humboldt (1769–1859), dessen Auftreten durch die Anregung, die er auf weite Kreise ausübte und der in Deutschland der jungen Wissenschaft viele Freunde und Anhänger zuführte, wie das Buffon und Cuvier in Frankreich getan hatten, nicht hoch genug zu veranschlagen ist, haben je ein öffentliches Lehramt bekleidet. In völlig unab[S. 102]hängiger Lebensstellung widmeten sie sich ganz der Wissenschaft, darin ihrem großen englischen Kollegen Lyell (1797–1875) gleichend.
Die größten Geologen waren also entweder überhaupt nicht Fachleute im strengen Sinne oder doch nicht zünftige Gelehrte.[103]
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Der französische Ingenieur Claude Chappe hatte einen optischen Telegraphen im Jahre 1792 konstruiert, der schon zwei Jahre später zwischen Paris und Lille fertiggestellt wurde, um bald in der Länge von etwa 5000 km sich durch ganz Frankreich zu ziehen. Die 300 km von Paris nach Toulouse wurden in 20 Minuten durch die Zeichensprache zurückgelegt. Da aber nur an hellen Tagen, wenn es weder regnete noch schneite, telegraphiert werden konnte, war die Benutzung der Linien vom Zufall abhängig. Darüber sprach im Jahre 1809 der bayerische Minister Graf Montgelas in Gegenwart des Professors der Anatomie Thomas Sömmering. Da dieser sich in seinen Mußestunden mit allen möglichen Dingen beschäftigte, kam er auch auf den Gedanken, die Elektrizität zu verwenden und konnte schon acht Wochen später der bayerischen Akademie der Wissenschaften einen von ihm erfundenen elektromagnetischen Telegraphen vorführen, den ersten elektrischen Telegraphen, den es je gegeben hat. Wenn auch das System unpraktisch oder doch sehr kostspielig war, so hatte er zweifellos das Verdienst, gezeigt zu haben, daß man die Elektrizität überhaupt zum Zwecke der Telegraphie benutzen könne.
Merkwürdig ist aber, daß ein so genialer und weitblickender Mann wie Napoleon sich allein abfällig über die Erfindung äußerte und sie wegwerfend als »une idée germanique« bezeichnete. Oder sollte ihn die Unvollkommenheit im praktischen Sinne dazu bewogen haben?[104]
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George Stephenson (1781–1848), der Hauptbegründer des Eisenbahnwesens, der auch die erste Eisenbahn zur Beförderung von Personen zwischen Stockton und Darlington baute, fing seine glänzende Laufbahn als einfacher Dampfmaschinenwärter an.[105]
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Samuel Morse (1791–1872) war Maler. Auf der Heimreise von Europa, wo er die Mal- und Zeichenschulen studiert hatte, nach Amerika, entwarf er 1832 einen Drucktelegraphen und das nach ihm benannte, aus Punkten und Linien bestehende Zeichensystem. 1837 erhielt er auf seine Erfindung ein amerikanisches Patent und baute 1843 die erste Versuchslinie zwischen Washington und Baltimore ein. Die Erfindung dieses Autodidakten und Outsiders wurde bekanntlich allgemein eingeführt.[106]
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Der Erfinder des Kehlkopfspiegels war nicht etwa ein Arzt, sondern der berühmte Gesanglehrer Manuel Garcia (1805–1906). Diese Erfindung ermöglichte erst die Laryngoskopie.[107]
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Wie die Erfinder des Luftballons, Joseph Michel Mongolfier (1740–1810) und Jacques Etienne Mongolfier (1745–1799) Papierfabrikanten waren, so die der drei lenkbaren Luftschiffe, des starren, halbstarren und unstarren Systems, sämtlich nicht Fachmänner, sondern, wie jedermann weiß, die Offiziere Graf Zeppelin, Major Groß und Major von Parseval.
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Übrigens war der erste, der einen noch dazu erfolgreichen Versuch zur Konstruktion eines lenkbaren Luftschiffes machte, ein armer römischer Schuster, der im Palazzo Aldobrandini wohnte. Dort besuchte ihn Le Bar, der Erzieher Napoleons III., mit seinem Zögling am 18. November 1823. Die Flugmaschine bestand aus zwei Teilen, von denen der eine den Ballon in horizontaler Richtung halten, während der andere die Sicherheit der Fahrt verbürgen sollte.[108]
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Daguerre (1783–1851), der im Jahre 1838 die Erfindung der Photographie machte, d. h. das Licht zur Bildererzeugung zwang, war nicht nur kein Fachmann, sondern sogar »eigentlicher Fachkenntnisse bar« und seines Zeichens Maler. Ursprünglich war er Steuerbeamter gewesen. Übrigens hatten sich schon vorher Physiker (Davy und Wedgewood) erfolglos damit beschäftigt.[109]
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Foucault (1819–1868) veröffentlichte seine berühmten Pendelversuche »Démonstration physique[S. 105] du mouvement de rotation de la terre au moyen du pendule« im Jahre 1850, also 31jährig. Er bekleidete damals die Stellung eines Redakteurs des wissenschaftlichen Teiles des Journal des Débats.
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Die ersten Versuche zur Umwandlung der Elektrizität in Töne machte 1837 Page (1812–1868). Er war seines Zeichens Agent und Patentanwalt in Washington. Ph. Reis (1834–1874) trat 1850 als Lehrling in ein Farbwarengeschäft zu Frankfurt a. M. ein und studierte privatim seit 1853 Mathematik und Naturwissenschaften. Um das Jahr 1860 konstruierte der erst 24jährige Autodidakt das erste Telephon, an dem er seit 1857 gearbeitet hatte. Das erste praktisch verwendbare Telephon aber konstruierte der Taubstummenlehrer Graham Bell, geb. 1847 in Boston, im Jahre 1876. Also kein einziger Physiker, sondern ausschließlich »Dilettanten«, von denen noch dazu kein einziger das 30. Lebensjahr erreicht hatte, waren die Erfinder dieses außerordentlichen Verkehrsmittels.[110]
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Die beiden Weltfirmen Siemens & Halske in Berlin und Karl Zeiß in Jena sind aus bescheidenen mechanischen Werkstätten hervorgegangen und verdanken ihre Blüte dem Eintritt von Männern, die außerhalb der Zunft standen. Dort des Artillerieoffiziers Werner Siemens (1816–1892), dessen Erfindungen und Verbesserungen, besonders auf dem Gebiet des Telegraphenwesens, außerordentlich zahl[S. 106]reich sind; hier des Universitätsdozenten Ernst Abbe. Karl Zeiß (1816–1888) selbst besaß keine Universitätsbildung, sondern hatte vor der Prima das Gymnasium verlassen, um dann in mechanischen und Maschinenwerkstätten zu lernen.[111]
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Der Erfinder des Zweirades, Karl von Drais (1784–1851), war von Beruf nicht etwa Mechaniker, sondern badischer Forstmeister. Er war auch der erste, der eine Schreibmaschine, und zwar auf stenographischer Grundlage, konstruierte.[112]
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Charles Darwin (1809–1892), über dessen Leistungen sich wohl jedes Wort erübrigt, war in der Schule des Dr. Buttler in Shrewsbury ein so schlechter Schüler, daß sein Vater ihn mit 16 Jahren herausnahm und Medizin studieren ließ. Da er auch da nichts leistete, widmete er sich nach zwei Jahren in Cambridge der Theologie, in der er nach drei Jahren das Baccalaureusexamen bestand. Nebenher interessierte er sich für Mineralien, Pflanzen, Muscheln, Insekten, aber auch für Münzen und Siegel, die er sammelte. Auch Geologie, Botanik und besonders Zoologie zog er in den Bereich seines Interesses, ohne aber den Vorsatz, Geistlicher zu werden, um dieser Liebhabereien willen, zu denen noch leidenschaftliche Liebe zur Jagd kam, aufzugeben. Nach seinem eigenen Geständnis »würde er sich damals für verrückt gehalten haben, wenn er in den ersten Tagen[S. 107] nach Eröffnung der Rebhuhnjagd zugunsten von Geologie oder einer anderen Wissenschaft auf die Jagd hätte verzichten wollen«. Als für die fünfjährige Weltumseglung des englischen Kriegsschiffes »Beagle« ein Naturforscher gesucht wurde, empfahl Professor Henslow Darwin. Da aber dessen Vater kein rechtes Vertrauen zur Ernsthaftigkeit des Jünglings hatte, schrieb er ab, und nur dem Zufall ist es zu danken, daß aus der Reise doch etwas wurde. Tatsächlich trat er sie (1831) an, ohne in irgendeiner der vier Wissenschaften, auf welche er während der Reise hauptsächlich sein Augenmerk zu richten hatte: Zoologie, Botanik, Geologie und Paläontologie, ein abgerundetes Schulwissen zu besitzen. Dafür besaß er allerdings den freien, durch keine Lehrmeinungen beeinträchtigten Blick für die Erscheinungen der Umgebung, ein Gewinn, der fürstlichen Lohn trug. So hat der in der ersten Hälfte der Zwanziger stehende Forscher, der schon vor der Reise die Flimmerlarven der Moostierchen und das Keimen der Pollenschläuche entdeckt hatte, auf ihr die Theorie der Entstehung der Korallenriffe, ja, seine Deszendenztheorie aufgestellt. Der große Forscher und edle Mensch hat niemals ein öffentliches Lehramt bekleidet.[113]
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Darwin mag uns daran erinnern, daß außer den bereits oben genannten noch eine Reihe von schlechten Schülern mit ihren Erfolgen im späteren Leben ganz zufrieden sein konnten. Bekanntlich war J. J. Rousseau ein solcher Ausreißer, der nach einer[S. 108] jämmerlichen Schulbildung seinem Meister, einem Kupferstecher in Genf, 16jährig durchging, später Bedienter wurde, sich auch eine Zeitlang einem Hochstapler anschloß und sich als schon berühmter Mann vom Notenabschreiben nährte.
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Liebig erzählt von sich selbst, daß er als Schüler keine Erfolge hatte. Bürger wurde als zwölfjähriges Bürschchen von der Stadtschule zu Aschersleben geschwenkt, der große Dichter Shelley erlebte auf der Schule zu Eton ein gleiches Schicksal und nochmals auf der Universität zu Oxford. Auch Edgar Poe wurde relegiert. Schiller ging bekanntlich von der Karlsschule durch, der Turnvater Jahn aber entfloh dem Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin.
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Van Erpecum, ein Schüler an der Höheren Schule in Batavia, machte die Beobachtung – es dürfte 1902 gewesen sein –, daß in einem bis zum Rande mit Wasser und darin herumschwimmenden Eisstückchen gefülltem Gefäß das Wasser nicht überfloß, als das Eis schmolz. Daraus folgerte er das »Gesetz der permanenten Oberfläche«, das er mit Hilfe seines Lehrers in den Sitzungsberichten der Kgl. Niederländischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichte.[114]
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Wie die genialsten Gedanken und Beobachtungen in den Naturwissenschaften und der Technik von Dilettanten bzw. Outsiders stammen, also von Männern, die nicht der gelehrten Zunft angehörten und häufig[S. 109] das Gebiet nur im Nebenfach bestellten, sahen wir eben. Ja, wir trafen auch in späteren Jahrhunderten eine Reihe von Männern, die auf vielen Gebieten geniale Bahnbrecher wurden, wie das in der Renaissance so häufig war. Ebenso verhält es sich auch in den Geisteswissenschaften. Auch hier ist der Beweis nicht schwer zu erbringen.
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William Jones (1746–1794) war es, der sich zuerst eine eindringende Kenntnis des Sanskrit erwarb und in wesentlich richtigen und geschmackvollen Übersetzungen erprobte. Er führte Cakuntala so gut wie die Gesetze des Manu und Teile der Rigveda in die europäische Literatur ein. Natürlich war er nicht Philologe oder Orientalist von Fach, sondern Oberrichter in Fort William in Bengalen.[115]
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Der erste, der Sanskrit und seine Literatur in wahrhaft philologischem Sinne behandelte – schreibt Benfey – und dadurch einen sicheren Grund für eine Sanskritphilologie legte, war Henry Thomas Colebrooke (1765–1837). Auch er war Jurist, nämlich Richter in Mirzapoor in Indien, dann politischer Resident am Hofe von Berar.[116]
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Der erste Entzifferer der Keilinschrift war der klassische Philologe Georg Friedrich Grotefend (1775–1853). Die größten Kenner der Keilinschriften räumen ihm nicht nur die Priorität der Entzifferung, sondern auch die Größe der Entdeckung an sich ein, wie sie auch die Bedeutung seiner Methode für die weiteren Entzifferungsversuche anerkennen. Schon im[S. 110] Jahre 1802, also 27jährig, legte Grotefend seine ersten Entzifferungsresultate der Göttinger Akademie der Wissenschaften vor. Das erstaunlichste war nun, daß dieser Mann, der die Genialität besaß, die seit Jahrtausenden schweigenden Steine zum Reden zu bringen, gar nicht Sanskrit konnte![117]
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Der Ruhm, den rechten Weg zur Entzifferung der Hieroglyphen gefunden und weiter gegangen zu sein, gebührt dem englischen Arzt Thomas Young, von dessen Genialität im Reiche der Naturwissenschaften wir schon früher Zeugen waren. Er veröffentlichte 1815 in dem Cambridger »Museum criticum« eine mutmaßliche Übersetzung des ganzen demotischen Teils der Inschrift von Rosette, die Entzifferung sämtlicher darin vorkommender Eigennamen und außerdem die Erklärung von 80 andern Wörtern und ein aus diesen Erklärungen sich ergebendes demotisches Alphabet. Er entdeckte sogar, daß viele Wörter nicht alphabetisch, sondern symbolisch geschrieben seien. Eine außerordentliche Förderung ließ Jean François Champollion le jeune (1790 bis 1832) der Entzifferung der Hieroglyphen angedeihen, ja, er ist der eigentliche Vater der neuen Wissenschaft geworden. Er war seit 1809 Professor der Geschichte in Grenoble. Ihm glückte die Entzifferung 1822, also in seinem 32. Lebensjahre.[118]
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Enden wir hier das Kapitel. Wohl niemand wird mehr bestreiten wollen, daß uns der Beweis ge[S. 111]lang. Und doch können wir mit einem Trostwort schließen.
Die Universitäten sind im allgemeinen nicht schlechter geworden. Sie verbannen heute die Genialität nicht weiter von sich als in früheren Jahrhunderten. Sie waren immer eine Organisation der Mittelmäßigkeit.
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Das sei zum Schluß durch Beispiele und Worte eines berufenen Kenners belegt.
Georg von Peurbach, dem bereits Padua und Bologna einen Lehrstuhl für Astronomie angeboten hatten, las in Wien als Magister der Artistenfakultät 1434–1460 vorzugsweise über römische Dichter. Nur 1458 hielt er eine mathematische Vorlesung. Sein großer Schüler Regiomontanus war an keiner Universität, sondern in Nürnberg tätig, da er an den damaligen Universitäten wenig Förderung seiner Studien zu finden meinte. Georg Kaufmann konstatiert, daß »die Wirksamkeit der beiden großen Astronomen und Mathematiker, die den Ruhm der Wiener Universität zu bilden pflegen, der Wiener Universität nur lose verwandt waren, daß ihre Studien außerhalb des Rahmens ihrer akademischen Tätigkeit lagen, und daß sie die Ordnung des mathematischen Unterrichts in Wien nicht umgestaltet haben.«[119]
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Es ist immer dieselbe Sache: Von der Universität und der gelehrten Zunft gering geschätzt oder bekämpft, wird der »Dilettant« nach seinem Tode mit Gewalt zum Professor und Kollegen gestempelt. Denn,[S. 112] wollte die gelehrte Zunft auf die Outsider verzichten, dann wäre das gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die größten Förderer der Wissenschaft.
Anm. Hierzu ist in meinem Buch: »Dinge, die man nicht sagt«, das Kapitel: »Kunst und Dilettantismus« zu vergleichen, das noch eine Reihe Ergänzungen liefert.
Die mittelalterlichen Scholaren der Artistenfakultät, also die große Masse, lebte in den Bursen in größtem Zwang. Sie standen den ganzen Tag unter Aufsicht, ihr Aufstehen, Essen und Trinken, Studium, Ausgehen, alles war vorgeschrieben, das Verbot der Wirtshäuser und Tanzräume, des Kartenspiels bestand bei ihnen wie bei unsern Mittelschülern, kurz, sie waren durchaus unfrei im Gegensatz zum modernen Studenten, hinter dem sie an Lebensalter allerdings bedeutend zurückstanden.
Nichts aber wäre falscher, als die Annahme, sie hätten deshalb einen halbwegs anständigen Lebenswandel geführt. So muß ein Heidelberger Statut von 1466 verbieten, daß die Scholaren den Magister während der Vorlesungen durch Geschrei und Schimpfreden störten, oder dadurch, daß sie einen Fuchs zwängen, das Salve anzustimmen oder mit Dreck würfen. Schon früher mußte in Heidelberg verboten werden, in den Vorlesungen mit Steinen zu werfen oder ähnlichen Unfug zu verüben. Wer während der Vorlesung mit Steinen wirft – heißt es[S. 114] dort 1444 – oder andere Unverschämtheiten sich zuschulden kommen läßt, dem soll – man meint das Sitzorgan gegerbt werden. O nein – dem soll eine Vorlesung als versäumt angerechnet werden!
Die groben Späße der Scholaren arteten bisweilen geradezu in Verbrechen aus. Sie plünderten die Gärten der Bürger, drangen nachts in die Häuser, beleidigten die Braut auf dem Zuge zur Kirche, drängten sich in Hochzeitsgesellschaften und wollten hier die Herren spielen, erregten nachts Waffenlärm, indem sie auf die Steine der Straßen schlugen, und griffen die Wächter an und wer sonst über die Straße kam. An allen Universitäten ereignete sich dergleichen Unfug. In Köln, Heidelberg und anderwärts kam es wiederholt zu förmlichen Tumulten, bei denen Sturm geläutet und das Banner entfaltet wurde.
Nur einen Unfug kannte man damals noch nicht, den der späteren Duelle. Von ihnen findet sich keine Spur. Beleidigungen wurden von Magistern und Scholaren auf dem Rechtswege ausgetragen, ohne Schaden an ihrer Ehre. Sonst setzte es tüchtige Prügel ab, was jedenfalls weit verständiger ist, als die Säbelschlägerei und Pistolenschießerei zwischen den dümmsten Grünlingen, die sich in ihrer funkelnagelneuen Ehre jeden Augenblick beleidigt fühlen. Wer den haarsträubenden Unfug und den frivolen Leichtsinn vieler studentischer »Ehrengerichte« kennt, wird das nur bestätigen können.[120]
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Einst frug der Kurfürst Christian von Sachsen Friedrich Taubmann (1565–1613), »was die Studenten[S. 115] in Wittenberg machten? Taubmann stehet von der Taffel auff, gehet mit dem Degen in den Hoff hinunter, hauet in die Steine, grabet etliche auss und wirfft zu dem Churfürsten in die Fenster und schreyet: ›Herunter, du Penal, du Spulwurm‹ etc. Der Churfürst läßt ihm sagen: Er sol nur auffhören, er hätte Bescheids genug.«[121]
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Prinz Wilhelm von Nassau-Dillenburg erzählt in seiner 1694 abgefaßten Reisebeschreibung über die Studenten in Padua: »Padua ist eine weitläufige, aber menschenleere Stadt, in deren Straßen man auch im größten Regen trocken einhergehen kann, unter den Gängen, die vor den Häusern sind. Es ist aber wunderlich, daß dort die Studenten Macht haben, Arme und Beine nicht nur sich selbst, sondern auch Fremden zu zerschießen.
Sobald es Nacht wird, gehen sie gewaffnet in Scharen aus, auf verschiedenen Parteien, und verstecken sich hin und wieder hinter die steinernen Pfeiler. Kömmt einer, so rufen sie ihn an: Qui va li? Da trägt es sich bisweilen zu, daß man zwischen zwei Qui va li? kömmt, und also in der größten Gefahr ist. – Auch dieses läßt die Republik (Venedig) aus Politik zu.«[122]
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Das wilde Leben der Scholaren wurde durch das ihrer Lehrer höchstens noch übertroffen. Da ist verboten, daß ein Magister mit einem Stein, einem Becher oder etwas ähnlichem werfe. Wer nur[S. 116] den Arm zum Werfen erhob, aber nicht warf, hatte zehn neue Groschen Strafe zu zahlen, wer warf, aber nicht traf, hatte acht Gulden zu erlegen, wer aber traf, wurde nach der Größe des Schadens bestraft. Auch Faustschläge und Reißen an den Haaren hatten ihre Tarife! Man stelle sich vor: Professoren! Niemand sollte auch durch das Fenster einsteigen. Tief blicken läßt die Bestimmung, daß kein Lehrer ad commodum suum meretricem (zu seinem Nutzen eine Prostituierte) ins Kollegium mitbringen dürfe. Das war sehr teuer und kostete eine ganze Jahresrente als Strafe, ebenso wie das andere Verbot, das man zu erlassen für nötig befunden hatte: vel actum venereum inibi exercere (den Beischlaf dort auszuüben). Bei den Disputationen aber war das Verbot von Schimpfworten wie ketzerisch, der Ketzerei verdächtig, Eselei oder Dummheit verboten.[123] Leider besitzen wir keine Instanz, die aus den Polemiken unserer Gelehrten die Schimpfereien und Lackelhaftigkeiten entfernte, die immer noch an den sozialen Tiefstand früherer Jahrhunderte unliebsam erinnern.
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Von der kläglichen Finanzlage, in der sich in der Regel die mittelalterlichen Universitäten, Fakultäten und Professoren befanden, gibt eine Vorstellung die Motivierung der Wiener Fakultät für das Unterlassen einer Beschickung der Nürnberger Tagung, auf der der Kaiser über die Berufung eines andern Konzils verhandeln wollte. Sie schreibt am 30. Dezember 1442: »weil die Universitätskasse vollkommen leer sei und die Universität selbst in großen Schulden stecke.«
Mag auch der Wunsch, sich überhaupt zu drücken, bei der Schwarzfärbung mitbestimmend gewesen sein, so beweisen doch die Schwierigkeiten, die die gleiche Universität hatte, um ihren Gesandten 1433 in Basel mit Geld auszustatten, daß Schmalhans Küchenmeister war. Jeder Professor hätte im Durchschnitt jährlich drei Gulden beisteuern müssen. Das ist allerdings sehr viel, wenn man bedenkt, daß der Mindestbesoldete nur 30 Gulden im Jahre an Gehalt erhielt und daß nur die Professoren der oberen Fakultäten – in Wien etwa 30 Gelehrte – Einnahmen von 80–100 Gulden buchen konnten. Ganz wenige unter ihnen zogen bedeutende Revenuen aus Prüfungen, sowie ihrer Praxis als Anwälte oder Ärzte.[124]
Jede Nebeneinnahme war natürlich hochwillkommen. Am meisten warfen die Promotionen in den oberen Fakultäten ab. Der Doktorand war verpflichtet, an die bei der Promotion anwesenden Magister und Doktoren Geschenke zu verteilen, und zwar zumeist ein Paar Handschuhe, wobei auch wohl unterschieden wurde, wer solche aus Hirschleder bekommen solle oder aus einer geringeren Qualität. Auch ein Barett, ein Geldstück oder einige Ellen Tuch waren übliche Geschenke. In Frankfurt wurden zwischen den Doktoren der oberen Fakultäten förmliche Verträge geschlossen, welche z. B. den Doktoren der Medizin das Recht verbürgten, bei der Promotion von Juristen und Theologen mit solchen Geschenken bedacht zu werden und umgekehrt. Dazu mußte der Doktorand Wein und Konfekt den Examinatoren und dem Kanzler liefern und den Doktorschmaus, dem sich bisweilen auch ein Ball anreihte, bezahlen. Da ist es[S. 118] dann kein Wunder, wenn die Kosten einer Promotion enorm waren. So mußte in Leipzig zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Doktor der Rechte bei seiner Promotion für Gelage, Umzüge, Musik und Geschenke die Summe von 250 Dukaten aufwenden.[125]
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Wie kläglich die finanzielle Lage der Professoren war, geht aus einer Klageschrift der Universität Heidelberg von 1462 an den Papst hervor. Sie seien großenteils alte Männer, die von ihrer akademischen Tätigkeit leben müßten und gezwungen wären, zu betteln, wenn der Papst ihnen die mit ihren Professuren verbundenen Pfründen entzöge. Deshalb möchte der Papst ihre unentschiedene Stellung in den wegen der Konzilien entstandenen Parteikämpfen nicht verübeln, da sie auch von ihrem Landesherren abhängig seien. »Wenn wir ihm nur im geringsten entgegentreten, dann verlieren wir unsere Einkünfte.«[126]
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Nach einer Urkunde vom Jahre 1804 erhielt Immanuel Kant folgendes Gehalt: »I. Als Professor der Logik und Metaphysik 1) Salarium 166 Thaler 60 Grsch. 2) Zulage 86 Thlr. 73 Grsch. 16⅕ Pf. 3) Accise 26 Thlr. 50 Grsch. (quartaliter zahlbar). 4) Mühlen-Gefälle (als annuum fällig den 1. April) 4 Thlr. 5) Thalheimsche Gefälle (als annuum fällig den 19. Juni) 17 Thlr. 53 Grsch. 3 Pf. 6) An Getreyde 44 Schffl. Roggen, quartaliter zu berechnen, aber gewöhnlich erst im letzten Quartal zu empfangen. Diese sind im Etat à 40 Grsch. p. Schffl. angeschlagen[S. 119] auf 19 Thlr. 50 Grsch. 7) Aus dem Stipendio Gerhard Janseniano (als annuum fällig den 31. Dezbr.) 75 Grsch. 8) An Zinsen aus der philosophischen Fakultät (halbjährig in Ostern und Michael fällig) 10 Thlr. 88 Grsch. 1⅛ Pf. 9) Ex Signis Initiationis (halbjährlich in Ostern und Michael fällig) nach der Fraktion 27 Thlr. 17 Grsch. 15 Pf. 10) An Censur-Gebühren nach der Fraktion 6 Grsch. 11) An Holz 5 Achtel, welche von der Königl. Holz-Cämmerey im ersten Quartal des Etats-Jahres pränumerando geliefert werden. Diese sind im Etat à 5 Thlr. p. Achtel angeschlagen auf 25 Thlr. Summa als Professor 385 Thlr. 43 Grsch. 17 (1713⁄40) Pf.« Dazu kommt sein Gehalt II. als Senator, der sich in ähnlicher Weise zusammensetzt, in Höhe von 43 Thlr. 59 Grsch. 17 Pf., ferner der als Senior der philosophischen Fakultät in der Höhe von 100 Thalern und endlich eine außerordentliche Zulage aus der kgl. Ober-Schul-Kasse im Betrage von 220 Thalern. Mithin stand sich der größte Denker, den Deutschland, vielleicht die Erde am Ende des 18. Jahrhunderts besaß, auf 749 Thaler, 23 Groschen und 10 Pf. im Jahre![127]
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An der Leipziger Universität gab es im Mittelalter ein großes und ein kleines Kolleg, in denen die Studenten, wie ja damals allgemein üblich, auf Grund besonderer Statuten gemeinsam lebten. Diese Statuten nun bestimmten nicht nur die Reihenfolge, in der bei Tisch die Speisen anzubieten waren, sie enthielten auch die Vorschrift, daß kein Kollegiat in den Vorlesungen oder Disputationen Sätze auf[S. 120]stellen dürfe, die der Mehrheit der Kollegiaten mißfielen. Wer es doch tat und auf die Mahnung nicht hörte, verlor Tisch und Einkünfte, bis er vom Kollegium wieder zu Gnaden aufgenommen war. Es war also möglich, daß im Kleinen – acht Stellen aufweisenden – Kolleg eine Meinung zulässig war, die im Großen Kolleg mit 22 Stellen verboten war und man fand nichts Entehrendes darin, eine wissenschaftliche Ansicht durch einen Majoritätsbeschluß einer derartigen Genossenschaft zu unterdrücken und offen durch solche Mittel auf die Gesinnung zu wirken. Mag es sich auch entsprechend der ganzen mittelalterlichen Methode um die einfältigsten Spitzfindigkeiten gehandelt haben, so war darum die Vergewaltigung der Lehrmeinung nicht geringer.[128]
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Das ist weniger verwunderlich, wenn man weiß, daß jedem mittelalterlichen Universitätslehrer nicht nur die Kleidung, in der er allein Vorlesungen halten durfte, sondern auch Inhalt und Form des Unterrichts genau vorgeschrieben waren. Und zwar nicht etwa bloß das Buch, sondern auch der Kommentar, die Glosse und damit der ganze Gang und Hauptinhalt der Erklärung. Ferner ob und wieviel er diktieren, ob er aus dem Heft vortragen oder wenigstens einen Gedächtniszettel benutzen dürfe. Es war auch verboten, in einer Stunde mehr oder weniger als die von der Fakultät vorgeschriebenen Abschnitte durchzunehmen. War auch meist freier Vortrag gefordert, so tadelt ein Ingolstädter Gut[S. 121]achten von 1507 es doch als verwerfliches Virtuosentum, daß der Doktor Theoderich, ein Jurist, Text und Glossen aus dem Gedächtnis anführe, statt sie aus dem Buch vorzulesen. Der Lehrer war in solcher Weise nach allen Seiten hin gebunden und wurde so sehr nur als Werkzeug betrachtet, daß er nicht nur sich – wie unsere heutigen Volksschullehrer, sofern sie Religionsunterricht zu erteilen haben – den in den vorgeschriebenen Büchern und Kommentaren vertretenen Ansichten anzuschließen hatte, sondern auch Methode und Meinung wechseln mußte, wenn die Fakultät die Bücher wechselte.
So konnte der Streit von zwei Schulen der Kommentatoren über die logischen Lehrbücher zu einem Kampf an den Universitäten und unter den Universitäten werden, wie der berühmte zwischen den Realisten, die sich bei der Erklärung der Aristotelischen Logik und des allgemein gebrauchten Kompendiums des Petrus Hispanus den älteren Kommentatoren, Albertus Magnus, Duns Scotus, Thomas von Aquino u. a. anschlossen, und den Nominalisten, die an Occam anknüpften. Letztere, die auf Wortformen der Begriffe und Verhältnisse des Satzbaues das Hauptgewicht legten, wurden die größten Meister spitzfindiger und sophistischer Dialektik. Es handelte sich lediglich um einen literarischen, keinen spekulativen Parteigegensatz.
Nun ist nichts bezeichnender für das Wesen der mittelalterlichen Universität und den Lehrzwang, den sie ausübte, als die Tatsache, daß die eine Richtung die andere nicht neben sich duldete, vielmehr an der einen Universität nur nach der alten,[S. 122] an der andern nur nach der neuen Methode gelehrt werden durfte.
Als sich Hieronymus von Prag, der sich am 7. April 1406 in Heidelberg hatte immatrikulieren lassen, mit Leidenschaft in einer Disputation zum Realismus bekannte, die Fakultät die Aufstellungen des Hieronymus widerlegen ließ und Hieronymus hierauf wieder antworten wollte, wurde den Studierenden bei ihrem Eide untersagt, dem Akte anzuwohnen! Weiter beschloß die Fakultät, daß fortan kein auf einer andern Universität ausgebildeter Bakkalar oder Magister in die Fakultät aufgenommen werden solle, bevor er sich eidlich verpflichtet habe, keine Frage zu determinieren, ohne vorher dem Dekan seine Aufstellung vorzulegen und zu schwören, sie auf dem Katheder wörtlich und ohne jede Änderung vorzutragen.
Noch im Jahre 1452 mußte sich jeder Magister in Heidelberg bei der Aufnahme in die Fakultät eidlich verpflichten, nur auf Grund der neuen, vor allem durch Marsilius von Padua eingeführten, nominalistischen Methode zu lehren. Einige Lehrer, die den alten Weg für richtiger hielten, mußten ausscheiden. Erst ein Machtwort des Kurfürsten Friedrich beseitigte dieses Monopol.
In Tübingen, das schon 1477 beiden Richtungen gleiche Geltung einräumte, konnte ein Scholar oder Bakkalar nicht, wie seit 1452 in Heidelberg, beliebig bei Lehrern der einen oder andern Partei hören, vielmehr hatte er sich für einen von beiden zu entscheiden und in dem gewählten Wege die Grade zu erwerben.
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Die unbestrittene Autorität des Aristoteles in den weltlichen Wissenschaften wurde sowohl von den Nominalisten, als von den Realisten anerkannt. Beide Parteien stimmten darin überein, daß sich niemand von seiner Lehre entfernen dürfe, es sei denn, einer seiner Sätze widerstreite der Kirchenlehre. In diesem Falle solle man darauf hinweisen, daß Aristoteles nach der bloßen Vernunft urteile, ohne durch den Glauben erleuchtet zu sein. So zu den Scholaren zu sprechen war in Heidelberg ausdrücklich vorgeschrieben. Zugleich wurde jeder neue Magister eidlich verpflichtet, die Worte des Aristoteles und seines Kommentators als feste und gewissermaßen unzweifelhafte Wahrheit zu verkünden.[129]
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Als Petrus Ramus um die Erlaubnis gebeten hatte, in Genf lehren zu dürfen, erhielt er von Beza (1519–1606), dem Nachfolger Calvins, die für die nicht eben freie Stellung der neuen Kirche zu Aristoteles charakteristische Antwort: »Die Genfer haben ein für allemal beschlossen, weder in der Logik, noch in irgendeinem andern Wissenszweige von den Ansichten des Aristoteles abzuweichen.«[130]
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Georg Kaufmann, der hervorragende Kenner unseres mittelalterlichen Universitätswesen, urteilt über die Bedeutung der Hochschulen für die Entwicklung der Wissenschaften wie folgt: »Alle Fakultäten hielten[S. 124] bis ans Ende der Periode (also bis zur Reformationszeit) die Lehrziele und die Lehrmethode fest, die ihre Statuten aus dem 14. Jahrhundert zeigen, und soweit sie neuen Ansprüchen und Regungen Raum ließen, geschah es fast immer auf Drängen von Personen und Behörden, die außerhalb der Universitäten standen, oder ihnen doch nur lose und äußerlich verbunden waren.
Der Scholar, Bakkalaureus, Lizentiat oder Doktor der Medizin des Jahres 1490 war noch ganz mit denselben Büchern, Kenntnissen und selbst Sitten ausgestattet, wie wir ihn im Jahre 1390 verlassen haben.
Genau so verhielt es sich in der Artistenfakultät. Um 1500 verfolgte man ungefähr die gleichen Ziele, wie um 1400 und hatte auch noch dieselben Lehrbücher.«[131]
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Im Jahre 1471 trug sich nach derselben Quelle ein Ereignis zu, das selbst im Mittelalter, das an Sonderbarkeiten gewiß nicht Mangel litt, selten war. Sechs Schustergesellen sandten nämlich der Universität Leipzig einen Fehdebrief! Sie sagten darin, daß ihnen von vier Scholaren Gewalt geschehen sei, ohne daß ihnen dafür Recht geworden wäre. So wollten sie sich denn erholen an allen denen, »dye do Studenten synt, junck adir alt«. Die Landesherren erließen allerdings einen Befehl auf Ergreifung der sechs Schustergesellen, aber merkwürdigerweise unter gleichzeitiger indirekter Anerkennung des Fehderechtes. Nur weil sie nicht zuerst vor den Gerichten über das ihnen angetane Unrecht Klage[S. 125] geführt, sondern gleich Fehde angesagt hätten, wurde gegen sie eingeschritten. Außerdem rief die Universität die geistliche Gerichtsbarkeit gegen die Feinde auf.
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Ernster lief eine Affäre ab, die hier mitgeteilt werden möge, wiewohl es sich nicht um einen Studenten handelt. Sie ist aber überaus bezeichnend für das, was in unserem Mittelalter möglich war.
Ein Müllerknecht namens Klee hatte Forderungen an die Stadt Mühlhausen wegen rückständigen Lohnes. Eigentlich schuldeten zwar Meister ihm das Geld, da er aber ein frecher Bursche war, mit dem die Stadt nichts zu tun haben wollte, kam sie für die Schuld auf und deponierte die fragliche Summe auf seine Klage hin. Er erhob das Geld aber nicht, vielmehr steckte er am 11. April 1466 einen Fehdebrief an das Gatter des Baseler Tores zu Mühlhausen! Also ein einzelner Müllerknecht, der einer ganzen Stadt die Fehde ansagt!
Bald nahm sich seiner der Ritter Peter von Regisheim an, der einige Bürger gefangen setzte und der Stadt seinen Fehdebrief übersandte. Andere Ritter folgten nach, so daß schließlich der Adel des ganzen Sundgaues gegen Mühlhausen in Fehde lag. Die Geschichte zog immer weitere Kreise und wurde Anlaß zum wenige Jahre später erfolgten Zusammenbruch des mächtigen Reiches Karls des Kühnen von Burgund. Kleine Ursache, große Wirkung.[132]
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Auch Differenzen zwischen Gelehrten konnten die unangenehmsten Folgen haben.
Der Professor Flacius in Jena geriet mit seinem Kollegen Victorinus Striegel, einem Anhänger Melanchthons, in Jena über das liberum arbitrium und die sogenannten guten Werke in einen erbitterten Streit, in dem Striegel, der Jenaische Professor Schnepf und der dortige Superintendent Andreas Hugel zum höchsten Zorne ihres Gegners und seiner Partei das »Confutationsbuch« verfaßten. Flacius brachte die Fürsten von Weimar auf seine Seite, und da Striegel nicht zur Zurücknahme seiner Ansichten zu bewegen war, griffen die Fürsten zu einem eigenartigen Mittel, über das uns der Bericht des bekannten Wittenberger Professors Justus Jonas an den Herzog Albrecht von Preußen belehrt.
»Die jungen Fürsten zu Sachsen (Weimar) haben Victorinum bei der Nacht in der Stadt Jena überfallen und samt dem Superintendenten des Orts, Magister Andreas Hugel, einem frommen, gottesfürchtigen, gelehrten, alten Mann, gefänglich, wie man Dieben und Mördern tut, wegführen lassen.... Am heiligen Ostertag nämlich hat man an die hundert Hakenschützen, desgleichen an fünfzig oder sechzig Pferde, unter welchen jedoch keiner von Adel gewesen, in Weimar auf den Abend sich rüsten lassen, ihnen aber nicht angezeigt, wem oder wohin es gelte; denn man hat diese Dinge sehr heimlich gehalten, auch derenthalben zwei Tage zuvor auf der Straße zwischen Weimar und Jena gestreift, den Boten alle Briefe genommen und erbrochen, auch etliche Wandersleute, unter welchen der junge Doktor Cornarius,[S. 127] untersucht und wieder zurück in die Stadt Weimar geführt, auf daß Victorinus ja nicht etwa gewarnt würde und sich (dessen er doch nie willens gewesen) davonmachte. Folgends am Ostermontage, zwischen zwei und drei in der Nacht, sind die Tore der Stadt Jena auf vorangehende fleißige Bestellung geöffnet worden, Reiter und Hakenschützen hineingelassen, welche alsbald in die zwei Gassen, darin Dr. Victorinus und der Superintendent ihre Wohnung haben, gerückt, dem Victorinus mit großem Ungestüm die Türe mit Äxten und Zimmerbeilen aufgehauen, und als der fromme, ehrliche Mann aus Schrecken samt seiner tugendreichen, lieben Hausfrau im Hemde herabgelaufen und gefragt: was da wäre? ob Feuer da wäre? haben die Ölberger geantwortet: Was sollte da sein? Wir sind da und wollen dich losen Bösewicht dahin führen, wohin du gehörst.
Als sein frommes Weib diese Worte gehört, hat sie Zeter und Mordio angefangen zu schreien, durch welches Geschrei sie die Judasrotte also erzürnt, daß einer unter den Ölbergern, sonder Zweifel ein ehrevergessener Schelm, dem armen, erschrockenen, ehrlichen, frommen Weibe eine Zündbüchse vor den Leib gehalten und gesagt: Schweig, du Pfaffenhure, oder ich will eine Kugel durch dich schießen! Welche Schmähung Dr. Victorinus verantwortet; darauf sie ihn einen Schelm gescholten, wodurch er denn nicht unbillig bewegt und wieder gesagt: Ei! bist du ein Schelm, so bleib einer; ich bin kein Schelm!
Dieser Lärm hat nicht lange gewährt, denn die Ölberger haben sich vor den Studenten und der[S. 128] Bürgerschaft, wo sie des Spiels inne und wach würden, sehr besorgt und derwegen so heftig geeilt, daß sie auch dem frommen Manne Victorinus nicht haben Weile gelassen, daß er seine Kleider hätte anziehen können, sondern man hat ihn im Hemde auf den Weg gestoßen und mit Not so lange gewartet, daß man ihm die Kleider hintennach geworfen.
Mit dem Superintendenten hat man etwas gelinder verfahren, und wie der gemeine Laut gehet, so werden sie sehr hart gehalten und nicht so traktiert, wie billig solche Leute, ob sie gleich ein Größeres verwirkt hätten, gehalten und traktiert werden sollten. Gott tröste die frommen, heiligen Leute, wehre und steuere den Teufelskindern, welche die jungen Fürsten auf solche Umwege führen.«
In einem späteren Briefe berichtet Justus Jonas dem Herzog, daß man noch viel brutaler, als er zuerst mitgeteilt habe, gegen die Herren verfuhr: »Man ist nicht allein bei Nebel und Nacht in sein Haus gefallen, Tür und Angel in Stücke zerhauen, sondern die Judasrotte ist dem frommen, ehrlichen Manne Victorinus in seine Schlafkammer gefallen, haben ihn auf einer Seite des Bettes gefunden, ganz bloß und gleich in dem, daß er sein Hemd über dem Haupt und an seinen Leib gezogen. Sein frommes, ehrliches Weib, des seligen Mannes Doktor Schneppii Tochter, haben sie auf der andern Seite des Bettes mutterleibesnackt gefunden, da das fromm tugendreich Weib stumm und bestürzt gestanden wie ein Stock, sich vor Schrecken nicht regen noch besinnen können... Des alles ungeacht haben sie ihr Büchsen und Spieß vor das Herz gehalten und sie mit Schmähworten greulich angegriffen...«
Grund zu diesem Betragen, das selbst dem Redakteur eines regierungsfeindlichen Blatte gegenüber vielleicht sogar in Preußen befremden würde, war die treue Anhängerschaft Victorin Striegels an Melanchthon und die kursächsischen Theologen zu Wittenberg, die Flacius haßte, wiewohl ihn Melanchthon früher mit Wohltaten überschüttet hatte.[133]
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Das Bild, das Küchelbecker von der Wiener Universität noch um 1730 entwirft, spricht Bände über die segensreiche Wirkung der Kirche in wissenschaftlichen Fragen. Galt dort die alleinige Meinung der Kirche, so ist das bei einem orthodoxen Hofe weniger verwunderlich. Aber das war nicht alles. »Wir wollen nur anführen, daß die Auctorität des Heil. Aristotelis in Philosophicis hieselbst ebenfalls infalible ist; Dahero die hiesigen Magistri artium, als unmündige Kinder ihre Vernunfft unter dem »Autos epha« gefangen nehmen und dessen Dogmata beschwehren müssen. Auch in der Jurisprudenz muß man nach der alten einfältigen Leyer derer Canonisten und Civilisten forttantzen und beyleibe keine neuen Meinungen, auch nicht einmal exercitii gratia, statuieren, wo man sich nicht einen Schwarm Jesuiten auf den Halß laden will... In der Medicin hat es fast gleiche Bewandniß, die Moral und Jus Naturae werden allhier schlecht tractiret, und fast nichts als Fabeln und absurde Principia, deren sich ein jeder vernünfftiger Mensch schämen muß, tradiret. Das Jus publicum und die Historie, so wohl die Profan- als Kirchen-Geschichte, können ebenfalls nicht aufrichtig gelehret[S. 130] werden, weil sonst die römische Kirche ziemlich würde censiret werden müssen. Dieses alles ist auch die Ursache, warum so viele österreichische Cavaliers, wenn sie auf Reise gehen, zu Leyden noch eine Zeit lang studieren, und diese Studia daselbst tractiren. Und mit kurtzen: wie ist es möglich, hinter die Wahrheit zu kommen, wo man nicht libertatem sentiendi, ratiocinandi hat. Denn Latein und die Metaphysique alleine machen keinen Gelehrten.«[134]
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Am 23. Juli 1798 erschien eine »Verordnung wegen Verhütung und Bestrafung der die öffentliche Ruhe stöhrenden Excesse der Studirenden auf sämmtlichen Akademien in den Königlichen Staaten«. Friedrich Wilhelm III. von Preußen erteilt darin der Polizei das früher versagte Recht, Studenten zu verhaften, wobei sie sich nötigenfalls militärischen Beistandes bedienen durfte. In keinem Falle sollte gegen Studenten, die sich »Ungezogenheiten und Ausschweifungen« erlauben und »ihren Frevel so weit treiben, daß solcher der öffentlichen Sicherheit gefährlich geworden« auf Geldstrafen oder Relegation erkannt werden, sondern auf Gefängnis oder körperliche Züchtigung. Unter keinerlei Vorwand wird jemand der Zugang zu dem Gefangenen gestattet, selbst der Gefangenenwärter darf sich mit ihm in keine Unterredung einlassen, auch nicht einmal in das Gefängnis kommen, sondern muß mittelst einer Drehmaschine für die Nahrung und Reinlichkeit des Gefangenen sorgen. Bücher und Schreibmaterialien waren nicht gestattet; die Nahrung ist »unveränderlich« gleichförmig. »Die[S. 131] Züchtigung mit Peitschenhieben« muß als »ein väterliches Besserungsmittel angesehen, sie muß im Gefängnisse in Gegenwart des Vorgesetzten vollstreckt, und von diesem mit den nötigen Ermahnungen begleitet werden.«
Diese Strafe wäre unverständlich, wenn man nicht wüßte, wie die Studenten in und außerhalb Preußens damals und früher, aber auch noch später gehaust haben. Bonner Korpsstudenten haben uns noch im Jahre 1910 daran erinnert, daß der alte Geist des Vandalismus in unsern Musensöhnen die Stürme der Jahrhunderte überdauert hat.[135]
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An die großen Disputationen, eine der wichtigsten Institutionen der mittelalterlichen Universität, die bisweilen vierzehn Tage dauerten und in denen Berge leeren Strohs gedroschen wurden, schlossen sich häufig Disputationen über mehr scherzhafte Probleme an. Entsprechend der Liederlichkeit des Klerus und dem wüsten Treiben der Scholaren war auch die Wahl des Themas. So wurde 1494 in Erfurt über das Monopol der Schweinezunft, 1515 ebenda über Säufer und Suff (de generibus ebriosorum et ebrietate) disputiert. In Heidelberg aber verzapfte Joh. Grieb unter Wimpflings Präsidium 1478 oder 1479 seine Weisheit über die Schelmenzunft (monopolium et societas des Lichtschiffs). Im Jahre 1499 aber disputierte man über die Treue der Kokotten (de fide meretricum) und die Treue der Beischläferinnen der Priester (de fide concubinarum in sacerdotes). Daß bei diesen Festakten der Fakultät,[S. 132] die vom Katheder herab gehaltenen Reden von Zoten und unanständigen Schwänken strotzten, versteht sich von selbst.[136]
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Wohin es führt, wenn die Kirche die Universitäten beherrscht, lernten wir im Mittelalter zur Genüge kennen. Jeder Gelehrte brachte seine Studien in irgend welche Beziehungen zu ihr. So glaubte Erasmus Rheinhold in Wittenberg, einer der bedeutendsten Mathematiker der Reformationszeit, die Mathematik nicht höher loben zu können, als wenn er sie als »eine Zier der christlichen Lehre und Kirche« empfahl. Die Astronomie ward zu einer Wissenschaft, deren letzter Zweck die Anbetung Gottes war, wie die Geschichte das ganze Mittelalter hindurch in keinem andern Sinne geschrieben wurde, als dem, Gott und sein Wirken zu verherrlichen.[137]
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A. Weishaupt erzählt, der religiöse Unterricht habe zum Teil darin bestanden, daß die Schüler das Vaterunser rückwärts ohne Anstoß hersagen sollten, oder angeben, wie oft et, in oder cum in dem ersten Hauptstück des Canisius stehen usw.[138]
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Der Exbenediktiner H. Braun, der Schulreformator Bayerns, verfaßte einen Katechismus, der 1769 von der Universität Ingolstadt, 1771 von fünf Ordinariaten und der Universität Salzburg begutachtet war. Ein Kritiker rügte es, daß Braun die lateinische Wendung[S. 133] »ich glaube in Gott Vater« im Glaubensbekenntnis abänderte in »ich glaube an Gott Vater«. Das wird als »lutherisch-deutsch« gescholten. »Warum sollen wir den Glauben der Lutheraner beten?« Der glaubensstarke Mann schließt: »Wann in unser katholisches Land dererlei Katechismus sollen eingeführet werden, wollen wir selbige zusammen sammeln und in das Feuer werfen, damit die liebe Jugend hierdurch nicht verführet werde und sohin fälschlich beten lerne«. Denn die genannte Übersetzung sei eine Verfälschung der wahren Lehre, die »von niemand ohne schwäre Sünde verteidiget und angenommen werden darf«.
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Joh. Adam Freiherr v. Ickstatt, Professor der Rechte in Ingolstadt, wurde als Förderer des Luthertums in öffentlicher Predigt ausgeschrien – und der Pöbel gegen ihn gehetzt (1752), weil er – seinen juristischen Vorlesungen Leitfäden von protestantischen Autoren zugrunde gelegt hatte.
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Uns allen ist noch erinnerlich, wie Ludwig Wahrmund wegen seines Vortrages »Katholische Weltanschauung und freie Wissenschaft« im Jahre 1908, also anderthalb Jahrhunderte später, behandelt wurde. Wie die tiroler Bauern mit Knütteln nach Innsbruck zogen, um, aufgehetzt von ihren Seelenhirten, den Mann zu erschlagen, der es gewagt hatte, Dinge zu sagen, die schließlich jedes Kind mit der Mutterbrust einsaugt, die aber einem unter jahrhundertelang fortgesetzter Verdummung leidenden Volke als Revolution und Anarchismus erscheinen. Wir erinnern uns auch, wie große Parteien den Mann am[S. 134] liebsten totgeschlagen hätten, weil er anders denkt als sie. Die anschließenden Fälle Schnitzer, Tremel, die Modernistenhetze beweisen, daß die Sache blieb, nur die Form hat sich geändert.
Daß es aber sogar eine mächtige Partei gibt, die, wenn auch nicht diese Form, so doch die Opferung des Intellekts der Autorität billigt, ja bewundert, und zwar im 20. Jahrhundert, ist nicht ohne Interesse.
Der Jesuit Donat legt u. a. die Gefahren dar, die aus der Berechtigung jedermanns, sich ein selbständiges Urteil zu bilden, folgten. Die »krankhafte Zweifelsucht« unserer Zeit, sei eine giftige Atmosphäre, die den empfänglichen Geist, der sich lange in ihr aufhalte, anstecke, ohne daß er es merkt.
Man könnte das ja auch so ausdrücken: die Summe der Erfahrungen, die mit den kirchlichen Dogmen kollidieren, ist so groß, daß auch der Blinde es langsam merkt und sich weigert, das Sacrificium intellectus zu bringen.
Köstlich ist die instinktive Angst vor der Wahrheit und dem unaufhaltsamen Vordringen der weltlichen Freiheit im Gegensatz zur kirchlichen Unfreiheit, wie sie sich in Aussprüchen großer Katholiken oder gar Heiliger dokumentiert. »Kardinal Mai« war ein Mann der Wissenschaft. Er sagte – und dafür können wir einstehen –: »Ich habe auch die Erlaubnis, verbotene Bücher zu lesen; ich benutze dieselbe aber nie und habe auch nicht vor, sie zu gebrauchen.«
Als der gelehrte Muratori eine Schrift zur Widerlegung eines häretischen Buches schrieb, entschuldigte er sich in der Einleitung: »Spät gelangte dieses Buch in meine Hände... und ich konnte es nicht über[S. 135] mich bringen, es zu lesen. Denn zu welchem Zwecke anders, als um selbst der Torheit zu verfallen sollte ich die Schriften der Neuerer lesen? Ich suche und liebe solche, die mich in der Religion bestärken, nicht solche, die mich von ihr abwendig machen.«
Der Hl. Franz von Sales dankt in seinen Schriften mit rührender Einfallt Gott dem Herrn, daß er ihn bei der Lesung derartiger Bücher vor dem Verlust seines Glaubens bewahrt habe.
Der gelehrte spanische Philosoph Balmes sagte einst seinen Freunden: »Ihr wißt, daß der Glaube tief in meinem Herzen wurzelt. Und dennoch kann ich kein verbotenes Buch lesen, ohne das Bedürfnis zu fühlen, mich wieder durch das Lesen der Hl. Schrift, der Nachfolge Christi und des gottseligen Ludwig von Granada in die rechte Stimmung zu versetzen.«
Während es überall für verdienstvoll um nicht zu sagen anständig gilt, sich durch Gründe überzeugen zu lassen, während der vorwärtsstrebende Mensch begierig alles in sich aufnimmt, was ihm hilft, alte Irrtümer gegen neue Wahrheiten einzutauschen, wird also heute noch in der Kirche der am höchsten angesehen, der sich gewaltsam Scheuklappen vorbindet und der Wahrheit aus dem Wege geht.[139]
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Bekanntlich herrscht an unseren Universitäten nicht nur Lern-, sondern auch Lehrfreiheit. Autoritäten, ein jurare in verba magistri existiert de jure nicht mehr. Wohl aber de facto. Oder wie läßt sich die Tatsache, daß weder Atheisten, noch Sozialdemokraten, noch an protestantischen Universitäten, z. B. Halle,[S. 136] Katholiken – und zwar auch für Lehrfächer, die mit der Kirche weder direkt noch indirekt etwas zu tun haben – zugelassen werden? Es ist dieselbe Sache in anderer Form: Aufrechterhaltung des Status quo um jeden Preis und Bekämpfung des Geistes mit materiellen statt mit geistigen Waffen.
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Werfen wir noch einen flüchtigen Blick auf den Unterricht des Volkes.
In der Zirkularverordnung über die Garnisonschulen vom 31. August 1799 entwickelt Friedrich Wilhelm von Preußen u. a. folgende Gedanken: »... Ein mit diesen Eigenschaften ausgerüsteter Soldat wird auf seinem Platze gewiß ein brauchbarer Diener des Staates, und zugleich ein glücklicher Mensch sein, wenn niemand das Bestreben nach höheren Dingen in ihm zu erwecken sucht. Der Keim zur Unzufriedenheit mit seinem Stande wird sich aber in eben dem Grade entwickeln, in welchem man seinen wissenschaftlichen Unterricht weiter ausdehnt. Nur wenige Menschen der unteren Volksklasse sind von der Natur so sehr verwahrloset, daß sie nicht die Fähigkeit haben sollten, etwas mehr zu leisten, als ihr Stand von ihnen erfordert, und sich dadurch auf irgendeinem Wege über denselben zu erheben. Ein zu weit gedehnter Unterricht wird das Gefühl solcher Fähigkeiten in ihnen rege machen, durch deren Anwendungen sie sich leicht ein günstigeres Schicksal, als das eines gemeinen Soldaten ist, würden verschaffen können...«[140] Die Antwort war – Jena!
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Im selben Geiste war der Volksschulunterricht gehalten. Der Hofprediger Sack, der einer Verbesserung des Volksschulwesens das Wort redete, erörterte noch die Frage, ob Lesen und Schreiben Lehrgegenstand sein sollen, da doch der Nutzen dieser beiden Kenntnisse für den Landmann sehr gering sei, während hingegen die Anpreisung der Taten der Landesfürsten unbedingt von der Schule besorgt werden müsse.[140] Das ist ja auch noch in unserm Geschichtsunterricht nicht gerade nebensächlich.
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Übrigens, war nach dem Lehrermaterial zu urteilen, die von Friedrich Wilhelm gefürchtete Gefahr einer Überladung des Volkes mit gelehrter Bildung nicht sehr groß. Invalide Soldaten versahen vielfach den Unterricht und ihre Vorbereitung bestand darin, daß man sie fürs Einpauken von Gesangbuchversen eine Zeitlang abrichtete. Nebenbei hatten die Landlehrer noch allerlei andere Erziehungspflichten, z. B. die erst 1802 ihnen abgenommene, den Hebammen einen Katechismus für Geburtshilfe zu erklären!
Das Diensteinkommen der Landlehrer in der Mark Brandenburg betrug zu Beginn des 19. Jahrhunderts: in zwei Fällen zwischen 220 und 250 Taler jährlich, dagegen in 155 Fällen unter 10 Talern; 182 bezogen zwischen 10 und 20 Talern, 263 zwischen 20 und 40 Taler, 167 zwischen 40 und 60 Taler, 131 zwischen 60 und 80 Taler. 92 zwischen 80 und 100 Taler und 151 über 100 Taler. Das war allerdings ein gewaltiger Fortschritt gegenüber den Zuständen von 1774, denn[S. 138] damals besass die Kurmark nur 49 Landlehrer mit mehr als 100 Talern Jahresgehalt, 184 aber bezogen 10 Taler und weniger, 111 weniger als 5 Taler und 163 gar kein Gehalt. Deshalb betrachteten die Lehrer den Unterricht als Nebensache und übten dabei ihren Beruf aus. In der Kurmark besassen 1806 2026 Dörfer weder Schule noch Lehrer. Friedrich Wilhelms Bestrebungen hatten somit durchschlagenden Erfolg. Übrigens war auch in väterlicher Weise dafür gesorgt, daß die Kinder nicht durch Studium des Lesens und Rechnens dem geistigen Hochmut überliefert würden. Die Teilnahme an diesen Stunden war nämlich wahlfrei und kostete erhöhtes Schulgeld, das viele Eltern zu zahlen nicht in der Lage waren.[141]
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Auch auf den Gymnasien war zu Anfang des 19. Jahrhunderts der Unterricht selbst für uns, so wenig wir darin verwöhnt sind, hinlänglich befremdlich. Franz Neumann (1798–1895) erzählt z. B. in seiner bekannten, von seiner Tochter Luise veröffentlichten Lebensgeschichte (Tübingen 1904), daß er auf dem Berliner Gymnasium lateinische Pflanzennamen hätte lernen müssen, ohne auch nur zu wissen, daß er nun botanischen Unterricht habe.
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Zum Schluß noch eine Tatsache, die zu denken gibt. Bekanntlich besitzt München in der Person des Schulrats Kerschensteiner eine Koryphä allerersten[S. 139] Ranges. Wie sehr trotzdem der Geist des Hl. Bureaukratius in unserem Schulwesen steckt, erhellt daraus, daß einige Schulen den Unterricht ruhig weiter erteilten und die Kinder im Klassenzimmer beliessen, als Graf Zeppelin am 1. und 2. April 1909 sein Luftschiff über München lenkte![142]
Am 26. April 1794 erließ König Friedrich Wilhelm II. von Preußen folgendes »Reskript an das Kammergericht wegen der Mißbräuche, die bei der Zensur zu deren Verteilung überhand genommen«: »daß dem Unwesen, welches seit einiger Zeit mit Schriften getrieben wird, die entweder den Grund aller Religion überhaupt angreifen, und die wichtigsten Wahrheiten derselben verdächtig, verächtlich oder lächerlich machen wollen, oder aber die christliche Religion, die biblischen Schriften, und die darin vorgetragenen Geschichts- und positiven Glaubenswahrheiten, für das Volk zu Gegenständen des Zweifels oder gar des Spottes zu machen, sich unterfangen, und dadurch zugleich die praktische Religion, ohne welche keine bürgerliche Ruhe und Ordnung bestehen kann, in ihren Grundfesten erschüttern; im gleichen solchen Schriften, worin die Grundsätze der Staats- und bürgerlichen Verfassung angetastet, Maßregeln der Regierung aus unrichtigen und gehässigen Gesichtspunkten dargestellt, Ungehorsam und Wider[S. 141]spänstigkeit gegen Gesetze und Obrigkeiten verteidigt, oder doch die Gemüter zu unnützen Grübeleien über Gegenstände, welche die Fassung- und Beurteilungskraft des großen Haufens der Leser übersteigen, aufgefordert, und zu unrichtigen Anwendungen mißverstandener theoretischer Sätze verleitet werden, mit dem größten Ernst und Nachdrucke entgegengearbeitet, gegen diejenigen aber, welche den ergangenen Zensur-Gesetzen auf irgend eine Art zuwiderhandeln, nach aller Strenge dieser Gesetze, ohne die geringste Nachsicht oder Schonung verfahren werden soll.«[143]
In dem »General-Privilegium und Gülde-Brief für die Schwarz- und Weiß-Nagel-Schmiede zu Alt-Stettin, auch für sämtliche Schwarz- und Weiß-Nagel-Schmiede in Vor- und Hinter-Pommern. De Dato Charlottenburg, den 29. July 1802« heißt es im Artikel XXI:
»Alles Korrespondieren mit anderen ein- oder ausländischen Gewerken, soll sich das Gewerk bei schwerer Strafe enthalten, wenn aber besondere Umstände etwa dergleichen erforderten, soll es mit Zuziehung des Beisitzers, auch wohl nach Befinden mit Vorwissen des Magistrats, selbst geschehen, wie denn auch, wenn von den anderen ein- oder ausländischen Gewerken Schreiben einliefen, solche unerbrochen an den Beisitzer gebracht, in dessen Gegenwart eröffnet, und die Antwort mit demselben verabredet werden soll.«
Aber die preußische Regierung hatte nicht nur Angst vor eventuellen Verschwörungen der Zünfte und hielt sie deshalb unter ständiger polizeilicher[S. 142] Kontrolle, sie fürchtet auch die Gesellen und verbietet ihnen deshalb das Briefeschreiben.
Der Artikel XXXIV des genannten Privilegs lautet:
»Alles Briefwechselns mit andern Gesellschaften oder sogenannten Brüderschaften haben sich die Gesellen bei empfindlicher Strafe zu enthalten, weshalb ihnen auch kein Siegel gestattet wird. Die etwa von anderen ein- und ausländischen Brüderschaften eingehenden Schreiben sollen aber nach der Verordnung vom 23. März 1799 sofort dem Magistrat in Vorschlag genommen, und von demselben nach Befinden des Inhalts die Aushändigung an die Gesellen oder deren Kassierung verfügt werden.«[144]
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Im Jahre 1794 las in Zelle eine Gesellschaft mit Vergnügen den Moniteur, den sie aus Bremen erhielt. Seit Mitte Mai des Jahres blieb das Blatt aber aus. Die Zellische Gesellschaft wandte sich daher an ihren Lieferanten und erhielt die Antwort, daß der Moniteur, sowie alle französischen Zeitungen den kaiserlichen Postbeamten »bey nahmhafter Strafe und nach Befinden der Kassation« zu debitieren verboten wären. »Von dem Verbote sind blos Fürstlichkeiten, wirkliche Minister und Gesandte an fremden Höfen ausgenommen, an deren offene Adressen die Zeitungen gehen müssen.« Schon in anderen deutschen Provinzen war ein ähnliches Verbot vorhergegangen. Mit diesen Mittelchen hoffte man die Wirkungen der grossen Revolution fern zu halten. Allerdings[S. 143] nimmt Archenholz »eine Abwesenheit der Weisheit« bei Erlaß dieser Maßnahme an.[145]
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Zur Zeit des Vatikanischen Konzils kam der Verlagsbuchhändler Josef Bachem zum hochbetagten Präses des Priesterseminars in Köln, Dr. Westhoff, um ihm sein Bedenken gegen das Unfehlbarkeitsdogma vorzutragen. Der Greis zeigte ihm darauf in der Bibliothek des Seminars nicht weniger als sechzehn Katechismen, die im 18. Jahrhundert in der Erzdiözese Köln in Gebrauch gewesen waren und die sämtlich und ohne Ausnahme die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit in Sachen der Glaubens- und der Sittenlehre klar und deutlich vortrugen. Erst die preußische Zensur, wie sie vor 1848 bestand, hat diese Lehre aus dem kirchlichen Katechismus gestrichen![146]
Die historisch-politischen Blätter begannen im Jahre 1840 (S. 586) einen Artikel folgendermaßen: »In Preußen sind nun fast alle katholischen Journale und Zeitungen verboten und, um die Sache ab ovo zu beginnen, hat man, willkommene Gelegenheit ergreifend, buchhändlerische Interdikte gegen künftig erscheinende noch ungeborene Werke in Maße geschleudert oder ihre Verbreitung in einer Weise erschwert, daß es einem Verbote gleichzuachten ist.«
Unter der Maske des Liberalismus hat bekanntlich Bismarck im sogenannten Kulturkampf aufs rücksichtsloseste die katholische Presse verfolgt, wie er ja un[S. 144]beschadet seiner sonstigen kaum zu überschätzenden Größe skrupellos und gewalttätig gegen alles vorging, was sich ihm nicht beugte. Deshalb zieht Bismarck als endlosen Kometenschweif, in dem wir heute noch leben, jene Atmosphäre des Servilismus und der Duckmäuserei nach, die nicht weniger Sklavennaturen züchtete, als der Absolutismus. Doch war die kleinstaatliche Vergangenheit uns in einem voraus: wer wegen seiner Meinungen in Reuß jüngere Linie verfolgt wurde, siedelte in die ältere Linie über und konnte seiner Überzeugung treu bleiben. Im geeinten Deutschland reichte Bismarcks Arm überall hin.
Damals veranstaltete die Frankfurter Zeitung eine Zählung der Verurteilungen wegen Preßvergehen. Wiewohl sie auf Vollständigkeit nicht im entferntesten Anspruch macht, stellt sie im Januar 1875 21, im Februar 35, im März 39, im April 42 verurteilte Zeitungsherausgeber fest. Es wurden also in vier Monaten 137 Pressdelinquenten mit Geldbußen oder Gefängnis bestraft. Außerdem fanden in derselben Zeit 30 Konfiskationen von Zeitungen statt. Gegen vier Redakteure der Germania waren einmal zu gleicher Zeit Prozesse und Bestrafungen im Gange. Aber mehr als das: In mindestens drei katholischen Blättern haben sich nachweislich Bedienstete der Berliner Geheimpolizei in Stellungen von Mitredakteuren eingeschmuggelt, bisweilen sogar über Jahr und Tag hinaus. Sie hatten nicht nur Spionendienste, sondern auch solche als agents provocateurs, die die Leiter der katholischen Blätter zu extremen Äußerungen anzutreiben versuchten, zu verrichten.[147]
Im Jahre 1845 erschien folgender Katalog: »Index librorum prohibitorum. Katalog über die in den Jahren 1844 und 1845 in Deutschland verbotenen Bücher. Erste Hälfte.« Die zweite Hälfte erschien 1846. Wiewohl der Index nicht vollständig ist, da die Verbote von Zeitungen und Zeitschriften nicht aufgenommen wurden, enthält er 437 durch 570 Verbote untersagte Schriften. Man sieht, die weltliche Regierung kann es auch.
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Nicht viel besser als gegen die katholische Kirche verfuhr man gegen die Sozialisten. Nachdem gegen sie ein Ausnahmegesetz geschaffen war, erschien 1886 ein förmlicher Index librorum prohibitorum. Er lautet: »Sozialdemokratische Druckschriften und Vereine verboten auf Grund des Reichsgesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878« (1886). Zwei Jahre später erschien ein Nachtrag. Nach den amtlichen Angaben kommen im Durchschnitt 130 verbotene Schriften je auf ein Jahr, also wurden in den zwölf Jahren des Bestehens des Gesetzes rund 1500–1600 Drucksachen verboten.[148]
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Doch nun zum römischen Index!
Auf ihm stehen neben Rankes »Römischen Päpsten« Kants »Kritik der reinen Vernunft« gegen die schon Friedrich Wilhelm II. von Preußen in einer Kabinettsorder unter Minister Möller eingeschritten war, und[S. 146] Baruch Spinoza. Für letzteren ist das nichts Außerordentliches, da zwischen 1656 und 1680 über 500 scharfe Verbote gegen die Schriften dieses großen und edlen Juden erlassen worden waren.[149]
Man kann ohne Übertreibung sagen, daß in den letzten Jahrhunderten nicht ein einziger großer Denker oder Dichter lebte, dessen Name nicht auf einem der katholischen Indices zu finden war oder ist. Wer bei Reusch das Namenverzeichnis durchblättert, glaubt sich in eine geistige Ruhmeshalle versetzt.
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Im Jahre 1890 sollte im Lessingtheater in Berlin Sudermanns »Sodoms Ende« aufgeführt werden. Wiewohl nun Preßfreiheit auch in Preußen besteht und der Artikel 27 der preußischen Verfassung jedem Preußen das Recht der freien Meinungsäußerung verbürgt und ausdrücklich verfügt, daß eine Zensur nicht eingeführt werden dürfe, existiert sie doch. Und zwar nach einer Polizeiverordnung vom 10. Juli 1851 – also anderthalb Jahre nach der Verfassung erlassen – in der festgesetzt wird, daß die Erlaubnis zur Veranstaltung einer öffentlichen Theatervorstellung beim kgl. Polizeipräsidium schriftlich nachgesucht werden müsse.
Das hatte Oskar Blumenthal, der Direktor des Lessingtheaters, auch mit »Sodoms Ende« getan. Als kein Bescheid von der Polizei einlief, aber alles für die erste Aufführung, mit Kainz und in Gegenwart des Dichters, vorbereitet war, wurde Blumenthal stutzig. Drei Tage vor dem Aufführungstermin fuhr er nach dem Polizeipräsidium, wo ihm mitgeteilt wurde, daß[S. 147] der Theaterzensor die Erlaubnis bereits unbedenklich erteilt hatte, als der Präsident, Freiherr von Richthofen, sich das Werk hatte kommen lassen und die öffentliche Aufführung verbot. – Blumenthal ging darauf zum Polizeigewaltigen persönlich, um die Gründe für das Verbot zu erfahren. Es entwickelte sich folgendes Gespräch, das er selbst veröffentlicht:
»Ich höre soeben, Herr Präsident, daß mir drei Tage vor der ersten Aufführung Hermann Sudermanns Drama »Sodoms Ende« verboten werden soll?«
»Das stimmt!«
»Und daß Sie persönlich das Verbot verfügt haben?«
»Stimmt auch!«
»Ja, aber bedenken Sie die Situation eines Bühnenleiters, Herr Präsident! Vierzehn Tage angestrengter Bühnenproben... ein Gastspiel mit Joseph Kainz für diese Novität abgeschlossen... der ganze Spielplan der nächsten Wochen darauf aufgebaut... selbstverständlich kein Ersatzstück vorbereitet... die Erfolge des früheren Repertoires ausgeschöpft... das Haus für die ersten drei Vorstellungen schon vollständig ausverkauft... und nun diese Ratlosigkeit auf der Höhe der Saison, in der besten Zeit des Theaterjahres.«
»Alles sehr traurig, aber die Behörde kann auf Privatinteressen keine Rücksicht nehmen.«
»Aber warum das Verbot, warum?«
»Weil es uns so paßt.«
»Ich verstehe vollkommen, Herr Präsident... Sie wollen mir durch diesen Lakonismus ins Gedächtnis rufen, daß nach der polizeilichen Verordnung[S. 148] vom 10. Juli 1851 die Behörde nicht verpflichtet ist, für das Verbot eines Stückes Gründe anzugeben...«
»Na, da wissen Sie ja also Bescheid!«
»Ich meine aber nur, Herr Präsident, daß doch immerhin die Möglichkeit vorliegt, durch behutsame Änderungen die Bedenken, die zu diesem Verbot geführt haben, aus der Welt zu schaffen. Vielleicht sind es nur einige gewagte Stellen, um die es sich handelt?«
»O nein!«
»Oder einzelne Szenen?«
»Auch nicht!«
»Ja, aber was sonst?«
»Die janze Richtung paßt uns nicht.«[150]
So geschehen in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. Wie glücklich eine Kunst, die unter polizeilicher Obhut stehen darf!
Blumenthal war hierauf beim Minister des Innern, Herrfuth. Er las das Stück, veranlaßte einige kleine Milderungen und riet Blumenthal, es wieder dem Polizeipräsidenten zu unterbreiten.
Die Antwort des Polizeipräsidenten vom 27. Oktober 1890 – die Unterredung hatte am 23. stattgefunden – lautete:
»Ew. Wohlgeboren!
erwidere ich auf das gefällige Schreiben vom 24. d. M. bei Rückgabe der Anlage desselben, ergebenst, daß ich auch nach nochmaliger Erwägung mich nicht veranlaßt sehen kann, die Genehmigung zur Aufführung des Dramas »Sodoms Ende« zu erteilen, da dasselbe in seiner ganzen Anlage und Durchführung geeignet erscheint, das sittliche Gefühl zu verletzen, dieses[S. 149] sittenpolizeiliche Bedenken daher durch die von Ihnen angebotene Streichung einzelner besonders anstößiger Stellen nicht behoben werden kann.«
Am 31. Oktober hob der Minister des Innern diese Verfügung auf, nachdem eine Generalprobe nur in Gegenwart dreier Ministerialräte über die Existenzberechtigung der »neuen Richtung« entschieden hatte, ein Eingreifen, das nicht ohne Tadel von allerhöchster Stelle geblieben ist. »Sie hätten sich fragen sollen,« sagte der Kaiser dem Minister, »ob Sie auch in Begleitung Ihrer Tochter jede Szene anhören könnten.«
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In Blumenthals und Kadelburgs Schwank »Die Großstadtluft« wurde durch Reskript vom 26. November 1891 angeordnet, die Verse zu streichen: »Nun bin ich ledig aller Erdenplag’. Mich kann kein Glück, kein Hoffen mehr betrügen. Und wenn einst naht der Auferstehungstag, ich bleibe liegen.« Die Polizei fürchtete, sie könnten durch Verspottung des Auferstehungsglaubens ärgerlich wirken![151]
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Da wird es sich hinfort empfehlen, es so zu machen wie die Venezianischen Autoren des 18. Jahrhunderts.
Unter ihnen herrschte ein sonderbarer Brauch, von dem Keyßler berichtet: »Bey den italienischen Opern ist noch zu bemerken, daß die Verfertiger ihrer Texte gemeiniglich auf den ersten Blättern der gedruckten Exemplare sich mit einer ausdrücklichen Protestation verwahren, wie sie im Herzen rein[S. 150] katholisch wären, und man die im Texte vorkommenden Worte von Idolo, Numi, Deità, Fato, Fortuna, Adorare und dergleichen nicht anders als poetische Scherze anzusehen habe.«[152]
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In dem Schauspiel »Falsche Heilige« verläßt eine junge Frau ihren Gatten, weil sie erfahren hat, daß er vor seiner Verheiratung eine Gouvernante verführt hat. Ihr Onkel, ein Pariser Lebemann, faßt seine Meinung in folgende Worte zusammen: »Ich bitte Sie! Da will sich meine Nichte von ihrem Mann scheiden lassen, weil er früher einmal, vor der Ehe, eine Gouvernante... Ja, das ist doch einfach lächerlich! Wann soll man denn mit einer Gouvernante eine Liebschaft haben? Vor der Ehe darf man nicht. In der Ehe kann man nicht. Nach der Ehe will man nicht.... Oder sollen die Gouvernanten vielleicht überhaupt abgeschafft werden?«
Gottlob rettete der Stift des Zensors Deutschlands Sittlichkeit durch Tilgung dieser furchtbaren Stelle. Von diesem Tage an wurden bisweilen die Aufführungen des Lessingtheaters von dem Revierwachtmeister mit dem Textbuch in der Hand überwacht, und jede Abweichung vom polizeilich gestatteten Text zur Kenntnis des Zensors gebracht. Man hatte diese schrecklichen Worte nämlich von der Bühne aus nochmals zur großen Heiterkeit des Publikums gesprochen, was Blumenthal eine sehr scharfe Vermahnung eingetragen hatte.[153]
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Mit Recht wird unsere Jugend vor allem Unsittlichen behütet. Hier hat der Zensor eine besonders dankbare Aufgabe, der er sich mit größter Gewissenhaftigkeit unterzieht.
In den »Liedern für die deutsche Volksschule«, herausgegeben vom Bezirkslehrerverein München, Heft 1, 2, 3 (München 1894 ff.), besitzen wir ein Werk, dessen segensreiche Wirkung auf die Seelen unserer Kinder nicht hoch genug zu bewerten ist. Zwar heißt es auf S. 4 im II. Heft ausdrücklich: »Stets wurde darauf gesehen, die Volkslieder nach Melodie und Text in ihrer ursprünglichen Form wiederzugeben«, aber darum nur keine Angst! Selbst die keusche Seele eines Lizentiatus Bohn kann das Buch ohne Gefahr für ihren Frieden lesen. Das werden wir beweisen.
Hölty, augenscheinlich ein recht frivoler Geselle, singt in seinem »Mailied« (I, 27):
So ein Skandal! Nun, Ballhorn – pardon! der Bezirkslehrerverein war sich der drohenden Gefahr für die Knaben der 1. und 2. Schulklasse bewußt und griff mit anerkennenswerter Energie selbst zur Leier und die Muse küßte ihn mit hörbarem Schmatzen. Er singt:
Für diesmal wären also die Kinder noch vor den Fallstricken der Erotik bewahrt geblieben.
Daß in Goethes »Frühzeitiger Frühling« (III, 79) die obszöne letzte Strophe:
gestrichen wurde, versteht sich von selbst. Nun hat aber derselbe greuliche Heide auch ein »Sommerlied« gedichtet, in dem die gefühlsrohe Strophe:
vorkommt. Das schreit ja geradezu nach Umdichtung. Gottlob verhallte der Ruf nicht ungehört. Todesmutig bestieg der Herausgeber den Pegasus und machte seinem gequälten Herzen in folgenden Perlen Luft:
Wie schön!!
Eichendorff in seiner ganzen Leichtfertigkeit offenbart sich im »Frohen Wandersmann« (II, 10). Er wagt da zu singen:
»Kinderwiegen«, man denke! Natürlich waltete der Zensor seines Amtes. Wie hätte er auch die Phantasie der ihm anvertrauten Jugend durch solch schlüpferige Bilder vergiften lassen dürfen?
Starken Toback setzt Arndt in seiner »Frühlingslust« (III, 36) seinen Lesern vor. Die 6. Strophe lautet:
Liebeslust – Wonneschall und dann noch einen Ball! Das ist entschieden zu viel. In der richtigen Erwägung, die sträflichen Orgien dieser Welt dürfen nicht in die Schule verpflanzt werden, strich der Herausgeber. Schade, daß wir so um eine Bereicherung unserer Poesie gekommen sind. Wie schön hätte er das umdichten können! Aber vielleicht war es doch besser so, wenn auch nicht für unsere Literatur, so doch für die Unverdorbenheit der Kinder.[154]
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Der preußische Kultusminister hat das »Lesebuch für höhere Mädchenschulen« von Karl Hessel, das bereits in 6. Auflage vorliegt, für die paritätische höhere Mädchenschule in Kreuznach verboten wegen konfessioneller und moralischer Bedenken. Ausdrücklich sind zwei Bedenken ersterer Art angeführt: erstens heißt es in Peter Roseggers humoristischer Erzählung »Der Gansräuber«, daß die Staudenbäuerin bei der Nachricht von der Ermordung ihrer Martins[S. 154]gans entrüstet ausgerufen habe: »Das ist ja eine Todsünde gegen den heiligen Martinus!« Es ist ohne weiteres klar, daß eine solche mangelhafte Beschlagenheit der Staudenbäuerin in der Dogmatik mit Rücksicht auf die verhängnisvollen Wirkungen auf die Seelen der höheren Töchter nicht geduldet werden kann.
Dann hat auch Freiligrath in seinem berühmten Gedicht »Am Baum der Menschheit drängt sich Blüt’ an Blüte«, in dem er die Völker und Länder mit Blüten vergleicht, in höchst sträflicher Weise auf den paritätischen Charakter der Schule nicht Rücksicht genommen.
Er spricht nämlich den Gedanken, mit Luthers Auftreten sei eine Blütezeit angebrochen, als Zukunftsaussicht des Reformators aus. Vor katholischen Ohren! Man denke! Wie könnten da die Seelen der armen Schäflein in Anfechtungen fallen!
Die schrecklichen Verse lauten:
Nicht minder gefahrdrohend wie für das Glaubensleben der Kinder ist das genannte Buch für ihre Moral. In dem Märchen vom Schlaraffenland heißt es nach Bechsteins Erzählung, dort flögen gebratene Tauben den Leuten ins Maul, auch müsse man sich durch einen Reisbrei durchfressen, um ins Land zu kommen. Solche Ausdrücke, sagt der Minister – übrigens mit Recht –, dürften Mädchen nicht in den Mund nehmen. Aber einen solch gesegneten Appetit,[S. 155] daß man sich durch einen Reisberg durch»essen« kann, hat doch nicht jeder!
In Hebels Gedicht »Der Schneider in Pensa« wird erzählt, wie ein wohlhabender deutscher Schneider 1812 badische Soldaten zu Pensa in Rußland bewirtet habe. Es heißt da, der Schneider habe sich schon vorher auf solche Einquartierung gefreut; er liebte sie, sagt Hebel, schon zum voraus ungesehenerweise, wie eine Frau ihr Kindlein schon liebt und ihm Brei geben kann, ehe sie es hat.
Diesen Satz bezeichnet der Minister als anstößig![155]
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Die Tugendhaftigkeit unserer Zeit macht keineswegs vor der Kastration von Gedichten und Volksliedern halt. Sie hat auch rückwirkende Kraft. Jeder wahre Tugendheld muß sein Herz höher schlagen hören, wenn er wahrnimmt, daß nichts so klein oder kleinlich ist, daß die Sittlichkeit sich nicht seiner bemächtigt.
Ein Beispiel für viele: Ungezählte Jahre stand in den Schülerverzeichnissen, die den Jahresberichten der bayerischen Gymnasien angehängt sind, unter der Rubrik »Stand des Vaters« Privatier etc. Das ist nunmehr insofern geändert, als bei unehelichen Kindern in diesem Falle Privatiere stehen würde, also der Stand der Mutter! Die Folge dieser sittenstrengen Maßnahme ist klar. Die Kinder werden mit der ihnen eigenen Grausamkeit sich die Schande der Eltern, oder das, was die Spießbürger so zu nennen pflegen, vorwerfen und damit einen Wermuttropfen in die Seele des schuldlosen Opfers träufeln. Aber[S. 156] was schadet das weiter? Wenn nur die Moral gerettet wurde![156]
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Mit der Prüderie der Behörden und Geistlichkeit kontrastiert ganz merkwürdig das Verhalten in der Beichte. Der Redakteur der Aschaffenburger Zeitung Pepi Matthes hat vor einigen Jahren unter dem Titel »Wenn Kinder beichten. Eine Anklage« ein Schriftchen herausgegeben, das inzwischen recht selten geworden ist und in dem er seine Erfahrungen mit dem Beichtstuhl voller Entrüstung veröffentlicht. Seine Zentrumsgegner denunzierten ihn darauf, er wurde in eine sehr unangenehme Untersuchung verwickelt und die Schrift konfisziert. Aber da es ihm gelang, den Wahrheitsbeweis zu erbringen, mußte das Verfahren nach § 184 Abs. 1 RStrGB. eingestellt und die Broschüre frei gegeben werden.
Statt nun, daß die Frommen voller Entrüstung sich vom System der Beichte oder mindestens dessen Handhabung abgewandt hätten, verfolgen sie Matthes heute noch mit Feuereifer nach dem altbewährten deutschen Prinzip, nicht den Brandleger zu bekämpfen, sondern den Passanten, der »Es brennt« ruft.
Bezeichnend für die Kampfesweise ist u. a. der in Nr. 410 der Münchener Neuesten Nachrichten vom Jahre 1909 abgedruckte Brief des Gymnasialrektors Dr. J. Straub. Darin heißt es: »... Wohl aber begab ich mich vor einiger Zeit... zu sämtlichen hiesigen Buchhandlungen und erklärte dort, ich müßte den Schülern das Betreten ihrer Geschäftsräume unter Androhung der schwersten Strafen verbieten, wenn[S. 157] sie das angedeutete Preßerzeugnis auf Lager hielten. Damit tat ich lediglich meine Pflicht und erfüllte einen ausdrücklichen Auftrag des k. Staatsministeriums. Auch an Herrn Bürgermeister Dr. Matt wandte ich mich mit der Anfrage, ob von Polizei wegen gegen die Verbreitung solcher Produkte nicht vorgegangen werden könnte.«
In diesem Schriftchen, dessen Wahrheit also gerichtlich festgestellt wurde, finden sich folgende Proben aus der Beichte:
Ich war 14 Jahre alt und legte meine Osterbeichte ab.
»Hast du Unzüchtiges getan?«
»Nein.«
»Hast du dich niemals angerührt?«
»Nein, nur wenn ich’s mußte.«
»Hast du niemals mit der Hand dich an schamhafter Stelle angefaßt, jenen Teil in die Hand genommen und hast so gesündigt?«
»Aber nein.«
»Hast du nie etwas Besonderes aus deinem schamhaftesten Teil kommen sehen oder das gefühlt, wenn du im Bett lagst?«
»Nein, Hochwürden.« – – –
Schon oft hatte ich so etwas von Kameraden gehört, die der Beichtvater auch so ausgefragt hatte. Aber ich verstand all das nicht. Am Abend nach jener Beichte lag ich unruhig im Bett. Es war mir so heiß, so schwül.
Meine Beichte fiel mir ein.
Ich warf Bett und Decke zurück, damit ich nicht so heiß bliebe.
Ich mußte am nächsten Morgen kommunizieren. Ach, wie ist das, wenn man so ist, wie der Beichtvater heute gesagt hat? Ich preßte die Schenkel aufeinander. Es half nichts. So war ich noch niemals.
»Hast du...?« »Hast du...?« »Tatest du...?«
Die Fragen gingen mir immer schneller durch den Kopf. »Vater unser...« Meine Sinne waren nicht beim Beten, sondern bei der Beichte.
Die Hand... »Hast du noch nie...?« »Hast du niemals...?«
Gott, Gott, wie reizten mich diese Fragen, so oft ich daran dachte. – – –
Am nächsten Morgen konnte ich nicht kommunizieren. »Ich habe aus Versehen nach 12 Uhr noch ein bißchen Brot gegessen,« belog ich meinen Religionslehrer.
Bei der nächsten Beichte aber mußte ich antworten: »Ich habe es getan.«
*
Wie Matthes bei einem Augustiner einige Zeit später beichtet, der ihn gleich fragt, wo er wohnt und sich nach den Töchtern der Wirtsleute erkundigt, erzählt er folgendermaßen:
»Die eine heißt Emmy und die andere Anna?«
»Ja.«
»Hast du mit diesen noch nicht unschamhaft verkehrt?«
»Nein.«
»Hast du sie nicht mit lüsternen Blicken angesehen? Auch das ist eine Sünde.«
»Nein.«
»Hast du sie nicht, auch nicht wie zum Scherz, an der Brust gefaßt? Oder am Schenkel, oder gar dazwischen, über oder unter dem Kleid, oder dorthin lüstern gesehen?«
»Nein.«
Matthes bekam drei »Vaterunser« und »Gegrüßet seist du, Maria«, nebst einem Rosenkranz als Buße auf.
Hinfort konnte er die Töchter seiner Wirtsleute nicht mehr so ruhig ansehen.
*
Wir wollen den Fall des Pater Sanktes, eines Religionslehrers an unteren Klassen, der sich an seinen Schülern sittlich verfehlt, übergehen, da einzelne Entgleisungen überall vorkommen können. Ob Sanktes wirklich, wie er klagte, in der Beichte von der Versuchung besiegt wurde, bleibe dahingestellt. Wichtiger ist die Feststellung des Matthes, daß er von sämtlichen Beichtvätern mit alleiniger Ausnahme von zweien, mit ähnlichen Fragen gequält wurde. Sogar ob sie mit ihrer Schwester zusammen geschlafen hätten, wurden die Buben gefragt.!!
Ein Schüler erhängte sich aus Furcht vor den Folgen des Lasters, das er in der Beichte gelernt hatte.
Ein Beichtvater fragt: »Hast du dich nie, vielleicht unter einem harmlosen Vorwand, an den Beinen gefaßt?«
»Nein, nein.«
»Hast du niemals ein Mädchen geküßt?«
»Ja.«
»Hast du dabei sinnliche Gefühle erweckt, indem[S. 160] du vielleicht deine Knie oder deinen Körper an sie gepreßt hast, oder deine Brust? Oder hast du mit deiner Zunge zwischen ihren Lippen geleckt?«
»Aber nein.«
»Hast du auf einem Schoße einer weiblichen Person gesessen und dabei Böses gedacht?«
»Nein.«
»Auch bei deiner Mutter nicht?«
*
Von der Art eines Ordensgeistlichen, die Beichte bei Mädchen anzuhören, berichtet Matthes:
Die kleine Bertha war Erstkommunikantin und wird, nachdem der Pater jedes Gebot einzeln durchgegangen ist, auch nach dem sechsten gefragt.
»Hast du niemals mit Buben gespielt?«
»Ja, oft.«
»Hast du sie auch berührt?«
»Ja.«
»Sie dich auch?«
»Ja.«
»Natürlich, um Schlechtes zu tun!«
»Aber nein, nein, so nicht! Gespielt, so gespielt halt, Nachlaufen, Verstecken, Fangen und so, und so anderes.«
»Lüge nicht! Ich habe es gesehen, wie dich Buben angegriffen haben.«
»Aber nein, nein!«
»Hast du dich selbst angegriffen?«
»Ja; nein, so nicht, wie Sie wieder denken!«
»Gewiß, du hast es getan! Ich weiß es. Du hast dich angerührt.«
»Aber nein doch, nein!«
»Sagst du gleich ja? Willst du gleich ja sagen? Nun, wird es bald, willst du ja sagen?«
Dabei polterte der Beichtvater wider das Gitter, das ihn von seinem Beichtkind trennte. Und bebend kam es da von den Lippen:
»Ja.«
»Nun, mit der Hand oder mit dem Stöcken.«
Keine Antwort.
»Mit der Hand oder mit dem Stöcken?«
Wieder schwieg die Kleine.
Da polterte Hochwürden wieder und leise sagte das Kind:
»Mit der Hand.« Nur, damit Hochwürden zufrieden war.
»Sag, hast du auch mit einem Hund dich abgegeben?« usw. usw.
*
Man kann sehr freie Ansichten haben und wird doch voller Empörung sich von dieser systematischen Jugendverderbnis abwenden. Gesellt sich dazu aber die Scheinheiligkeit und Prüderie der schwarzen Rotte, dann kann der ehrliche Mann nur bedauern, sich voll Ekel abwenden zu müssen, statt mit einem kräftigen Fußtritt die ganze Gesellschaft an die Luft zu setzen.
Aber was nützt die Keuschheit in Worten, wenn die in Werken fehlt! Wenn es auch sehr zu beklagen ist, daß in dieser Hinsicht nicht so viel geschieht, wie zur Reinhaltung der Literatur, so ist doch schon der Anfang zu begrüßen. Die Keuschheits[S. 162]gürtel werden nämlich wieder modern! Das beweist nachstehende Geschichte. Heil allen Tugendhaften! Halleluja!
Der Apotheker Parat wurde im Februar 1910 in Paris zum Gegenstand des Interesses der ganzen Welt, weil sich herausstellte, daß er aus Eifersucht seine Frau in Ketten legte und durch Keuschheitsgürtel ihre Treue sich sicherte. Würde es sich hier um die wahnsinnige Handlung eines einzelnen handeln, dann könnten wir sie so wenig unter die Kultur-Kuriosa aufnehmen, wie die Prozesse in Madrid im Jahre 1892 und in Paris 1899 aus dem gleichen Grunde. In beiden wurden die Männer bestraft, weil ein gewaltsamer Zwang vorlag. Es handelt sich hier aber keineswegs um Unica, vielmehr sind noch heute Keuschheitsgürtel bei uns in Gebrauch. Es existiert sogar eine Industrie, die solche »Edozone« erzeugt. Dem Pariser Korrespondenten des Berliner Tageblattes fielen zwei solcher Geschäftsanzeigen in die Hände, aus den Jahren 1879 und 1885, die eine aus Paris, die andere aus einem Orte im Departement Aveyron. In ihnen werden Keuschheitsgürtel je nach der Ausführung im Preise von 120–380 Frs. angeboten. Die Verfasser der Prospekte waren zweifellos geschichtlich unterrichtete Persönlichkeiten. Der eine rechtfertigt sein Angebot wie folgt: »Man wird sagen, ein verrücktes Unternehmen: aber wer ist verrückter, der Mann, der die Zwangsjacke erfunden hat, oder der Wahnsinnige, dem sie angelegt werden muß?«
Dr. Cabanès, der bekannte Sammler von geschichtlichen Kuriositäten, erzählt, daß es in Paris Fabrikanten gibt, die diese merkwürdigen Instrumente auf Be[S. 163]stellung anfertigen und Ehemänner und Liebhaber, die sie für teures Geld kaufen und natürlich ihren Freundinnen anlegen. Das schönste Exemplar, das Cabanès gesehen hat, war ein Gürtel mit kostbarem Goldbeschlag und ziseliertem Schloß und wurde zum Preise von 500 Frs. von einer Demimondaine der Rue de Penthicore einem Sammler zum Kaufe angeboten.[157]
Alle frühmittelalterlichen Heiligen zeichneten sich schon in früher Jugend durch hohe Begabung aus, so daß sie an Sitten und Erfahrung Greisen glichen. Juvenis senex, greisenhafter Jüngling, war, anders wie heute, höchstes Lob und daher stehende Redensart. Dieser Abgeklärtheit entsprach auch der Tatendrang, der dem hl. Bernward von Hildesheim wiederholt den Ehrentitel einer »mater ecclesiae«, dem Sankt Johann sogar den einer »virgo egregius«, einer ausgezeichneten Jungfrau einträgt. Auf einem Gebiet aber kannten Erfindungsreichtum und Energie der frommen Männer keine Grenzen: auf dem der Sonderbarkeiten. Quaeque extrema semper appetiit (Was es nun Sonderbares gab, erstrebte er immer), heißt es von Angilram[158], und das trifft den Nagel auf den Kopf. Es waren wirklich auch für ihre Zeitgenossen sonderbare Heilige, und doch ist die Art ihres Wirkens, da es in fast gleicher Weise stets wiederkehrt, so charakteristisch, ja sogar typisch, daß es wohl mit in erster Linie dazu führte, ihnen Heiligenqualitäten zu verleihen, lag ihm doch das tiefernste Bestreben[S. 165] zugrunde, durch Überwindung der Welt den Himmel zu erobern. Diese Eroberung, im strategischen Plane bei allen gleich, wird taktisch verschieden in Angriff genommen.
Am harmlosesten erscheint uns das Streben, ein »Bild« der Demut und Milde abzugeben. Kein Abschied ohne Tränenfluten, keine Verzeihung, ohne daß die Umstehenden mit dem am Boden sich Windenden nicht mitgeweint hätten. Die Kunst, nach Belieben zu weinen – wir reden despektierlich in solchen Fällen von Krokodilstränen –, die gratia lacrimarum galt als eine jener Himmelsgaben, die nur dem Erwählten zuteil werden. Kaiser Otto III. und der hl. Bernward weinten beim Abschied so heftig, daß sie sich schämten, unter die Leute zu gehen, Alfkerus weinte, wenn er die hl. Messe las, so ausgiebig, daß der größte Teil seines Körpers naß wurde; Eid von Meißen hatte vom vielen Weinen immer entzündete Augen. Eine Gelegenheit, in Tränen zu zerfließen, durfte, wer nur einigermaßen auf Heiligkeit oder Heiligmäßigkeit Anspruch erheben wollte, niemals ungenutzt vorübergehen lassen. Ob es sich um Reue, Erbitten einer Gnade, Beichte, Messe oder Gebet handelte, wer nur irgend konnte, weinte. Die Tränenfröhlichkeit besonders des 10. Jahrhunderts kann kühn mit der der Wertherzeit in Konkurrenz treten. So tadelt Adam von Bremen an den Dänen, daß sie Tränen und Wehklagen aus Reue oder sogar für Tote verabscheuten. (Mon. germ. SS. VII, p. 336.)
Ernster schon waren die Kasteiungen durch Geißelung, Entzug des Schlafes, Hunger und Durst, besonders wirksam aber die Handlungen, die dem[S. 166] Bestreben, der Niedrigste von allen zu sein, ihr Dasein verdankten. Adalbert von Bremen bittet seinen Feind, der ihn mißhandelt, um Verzeihung.[159] Johann von Gorze hat über jeden heiteren Augenblick nachträglich die schwersten Gewissensbisse. Er putzt (wie auch der hl. Adalbert) seinen Mitbrüdern oder gar dem Gesinde die Stiefel, sogar gegen deren Willen, buttert, bis ihm der Schweiß kommt und flickt in den nächtlichen Mußestunden Netze, ja, er reinigt oft die Latrinen! Ganz ähnlich handelt Angilram.[160] Die Königin Mathilde begibt sich nur scheinbar zur Ruhe, verläßt vielmehr ihr Lager, sobald alles schläft und tut die Nacht durch Gutes, um dann morgens, von niemand bemerkt, wieder ihr Lager aufzusuchen. Sie dringt auch heimlich in die Zellen, um beim Baden der Armen behilflich zu sein, während sie sich selbst Bäder versagt.[161] Der stolze Adalbert von Bremen wusch vor dem Schlafengehen 30 und mehr Bettlern die Füße. Ähnliches hatte schon die Tochter König Chilperichs von Burgund, Chrotechilde, getan, wie Fredegar erzählt. Brun von Köln, der Bruder Ottos des Großen, sitzt im Schafpelz unter Königen.[162] Fast keiner aber gönnt sich den damals so beliebten Genuß eines Bades, und doch berichten die Biographen von der Schönheit ihrer Helden!
Diese Kasteiungen müssen für sehr harmlos gelten im Vergleich zur Sitte der ersten Christen, sich zu entmannen. Justinus erzählt von dem Gesuche eines Christen in Alexandrien an den Präfekten Felix: er möchte einem Arzt gestatten, ihn zu entmannen. Denn ohne diese Genehmigung durften die Ärzte die Operation nicht vornehmen. Origenes entmannte[S. 167] sich selbst und das Konzil zu Nicäa von 325 sah sich genötigt, Stellung zu nehmen zu der Frage dieser Verstümmelung.[163]
Rühmend erzählt der Biograph vom hl. Ulrich, daß er sich zwar das Gesicht wusch, aber nicht badete, außer an drei Festtagen im Jahre. Dafür wusch er aber eigenhändig 12 Armen die Füße. Der Königssohn Brun war nicht weniger wasserscheu wie Johann von Gorze, der auch Medikamente verschmähte. Angilram badete auch nicht.[164] Waren die frommen Männer so auch zu Lebzeiten keine Nasenweide der frommen Gemeinde, so holten sie das doch im Tode nach. Denn dann entströmten – das müssen wir wohl oder übel den Chronisten glauben – den Särgen der frommen Männer liebliche Düfte. Von Eid, Ansfrid, Evergerius von Köln und Udalrich wird es wenigstens ausdrücklich erzählt.[165]
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Das Weinen gehörte auch noch zur Zeit der Kreuzzüge selbst beim Militär zur Frömmigkeit. Der Chronist erzählt: »Es war Sitte im Heere, daß in jeder Nacht, ehe sie sich zum Schlafen niederlegten, ein dazu bestimmter Mann mit lauter Stimme inmitten des Heeres den gewöhnlichen Spruch rief: ›Hilf, heiliges Grab!‹ In diesen Ruf stimmten alle ein, wiederholten ihn, streckten mit reichlichen Tränen die Hände zum Himmel empor und erflehten Gottes Barmherzigkeit und Hilfe. Dann hub der Herold selbst wieder an, indem er wie vorher ausrief: ›Hilf, heiliges Grab!‹ Und alle wiederholten es; und als er gleichfalls zum dritten Male rief, so taten es ihm alle[S. 168] nach mit großer Herzenszerknirschung und unter Tränen. Wer würde dies in solcher Lage nicht tun? da doch schon diese Tatsache zu berichten Tränen den Hörern entlocken kann. Durch diese Anrufung schien das Heer sich gar sehr gestärkt zu fühlen.[166]«
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Die durch Schönheit, Klugheit, Sittenstrenge und Frömmigkeit ausgezeichnete Athenerin Irene wurde durch den Tod ihres Gemahles, des Kaisers Leo IV., im Jahre 780 für ihren zehnjährigen Sohn Regentin des byzantinischen Reiches. Als der Sohn regierungsfähig geworden war, ließ sie die Truppen auf die noch nie dagewesene Formel »Solange du lebst, werden wir uns deinen Sohn als Kaiser nicht gefallen lassen« schwören. Doch der Staatsstreich mißlang, Irene wurde von der Regierung entfernt, und Konstantin VI., der zuerst sieben Jahre mit Karls des Großen Tochter Rothrude verlobt gewesen war, kam endlich zur Herrschaft. Aus Gutmütigkeit verzieh er schon nach einem Jahre seiner Mutter und setzte sie wieder in ihre bevorzugte Stellung ein. Nach fünfjähriger Wühlarbeit gegen den tapferen Sohn machte sie ihn unpopulär. Dann riet sie ihm, seine Gemahlin zu verstoßen und die schöne Hofdame Theodote zu heiraten (795). Jetzt war der Kaiser verloren. Die Kirche trat wegen des ungesetzlichen Schrittes gegen ihn auf, Irene nahm ihn gefangen und ließ ihm in demselben Purpurgemache des Kaiserpalastes, in dem sie ihm das Leben gegeben hatte, durch den Henker die Augen ausstechen! Wiewohl die Verstümmelung mit besonderer Grausamkeit aus[S. 169]geführt war und in der Absicht, seinen Tod zu veranlassen, ohne der Mutter das Odium der Mörderin aufzuladen, lebte der Kaiser noch einige Jahre. Irene aber nahm mit Ignorierung ihres Geschlechtscharakters den Titel »Kaiser« an. Doch schon 802 fiel sie, deren Ehrgeiz eine Ehe mit Karl dem Großen im Bereiche der Möglichkeit gehalten hatte, als Opfer einer Revolution. Sie starb einsam und verlassen 803 auf Lesbos.
Die byzantinischen Schriftsteller finden für diese Kaiserin kaum ein Wort des Tadels. War sie doch die Wiederherstellerin der Bilderverehrung. Als Heilige gehört sie dem Himmel der griechisch-katholischen Kirche an.[167]
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Robert von Arbrissel (Albresec in der Bretagne), der Stifter des Ordens von Fontaevraud hatte eine sonderbare Probe seiner Keuschheit ersonnen. Er ging nicht nur in Bordelle und bewog durch seine Predigt die Prostituierten, fromm zu werden – und zwar so viele, daß er für sie drei Klöster errichten mußte, von denen deshalb das eine de la Magdelaine benannt wurde, er schlief auch öfter zwischen zwei Nonnen – nackt natürlich, gemäß der damaligen Sitte –, bloß um die Kraft des Willens über das Fleisch zu erproben.
Der Abt Gottfried von Vendome tadelte ihn wegen der unklugen Erfindung dieses neuen Martyriums; Marbod, Bischof von Rennes, aber ermahnte ihn, sich solchen Verführungen nicht auszusetzen, die[S. 170] den guten Ruf, wenn auch nicht die Seele verwundeten. Er tadelte ihn auch, daß er in haarigem Fell und zerrissenen Kleidern, mit halbnackten Hüften, langem Bart, abgeschnittenem Haupthaar und bloßen Füßen gehe.[168]
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Das Mittelalter in seinem Kinderglauben suchte Befreiung von Sünden, weniger durch innere Einkehr, als dadurch, daß es durch weite Reisen, nach Rom, Jerusalem oder an andere geheiligte Orte, räumlich der Gnadenquelle nahte. Jeglicher Schmerz, jede Form irdischer Qual, selbst jedes Verbrechen konnte sich hoffend nach Rom wenden, um zu den Füßen des Papstes Erlösung zu empfangen. Aber neben wahrhaft Reuigen, die in hellen Haufen jahrhundertelang den Weg über die Alpen einschlugen, befand sich auch manch räudiges Schaf. Ja, die damaligen Anschauungen trieben entsittlichte Menschen, fluchwürdige Verbrecher, die heute in Gefängnissen sorgfältig vom Kontakt mit der Mitwelt ferngehalten werden, zu solchen Pilgerfahrten, trugen sie ihnen doch neben der Hochachtung vor freiwilliger Buße auch noch sicheren Unterhalt ein.
Der Schuldige ward in die Welt geschickt, versehen mit einem Schein seines Bischofs, welcher ihn als Mörder oder Blutschänder offen bezeichnete, ihm seine Reise, ihre Art und Dauer vorschrieb, und ihn zugleich mit einer Legitimation, entsprechend unseren Pässen, versah. Er zeigte seine Legitimation allen Äbten und Bischöfen der Orte vor, durch welche er[S. 171] kam. Diesem Verdammungs- und gleichzeitigen Empfehlungsbrief verdankte er überall gastliche Aufnahme. Deshalb hüllten sich nicht selten Gauner, die gar kein schweres Verbrechen begangen hatten, in die Maske der scheußlichsten Untat. So hatten sie Gelegenheit zu sorgenfreier Reise und Aussicht auf betrügerischen Gewinn. In Ketten, mit schweren Eisenringen um Hals und Arme, halbnackt zogen sie mit ihren falschen Pässen durch die Länder, stellten sich auch vielfach besessen, warfen sich vor den Heiligenbildern der Kirchen und Klöster nieder und erlangten, indem sie durch deren Anblick plötzlich zur Besinnung gekommen zu sein vortäuschten, von den beglückten Mönchen Geschenke.
Bezeichnend für die Sitten, die in solchen Pilgergesellschaften herrschten, ist, daß schon 744 der Erzbischof Bonifazius von Mailand an Cutbert von Canterbury schrieb, die Synode möge den Frauen und Nonnen solche Reisen untersagen, »weil viele von ihnen zugrunde gehen, wenige aber unberührt heimkehren. Denn es gibt in der Lombardei nur sehr wenige Städte, desgleichen in Franzien oder Gallien, in denen sich nicht eine Ehebrecherin oder Prostituierte aus englischem Stamme befindet.«
Viele erlagen also den Versuchungen der Pilgerfahrten. Deshalb verbot auch die Synode von Friaul 791 bereits den Nonnen, nach Rom zu pilgern.[169]
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Wahre Frömmigkeit römischer Observanz, überall zu finden, wo die kasuistische Pseudomoral der Kirche herrscht, lehrt uns ein niedliches Geschichtchen kennen, das ebensogut heute passiert sein könnte, wie im Jahre 1580 und überaus bezeichnend ist für die Denkweise weitester Kreise unter dem segenspendenden Krummstab.
Montaigne erzählt: »Un quidam etant avecques une courtisane, et couché sur un lit et parmi la liberté de cete pratique-là, voila sur les 24 heures l’Ave Maria soner: elle se jeta tout soudein, du lit à terre, et se mit à genous pour faire sa priere. Etant avecques un autre, voila la bone mere (car notammant les jeunes ont des vielles gouvernantes, de quoi elles font des meres ou des tantes), qui vient hurter à la porte, et avecques cholere et furie arrache du col de cette jeune un lasset qu’elle avoit, où il pandoit une petite Notre-Dame, pour ne la contaminer de l’ordure de son peché; la jeune santit un’extreme contrition d’avoir oblié à se l’oster du col, come ell’avoit acostumé.«[170]
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Als Montaigne in der Karwoche 1581 in Rom weilte, sah er eine ungeheure Prozession mit Fackeln – er schätzt deren Anzahl auf 12000 –, die sich, in Büßerkompanien geteilt, gegen St. Peter bewegte. Musikkapellen waren im Zuge verteilt und Lieder wurden unausgesetzt während des Marsches gesungen. Inmitten jeder Gruppe, deren es wenigstens 500 gab, schritt eine Reihe von Büßern, die sich mit einem[S. 173] Tau (corde) den Rücken in bemitleidenswerter Weise blutig schlugen.
»Das ist ein Rätsel, das ich noch nicht recht verstehe, aber alle sind braun und blau geschlagen (meurtris) und grausam verwundet und martern und schlagen sich unaufhörlich. Sehenswert ist ihre Fassung, die Sicherheit ihrer Schritte, die Festigkeit ihrer Worte (denn ich hörte mehrere sprechen) und ihr Gesicht (denn mehrere waren in der Straße barhäuptig). Es erweckte keineswegs den Anschein, als seien sie in einer schmerzvollen Tätigkeit, noch in einer ernsten begriffen, und junge Leute von zwölf oder dreizehn Jahren waren darunter. Dicht bei mir war ein sehr Junger mit angenehmem Gesicht; eine junge Frau sprach ihr Bedauern aus, ihn sich so verwunden zu sehen. Er wandte sich zu uns und sagte ihr lachend: ›Genug, sage dir, daß ich das für deine Sünden tue und nicht für meine eignen.‹ Sie zeigen bei dieser Tätigkeit nicht nur keine Angst oder Zwang, sondern sie tun es mit Freude oder mindestens mit solcher Gleichgültigkeit, daß du sie sehen kannst, wie sie sich mit anderen Dingen beschäftigen, lachen, sich auf der Straße zanken, laufen, springen, wie es in einem so großen Gedränge, wo die Reihen in Unordnung geraten, passiert. Unter ihnen gibt es Leute, die Wein tragen, um ihnen zum Trinken anzubieten: niemand nimmt einen Schluck. Man gibt ihnen auch Zuckerwerk, und die, welche Wein tragen, nehmen häufig davon in den Mund und dann spucken sie ihn wieder aus und benetzen damit das Ende ihrer Geißel, das aus einem Strick besteht und sie sind derart mit Blut beklebt, daß man sie begießen muß,[S. 174] um sie auseinander zu bringen; einige blasen den Wein auf ihre Wunden. Nach ihrem Schuhwerk und Strümpfen zu urteilen sind es Leute sehr niederen Standes, die sich für diesen Dienst vermieten, wenigstens die Mehrzahl. Man sagte mir wohl, daß man ihre Schultern mit etwas polstert, aber ich habe die Wundmale zu frisch gesehen und die Attacken so lange fortgesetzt, daß es kein Heilmittel zur Beseitigung der Empfindung gibt. Und wozu würde man sie mindern, wenn alles Spiegelfechterei wäre?«[171]
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Keyßler, der 1730 in Rom war, erzählt: »Am grünen Donnerstag kamen etliche geistliche Brüderschaften und eine volkreiche Prozession von andern Leuten nach der St. Peterskirche. Unter dieser Gesellschaft fanden sich zehn bis zwölf maskierte Personen, welche ihre entblößten Rücken mit vielen Riemen, an deren Enden eiserne Stifte waren, also zerschlugen, daß man es nicht ohne Ekel ansehen konnte, und die Stellen, wo sie sich etwas aufgehalten hatten, an dem Blute auf dem Fußboden der Kirche zu erkennen war. Hinter einem jeden solchen eigenmächtigen Märtyrer oder im Beichtstuhle dazu verurteilten Missetäter, wurde eine brennende Fackel getragen und oftmals an den zerfleischten Rücken gehalten, damit das Blut nicht gerinnen sollte.«
In einer unterirdischen Kapelle der Jesuiten bekam jeder Eintretende, hinter dem die Türe gleich verschlossen wurde, tüchtige Geißeln, »die sich in sieben bis acht Ende oft geknüpfter Reifschnüre verteilten«. Ein Jesuit erinnerte – es war Karfreitag –[S. 175] an die Leiden Christi und forderte zur Nachahmung auf. Die Lichter wurden ausgelöscht, die Litanei gesungen und jedermann geißelte sich. Und zwar geschahen die Ermahnungen und die darauf folgenden Geißelungen dreimal.[172]
Welche Ähnlichkeit mit dem alljährlich im Orient stattfindenden Umzug der Perser zur Erinnerung an Alis Tod!
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Übrigens ließen sich auch Herrscher geißeln. Kaiser Heinrich III. legte nie seinen königlichen Ornat an, bevor er sich dieser Züchtigung unterworfen hatte. König Otto IV. ließ sich auf dem Totenbette bis aufs Blut schlagen und noch der große Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598–1650) ließ mit eigener Hand Schläge auf seinen entblößten Rücken fallen.[173]
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Keyßler erzählt von einer sonderbaren Sitte, die in Loretto herrschte. »Die Kastraten, so in der Musik der Santa Capella gebraucht werden, lesen hier gleichfalls Messe, und tragen währen der selbigen ihre abgeschnittenen Testiculos und andere dergleichen Pertinentien in einer Schachtel in der Tasche bey sich, vermuthlich weil sie nach der Mathematik werden behaupten wollen, daß 99⁄100 und 1⁄100 allezeit ein Ganzes ausmachen. In Rom höret man von dergleichen Gewohnheit nicht, in dem oberen Theile von Italien aber ist die Sache nicht ungewöhnlich.«
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Die Maranen, d. h. zwangsweise getaufte Juden der Pyrennäenhalbinsel, die im geheimen noch dem Glauben ihrer Väter anhingen, heirateten auch in der Regel untereinander und mußten deshalb häufig die päpstliche Ehedispens einholen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erlebten diese Maranen eine religiöse Renaissance. Sie ließen sich einen gewissen Rabbi Falcon aus Jerusalem kommen, um die vollkommene Wahrung der orthodoxen Riten und Gebräuche zu gewährleisten. Damals traten viele noch im Alter zum Judentum öffentlich über und ließen sich beschneiden. Sehr sonderbar aber ist der Brauch, daß manche, die wegen vorgerückten Alters vor den Schmerzen einer Beschneidung zurückscheuten, wenn sie sich auch offen zum Judentum bekannten, diese Operation nach dem Tode an sich vornehmen ließen. Jakob de Mezas hat in seinem »Mohelbuche« seit dem Jahre 1706 zahlreiche solche Fälle registriert.[173]
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Der Professor der Dogmatik P. Lépicier, angestellt an der Propaganda fidei in Rom, schrieb 1909 unter dem Titel »De stabilitate et progressu dogmatis« ein Buch. Er vertritt darin die Ansicht, daß ein Ketzer nicht nur exkommuniziert, sondern von Rechts wegen auch getötet werden dürfe. Denn er sei, wie Aristoteles sagt, schlimmer als ein wildes Tier, das zu töten ja auch keine Sünde sei. Daß die Kirche das Recht habe, einen Ketzer zum Tode zu verurteilen, unterliegt dem milden Apostel der christlichen Liebe nicht dem geringsten Zweifel (S. 174 f.). »Diejenigen katholischen Apologeten irren von der[S. 177] Wahrheit ab, die da sagen, die Schuld an solchen Sentenzen (Hinrichtung von Ketzern) sei der weltlichen Inquisition zuzuschreiben, oder die feigerweise zugestehen, die Kirche habe, dem Zeitgeist folgend, in dieser Sache in etwas ihr Recht überschritten« (S. 183 f.). Auch vertritt er die Ansicht, man solle Ketzer und Abtrünnige mit Gewalt in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückführen (S. 190 f.).
Die Propaganda hat die Aufgabe, Missionare auszubilden und ihre Zöglinge genießen besondere Auszeichnungen. Die von Kardinal Hergenröther herausgegebene Enzyklopädie der katholischen Theologie sagt zum Ruhme der Propaganda: »Noch mehr muß das Institut eine Zierde in den Augen derjenigen sein, welche zu ermessen wissen, was seine Zöglinge seit der Gründung des Hauses Großartiges geleistet haben zur Erfüllung des Wortes: Eunte docete omnes gentes – Gehet und lehret alle Völker –, nicht bloß unter schweißvoller apostolischer Arbeit, sondern auch mit dem Opfer des Blutes.«
Daß letzteres gebracht wird, wenn auch wohl weniger von den Bekehrern, als von den Bekehrten, darüber können wir uns nach Lépiciers Ausführungen beruhigen.
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Doch wir wollen unsere Blicke abwenden von mittelalterlicher Beschränktheit, wie sie in diesen Anschauungen sich äußert und wie sie auch die klugen Jesuiten[174] heute nicht mehr vertreten. Erbauen wir uns lieber am Beispiel eines ebenso frommen, wie[S. 178] aufgeklärten Mannes, dessen Name in Deutschland genannt wird, wenn es gilt, einen Zeugen für die Wohlvereinbarkeit strenger Kirchlichkeit mit wahrhaft modernem Empfinden aufzurufen. Wir meinen natürlich den Kardinal Fischer in Köln. Durchdrungen von wahrhaft sittlichem Geiste, Catos Vorbild nachahmend, doch, was sage ich, überflügelnd, verbot er den Klosterschwestern zu – baden! Diese hochmoralische Bestimmung ist heute noch in Kraft. Richten wir unsere Herzen auf an diesem Beispiel wahrer Frömmigkeit und Keuschheit![175]
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Ja, wir sind wahrhaft fromm. In der Schule beginnt der innere Drang, später sorgen Staat und Kirche dafür, daß das Feuer weiterglimmt, ja lodert. Oder geht das nicht zwingend daraus hervor, daß es uns nicht genügt, wenn ein Mathematiklehrer Mathematik versteht, sondern daß er auch in der Religion beschlagen sein muß? Kann man sich überhaupt etwas Gräßlicheres denken als ketzerische Mathematik oder – fast gerade so schlimm – Mathematik, vorgetragen von einem Ketzer? So denken auch manche deutsche Staaten, vor allem Preußen, und fordern deshalb vom Lehramtskandidaten der Mathematik und der Naturwissenschaften ein Examen in der Religionslehre zum Beweise dafür, daß er auch gut – heucheln kann.
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Doch nix genaues weiß man nicht – auch nicht darüber, ob die Kinder zeitlebens der Mutter Kirche mit der von einem herrschsüchtigen Klerus so sehr erwünschten Treue anhängen werden. Deshalb ist es gut, sich rechtzeitig vorzusehen. So dachte auch Bischof Benzler von Metz und erließ im Frühjahr 1909 einen Hirtenbrief gegen die Mischehen. Priester sind nun einmal – das bringt das Amt so mit sich – friedfertige Leute, und besonders die Männer, die Christi Namen täglich hundertmal im Munde führen, zeichnen sich durch Sanftmut vor andern Sterblichen aus. Sie suchen Trennendes zu überbrücken, Gegensätze zu mildern. Gesellt sich nun zur christlichen Liebe auch noch die fürs Vaterland, die Einsicht, daß die Blutbäder und brennenden Städte in Deutschlands Vergangenheit uns für alle Zeiten ein Memento zurufen, wohin konfessioneller Hader führt, dann werden wir des glaubensstarken Bischofs Hirtenbrief doppelt zu schätzen wissen.
Er empfiehlt darin wärmstens eine »Eine verbotene Frucht« betitelte Schrift. Hier wird den Pfarrern geraten, sie möchten am Kommunionstage den Kindern die schriftliche Erklärung abfordern: »Ich verspreche an diesem schönsten Tage meines Lebens, daß ich niemals eine gemischte Ehe eingehen werde«!!!
Die so vergewaltigten Kinder sind elf bis dreizehn Jahre alt!
Um aber auch im späteren Alter den Gefahren der Verseuchung oder Ansteckung durch Andersgläubige – hu! – möglichst wenig ausgesetzt zu sein,[S. 180] gründet man konfessionelle Klubs. So etablierte sich vor etlichen Jahren in Kissingen ein Kränzchen katholischer Kurgäste, und neuerdings tat sich auch in Juist eine Vereinigung katholischer Kurgäste, ein katholischer Strandklub auf.[176]
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An den bayerischen Gymnasien herrscht Kirchenzwang. Er gründet sich auf den letzten Passus des § 1 der »Disziplinarsatzungen für die Schüler der Studienanstalten im Königreich Bayern«, mit dem harmlosen Wortlaut: »Religiosität betätige der Schüler in seinem ganzen Lebenswandel, insbesondere auch in der Ausübung der religiösen Pflichten seines Bekenntnisses.
Alle Sonn- und Feiertage haben die Schüler dem Gottesdienst ihrer Konfession mit Andacht beizuwohnen.«
Die Forderung der erzwungenen »Andacht« bringt wenigstens eine humoristische Note in die Tragik der Anwendung des Paragraphen unter ultramontaner Herrschaft. Denn sie ist barbarisch. Tagesausflüge ohne vorhergehende Genehmigung des Religionslehrers oder Konrektors sind unzulässig! Eine nachherige Erlaubnis wird nicht erteilt. Also ist der Familienvater, der wegen des schlechten Wetters am Samstag den projektierten Sonntagsausflug fallen ließ, nicht in der Lage, seinen Kindern doch die Erholung zu gönnen, wenn das Wetter sich aufheitert!
Ein Schüler wurde sogar bestraft, weil er einen anderen als den vorgeschriebenen Gottesdienst mitgemacht hatte!
Einem anderen wurde verboten, am Samstag zu seinem in der Nähe Münchens wohnenden Vater zu reisen, um wenigstens einen Tag wöchentlich im Elternhause zuzubringen. Und das, wiewohl sich der Vater für den Besuch der dortigen Messe verbürgte! So blieb dem armen Jungen nichts anderes übrig, als erst nach dem sonntäglichen Gottesdienst zu fahren.
Im Jahre 1906 mußten die Schüler eines Realgymnasiums auf den zweitägigen Besuch der Landesausstellung in Nürnberg verzichten, weil der Professor keine Bürgschaft dafür übernehmen konnte, daß seine Zöglinge an beiden Feiertagen die Messe besuchen würden!
Wie in der bayerischen Abgeordnetenkammer festgestellt wurde, gibt es in der Pfalz ein Gymnasium, das eine höchst sinnreiche Kontrolle der Schüler eingeführt hat. Jeder erhält eine Karte, ähnlich den Abonnements bei den Friseuren. Verläßt der Schüler die Kirche nach absolviertem Gottesdienst, dann wird die Karte geknipst!
Und doch bestreitet der bekannte Staatsrechtslehrer Max von Seydel, daß hier ein Verstoß gegen die verfassungsmäßig garantierte Gewissensfreiheit vorliege. Das alles sei kein Zwang, denn niemand sei verpflichtet, sich der Staatsanstalten zu bedienen!
Der Gelehrte vergaß, daß nicht jeder als Vanderbild geboren ist.
Und doch ist das alles herzlichst zu begrüßen.[S. 182] Wird doch so eine Generation erzogen, die voller Begeisterung für die Trennung von Staat und Kirche eintreten wird.[177]
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Doch nicht nur die Seelen müssen vor ketzerischem Gift bewahrt werden. Wem es ernst mit seiner Religion ist, wer weiß, was er ihr schuldet, der macht hier nicht halt. Er breitet die liebenden Arme der Mutter Kirche auch über – Würste aus. So lesen wir in einer im März des Jahres 1910 im Tauber- und Frankenboten, einem in Tauberbischofsheim in Baden erscheinenden ultramontanen Intelligenzblatt: »... auch das kaufende Publikum soll darauf sehen, daß es seine Ware bei Bäckern, Metzgern und Kaufleuten in Zentrumsblättern eingepackt bekommt.«
Zum Verpacken der Würste mögen sich diese Geistesprodukte allenfalls noch eignen.
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Im Jahre 1908 (das Jahrhundert ist zu beachten!) erschien im Verlage von Ludwig Auer in Donauwörth unter dem Titel »Die Ehe; eine Unterweisung über die sittlichen, religiösen und hygienischen Pflichten für Erwachsene, besonders für Braut- und Eheleute« ein Buch, das mit dem bischöflichen Imprimatur der Augusta Vindelicorum vom 13. Februar 1908 (Generalvikar Dr. Göbl) versehen ist, in elfter Auflage.
In diesem frommen Werke wird natürlich auch[S. 183] auf die Wichtigkeit der Nottaufe hingewiesen (S. 218 ff.), sowie auf die Maßregeln, die zu ergreifen sind, wenn ein Kind bei der Geburt zu sterben droht. Seine Seele muß doch davor bewahrt werden, ins Fegefeuer zu kommen!
Jeder sogenannte Abgang, mag er noch so unförmlich sein und vielleicht auch gar keine Gestalt haben, ist nur ein verbildetes Menschenwesen und seine Seele ist für den Himmel bestimmt. Ist der Abgang der Fehlgeburt auch klein und weiß man auch nicht, ob das Wesen noch lebt, so öffne man die dasselbe umgebende Hauthülle und tauche es in das Wasser, wobei man die Taufworte spricht und die Bedingung beifügt: »Wenn du lebst.« Diese Nottaufe bewirkt geistliche Verwandtschaft, die ein Ehehindernis bildet!
Wegen der Wichtigkeit des Gegenstandes wird die Schrift von J. Neth »Die Verwaltung des Priesteramtes« wörtlich zitiert. Sie lautet:
»Wenn bei schweren Geburten zu besorgen steht, es möchte das Kind sterben, ehe es vollkommen geboren wird, und wenn es möglich wird, demselben mit Wasser beizukommen, so taufet es im Mutterleibe mittels einer Röhre oder Spritze, wie sie jede Hebamme haben soll, oder durch einen Schwamm, den ihr über das Kind im Mutterleibe auspreßt, und sprechet dabei die Worte: ›Wenn du der Taufe fähig bist, usw....‹ Sollte es sich ereignen, daß nach gespendeter Taufe im Mutterleibe zwei oder mehrere Kinder zur Welt kommen, so daß man nicht weiß, welches von ihnen die Taufe im Mutterleibe empfangen habe, so müßt ihr jedes derselben bedingungs[S. 184]weise »Wenn du nicht schon getauft bist«... wiedertaufen«.
Diese Anweisungen sind dem gewissenhaften Verfasser des Ehebüchleins anscheinend nicht ausführlich genug. Sein Geist (sit venia verbo!) treibt ihn daher, zu der bezeichneten Stelle des Textes folgende Anmerkung zu setzen, deren Wert nur der nicht zu würdigen versteht, der allen Christentumes bar ist.
Sie lautet: »Das ist übrigens von Unkundigen kaum durchführbar. Es müssen ja die das Kind umgebenden Eihäute zuerst zerrissen sein, damit das Taufwasser das Kind treffe und nicht die Eihäute. Da könnte man leicht eine Verletzung hervorrufen. Die Taufe im Mutterleibe, von nicht genau unterrichteten Personen vorgenommen, hat einen sehr zweifelhaften Wert, und ist wohl nie Gewißheit gegeben, ob das Kind wirklich getauft ist. Erst wenn der Kopf teilweise geboren ist, resp. sichtbar ist, kann er vom Schleim gesäubert werden und weiß man, daß das Taufwasser auch wirklich das Kind trifft.«
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Aber nicht nur fürs Seelenheil des präsumptiven Täuflings, auch für das Wohl der Mutter ist der gewissenhafte Autor besorgt, denn er gibt die hygienische Vorschrift: »Um die Gefahr einer Infektion zu vermeiden, muß das Wasser abgekocht und ganz rein sein; desgleichen das zur Verwendung kommende Instrument.«
Welche Fülle von Frömmigkeit, gepaart mit weltlicher Weisheit, lebt doch unter uns! Aber in dieser[S. 185] gottlosen Zeit muß der wahre Christ das Tageslicht scheuen, damit dort glaubensloses Gesindel (†††) Unfug treibt und der christkatholischen Menschheit ein Dorn im Auge ist. Darum wählte der Verfasser die Anonymität. Schade, wir hätten ihn so gerne mit dem Höllentopographen Professor Bautz künftiger Heiligsprechung empfohlen.
So sagte Christus. Das Papsttum sagte es auch, war aber klug genug, anders zu handeln. Mochte es auch die sicherste Anwartschaft auf das Himmelreich in der Tasche haben, darum auf Erden leer auszugehen, fiel ihm nicht ein. Und man muß es vor allen den Päpsten in Avignon lassen: das Scheren der Lämmer hatten sie los.
Da gab es zunächst das Servitium commune. Jeder Bischof oder Abt war zu dessen Zahlung bei Androhung schwerster Kirchenstrafen verpflichtet, ehe seine Bestätigungsurkunde ausgehändigt wurde. Diese Abgabe betrug den dritten Teil des Jahreseinkommens der Pfründe. Während die eine Hälfte in die päpstliche Kasse floß, gehörte die andere denjenigen Kardinälen, welche an dem Promotionskonsistorium teilgenommen hatten.
Außerdem hatte jeder promovierte Bischof oder Abt noch fünf servitia communia zu zahlen, von denen jedes von derselben Höhe war, wie der Betrag, welcher den einzelnen Kardinälen von der zweiten Hälfte des Servitium commune gebührte. Dieses belief sich im 14. Jahrhundert für Köln auf 10000, für Trier[S. 187] auf 7000 Kammergoldgulden. Die Gesamtsumme der für Köln zu zahlenden Servitia betrug etwa 11000, für Trier 7700 Kammergoldgulden.
Diese Servitia betrugen aber noch nicht einmal den größten Teil der für die Einholung der päpstlichen Bestätigung aufzuwendenden Gelder. Dazu kam das Geld für das Pallium in der Höhe von mehreren hundert Dukaten, ferner für die Hin- und Rückreise des zu Bestätigenden oder seines Bevollmächtigten, für den Aufenthalt an der Kurie bis zur Bestätigung, für die Ausfertigung der Ernennungsbullen in den verschiedenen Ämtern der Kurie und für die Schenkung von Geldsummen oder Wertsachen an niedere und höhere Kurialbeamte bis hinauf zu den Kardinälen. So konnte die Erwirkung der päpstlichen Ernennung des jungen Walram zum Erzbischof von Köln 40000 Goldgulden, über eine Million Mark, kosten. Die Folge dieses Ausbeutungssystems der Kurie war natürlich, daß die deutschen Bischöfe des 13. und 14. Jahrhunderts mit seltenen Ausnahmen in ständiger Geldnot sich befanden. Denn meist starb der Bischof, bevor die Schulden für seine Bestätigung abgetragen waren, so daß die Diözese neben der Tilgung der alten Schulden neue für den neuen Herrn aufnehmen mußte.
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Was für Bischöfe und reguläre Äbte die Servizien waren, das waren für den übrigen Klerus die Annaten. Sie bestanden darin, daß die Hälfte des Einkommens des ersten Jahres der Kurie abgeführt wurde. Am 8. Dezember 1316 wurde diese Steuer zum ersten Male auf drei Jahre der Trierer und Kölner[S. 188] Diözese auferlegt, ohne dort viel Gegenliebe zu finden. Man drückte sich um sie wo man nur konnte und so war der Ertrag recht minimal. Deshalb wurden am 13. August 1327 noch durch neue Verfügung die sogenannten Interkalalfrüchte von der Kurie beansprucht. D. h. die während einer Vakanz fälligen Einkünfte aller an der Kurie vakant werdenden kirchlichen Benefizien werden der päpstlichen Kammer vorbehalten.
Das genügte aber alles noch nicht der Geldgier des angeblichen Nachfolgers des armen Fischers Petri. So erklärte Klemens VI. auch die Spolien, d. h. den beweglichen Nachlaß der Bischöfe und Äbte in einzelnen Fällen, wenn er nämlich vermutlich sehr groß war, für eine gute Beute der päpstlichen Kammer.
Dazu kam noch der Zehnte, stellenweise durch den Zwanzigsten ersetzt oder das sogenannte Subsidium, d. i. eine bestimmte abgerundete Geldsumme, die der Bischof auf den Klerus innerhalb seiner Diözese zu verteilen, zu erheben und dann an die päpstliche Kammer oder an den betreffenden Kollektor der päpstlichen Kammer abzuführen hatte.
Am 1. Dezember 1343 schrieb Klemens VI. einen dreijährigen und dann nochmals einen zweijährigen Zehnten aus, um das Geld angeblich zu einem Kriege gegen die Türken zu verwenden. Zur Ausführung kam dieser zwar nicht, aber das von Klemens aus dem Klerus erpreßte Geld setzte ihn in die angenehme Lage, dem französischen König über 700000 und seinen Verwandten über 100000 Kammergoldgulden, also zusammen über zwanzig Millionen Mark, leihen[S. 189] zu können. Allerdings kam es auch vor, daß der Klerus sich weigerte, sich diesem Ausbeutungssystem zu fügen. Schon 1265 hatte Klemens IV. die Verleihung aller am Sitze der Kurie erledigten kirchlichen Benefizien dem päpstlichen Stuhle vorbehalten. Diese Zahl schwillt während des zehnjährigen Pontifikats Klemens VI. zu tausenden an. Außerdem gab es noch Exspektanzen, entstanden aus Bitten und Empfehlungen von Päpsten des 12. Jahrhunderts für einzelne Personen zum Zwecke ihrer Versorgung mit einer Pfründe an die ordentlichen Kirchenoberen als deren Verleiher. Schließlich wurden aus den Bitten Befehle mit Strafandrohungen. Häufig ernannte der Papst einen Nachfolger zugleich mit den betreffenden Kollegien, so daß die Gegenkandidaten jahrelang prozessieren mußten. Die Sporteln beider vereinnahmte natürlich die Kurie, ohne sich weiter viel darum zu kümmern, wer in den Besitz der Pfründe kam.[178]
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In welcher Weise das Avignonische Papsttum, der »strenge« und »ausgezeichnete« Innozenz VI., der »heiligmäßige« Urban V. und der »durch Klugheit ausgezeichnete« Gregor IX., Nachfolger des Mannes, der morgens nicht wußte, wo er abends sein müdes Haupt niederlegen sollte, mit dem Gelde schalteten, werden wir gleich sehen. Die Dummheit der Völker, die sich von einer prasserischen Geistlichkeit aussaugen ließen, war aber gewiß nicht geringer, als die Habsucht der Kurie.
Am 3. Mai 1372 verlieh Gregor XI. dem von[S. 190] ihm ein Jahr vorher zum Kardinal ernannten Jakob Orsini eine Massenexspektanz für künftig erledigte Pfründen in den Patriarchaten Aquileja und Grado und in der Mainzer Kirchenprovinz bis zu einem taxmäßigen Jahresertrage von 4000 Kammergoldgulden, deren Kaufkraft nach heutigem Gelde über 100000 M. entsprechen.
Welche Pfründenmassen vier Kardinäle beim Ausbruch des Schismas 1378 lediglich in England besessen haben, erfahren wir von einem von ihnen, Wilhelm d’Aigrefeuille. Sie bezogen jährlich nämlich 12000 Kammergoldgulden, denen eine heutige Summe von rund 350000 M. an Kaufkraft gleichkommt. Allerdings war England ein besonders beliebtes Ausbeutungsobjekt, da hier, wie in Frankreich, die Geldwirtschaft völlig die Naturalwirtschaft verdrängt hatte, während in Deutschland im 14. Jahrhundert noch vorwiegend die Steuern etc. in Natura gezahlt wurden.[179]
Außer dem Ertrage ihrer in verschiedenen Ländern der abendländischen Christenheit gelegenen Pfründen hatten die Kardinäle noch die Einkünfte ihrer römischen Titelkirchen, ferner die Hälfte der aus verschiedenen Ländern an den päpstlichen Stuhl zu zahlenden Zensusabgaben, die Hälfte der servitia communia und Einnahmen aus dem Ertrage der visitationes reales mancher Prälaten, sowie Anteile an mehreren anderen Einkünften des päpstlichen Stuhles.
Diese Zensusabgaben, die allerdings gerade zur Avignonischen Zeit oftmals nicht eingeliefert wurden, waren sehr bedeutend. Die Beherrscher Neapels schuldeten einen Jahreszensus von 8000 Unzen Gold = 40000 Kammergoldgulden (ca. 1200000 M.) jähr[S. 191]lich dem päpstlichen Stuhle, die Beherrscher der Insel Sizilien jährlich 3000 Unzen Gold.
Was die servitia communia betrifft, zu deren Zahlung die neuernannten oder neu bestätigten Bischöfe und Äbte verpflichtet waren, so betrug 1336 die von der päpstlichen Kammer vereinnahmte Hälfte – die andere fiel ja an die Kardinäle – über 30792 Kammergoldgulden. Im zweiten Pontifikatsjahre Klemens VI. waren es gar 59904 Kammergoldgulden, also ca. 1700000 M.! Das Durchschnittseinkommen der päpstlichen Kammer in den neun Jahren von 1336–1345 belief sich auf 48000 Kammergoldgulden jährlich und das war, wie gesagt, nur die Hälfte der servitia communia.
Diese Summe verringert sich unter Innocenz VI. im Durchschnitt seines neunjährigen Pontifikates auf rund 33450 Kammergoldgulden jährlich. Da nun das Kardinalkollegium, wie gesagt, auf die gleiche Summe Anspruch hatte, die Zahl der am Sitze der Kurie weilenden Kardinäle unter diesem Papste aber im Durchschnitt 22 betrug, so kam im Jahresdurchschnitt auf jeden Kardinal allein an Servitiengeldern die Summe von etwa 1500 Kammergoldgulden oder 45000 M. nach heutigem Gelde.
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Das Gesamteinkommen eines Kardinals betrug während der Regierung Klemens VI. und Innozenz VI. nach der aktenmäßig fundierten Berechnung Sauerlands mindestens 4000–5000 Kammergoldgulden jährlich. Das Hirtenamt war also recht einträglich, denn nach unserem Gelde entspricht diese[S. 192] Summe einer Kaufkraft von 120000–150000 M. Mancher von ihnen wird aber jährlich eine doppelt oder dreifach so große Summe vereinnahmt haben. Das läßt sich beispielsweise aus dem Nachlaßinventar Hugo Rogers, des Bruders Klemens VI. erweisen. Am 20. September 1342 zum Kardinal ernannt, starb er am 21. Oktober 1363. Er war also 21 Jahre Kardinal. In seinem Nachlaß fand man 179186 Goldmünzen und über 8000 Silbermünzen, also eine Geldmasse, deren damalige Kaufkraft einer heutigen Summe von etwa 6000000 M. gleichkommt.
Diesem Oheim Hugo hatte dessen Neffe Peter, der mit 17 Jahren Kardinal und mit 39 Jahren Papst war (Gregor XI.) erfolgreich nachgeeifert. Sein Nachlaß enthielt außer dem Gold- und Silbergerät in barem Gelde 140503 Goldgulden, die aber natürlich nicht der Christenheit oder den Armen, sondern seinem nahen Verwandten Reymond von Turenne als Haupterben zufielen.[180]
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Sauerland hat festgestellt, daß im 14. Jahrhundert im Rheinland nicht weniger als 94 Nichtpriester im Besitz von Pfarreien waren. Das schlug natürlich auch damals dem Kirchenrecht ins Gesicht. Während es häufig in den Urkunden heißt, daß dieser Zustand »viele Jahre« gedauert hat, gelang es dem Gelehrten, 38 Fälle genau festzustellen. Unter diesen findet sich in fünf Fällen die Dauer von 10 Jahren, in einem Fall 11 Jahre, in zwei Fällen 12 Jahre, in drei Fällen 13 Jahre, in einem Fall 14 Jahre, in zwei Fällen 16 Jahre, in einem Fall 19 Jahre, in einem Falle aber[S. 193] sogar 26 Jahre!! Es kam vor, daß ein Nichtpriester einem ebensolchen folgte!
Unter den 38 Pfarrinhabern finden sich ein Knabe von 6 Jahren, einer von 10 Jahren, vier von 11 Jahren und ein Knabe von 14 Jahren.[181]
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Nicht nur die Söhne von Geistlichen erhielten durch päpstlichen Dispens mit der Priesterwürde die Pfründe, sondern auch ein Nonnensohn wird genannt. An sich ist Vorurteilslosigkeit gegenüber der Herkunft gewiß kein Kulturkuriosum, aber merkwürdig ist, daß die angeblich so sittenstrenge Kirche daran keinen Anstoß nimmt.[182]
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Ein schönes Beispiel für die Dimensionen, die zur Zeit des Avignonischen Papsttumes die Pfründenjagd einnehmen konnte, bietet der Dr. Regum Heinrich Sudermann, Angehöriger einer adeligen Dortmunder Patrizierfamilie. Er war Sekretär des in ständiger Geldnot befindlichen Kölner Erzbischofs Walram und erhielt von ihm für eine Anleihe von 500 Goldgulden die bedeutenden Höfe der Kölnischen Kirche zu Hagen und Schwelm samt der dortigen erzbischöflichen Gerichtsgewalt verpfändet.
Während der Regierung Benedikts XII., zwischen 1337 und 1340, erschien Sudermann viermal als erzbischöflicher Gesandter an der Kurie. Dafür erhielt er nur die Exspektanz für eine Kanonikatspfründe der Kölner Severinskirche, die im nächsten Jahre zu[S. 194] einer Exspektanz für eine höhere Pfründe derselben Kirche erweitert wurde. Das war gewiß nicht zu viel. Aber es sollte nicht alles bleiben.
Unter der sechsjährigen Regierung Klemens VI. erhielt er eine Kanonikatswohnung, eine Kanonikatspfründe und die Scholastrie der Kölner Andreaskirche. Außerdem erwirkte er seinem Bruder Bertram Exspektanzen auf zwei Pfründen und ferner eine priesterliche Kanonikatspfründe der Kölner Domkirche. Für einen außerehelich geborenen Neffen Hermann erwirkte er päpstliche Dispens zum Empfang der Weihen und eine Pfründe oder eine Exspektanz, einem andern Neffen eine Exspektanz für eine Kanonikatspfründe der Soester Patroklikirche. Ferner erwirkte er zwei Angestellten bzw. Bekannten Pfründen.
Später trat Suderman als Notar in päpstliche Dienste und wurde in wichtigen Geschäften viermal nach Deutschland geschickt. Dafür erhielt er für seine eigene Person noch drei Pfründen vom Papste, so daß er am Ende des Pontifikats Innozenz VI. im Besitze der Pfründen von Lüttich, Haslach, Maastricht, Xanten und St. Andreas in Köln sich befand. Sie warfen etwa 120 Mark Silber jährlich ab, die Mark Silber galt etwa fünf Kammergoldgulden, dessen Wert etwa zehn Mark, deren Kaufkraft damals aber zwei bis dreimal so hoch war wie heute, so ergibt sich eine Jahresrente von 12–18000 Mark. Das ist durchaus nicht übertrieben. Aber Suderman wirkte weniger für sich, als für seine Verwandten, Freunde und Diener.
Das eine Mal erbittet er Pfründen bzw. Pfründenexspektanzen für sechs Neffen und zwei Diener,[S. 195] das andere Mal für drei unehelich geborene Neffen je eine Exspektanz für eine höhere Pfründe, ein drittes Mal Pfründen und Exspektanzen für fünf Verwandte, ein viertes Mal fünf Pfründen und zwei Pfründenexspektanzen für sieben Neffen, ein fünftes Mal Pfründen und Pfründenexspektanzen für sechs Verwandte, Gehilfen und Diener und ein sechstes und letztes Mal elf Pfründenexspektanzen für elf Neffen. Onkels von heute, nehmt euch ein Beispiel an diesem edlen Manne, der während der Regierung Innozenz’ VI. nicht weniger als 56 päpstliche Verleihungen von Pfründen und Exspektanzen für andere erwirkte!
Hier lernten wir ein Musterbild eines vornehmen Kurialen der Avignoner Papstzeit kennen, der für sich wenige, aber fette Pfründen erwirbt, aber möglichst viel für seine Verwandten und Diener zu erwerben trachtet und versteht. Was Nepotismus ist, dürfte nunmehr jeder wissen.[183]
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Doch was will der Nepotismus eines Kurialbeamten des 14. Jahrhunderts bedeuten gegenüber dem des Papstes Sixtus IV. und seiner Nachfolger! Er wurde nie, weder vorher noch nachher, so rücksichtslos betrieben. Er war das Prinzip aller Handlungen dieses Statthalters Christi.
Im Jahre seiner Papstwahl noch, 1471, machte er zwei Neffen, Pietro Riario, den man für seinen Sohn hielt, und Julian Rovere, nachmals Julius II., junge Menschen niederer Abkunft, weder durch Ver[S. 196]dienst noch Talent ausgezeichnet, zu Kardinälen. Dessen ungeachtet erhielt Pietro die Würden eines Patriarchen von Konstantinopel, eines Erzbischofs von Sevilla, Florenz und Mende und so viele Benefizien, daß sich sein Einkommen auf 60000 Goldgulden belief. In den zwei Jahren, die dieser Parasit noch zu leben hatte, bis Reichtümer und Leben vergeudet waren, stürzte sich Riario in die sinnloseste Schwelgerei. Seine Feste übertrafen an Verschwendung alles je Dagewesene. Seine Nachttöpfe waren aus vergoldetem Silber! Der erbärmliche Mensch starb, erst 28 Jahre alt, nachdem er 200000 Goldgulden (ca. acht Millionen Mark!) verpraßt hatte, mit Hinterlassung großer Schulden. Er war mächtiger gewesen als der Papst![184]
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Die kirchlichen Zustände im 14. Jahrhundert werden am Beispiel des Erzbischofs Walram von Köln deutlich. Um das Jahr 1315, als zwölfjähriger Knabe, hatte er bereits eine Kölner Domkanonikatspfründe erhalten, noch bevor ihm die Tonsur erteilt worden war. In seinem 23. Lebensjahre erhielt er dazu die Propstei der Maastrichter Stiftskirche S. Servatii, eine Sinekure, sowie die Thesaurarie der Kölner Domkirche, obschon er damals für beide Würden noch nicht das kanonische Alter hatte. Nachdem er dieses erreicht, verlieh der Papst ihm noch die Propstei der Lütticher Domkirche, eine Kuratdignität, samt einer dortigen Domkanonikatspfründe und gestattete ihm den Fortbesitz der Maastrichter Propstei. Weil er aber unterlassen hatte, wegen der beiden erst[S. 197]genannten Dignitäten den vorgeschriebenen kanonischen Dispens wegen mangelnden Alters einzuholen, war er der kirchlichen Strafe der Infamie und der Unfähigkeit zum Erwerb und Besitz kirchlicher Pfründen verfallen. Doch die päpstliche Lossprechung von diesen Kirchenstrafen und kanonische Wiedereinsetzung in die Kirchenpfründen wurde ihm unterm 30. September 1330 zuteil.
Zugleich schrieb ihm der Papst vor, bis zum nächsten Osterfest (1331) die für die Lütticher Dompropstei kanonisch erforderliche Subdiakonatsweihe und dann binnen dreier Jahre die dafür ebenfalls erforderliche Diakonats- und Priesterweihen sich erteilen zu lassen. Walram versäumte die erste Pflicht und erfüllte auch die Residenzpflicht nicht. Deshalb verfiel er neuerdings den vorgenannten Kirchenstrafen. Doch erhielt er am Ostermontag 1331 die päpstliche Lossprechung und zugleich die Erlaubnis, den Empfang der Diakonats- und Priesterweihe noch drei Jahre lang aufzuschieben. In der Zwischenzeit hatte Walram am 21. Oktober 1328 Titel und Vorrechte eines päpstlichen Kaplans erhalten.
Diese, wenigstens nach heutigen Begriffen, nicht ganz normale Lebensgeschichte war aber noch lange nicht zu Ende. Am 27. Januar 1332 wurde nämlich Walram zum Erzbischof von Köln ernannt. Da er aber das vom kanonischen Recht für einen Bischof erforderliche Alter noch nicht erreicht hatte, was dem Papste verschwiegen worden war, so war die Ernennungsurkunde ungültig und mußte durch eine neue gültige Ausfertigung, die das Datum des folgenden Tages trägt, ersetzt werden.
Der noch nicht dreißigjährige Erzbischof hatte erst die sogenannten niederen Weihen erhalten. Deshalb bekam er vom Papste die Erlaubnis, binnen dreier Jahre sich die drei höheren Weihen von einem beliebigen Bischof erteilen zu lassen.
Diese ganze abenteuerlich klingende, aber durchaus nicht vereinzelte Geschichte findet ihre Erklärung darin, daß Walram von seinem Bruder, dem Grafen Wilhelm von Jülich, dem Neffen des französischen Königs, protegiert worden war. Dieser hatte dem Papst als Entgeld für seine Bereitwilligkeit in der Ernennungsangelegenheit das eidliche Versprechen gegeben, dem päpstlichen Stuhle zeitlebens treu und ergeben zu bleiben und ein Widersacher Ludwigs des Bayern und anderer Gegner des Papsttums zu sein.
Außerdem war die Sache für Wilhelm auch nicht billig. Sie hatte nämlich 40000 Goldgulden gekostet, also etwa 1200000 Mark nach heutigem Geldwert!
Daß das Erzbistum diese Summe wieder aufbringen mußte, ist selbstverständlich. Aber das ging nicht glatt. Vielmehr sah sich Walram gezwungen, aus Gründen der Sparsamkeit das hochverschuldete Erzstift, dessen wichtigste Besitzungen verpfändet waren, zu verlassen und seine Verwaltung fremden Personen anzuvertrauen. Er wanderte mit wenigen Begleitern nach Frankreich, wo er nach 17jähriger nicht eben glorreicher Verwaltung der hohen Würde am 14. August 1349 in Paris starb.[185]
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Wie wenig Rücksicht die Avignonischen Päpste auf die materielle Wohlfahrt der Kirchenprovinzen[S. 199] legten, geht schon aus der einzigen Tatsache schlagend hervor, daß der Nachfolger Walrams, Wilhelm von Genepe, sich verpflichten mußte, Klemens VI. 30000 Goldgulden zu zahlen.[186]
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Auch heute noch scheint der geistliche Beruf recht einträglich zu sein, wie aus der in »Reynolds Newspaper« (6. Januar 1907) enthaltenen Zusammenstellung von Hinterlassenschaften von Klerikern im Jahre 1906 aus England hervorgeht.
233 testamentarische Hinterlassenschaften mit in Summa 5638073 £, im Durchschnitt pro Person 23933 £ werden hier notiert.
10 überstiegen 2 Millionen Mark: Rev. Sir Richard Fitzherbert, Rektor von Warshop = 530548 £. Rev. J. H. Godber, Kanonikus von Southwell = 218506 £. Jeder dieser 10 hinterließ im Durchschnitt 179121 £.
Die 9 Bischöfe, deren Testament im Jahre 1901 veröffentlicht wurde, hinterließen im Durchschnitt je 24332 £, also etwa eine halbe Million Mark.
Gegen den ersten Band dieses Buches ist von ultramontanen Blättern der Vorwurf erhoben worden – natürlich ohne auch nur den Gegenbeweis, der völlig aussichtslos gewesen wäre, zu versuchen –, daß ich die im mittelalterlichen Klerus herrschende Unsittlichkeit stark übertrieben hätte. Nun liegt mir nichts ferner, als zu bestreiten, daß es zu allen Zeiten und überall sittenstrenge und edle Menschen gegeben habe und daß auch die katholische Geistlichkeit solche stets in ihren Reihen zählte. Wohl aber ist es grundfalsch, ihnen eine höhere Moral zu imputieren. Im Gegenteil waren im Mittelalter und besonders vor der Reformation dort häufig Zustände zu finden, die man kaum irgendwo in einer Gesellschaft, die nur einigermaßen auf gute Sitten Anspruch erheben möchte, antreffen dürfte.
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Der ultramontane Historiker Janssen hielt die Unsittlichkeit des Klerus vor der Reformation für kaum der Erwähnung wert und führt die Verwilderung in tendenziöser und die Tatsachen auf den Kopf[S. 201] stellender Weise auf die Reformation zurück. Mag diese große Geistesbewegung auch viele Schattenseiten im Gefolge gehabt haben, so wird die Gerechtigkeit ihr doch zum mindesten eine Besserung der öffentlichen Sittlichkeit zubilligen müssen.
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Ein anderer Gesinnungsgenosse Janssens, H. Finke, im übrigen ein vortrefflicher Historiker, hat zum mindesten Schleswig-Holstein und Westfalen für die Länder erklärt, die von der sittlichen Verwilderung der Zeit verschont geblieben seien[187], eine Behauptung, die Pastor nicht nur übernimmt, sondern in seiner Bearbeitung des Janssenschen Werkes noch erweitert.[188] Unter diesen Umständen ist es besonders amüsant, die Zustände Westfalens, also des vorgeblichen sittlichen Musterlandes, kennen zu lernen.
Es handelt sich um einen offiziellen Bericht des Fiskalprokurators Friedrich Turken, also eines Geistlichen, am Kölnischen Offizialgericht in Werl an den Siegler des Offizialgerichts in Köln vom Jahre 1458.[189]
Das Dokument ist mithin völlig einwandfrei und nicht, wie man glauben möchte, die gehässige Streitschrift eines Satirikers.
Zunächst werden Verstöße gegen die äußere kirchliche Ordnung festgestellt, widerrechtliche Abhaltung des Gottesdienstes, Ausfall der Messe bis zu 14 Tagen, Simonie, gehässige Verweigerung des Beichtstuhls, Spendung des Abendmahls an Exkommunizierte, und zwar bewußt und aus Dreistigkeit. In Rüthen werden zwei Vikariate gegründet, nur damit der Pfarrer als Vagabund leben kann.
Ferner wird konstatiert, daß die Geistlichkeit sich[S. 202] nicht nur an Wein- und Getreidehandel beteiligt – und zwar trotz Wohlstandes aus purer Gewinnsucht –, sondern daß der Klerus allgemein Zins- und Wuchergeschäfte macht. Der Pfarrer in Rüthen erhält von einem Sterbenden um der Absolution und der Exsequien willen alle Güter vermacht, hat ihn dann aber weder absolviert, noch kirchlich bestattet. Die fünfjährige Tochter des Verstorbenen ist dadurch gezwungen, sich von Almosen zu nähren.
Der Gewinnsucht ebenbürtig ist die Schimpfwut und Gewalttätigkeit. Das Dokument führt die Schimpfworte genau an. Uns interessiert mehr die Tatsache, daß ein Pfarrer den Schulmeister vor dem Altar »im Angesicht des ewigen Gottes« verprügelt, oder daß der von Flierich seine eigene Mutter mißhandelt, oder daß ein anderer in Schwerte mit Bürgern ein Messerstechen veranstaltet. Bei demselben wird für die Fastnacht die Teilnahme an einem Turnier getadelt.
Harmloser ist das wilde Jagen der Geistlichkeit bis zu reinem Vagabundenleben, nicht schön der Wirtshausbesuch mit Betrunkenheit, Erbrechen und Übernachten auf der Straße. Am wenigsten erfreulich die geschlechtliche Unsittlichkeit. Das Protokoll enthält fünf Fälle von Konkubinaten der Pfarrer mit verheirateten Frauen, deren Männer noch leben. Einmal wird die Frau gegen die ausdrückliche Reklamation des Mannes vom Pfarrer zurückbehalten, ein Mandat des Erzbischofs bleibt gänzlich wirkungslos. Daneben erscheinen Prostituierte im Umgang mit Pfarrern, so scheint das Leben des Kaplans Heinrich Jummen in Werl sich – und[S. 203] zwar ganz öffentlich – überhaupt vornehmlich in diesen Kreisen zu bewegen. Das Benehmen dieses Seelenhirten wird im Dokument bis herab zu den Wechselreden im Frauenhause mit einer Laszivität geschildert, die nur mit der Faszetienliteratur verglichen werden kann. Der Pfarrer in Altenrüthen hat eine Ehefrau und zwei Ledige mißbraucht, im Nachbardorfe Rüthen aber gar drei Ehefrauen und eine Ledige, in Elsey zwei Ledige. Förmliche Schlägereien zwischen Konkubinen um einen Pfarrer kommen vor. Der Aplerbecker veranstaltet eine große Gasterei zur Hochzeit seiner Tochter. Dieselbe Konkubine dient gleichzeitig und auch nacheinander verschiedenen Geistlichen. Übrigens muß sich auch die Breslauer Diözesansynode von 1440 gegen das Konkubinat mit Ehefrauen wenden. Die Eichstädter Diözesansynode von 1453 aber sieht sich ausdrücklich zur Festsetzung veranlaßt, daß auch simplex fornicatio eine Sünde sei. Man war also bisher zumeist anderer Ansicht.
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Papst Gregor XII. erließ im Jahre 1308 eine Bulle, in welcher die Zustände in einer großen Anzahl von Benediktinerinnenklöstern der nordwestdeutschen Diözesen Bremen, Münster und Utrecht dargestellt werden.
Nachdem der Papst festgestellt hat, daß fast jegliche Religion und Beachtung der Ordensregel abhanden gekommen sind, dafür aber Fleischeslust und Laster regierten, fährt er fort:
»Sie selbst, aus weltlichem Stande und Leben[S. 204] hervorgegangen, nehmen bisweilen ihre Konkubinen oder Kebsweiber, die sie, wie vorausgeschickt, im weltlichen Stande gehalten hatten, sogar mitsamt den Kindern, die sie mit den Kebsweibern gezeugt hatten, mit sich in die vorgenannten Klöster, in die sie aufgenommen wurden, und halten und begünstigen sie in ihnen ganz öffentlich, wie sie es früher getan hatten, als sie noch selbst in weltlichem Stande gelebt hatten, und scheuen sich nicht, die Messe und andere heilige Ämter zu feiern, ohne von solchen Verbrechen absolviert zu sein. Es huren auch viele Nonnen mit ihren Prälaten, Mönchen und Geistlichen herum und gebären in denselben Klöstern viele Söhne und Töchter, die sie von den gleichen Prälaten, Mönchen und Geistlichen durch Hurerei oder blutschänderischen Beischlaf empfangen haben.
Die Söhne aber machen sie zu Mönchen, die auf dieselbe Weise empfangenen Töchter aber häufig zu Nonnen in den genannten Klöstern. Und was bemitleidenswert ist: viele dieser Nonnen vergessen ihre mütterliche Liebe und treiben, indem sie Böses durch Böses noch vermehren, ihre Frucht ab und töten die zutage geförderten Kinder....«[190]
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Im Jahre 1423 berief Erzbischof Otto von Ziegenhain eine Provinzialsynode, auf der die Sittenzustände im Klerus der Trierer Kirchenprovinz folgendermaßen geschildert werden:
»Wiewohl aber gegen jene bereits geweihten Kleriker, die notorisch Konkubinen bei sich halten oder andere verdächtige Weiber viele neue und alte[S. 205] Gesetze erlassen sind und mehrere bestraft wurden, haben doch viele heutige Kleriker keine Achtung vor den genannten Strafen, sondern sie entehren sich, indem sie diese verruchte Sünde begehen. Daraus entsteht viel Ärgernis, und aller Wahrscheinlichkeit nach würde es noch mehr sein, wenn nicht Vorkehrungen getroffen würden.«
Daraufhin erließ die Provinzialsynode den Befehl, daß kein Presbyter oder Kleriker eine Konkubine oder eine verdächtige Weibsperson in seinem Hause habe. Habe er aber eine solche bei sich, so müsse er sie binnen zwölf Tagen »tatsächlich und mit Erfolg entfernen und entlassen«.
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An solchen Schilderungen von authentischer Seite ist kein Mangel. Bemerkenswert ist noch das 17. Kapitel der Kölner Diözesansynode vom Jahre 1307, das über Vorfälle in Nonnenklöstern berichtet:
»... viele Nonnen unserer Stadt und geheiligten Diözese werden geschändet, und wenn sie so geschändet sind, von diesen (Verführern) aus ihren Klöstern entführt und zur großen Gefahr ihrer Seelen und vielem Ärgernis öffentlich abspenstig gemacht. Die so Ferngehaltenen werden durch die nämlichen bisweilen durch Listen, häufig durch Drohungen und Gewalt, ihren Klöstern wieder zurückerstattet.
Die Nonnen selbst aber, die so gehalten sind, werden, um nicht durch ihre Straflosigkeit zu Ähnlichem zu verführen, durch die Äbtissinnen, Lehrerinnen oder Priorinnen und die Konvente ihrer Klöster nicht anders wieder aufgenommen, als auf Grund[S. 206] einer Karzerstrafe,... bis sie durch uns... der Wiederaufnahme.. würdig erachtet werden.«
Im Jahre 1371 mußte in Köln ein gleicher Befehl erlassen werden.[191]
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Die gleiche Kölner Synode sah sich auch veranlaßt, in ihrem 15. Kapitel ausdrücklich den Klerikern zu verbieten, in ihren Testamenten über die Einkünfte des sogenannten Gnadenjahres, das ist des ersten Jahres nach ihrem Tode, dessen Einkünfte ihnen noch zukamen, zugunsten ihrer Konkubinen und ihrer unehelichen Kinder zu verfügen.
Zu Beginn des 14. Jahrhunderts kam es soundso oft vor, daß Mönche und Nonnen aus ihren Klöstern aussprangen und dann nach Aufgabe der Ordenskleidung und Ordenszucht als Weltleute lebten. Daß relativ nicht viel urkundliches Material uns erhalten ist, hat seinen Grund darin, daß nur solche Fälle zu unserer Kenntnis gelangen, in denen diese Ordenspersonen später ihre Flucht aus dem Kloster bereuten und die Wiederaufnahme begehrten. Nur wenn sie die Hilfe des Papstes dazu in Anspruch nahmen, besitzen wir die einschlägigen Dokumente. Wie häufig jedoch tatsächlich diese Fahnenflucht war, erhellte daraus, daß Papst Benedikt XII. sich veranlaßt sah, eine besondere Konstitution zu erlassen.[192]
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Die sogenannten Strafakten des Marienburger Ordenshauses enthalten mehrere Fälle, wo die Deutschen Herren unter dem Deckmantel der Beichte und[S. 207] Buße systematisch Verführung von Frauen und Jungfrauen, ja sogar gewaltsame Schändung von neun- und zwölfjährigen Mädchen verübt hatten. Der Ordensmeister Jungingen sah sich veranlaßt, Verbote zu erlassen, daß kein weibliches Tier, weder Stute, noch Eselin, noch Hündin, im Ordenshause gehalten werden dürfe. Ähnliche Verbote bestanden auch für die Klöster auf dem Berge Athos. In Rom mußten sie gar noch in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts erneuert werden!!!
Wiewohl nun die Ordensritter in Marienburg ein wohleingerichtetes Frauenhaus unterhielten, liefen doch häufig Beschwerden von Bürgern ein, daß ihre Frauen und Töchter mit Gewalt aufs Schloß geschleppt und dort bis zur Mißhandlung gemißbraucht wurden.[193]
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Klemens VI. hat im ersten Jahre seines Pontifikats 1342 sieben Trierer und dreizehn Kölner, die unehelich von Priestern erzeugt worden waren, dispensiert, so daß sie Priester werden konnten. In den Jahren 1335–1342 war dieser Dispens 9 Priestersöhnen der Diözese Metz, 17 ebensolchen der Diözese Trier, 20 der Diözese Köln und 36 der Diözese Lüttich erteilt worden. Im ganzen absolvierte Klemens im gleichen Jahre 484 Priestersöhne nach Ablegung eines Examens. Bedenkt man nun, daß selbstverständlich nicht jede Bitte um Dispens erfüllt wurde, daß doch nicht jedes Kind eines Priesters ein Sohn ist, nur ein Bruchteil das entsprechende Alter erreicht und doch gewiß nicht die Mehrheit gerade den Priester[S. 208]beruf wählte, der eines besonderen päpstlichen Dispenses bedarf, also der einzige ist, den zu ergreifen diese Herkunft de jure ausschließt, so wirft das alles auf die Art, in welcher das Zölibat gehalten wurde, ein grelleres Licht, als die noch so drastischen Exklamationen der Sittenprediger und Chronisten.
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Von unbedingt kompetenten Beurteilern liegt für die nordischen Länder ein Bericht des päpstlichen Notars und Abbreviators Dietrich von Nieheim (»Nemus Unionis«) vom Jahre 1408 (abgedruckt bei Sauerland S. 298 f.) und für Spanien und Süditalien des päpstlichen Pönitentiars Alvar Pelajo vom Jahre 1332 in seiner Schrift »De planctu ecclesiae« (abgedruckt eb. S. 297 f.) vor. Das von beiden unverdächtigen Zeugen gefällte Urteil entspricht völlig den aus der Statistik gezogenen Schlüssen. Nieheim stellt z. B. ausdrücklich fest, daß es den norwegischen Presbytern und Bischöfen nach heimischer Sitte freistand, öffentliche Konkubinen zu halten. Dabei waren diese weiblichen Personen ganz und gar nicht gering geschätzt, sondern nahmen geradezu am Range ihres Freundes teil. Daß Priester niederen Ranges, die das Zölibat hielten, ja, die ohne Konkubine lebten, nicht die Regel, sondern die Ausnahme bildeten, verstände sich von selbst, auch wenn es nicht ausdrücklich berichtet würde.[194]
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Als der päpstliche Vikar unter Sixtus IV. den Geistlichen und Kurialen verbot, sich Konkubinen zu halten, tadelte der Papst ihn deshalb heftig und hob das Verbot wieder auf. Er motivierte es damit, daß man kaum einen Priester ohne Konkubine fände. »Und aus diesem Grunde wurden die Prostituierten gezählt, die damals in Rom öffentlich waren, um ein wahrheitsgetreues Bild zu gewinnen und die Zahl der Prostituierten auf 6800 festgestellt, abgesehen von jenen, die im Konkubinat leben und die nicht öffentlich, sondern im geheimen zu fünft oder sechst ihre Künste ausüben, desgleichen jener, die einen einzigen oder mehrere Kuppler haben. Daran kann man erkennen – schreibt Infessura –, wie in Rom gelebt wird, wo das Haupt des Glaubens wohnt, und wie der heilige Staat regiert wird.«[195]
Berücksichtigt man, daß Rom damals kaum 70000 Einwohner hatte, so läßt sich der Prozentsatz der Prostituierten etwa folgendermaßen berechnen: Ziehen wir ein Drittel der Einwohner – sehr mäßig gerechnet – als Kinder und Greise ab, so bleiben etwa 45000, nehmen wir an, die Hälfte davon sei weiblich gewesen, dann war jede vierte weibliche Person eine Prostituierte, ohne Rücksicht auf die im Konkubinat lebenden![196]
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Wir besitzen aus den Jahren 1519–1521 für ein kleines Gebiet der Mainzer Erzdiözese Taxlisten, in denen die Höhe der Strafe für die einzelnen Delikte von Priestern festgesetzt ist.
Der Bordellbesuch von Priestern wird von allen Vergehen am niedrigsten eingeschätzt, nämlich im Durchschnitt auf 16 sol. Ehebruch kostet schon 30, Inzest 88 sol. Gegenüber dieser niedrigen Bestrafung von Fleischessünden, die ein vernichtendes Urteil über die kirchliche Moral nicht nur gestattet, sondern fordert, werden Verstöße gegen die kirchliche Ordnung überaus hoch bestraft.
Unkanonische Amtsführung kostet 29 sol., Nichtbeachtung der Residenzpflicht 44, Begräbnis eines Exkommunizierten aber 240 sol. Also war in den Augen der mittelalterlichen Kirche die Sünde, einen Exkommunizierten ehrlich zu bestatten und damit praktisches Christentum zu üben, fast dreimal so schwer wie die der Blutschande, während man um dasselbe Geld sich als Priester acht Ehebrüche leisten konnte.
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Diese kulturhistorisch außerordentlich wertvolle Strafliste erstreckt sich auch auf Laien. So kostet eine Übertretung des Fastenverbotes gerade doppelt so viel als ein Ehebruch.
Die Jahresrechnungen des Kölner Offizialatgerichtes in Werl aus den Jahren 1495–1515 ergeben ein ähnliches Bild. Denn die höchste der hier vorkommenden Strafen, nämlich 31 fl. 2 ß ist auf Celebratio in suspensio gelegt, während zwei schwere Inzestfälle nur mit 19 fl. 5 ß oder 20 fl. 8 ß geahndet werden, ein anderer gar nur mit 14 fl. Ein doppelter Unzuchtfall erhält die Strafe von 3 fl. 5 ß. Sehr billige,[S. 211] geradezu Tietzpreise, erzielten einfache Unzuchtfälle. Sie bleiben massenhaft überhaupt unter dem Satze von 1 fl. Ehebruch war kostspieliger, denn die Strafe von 3 fl. 9 ß wird mit der Armut des Inkulpaten motiviert.
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Teuer waren dagegen Verstöße gegen die Kirchenordnung: der Laie, der seinen Priester hintergeht und trotz seiner Exkommunikation das Abendmahl nimmt, erhält eine Strafe von 2 fl. 6 ß, der Priester aber, der ihm ahnungslos das Abendmahl reicht, 6 fl. 5 ß.
Während ein Laie, der, ohne es zu wissen, eine Verwandte vierten Grades geheiratet hat, einer Buße von 3 fl. 9 ß unterworfen wird, kommt ein Priester, der mit einem Schulmädchen in seinem Hause Unzucht treibt, schon mit 1 fl. durch.
Auch in dem 1517 in Rom gedruckten Taxenbuch wird Zulassung eines Exkommunizierten zum Gottesdienst schwerer bestraft, wie Inzest. Ganz ähnlich übrigens schon die berühmten Dekretalien des Bischofs Burchhard von Worms († 1025). Man vergleiche das 19. Buch dieses Werkes (Pariser Ausgabe von 1549, S. 262 ff.).
Zweifelt noch jemand, daß es der Kirche vor der mit so viel Fanatismus und Borniertheit bekämpften Reformation keineswegs so sehr um Hebung der Sittlichkeit, als um Erzwingung äußerlicher disziplinärer Unterordnung zu tun war? Denn diese Taxen, die jeder Moral ins Gesicht schlagen, sind nicht etwa[S. 212] von irgendwelchen lokalen Gewalten, sondern von der offiziellen Kirche festgesetzt worden.
Dazu gibt es noch eine ganze Reihe von Beispielen, daß diese milden Strafen gegen Geistliche nicht verhängt wurden. Daher existierte ein Sprichwort: Wer ohne Strafe leben will, der werde Kleriker.
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Als die Camminer Synode von 1454 die Vertreibung der Konkubinen binnen zwölf Tagen bei einer Strafe von 10 Mark Silbers gebietet, vergißt sie nicht den Zusatz: »es sei denn, sie würden aus gerechten und vernünftigen Gründen von uns geduldet«!!!
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Nach Aussagen Kölner Pfarrer von 1484 über die Behandlung homosexueller Vergehen ergibt sich, daß die Geistlichen es bisweilen überhaupt unterließen, kirchliche Strafmittel anzuwenden. Die kirchlichen Behörden hatten es eben vielfach aufgegeben, sich dem Sittenverfall entgegenzustemmen. Das war eine natürliche Folge der aszetischen Grundtendenz der Kirche, die im unüberbrückbaren Widerspruch zum Leben stand. Die Kirche war einfach ratlos gegenüber der allgemeinen sittlichen Auflösung, die eintreten muß, wenn Unmögliches gefordert wird.
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Da die Kirche trotz zahlloser, im 15. Jahrhundert zur Schärfung des Gewissens der Geistlichkeit abgehaltener Provinzial- und Diözesansynoden, trotz[S. 213] Klostervisitationen und glühenden Volkspredigern kein nennenswertes Resultat erzielte, sahen sich vielfach die weltlichen Fürsten genötigt, die Reinigung des geistlichen Standes vorzunehmen. So ordnet Herzog Wilhelm von Jülich am 2. August 1478 die Vertreibung der »pfaffenmede« an.[197]
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Die Freunde Zwinglis verfaßten 1522 einen »Kommentar«, in dem sie gegen den Bischof Hugo von Hohenladenberg, der von 1496–1529 den Krummstab über Konstanz führte, die schwersten Vorwürfe erhoben. So, daß er früher 4, jetzt 5 Gulden Strafe für jedes illegitime Priesterkind erhebe. Das war auch der Grund, weshalb er gegen die Eheforderung der Priester war, denn er wollte auf eine so reiche Einnahmequelle nicht verzichten. Sollen doch in einem einzigen Jahre in seiner Diözese nicht weniger als 1500 Priesterkinder geboren worden sein, von denen er also nach dem alten Satz 6000, nach dem erhöhten aber 7500 Gulden Strafgeld bezog! Habe einer eine Konkubine oder nicht, so sage man ihm: »Was geht dies meinem gnädigen Herren an, daß du keine hast? Warum nimmst du nicht eine?« Das Geld mußte auf alle Fälle erlegt werden.
Selbst wenn in dieser Schrift eine Übertreibung untergelaufen sein sollte, so ist es doch bezeichnend, daß die Zeitgenossen das von ihrem Seelenhirten für glaubhaft hielten, und der Rat der Stadt Zürich amtlich in einem Aktenstück festgestellt, »daß die Bischöfe Geld nehmen und den Pfarrkindern ihre Metzen lassen«.[198]
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Der Erfolg der landesherrlichen Eingriffe, die besonders seit dem Trientiner Konzil sich mehrten, war aber sogar noch im 17. Jahrhundert keineswegs groß, selbst nicht in Bayern, das sich heute mit gerechtem Stolz rühmen darf, Deutschlands größte Dunkelkammer zu besitzen. Das Konkubinat der Priester war noch keineswegs ausgerottet und die Zahl der Priesterkinder groß. Der durchaus klerikale Schriftsteller Albertinus schreibt sehr vielsagend über die Sittlichkeit unter Maximilian I. von Bayern (gest. 1650), daß durch die Menge der Sünder die Sünde nicht geringer werde. Damals wurde im Rendamt Landshut, das aber sittlich höher stand als Burghausen, eine ganze Reihe von Geistlichen aufgeführt, denen Verführung von Dienstboten, Mißbrauch des Beichtstuhls, Notzuchtsversuche, Körperverletzungen etc. zur Last fielen. Von den Konventualen zu Osterhofen heißt es, daß sie nächtlicherweile viel auslaufen und sich an leichtfertige Weibspersonen hängen.[199]
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Die »Newe Zeitunge von der Römischen Kayserlichen Mayestet Legation gen Rom zum new erwehlten Papst, im jetzigen Jar, nach weihnachten 1560. in 4o« bringt folgenden erbaulichen Stimmungsbericht aus der Hauptstadt der Christenheit.
»Ich glaube nicht, daß unter der Sonne ein ärger Leben verbracht werde, als in Rom. Das geht umher den ganzen Tag auf Gassen und Straßen, alles durcheinander, und der feilen Mädchen und Weiber gar viele, so daß deren daselbst leben 30000, wie ein[S. 215] Register sagt, deren die geringste jede dem Papste jährlich 2 Kronen zahlt, die stattlichste aber 20 Kronen. Sie sind fast hoch privilegiert, daß man keine darf krumm ansehen; denn wenn sie einen verklagen, der wird ohne alle Gnade gestraft.
Und da haben sich Männer und Weiber verlarvt, wie die Narren in Teutschland, in der Fastnacht. Unter solchen Mummereien reiten auch die Pfaffen einher. Und haben wir gesehen, daß der Kardinal Farnese alle Gassen durchrannte, mit und um ihn dreizehn Curtisaninnen.
So findet man auch viele Weiber ins Mannskleidern einher gehen, mit zerhackten und zerschnittenen Hosen, und haben ihre Rapiere an den Seiten, als wären sie Landsknechte. Dieselbe müssen Briefe (d. h. Erlaubnisscheine) haben, welche sie aber theuer kaufen von päpstlicher Heiligkeit. Also nimmt man hier Geld von Rom und läßt alles gottlose Wesen zu. Es schadet alles garnichts. Hilf, lieber Gott! wie ist das Volk so verkehrt.
Ich habe mit des Papstes Kämmerlingen einem oft und vielmals geredet, und des bösen Lebens gedacht, das in Rom geführt wird. Darauf er mir geantwortet: Auf das Leben dürfe ich nicht sehen, darauf käme nichts an, sondern ich sollte tun, als sähe ich nicht, was ich nicht sehen möchte. Aber ich danke Gott, daß meine Zeit kömmt, hinweg zu ziehen aus Rom, und gedenke, so Gott will, nimmermehr wieder dahin zu kommen.«[200]
Dieser Bericht eines augenscheinlich ehrlichen Mannes aus dem Jahre 1560 lehrt im Verein mit zahllosen andern, daß der Klerus es immer vortrefflich[S. 216] verstanden hat, Wasser zu predigen und Wein zu trinken und daß, wie in jeder anderen, so auch in sittlicher Beziehung Priesterherrschaft von allen möglichen die schlechteste ist.
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Begreiflicherweise war es sogar noch in späterer Zeit jenseits der Alpen nicht besser.
Die Sittlichkeit im schwarzen, urreaktionären Neapel stand um 1730 nach Keyßlers Beschreibung nicht sehr leuchtend da: »Was die itzigen Zeiten anlangt, so muß man gestehen, daß die Freyheit und freche Lebensart der lüderlichen Weibspersonen in dieser Hauptstadt auf den höchsten Grad gestiegen, und die Stadt hierinn alle andere übertreffe. Es wohnen in einer einzigen Gegend über zweytausend Curtisanen beysammen, und schämen sich geistliche Personen nicht, in diesen Gassen sich gleichfalls einzuquartieren. In allen rechnet man hier über achtzehntausend solcher Donne libere. Die Jugend wird dadurch gänzlich verdorben, und die Geistlichkeit selbst kann wenig im Zaume gehalten werden, weil die weltliche Obrigkeit nichts über sie zu befehlen hat, und die Clerisey, aus Respect vor das Amt und den heiligen Stand, einander durch die Finger sieht, ja es wohl übel nimmt, wenn man ihnen ihren freyen Willen nicht lassen will.«
Wie der gelehrte Reisende weiter berichtet, wurde der Auditor des päpstlichen Nuntius in flagranti erwischt, aber nicht bestraft, da sich selbst der Vizekönig nicht getraute. Der Geistliche aber hatte die Dreistigkeit, die Bestrafung der Anzeiger zu[S. 217] fordern, womit er durchdrang. »Um aber doch einigermaßen allen diesen Herren wiederum einen Possen zu spielen, so ließ er zwar die Häscher mit einer Beschimpfung durch die Stadt führen, es war aber auf der Tafel, welche sie gewöhnlicher Weise auf der Brust tragen mußten, um die Verbrechen der Missethäter anzudeuten, geschrieben, daß solche Strafe ihnen angetan würde, weil sie sich unterstanden, den Auditor des päpstlichen Nuntius in seinen Plaisirs zu verunruhigen.«[201]
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Was sich selbst noch am Ende des 18. Jahrhunderts, und zwar in Bayern ein anmaßender und sittenloser Klerus herausnehmen durfte, möge aus folgender mehr tragischen als komischen Geschichte erhellen, die sich im Jahre 1786 zu Neuberg im Gericht Pfädter zutrug.
Ein junger Bauer heiratete und wohnte weiter mit der bald neunzigjährigen Großmutter zusammen. Nach einiger Zeit gab die Kuh des jungen Paares keine Milch mehr, während der Quell bei der der Alten weiter sprudelte. Eine Magd, die wegen einer Untreue getadelt worden war, haßte die Greisin und sprengte deshalb das Gerücht aus, sie sei eine Hexe und habe die Kuh verzaubert. Zugleich wußte sie die junge Bäuerin gegen sie mißtrauisch zu machen, so daß ihr schließlich verboten wurde, die eigene Kuh zu melken. Die Folge waren auch Streitigkeiten in der jungen Ehe.
Daß das Vieh krank sein könne – es gab Blut – und die ungeeignete Fütterung das Ausbleiben der[S. 218] Milch, das sich auch sofort bei der Kuh der Greisin einstellte, als sie mit der andern von der Magd auf die Weide getrieben wurde, verursacht habe, kam niemand in den Sinn. Zauberei stand fest, und die Franziskaner mußten helfen.
Nach vergeblichen Experimenten ging die junge Frau wieder ins Kloster, wo sie nach dem »Hexenpater«, den es damals noch in jedem Kloster gab, verlangte. In ein Separatzimmer geführt und mit Bier bewirtet, schüttete die junge Frau ihr Herz aus und es entspann sich folgendes Gespräch:
»Pater: Bäuerin! Bäuerin! Da muß was anders als die Alte schuld sein – wie meint Ihr?
Bäuerin: Ich? Ja mein Gott! wo soll’s dann fehlen?
P.: Habt Ihr Euern Mann treulieb?
B.: O ja, von Herzen gern.
P.: Seid Ihr mit ihm zufrieden?
B.: Ja.
P.: Versteht mich wohl! Ich mein’s so, ob er bei der Nacht im Bette tut, wie Ihr es verlanget, so lang und so viel?
B.: Aber ei! – (voll Scham) Ihr Hochw–
P.: Nur heraus mit der Sprache, denn da kommt viel darauf an – also?
B.: Ja! Ihr Hochwürden.
P.: Hm. Hm. (Ergreift ihre Hand.) Weib! Weib! Beinahe komme ich auf andere Gedanken!
B.: Aber, Ihr Hochwürden, ich bitt’ enk um Gottes willen – werds ja mich für kai Hex halten?
P.: Das nicht, Weible, aber – wie! Macht ’nmal Euer Mieder auf!
B.: Ihr Hochwürden! Was denken S’? Ist ja ä Schand’!
P.: Ich kann Euch nicht helfen. – Ich komm’ sonst nicht auf die Spur. – Nun.
B.: In Gottes Namen! Aber Herr!
P.: So! – Schon wieder nähere Spuren (indem er die volle Brust streicht – drückt – und zuletzt saugt).
B.: Aber, Ihr Hochwürden! Was ist denn das? O jeges! wenn’ ai Mensch sehe –
P.: Halt’ dich, Närrin! (Saugt immer fort.)
B.: Nun, was zeigt sich denn?
P. (voll Feuer): Ja, Mütterchen! ich spüre zwar, daß eine Hexerei in Eurem Leibe ist – aber noch weiß ich nit, kömmt’s von Eurer Alten oder gar von Eurem Manne her – und um das zu finden, müßt Ihr Euch schon da niederlegen.
B.: Ja, was woll’es dän thai mit mir?
P.: Das werdet Ihr schon sehen. – Gelt, Ihr seid schwanger?
B.: Ja, Ihr Hochwürden!
P.: Nun schaut! Das Kind ist verhext, und da wird Euch ein schöner Bankert Freud’ machen und einmal auf dem Scheiterhaufen brinnen (brennen), wenn ich Euch nicht helfe – und es geben Euch die Kühe keine Milch, bis da geholfen ist – gebt Euch also willig und legt Euch nieder.
B.: Nu, wann’s Ihr Hochwürden befehlen.« etc.
Der Schluß war nicht nur, daß der Pater sich viehisch an der Frau verging, er gab ihr auch noch den Rat, mit einem Prügel versehen in den Stall zu gehen, wo sie die Hexe treffen werde. So lange[S. 220] bis Blut fließe, solle sie auf sie einschlagen und mit dem Blut die Euter der Kühe bestreichen.
Die Bäuerin handelte nach Befehl, ging in den Stall, traf dort die Großmutter und schlug sie tot. Nur durch die Gerichtsverhandlung kam auch der schändliche Streich des Geistlichen auf.
Aber niemand dachte daran, den schurkischen Pater Benno zu verfolgen. Endlich gelang es dem energischen Eingreifen eines einzigen Richters, gegen den Geistlichen Strafverfolgung zu erwirken. Er wurde auf zehn Jahre vom Messelesen suspendiert und ebensolange in klösterlichem Arrest auf Wasser und Brot gesetzt, d. h. begnadigt, denn daß die Mönche ihrem Kollegen nichts Böses taten, ist klar. Die Regierung fürchtete aber ein energisches Eingreifen. Statt mit dem Schwert hingerichtet zu werden – was das Los der Bäuerin gewesen wäre, wenn der Schurkenstreich nicht aufgekommen wäre – wurde sie auf freien Fuß gesetzt.
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Solche Zustände scheinen heute unmöglich zu sein. Scheinen! Das Zölibat ist eine der Natur zu sehr ins Gesicht schlagende Vergewaltigung, als daß auch beim besten Willen seine Durchführung streng gehandhabt werden könnte. Man mag vorsichtiger sein, Delikte mögen auch seltener werden, aufhören werden sie nie. Aber ein Unterschied ist zwischen der zwar kirchlich verdammten, aber moralisch einwandfreien normalen Befriedigung der Sinnlichkeit und viehischen Vergewaltigung und Versuchung anvertrauter Seelen.
Am 8. April 1910 wurde vor der Strafkammer I des kgl. Landgerichts in Stuttgart gegen den Simplizissimus bzw. dessen verantwortlichen Redakteur Gulbransson in einer Beleidigungsklage des Bischofs Keppler von Rottenburg verhandelt und Gulbransson zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Dieser Vorgang wäre für uns ohne jedes Interesse, wenn nicht während der Verhandlung Dinge zur Sprache gekommen wären, die eigentümliche Blitzlichter auf die sittliche Führung der katholischen Geistlichkeit wenigstens der Diözese Rottenburg geworfen hätten.
Der Stadtpfarrer Bauer von Schramberg war wegen Sittlichkeitsverbrechen zu mehrjähriger Zuchthausstrafe verurteilt worden. Da Bischof Keppler am Vorabend des Schuldspruches eine zu Mißverständnissen Anlaß gebende Rede über die Möglichkeit eines gerichtlichen Falschspruches gehalten hatte, glaubte der Simplizissimus – und mit ihm noch viele andere Organe – daß Bischof Keppler gegen sittliche Verfehlungen seiner Geistlichen, wofern sie nur politisch brauchbar wären, zu milde vorgehe. Deshalb erschien in dem satirischen Blatt eine Zeichnung, den Bischof als Hirten einer Schweineherde darstellend. Die Schweine aber trugen priesterliche Gewandung. Die Überschrift des Bildes lautete: »Alles fürs Zentrum«, die Unterschrift aber: »Durch sein Eintreten für den Pfarrer Bauer hat der Bischof Keppler von Rottenburg gezeigt, daß er nicht nur über Schafe, sondern auch über Schweine ein guter Hirte ist.«
In der Gerichtsverhandlung, in der festgestellt wurde, daß Pfarrer Bauer sich in schamlosester Weise an Kindern usw. vergangen hatte, stellte der Verteidiger[S. 222] Rechtsanwalt Heusel den Antrag, den Wahrheitsbeweis für folgende in der Diözese vorgekommene Fälle zu erbringen. Wir zitieren seine Ausführungen wörtlich:
»1. Der Fall des Pfarrers Gehr von Zuffenhausen.
Ich beantrage hier die Akten der Kgl. Staatsanwaltschaft Stuttgart betreffend die Anzeige gegen den katholischen Pfarrer Gehr von Zuffenhausen vom Jahre 1908 beizuziehen. Pfarrer Gehr hat von zahlreichen Schulmädchen, welche in die 6. und 7. Klasse der Volksschule gingen, also vermutlich im 13. oder 14. Lebensjahr und vor der Kommunion stehenden Mädchen verlangt, sie sollen ihre Röcke in die Höhe heben; er hat einzelnen dieser Mädchen selbst den Rock in die Höhe gehoben, hat Mädchen auch rücklings auf seine Knie gesetzt, sie wie etwa kleine Kinder auf seinen Knien reiten lassen und sie dann rücklings mit dem Kopf zum Boden hinunterschnappen lassen, daß die Mädchen selbst auf den Gedanken kamen, er wolle ihnen unter die Röcke sehen.
Pfarrer Gehr hat weiter, was das Schwerwiegendere ist, um die Entdeckung seiner Verfehlungen zu verhindern, die Mädchen so bearbeitet, daß es schwer, wenn nicht unmöglich war, von ihnen den wahren Sachverhalt erfahren zu können. Es ist durch mehrfache Landjägermeldungen bestätigt, daß Pfarrer Gehr sich direkt bemüht hat, die Mädchen zu falschen Aussagen zu verleiten, und daß den mißbrauchten Kindern mit der Hölle und mit[S. 223] Gotteszell gedroht worden ist, falls sie etwas gegen den Pfarrer aussagen.
Es ist nicht meine Aufgabe als Verteidiger, ein derartiges Verhalten entsprechend zu charakterisieren. Tatsache ist, daß hochstehende Richter ihrem Erstaunen darüber Ausdruck verliehen haben, daß gegen Pfarrer Gehr gerichtlich nicht vorgegangen worden ist. Tatsache ist weiter, daß die einzige Maßregel, welche seitens des bischöflichen Ordinariats gegen ihn verfügt worden ist, die war, daß er auf die beliebte, in schönster Lage am Bodensee gelegene Pfarrei Eriskirch versetzt worden ist.
2. Der Fall des Pfarrers und Schulinspektors Adis von Dotternhausen, O.-A. Rottweil.
Hier wird die beantragte Beiziehung der Akten des bischöflichen Ordinariats das Nähere ergeben. Für den Fall, daß die Vorlage dieser Akten verweigert werden sollte, werde ich eingehenden Beweis erbringen. Pfarrer Adis hat Verbrechen im Sinne des § 176 Z. 3 StGB. begangen und in der Gemeinde Dotternhausen hiedurch und durch sonstige sittliche Verfehlungen das größte Ärgernis erregt. Die einzige Strafe, die gegen ihn verfügt worden ist, bestand in einer nur auf die Dauer eines halben Jahres verfügten Suspension vom Amt, welche Zeit Pfarrer Adis nicht im Disziplinarhaus der Diözese Rottenburg für katholische Geistliche, sondern vermutlich in einem Kloster verbrachte.
3. Der Fall des katholischen Pfarrers Kolb von Ennabeuren, O.-A. Münsingen.
Pfarrer Kolb hat durch fortgesetzten Verkehr mit[S. 224] übel beleumundeten Frauenzimmern in der Gemeinde Ennabeuren derartiges sittliches Ärgernis erregt, daß sich ein Bürger von Ennabeuren, namens Johannes Reyhinger, Frohnmeister daselbst, den ich für sämtliches hier Vorgetragene als Zeugen benenne und zur Hauptverhandlung vorzuladen beantrage, persönlich nach Rottenburg an das bischöfliche Ordinariat wandte. Fronmeister Johannes Reyhinger schilderte dort einem Domkapitular das sittlich verwerfliche Verhalten Kolbs, insbesondere auch die Tatsache, daß, wie ortsbekannt geworden war, ein Frauenzimmer von Ennabeuren häufig bei Kolb in seiner Wohnung genächtigt und dort im Pfarrhof eine besondere Bettstelle zur Verfügung gehabt habe, ohne daß seitens des Ordinariats gegen Kolb eingeschritten worden wäre.
4. Der Fall betreffend Kaplan Hag in Scheer, O.-A. Saulgau.
Kaplan Hag hatte zwei Knaben, welche bei kirchlichen Anlässen als Ministranten fungierten und von denen einer jetzt Schutzmann ist, in der Kirche zur Päderastie angeleitet und mißbraucht. Er ist jetzt in Argentinien Pfarrer.
5. Der Fall des Pfarrers und Kammerers Höflinger von Altheim, O.-A. Riedlingen.
Der genannte Pfarrer war außerehelicher Vater von fünf Kindern, deren Mütter zwei ledige Frauenspersonen seiner Gemeinde waren. Diese Tatsache ist in der Gemeinde bekannt geworden und hat dort berechtigtes Aufsehen erregt. Er verpflichtete sich, den jüngsten zwei seiner Kinder das Geld zur Übersiedelung nach Amerika zu geben, worüber[S. 225] ein Vertrag gefertigt worden ist. Kirchlich wurde nicht weiter gegen ihn eingeschritten; er hat jedenfalls auch in Zukunft seines Amtes als Pfarrer gewaltet.
6. Der Fall betreffend den Kaplan Azger in Heufelden, O.-A. Ehningen.
Dieser Kaplan hatte in den Jahren 1906 und 1907 ein im ganzen Dorfe bekanntes Verhältnis mit einer Industrielehrerin, ohne daß gegen ihn seitens des Ordinariats eingeschritten worden wäre.
7. Ich beantrage weiter die Beiziehung der Akten der Kgl. Staatsanwaltschaft und des Kgl. Landgerichts Rottweil, betreffend den Fall des Pfarrers Knittel von Wachendorf, O.-A. Horb.
Dieser Fall hat seinerzeit auch im Württembergischen Landtag eine eingehende Besprechung gefunden.
8. Ebenso beantrage ich die Beiziehung der Gerichtsakten, betreffend den Pfarrer Nuber in Buchau am Federsee, O.-A. Riedlingen, welcher seinerzeit wegen Schändung von Knaben in der Kirche angeklagt war und der sich in der Folge im Amtsgerichtsgefängnisse zu Riedlingen erhängte.«
Ob der sittliche Tiefstand in der Rottenburger Diözese besonders groß ist, wagen wir nicht anzunehmen, noch viel weniger können wir es feststellen. Ist das aber nicht der Fall, dann bleibt nur ein eben nicht rühmlicher Schluß auf die übrigen Diözesen zu ziehen übrig.
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Wie der Corriere de la sera mitteilte, hatte das Erdbeben vom 28. Dezember 1908, das Messina und mehrere Küstenorte zerstörte, wobei nach der offiziellen Verlustliste über 98000 Menschen ums Leben kamen, eine ungeahnte Nebenwirkung. Die Mönche von San Procopio (Kalabrien) verlangten nämlich in Messina Unterstützung für sich und ihre Familien. In Palmi lebten mehrere Mönche in wilder Ehe. Einer davon hatte sechs Kinder, für die er um Brot bat.
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Mag sich also auch das sittliche Niveau der Geistlichkeit seit dem Mittelalter nicht wesentlich gehoben haben, wenn auch keineswegs geleugnet werden soll, daß die Konkurrenz der Kirchen und das gute Beispiel der bürgerlichen Welt veredelnd wirkte, so ist dafür die Nuditätenschnüffelei desto mehr gewachsen. Unter diesen Umständen bietet es erhöhtes Interesse, zu sehen, was die Kirche zuließ, als sie unumschränkt herrschte. Der Schluß, daß auch die äußerliche Versittlichung nicht ihr, sondern andern Mächten ihren Ursprung dankt, sie aber, wie überall, so auch hier ein kultur- und kunsthemmendes Extrem aufstellte, liegt nicht fern.
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An den Gesimsen des Straßburger Münsters im Innern der Kirche waren satirische Bildwerke auf die Mönche angebracht, so Affen, Esel, Schweine im Mönchshabit Messe lesend. Und zwar, wie feststeht, nicht etwa unter protestantischem Einfluß, da schon im Jahre 1449 der Bau vollendet war. Die pièce de[S. 227] résistance bildete an der Treppe, die auf die große Kanzel führte, ein am Boden liegender Mönch, der »sich bei einer liegenden Nonne gar ungeziemender Freyheiten gebrauchet«. Wenige Jahre vor 1729 erst wurden diese nicht gerade für prüde Augen bestimmten Plastiken entfernt, nach Fiorillo erst nach 1764. Geiler von Kaysersberg hatte augenscheinlich an dieser Darstellung keinen Anstoß genommen. Nach Fiorillo wurde sie sogar erst unter seinen Augen 1486 angebracht.[202]
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Nach demselben Gewährsmann befand sich noch damals im Erfurter Dom »an der Ecke rechter Hand ... unter den Zierathen eines Gesimses ein Concubitus Monachi cum Monacha gar deutlich in Stein gehauen, daß man also nicht nur aus dem straßburgischen, sondern auch hiesigen Domgebäude zeigen kann, wie die Clerisey vor der Reformation es so grob und plump in ihrem Leben und Wandel getrieben, daß auch die Handwerksleute nicht unterlassen können, in öffentlichen Gebäuden ihren Spott darüber zu treiben, wo nicht gar die jalousie zwischen den Mönchen und der übrigen Clerisey zu solchen ärgerlichen Vorstellungen Anlaß gegeben und den Layen dergleichen Arbeit anbefohlen hat«.[203]
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An einem Kapitell der Kirche des Egerer Schlosses in Böhmen ist Adam und Eva dargestellt, beide natürlich völlig nackt. Adam manipuliert dabei in höchst[S. 228] merkwürdiger Weise an seinem intimsten Körperteile.[204]
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In der Hauptkirche von Nördlingen befindet sich ein angeblich von Jesse Herlin 1503 gemaltes, 1601 restauriertes jüngstes Gericht, das einen Papst mit Kardinälen und Mönchen in der Hölle zeigt und ein Weib, das von einem Teufel vergewaltigt wird.
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Die Kirche zu Weilheim in Württemberg besitzt ein ähnliches Fresko-Bild aus dem 15. Jahrhundert. Es stellt ein Jüngstes Gericht dar und scheint allerdings mehr satirisch als unsittlich zu sein.[205]
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Am Dom zu Freiburg i. Br. befindet sich ein Wasserspeier in menschlicher Gestalt, der die Abflußröhre aus dem Gesäß herausragen hat. Die Person macht das vergnügteste Gesicht von der Welt. Nicht ohne Grund, denn nicht jedem ist es vergönnt, seinen Gefühlen der Hochschätzung für die lieben Zeitgenossen in so deutlicher Weise Ausdruck zu verleihen.[206]
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Die Unsittlichkeit der genannten Darstellungen war nicht etwa, wie man annehmen könnte, ein deutsches Privilegium, sondern in der ganzen Christenheit nahm man daran keinen Anstoß.[S. 229] Fiorillo schreibt z. B.: »Unter dem Chorgestühl in der Capelle Heinrichs VII. in der Westminster Abtei wird man einiger Basreliefs gewahr, die äußerst schlüpfrige und unzüchtige Bilder enthalten, so daß es unbegreiflich ist, wie die frommen Benediktinermönche dieselben haben dulden können. Jedoch findet man auch ähnliche obscöne Dinge zu Canterbury, an Chalk Church in Kent...« Da Fiorillo zu Beginn des 19. Jahrhunderts schrieb, hatte bis dahin die Kirche keinen Anstoß genommen. Auch hier also, auf so kleinem Gebiet selbst, zeigt es sich, daß Besserungen nicht durch, sondern ohne, oft trotz und gegen die Kirche sich durchsetzen.[207]
Noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts herrschte bei den Bauern in fast allen Teilen Deutschlands die Sitte, dem Bräutigam alle ehelichen Rechte gradatim zu gestatten.
»Sehr oft verweigern die Mädchen ihrem Liebhaber die Gewährung seiner letzten Wünsche solang, bis er Gewalt braucht. Das geschiht allezeit, wenn ihnen wegen seiner Leibesstärke einige Zweifel zurück sind, welche sie sich freilich auf keine so heikle Weise, als die Witwe Wadmann, aufzulösen wissen. Es kömmt daher ein solcher Kampf dem Kerl oft sehr teuer zu stehen, weil es nicht wenig Mühe kostet, ein Baurenmensch zu bezwingen, das jene wollüstige Reizbarkeit nicht besitzt, die Frauenzimmer von Stande so plötzlich entwafnet.«[208]
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Während man die Nächte, in denen alles gewährt wurde, Probenächte nannte, hießen die andern, bei denen der Bauernbursch auf möglichst halsbrecherischem Wege ins Schlafzimmer des Bauernmädchens eindrang, um zu plaudern, wobei natürlich auch In[S. 231]timitäten nicht unterblieben, Kommnächte. »Die Landleute finden ihre Gewohnheit so unschuldig, daß es nicht selten geschiht, wenn der Geistliche im Orte einen Bauren nach dem Wohlsein seiner Töchter frägt, diser ihm zum Beweise, daß sie gut heranwüchsen, mit aller Offenherzigkeit und mit einem väterlichen Wohlgefallen erzehlt, wie sie schon anfiengen, ihre Kommnächte zu halten.«[209]
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Keyßler erzählt im Jahre 1729 folgendes: »In den Dörfern des benachbarten Bregenzerwaldes hat bisher die wunderliche Gewohnheit regieret, daß die unverheiratheten Baurensöhne und Knechte ohne Scheu so lange bei einem ledigen Mädchen haben schlafen können, bis dieselbe ein Kind von ihnen bekommen, da dann jene erst, und zwar bei den höchsten Strafen, verbunden waren, sie zu heirathen. Diese Art von Galanterie heißen sie fuegen, und finden sie daran so wenig auszusetzen, daß, da man seit etlichen Jahren, kraft obrigkeitlichen Amtes, diese schändliche Weise abschaffen wollen, es zu einer Art von Aufruhr gediehen, und die Sache noch in einem Proceß, zu dessen Führung sie einen Advocaten aus Lindau angenommen haben, verwickelt ist.«[210]
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Nicht viel früher herrschte auch in den Bürgerhäusern noch die schöne Sitte des »Beischlafens auf Glauben«, die wir im vorigen Bande kennen gelernt haben. Der Prädikant Wilhelm Ambach (Quellen zur[S. 232] Frankfurter Gesch. II, 34) erzählt von Frankfurt a. M. darüber (zitiert nach Schultz): »Das weibliche geschlecht ist ja fast blöd und schwach, aber man sahe hie bei vielen, daß in hurei, ehebruch und aller leichtfertigkeit stark und frech waren, dann auch 50jährige witfrauen, die jetzt Kindeskinder haben, aller ehren und freundschaft vergessen; jungfrauen sind ihren herrn und eltern entlaufen, sich in schändliche hurei begeben; jedoch haben etliche aus ihnen öffentlich geehlichet, viel blieben ungeehlichet, schlufen bei uf Gelderischen glauben, gewöhnlich aber lebten sie frech und gut kriegerisch...«
Daß der biedere Prädikant, wie bei einem Geistlichen selbstverständlich, furchtbar übertreibt und nach den zu hoch hängenden Trauben schielt, ist eine Sache für sich. An der Sitte des »Gelderischen Glaubens« auch in Bürgerkreisen wird sich kaum zweifeln lassen.[211]
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Ja, die gastliche Prostitution, bei barbarischen und halbbarbarischen Völkern sehr häufig und darin bestehend, daß der Wirt seinem Gast das Eheweib oder die Tochter für die Nacht leiht, läßt sich in Deutschland noch sehr spät nachweisen. Ältere Zeugnisse, an denen in Skandinavien und für Island kein Mangel herrscht, fehlen bei uns, dafür berichtet aber Thomas Murner in der Gäuchmatt (Geschwor. Art. 9): »es ist in dem Niderlande auch der Brauch, so der Wirt ein lieben gast hat, daß er im sin frouw zulegt auf guten glouben.« Ja, in einem Briefe an J. G. Forster vom 20. Juni 1788[S. 233] erzählt der in Bern wohnende, aus Biel gebürtige Höpfner, daß es im Berner Oberlande verbürgter Brauch sei, daß ein Vater seine Tochter, ein Bruder seine Schwester, ein Mann seine Frau dem fremden Gast in aller Höflichkeit zur Nacht anbiete und sich eine große Ehre daraus mache, wenn man es annehme.[212]
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Im alten Skandinavien scheint es Sitte gewesen zu sein, daß der Beischlaf vor der Hochzeit ausgeübt wurde. Sehr sonderbar ist, daß Fritjof die Prinzessin Ingeborg gleich nach der Verlobung im Tempel zu Baldershagen genießt, und nicht minder erstaunlich, daß König Harald in Norwegen, der die schöne Asa mit Gewalt gewinnen will, dem für ihn eintretenden Ritter gestatten muß, mit ihr die Probenacht zu halten, bevor er zu den Waffen greift![213]
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Ein sonderbarer Brauch, der sich sonst nur bei barbarischen oder halbbarbarischen Völkern findet, herrschte noch vor zwei Jahrhunderten in Island. In der Relation d’Islande dans le Recueil des Voyages au Nord. Amsterdam 1715. T. I, p. 35 heißt es: »Les filles, qui sont fort belles dans cette Isle, mais fort mal vetues vont voir ces Allemans et ofrent à ceux, qui n’ont pas des femmes de coucher avec eux pour du pain, pour du biscuit et pour quelqu’autre chose de peu de valeur. Les pères mêmes, dit-on, présentent leurs filles aux Etrangers. Et si[S. 234] leurs filles déviennent grosses, ce leur est un grand honneur. Car elles sont plus considerées et plus recherchées par les Islandois, que les autres. Il y a même de la presse de les avoir.«
Übrigens sollen, wie ich von glaubwürdiger Seite erfahre, noch heute im Schwarzwald und auch in Mecklenburg, vielleicht auch anderwärts, ähnliche Sitten herrschen. Und zwar nicht nur »Probenächte«, sondern auch die Anschauung, daß das schwangere Bauernmädchen höher geschätzt wird, als eines, das seine Fruchtbarkeit erst noch beweisen muß. Allerdings heiratet fast ausnahmslos der Bauernbursch das von ihm geschwängerte Mädchen.
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Noch im späteren Mittelalter war unter dem hohen Adel, also nicht etwa nur im Volke, der Brauch verbreitet, daß die Braut vor der Hochzeit sich ihrem Bräutigam ganz hingab. So hielt im Jahre 1378 nach einer Urkunde Graf Johann IV. von Habsburg ein ganzes halbes Jahr lang mit der Herzland von Rappoltstein Probenächte ab, um dann wegen seiner Untüchtigkeit einen Korb zu erhalten. Allerdings hatte die Dame nicht so ganz unrecht. Köstlich aber ist die Kur, die ein Straßburger »Meister Heinrich von Sachsen, der der beste Meister ist, den man finden kan« anwandte: »undt hiengent ime an in eine Bad an sin Ding ettwie viel Bliges (Blei) wol fünfzig Pfunf schwer undt pflasterten ine, als menlich seitt, undt verfieng alles nüt, daß sü imme ut gemachen konnten, daß er verfengklich were[S. 235] zu Frowen.« Wiewohl diese Kur lange fortgesetzt wurde, hatte sie so wenig Erfolg, wie die entschieden angenehmere, ihm hundert Frauen vorzustellen, um diejenige auszusuchen, die voraussichtlich die gewünschte Wirkung erzielen würde.[214]
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Höchst bezeichnend für Sitte und Schamgefühl unserer Ahnen ist folgende Geschichte, die Vitus Arnpek erzählt: Herzog Ludwig I. von Bayern hielt eine Probenacht mit der schönen verwitweten Gräfin Ludmilla von Bogen, einer geborenen böhmischen Prinzessin. Da die Gräfin wohl nicht ohne Grund fürchtete, der Herzog wolle zwar die Freuden der Liebe bei ihr genießen, sie dann aber sitzen lassen, ersann sie eine List. Als der Herzog wieder einmal sie besuchte, fand er auf dem vor ihrem Bette hängenden Vorhang vor ihr drei schön gemalte Ritter. Sie legten sich zu Bett und huldigten der Liebe Freuden. Die Gräfin aber bewog den Herzog, ihr zu schwören, daß er sie zu seiner Gemahlin machen wolle, was er auch angesichts der gemalten Ritter tat. Kaum war es geschehen, als die Gräfin den Vorhang zurückzog, so daß drei Ritter, die sie vorher dahinter versteckt hatte, und die also Zeugen des nicht alltäglichen Schauspiels gewesen waren, sichtbar wurden. Sie bestätigten sofort, daß sie des Herzogs Schwur gehört hatten. Ludwig aber war sehr überrascht, da er wohl gehofft hatte, ohne Zeugen den Schwur ableugnen zu können. Er führte nach einem Jahr mit großen Festlichkeiten die Gräfin[S. 236] heim. Übrigens hat diese Geschichte im Volksliede ihre Verewigung gefunden.[215]
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Noch im 16. Jahrhundert war es Sitte, daß die Jungvermählte sich in der Brautnacht nackt zu Bett begab, woher das französische Sprichwort stammt: »Ses promesses ressemblent à celle d’une mariée qui antreroit au lit en chemise.« Im weiteren Verlaufe des Jahrhunderts erst bürgerte sich der heutige Brauch, im Hemd zu schlafen, wenigstens im Winter, allgemein ein. Aber das 1618 erschienene Buch »La Bienséance de la conversation entre les hommes« hielt es noch für nötig, vom Schlafen ohne Hemd abzuraten. Ja in »La civilté nouvelle« vom Jahre 1667 erscheint noch die gleiche Mahnung. Allerdings handelt es sich jetzt nicht mehr um die erste Gesellschaft.[216]
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Das kanonische Recht scheidet die Ehe bekanntlich nur dann, wenn durch männliches oder weibliches Unvermögen der Zweck, Kinder zu erzeugen, nicht erfüllt werden kann. Der berühmte französische Jurist François Hotman (1524–1590) prüft nun sehr eingehend die Frage, wie die männliche Impotenz festgestellt werden könne und liefert in seiner langen und grundgelehrten Abhandlung auch folgenden Passus: »An Stelle der beiden Feststellungsmethoden hat man, ich weiß nicht durch welches Unglück unseres Jahrhunderts, eine weitere eingeführt, die die brutalste ist,[S. 237] die man sich ausdenken kann und von der wir hoffen, daß sie von ebenso kurzer Dauer ist, wie sie wenig Vernunft und juristisches Aussehen (apparence) besitzt: Es ist dies der sogenannte Kongreß. Abgesehen davon, daß er gegen die öffentliche Ehrbarkeit verstößt, ist er überdies unzweifelhaft auch unnütz.... Erst seit kurzer Zeit ist dieses Verfahren in Übung: sein Ursprung mag darin zu suchen sein, daß ein scham- und ehrloser Mann, der von seiner Frau der Impotenz geziehen war, sich rühmte, den Beweis seiner Tüchtigkeit zu erbringen in Gegenwart von Leuten, die sich darauf verstünden. Und wenn die Richter diesen Beweis zuließen, so geschah es sowohl aus Überraschung und weil sie darüber nicht reiflich nachgedacht hatten, als auch weil einige Weise im Anfange dieses Verfahren nicht für schlecht hielten, in der Erwägung, die Frauen durch diese Schande und Schamlosigkeit von der allzu großen und häufigen Klage, die sie gegen ihre Ehemänner erhoben, abzuschrecken. Denn das Gesetz gestattet bisweilen ein Übel, um ein größeres zu heilen. Ein Beispiel dafür bietet die Geschichte, die Aulus Gelius lib. 15, kap. 10 von einigen jungen Mädchen aus Milet erzählt, die aus Verrücktheit freiwillig aus dem Leben schieden. Und man konnte dieser Krankheit, die sich stark vermehrte, keinen Einhalt tun, außer durch eine entehrende Strafe, die man über sie verhängte: die Männer bestimmten, daß alle diejenigen, die sich auf diese Weise umgebracht hatten, splitternackt überall herumgetragen und dem Volk gezeigt würden. Die übrigen jungen Mädchen wurden durch die Schande eines so wenig ehrenvollen[S. 238] Leichenbegängnisses derart ins Herz getroffen, daß sie ihren Verstand wiedergewannen und nicht mehr in diese Krankheit verfielen.
So dachte man wohl auch, daß ein so unehrenvoller Kongreß die Klagen der Frauen mäßigen würde. Aber im Gegenteil (wie das Jahrhundert ja unglücklich ist), sie fühlten sich durch dieses Mittel gestärkt, und von Beginn ihres Scheidungsprozesses an fordern sie selbst den Kongreß, da sie alle wissen, daß sie damit ein unzweifelhaftes Mittel besitzen, den Prozeß zu gewinnen. Denn welche Sicherheit jeder Mann sich auch zutrauen mag (wenn er nicht ebenso brutal und schamlos ist wie ein Hund), er wird einräumen, wenn er für sich und ohne Leidenschaft es gut betrachtet, daß es nicht in seiner Gewalt liegt, den Beweis für seine Fähigkeit, die Ehe zu vollziehen, zu erbringen in Gegenwart des Gerichtshofes, den man verehrt, angesichts der Ärzte, Chirurgen und Matronen, die man fürchtet und mit einer Frau, die man für seine Feindin hält, da eingestandenermaßen solche Akte Selbstsicherheit, Heimlichkeit und Freundschaft erfordern.«[217]
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Nach einem handschriftlichen Amtsbericht vom 8. März 1666 ging es den Pantoffelhelden in der Gegend von Mainz recht schlecht. »Es ist ein alter Gebrauch hierumb in der Nachbarschaft, falß etwan ein Frauw ihren Mann schlagen sollte, daß alle des Fleckens oder Dorffs, worin das Factum geschehen, angrenzende Gemärker sichs annehmen; doch würdt die sach vff den letzten Faßnachttag oder Eschermitt[S. 239]woch als ein recht Faßnachtspiehl versparet, da denn alle Gemärker, nachdem sie sich 8 oder 14 Tag zuvor angemeldet, Jung und Alt, so Lust dazu haben, sich versammeln, mit Trommen, Pfeiff und fliegenten Fahnen zu Pferd und zu Fuß dem Orth zuziehen, wo das Factum geschehen, vor dem Flecken sich anmelden, und etliche aus ihren mittlen zu dem schulthesen schicken, welche ihre Anklag wieder den geschlagenen Mann thun, auch zugleich ihre Zeugen, so sie deswegen haben, vorstellen, nachdem nuhn selbige abgehöret, und ausfündig gemacht worden, daß die Frau den Mann geschlagen, würdt ihnen der Einzug in den Flecken gegönnt, da sie dann also baldt sich alle sambdt vor des geschlagenen mans Hauß versammeln, das Hauß umbringen, undt fallß der Mann sich mit ihnen nicht vergleichet undt abfindet, schlagen sie Leitern ahn, steigen auf das Dach, hauwen ihme die Fürst ein undt reißen das Dach bis vff die vierte Latt von oben ahn ab, vergleicht er sich aber, so ziehen sie wieder ohne Verletzung des Hauses ab, falß aber der Beweiß nicht kann geführt werden, müssen sie unverrichteter sach wieder abziehen.«
Im ehemaligen Fürstentum Fulda war es ebenso. Wenn ein Mann überwiesen wird, von seiner Frau Schläge bekommen zu haben, so hat das Hofmarschallamt das Recht, die Sache zu untersuchen. Ist die Anklage begründet, dann wird dem Geschlagenen durch Diener in fürstlicher Livree das Dach seines Wohnhauses abgedeckt. Noch im Jahre 1768 oder 1769 ist eine solche Exekution vollzogen worden (Journal von und für Teutschland. 1784. 1. Th.,[S. 240] S. 136), ja, noch 1795 soll dieser Brauch geübt worden sein.[218]
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Höchst sonderbar war die Gerechtsame der Familie von Frankenstein bei Darmstadt, die von dieser Stadt jährlich 12 Malter Korn erhielt, um dafür, wenn die Darmstädter es verlangten, durch einen besonderen Boten einen Esel zu schicken, auf dem die schlagfertige Frau durch die Stadt reiten mußte. Der letzte derartige Fall wird vom Jahre 1536 erwähnt.
Eine ähnliche Sitte bestand in Frankreich. Dort mußte der Mann, der sich von seiner besseren Hälfte schlagen ließ, zur Schande auf einem Esel reiten, und zwar rittlings, den Schwanz in den Händen haltend. Wenn der Pantoffelheld sich durch die Flucht dieser Strafe entzog, dann mußte der nächste Nachbar für ihn herhalten.
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In den Statuten des schwarzburgischen Städtchens Blankenburg vom Jahre 1594 heißt es § 14: »Welch Weib ihren Ehemann rauft oder schlägt, die soll nach Befinden und Umständen der Sachen mit Geld oder Gefängnis bestraft werden, oder da sie des Vermögens, soll sie der Rathsdiener zum Kleide wüllen Gewandt geben.« § 15 lautet: »Da aber ein Exempel vorgefunden werden sollte, daß ein Mann so weibisch, daß er sich von seinem Weibe raufen, schlagen und schelten ließe, und solches gebührlicher Weise nicht eifert oder klagt, der soll des Raths beide Stadtknechte[S. 241] mit Wüllengewandt kleiden, oder da ers nicht vermag, mit Gefängnis oder sonst willkürlich gestraft, und ihme hierüber das Dach auf seinem Hauße aufgehoben werden.«
Eine ähnliche, später außer Kraft gesetzte Verordnung stand auch in den rudolstädtischen Statuten.
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Eine sehr verständige, nur etwas gewalttätige Sitte herrschte im Fürstentum Hechingen, um die eheliche Harmonie zu sichern. Die gesetztesten Bauern einiger zu Balingen gehöriger Ortschaften wählten einen ehrlichen, untadelhaften Mann in aller Stille. Dieser wurde Datte genannt, im Schwäbischen soviel wie Vater. Der Datte wählte sich zwei Assistenten. Erfuhr er nun, daß ein Ehepaar im Zwist lebe und sich gegeneinander unanständig betrage, dann erkundigte er sich genau, ob das Gerücht auch begründet sei. War es der Fall, dann ging er nachts mit seinen beiden Assistenten vor das Haus des Ehepaares, klopfte an und antwortete auf die Frage: Wer da? weiter nichts als: »Der Datte kommt.«
Hat diese wohlmeinende Mahnung zum Frieden keinen Erfolg, dann kommt er ein zweites Mal in finsterer Nacht, klopft stärker an und sagt nochmals: »Der Datte kommt.« Blieb auch diese Warnung fruchtlos, dann kam er ein drittes Mal nachts, jetzt aber mit seinen vermummten Assistenten. Mit Knütteln machen sie sich über den schuldigen Teil, der gewissenhaft ermittelt ist, her und verprügeln ihn exemplarisch. Die Wirkung dieser Sitte war glänzend,[S. 242] denn lange Zeit kamen keine Ehehändel in den betreffenden Orten vor. Als aber der Datte seines Amtes einmal zu energisch gewaltet hatte, untersagte die Landesregierung den Brauch.
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Eine befremdende, aber der da und dort in unserem Recht auftretenden Romantik ein ehrendes Zeugnis ausstellende Sitte bestand darin, Verbrecher dann frei zu lassen, wenn Jungfrauen sie zur Ehe begehrten.
Im Jahre 1505 erschien zu Lyon ein Buch mit dem Titel: »Le Masuer en françois selon la coutume du hault et du bas pays d’Auvergne«. Hier heißt es Blatt 119: »In mehreren Orten und Ländern herrscht die Gewohnheit, wenn eine heiratsfähige Frau, namentlich, sofern sie noch Jungfrau ist, einen zum Tode verurteilten und zum Galgen abgeführten Mann zum Gatten verlangt, man ihn der genannten Frau überliefert; sie wird ihm das Leben retten. Aber, setzt der Autor hinzu, es geschieht dies entgegen dem gemeinen Recht.«
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Im Kirchenstaat scheint dieser Brauch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestanden zu haben. Der 1812 hingerichtete Räuber Stefano Spadolino wurde nämlich von der Galeerenstrafe befreit durch eine Türkin, die das Christentum annahm und ihn zur Ehe begehrte.
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Uns braucht es nicht zu kümmern, ob es kodifiziertes oder Gewohnheitsrecht war, ob der König um seine Einwilligung zur Begnadigung angegangen werden mußte und er sie dann verweigern durfte oder nicht. Uns genügt die Tatsache, daß so und so oft der gewiß schöne Brauch gehandhabt wurde. Im Jahre 1579 wurde Martin Hugert vom Kurfürsten August von Sachsen begnadigt, weil »auff demütiges Suppliciren Ursulen, Mich. Langen Tochter, gnädigst bewilligt, dem heiligen Ehestand zu ehren, ime Gnade wiederfahren lassen..., doch daß ime gemeldete Supplicantin ehelich getrauet werde, ehe sie das Land verlassen.« In einem andern Falle unter Kurfürst Johann Georg I. (1606) gaben die Richter, nicht der Landesfürst, das Urteil ab, daß der zum Tode verurteilte Peter Mebuß des Gefängnisses ledig sei, da sich eine Magd erbot, ihn zu heiraten.
Noch im Jahre 1725 ereignete sich ein solcher Fall, und zwar umgekehrt, indem der Mann die Frau durch Ehe befreite. Ein Gerbergeselle Weber von Mölig in Schwaben trat vor das Gericht mit der Erklärung, wenn der zum Tode verurteilten Anna Maria Inderbitzi (Schwyz) das Leben geschenkt und sie von Henkershand verschont werde, wolle er sie ehelichen. Er habe sie zwar weder gesehen noch gesprochen, sein Entschluß rühre lediglich aus christlichem Mitleid her, auch habe sein Großvater eine solche Weibsperson durch Heirat am Leben erhalten und Glück und Segen gehabt. Das Gericht erkannte nach reiflicher Überlegung: »Es sollen beide Personen vorgeführt werden und für den Fall der Einwilligung soll der Anna Maria die Strafe erlassen werden.« Die[S. 244] Verlobung fand statt in Gegenwart des Pfarrers und zweier Kapuziner, nach vierzehn Tagen die Hochzeit. (E. Osenbrüggen, »Neue kulturhistorische Bilder aus der Schweiz«, 1864, S. 51.)
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Der leitende Gedanke war natürlich der, daß ein Mensch nicht völlig verdorben sein könne, wenn er noch jemanden findet, der mit ihm die Ehe wagt. Und schließlich war das Risiko des Heiratenden ja viel größer als das des begnadigenden Staates.
Das Andenken an dieses Jungfrauenrecht ist heute noch im Volke nicht ganz erloschen. Als im Jahre 1834 zu Schönfeld bei Dresden zwei Raubmörder hingerichtet werden sollten, fragte eine Frauensperson beim Pfarrer an, ob wohl ein Unverheirateter unter diesen Verbrechern dadurch zu befreien sei, daß sie ihn zur Ehe begehre.[219]
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Eine sehr merkwürdige Sitte wird uns aus dem 18. Jahrhundert aus Litauen berichtet: »Die Litthauer sind überaus ängstlich und vorsichtig, daß ihr Ehestand nicht unfruchtbar und ohne Segen seyn möge; daher sie lieber eine Hure mit zwei und mehr unehrlichen Kindern heyraten, als eine Jungfer.« Das ist ja nicht so sonderbar, da ja unsere Bauern, für die Kinder Lebensbedingung sind und die unfehlbar auf die Gant kommen, wenn sie statt der Söhne bezahlte Arbeiter haben müssen, genau so verfahren. Allerdings meist so, daß sie diejenige Dirn heiraten, mit der sie selbst Kinder haben. Um so befremdender ist die Fortsetzung des Berichtes: »Die Weiber[S. 245] sollen mit gutem Willen der Männer Coadjutores Connubii oder Neben-Beyschläffer halten; denen Männern aber wird es für eine Unehre gehalten, wenn sie Concubinen haben.« Vielleicht trat nur dann die Freiheit, einen Liebhaber zu nehmen, in Kraft, wenn Verdacht bestand, daß die Kinderlosigkeit auf Verschulden des Mannes zurückzuführen sei.[220]
Nicht nur daß Tiere von weltlichen und kirchlichen Behörden bestraft wurden, kam im Mittelalter vor – die beiden letzten derartigen französischen Fälle ereigneten sich noch 1793, ja 1845! – man verhandelte auch mit ihnen. Um 1500 wurde in der Diözese Lausanne ein außerordentlicher Tierprozeß in Gestalt eines bedingten Mandatsprozesses eingeführt. Der bischöfliche Official erläßt auf die Supplik der geschädigten Grundbesitzer den Ausweisungsbefehl an die verklagten Tiere unter Exorcismen und Androhung der Malediktion sowie unter dem Angebot, den Verklagten einen Kurator oder Defensor stellen zu wollen, falls jemand den Befehl anzufechten gedenke. Damit verbindet er unter Androhung der Exkommunikation den Befehl, daß die Tiere während der späteren Verhandlungen sich jeder weiteren Ausbreitung zu enthalten haben.
Das erste Verfahren schließt mit einem Urteil ab, das die verklagten Tiere ausweist. Es handelt sich hier ausschließlich um sogenanntes Ungeziefer,[S. 247] wenigstens niemals um Haustiere oder bestimmte einzelne Tiere. Also um Mäuse, Ratten, Maulwürfe, Insekten, Raupen, Engerlinge, Schnecken, Blutegel, Schlangen, Kröten. Allerdings wurde es in Canada auch gegen wilde Tauben, in Südfrankreich schon viel früher gegen Störche, in Deutschland gegen Sperlinge, am Genfer See gegen Aale angewandt, wenn sie in ungezählten Mengen auftraten und gemeinschädlich geworden waren. Im Ausweisungsbefehl wurde in der Regel eine Frist bestimmt, innerhalb der die Tiere ihren Abzug bewerkstelligen sollen. Gelegentlich hat man dies so ins einzelne durchgebildet, daß man den ausgewiesenen Tieren bis zum Ablauf der Frist freies Geleit zusicherte. Ziemlich weitverbreitet war auch – wenigstens seit dem Spätmittelalter – der Brauch, mit der Ausweisung eine Verweisung zu verbinden, sei es, daß man den Tieren aufgab, sich an einen nicht näher bezeichneten Ort zurückzuziehen, wo sie niemandem mehr würden schaden können, sei es, daß man zu diesem Behuf einen Ort benannte. Bald verurteilte man sie »ins Meer«, bald verbannte man sie auf eine entlegene Insel, oder man räumte ihnen gar einen freien Bezirk in der Gemeinde ein mit der Auflage, die außerhalb desselben gelegenen Grundstücke zu verschonen. So noch 1713 im Urteil von Piedade-no-Maranhao. Dies hat mitunter zu einem förmlichen Vergleichsangebot der Klagspartei an den Offizialvertreter der verklagten Tiere geführt, wonach diesen vertragsmäßig ein solches Grundstück überlassen werden sollte. Die mancherlei Vorbehalte und Klauseln, womit man einen solchen Vergleich[S. 248] ausstattete, zeigen, wie ernsthaft der Vertrag der Menschen mit den Tieren gemeint war.[221]
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Prozesse gegen Tiere sind erst seit dem 15. Jahrhundert deutlich nachweisbar, während Malediktionen und Exkommunikationen viel älter sind. Der letzte Tierprozeß in der vollen Form hat sich vor einem weltlichen Gericht abgespielt, und zwar 1733 vor dem von Bouranton. Aber noch ein Jahrhundert lang haben im Norden die Erinnerungen an die Tierprozesse fortgedauert. Noch um 1805 oder 1806 haben die Bauern auf Lyö in der Herrschaft Holstenshus einen solchen Prozeß wenigstens angefangen.
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Lautete in einem Tierprozeß (gegen Haustiere) das Urteil auf Tötung, dann war auch die Todesart bestimmt. Das Tier wurde demnach als Verbrecher angesehen, dem ein verbrecherischer Wille zugeschrieben wurde. Pour la cruauté et férocité commise (1567) verurteilt das Gericht, d. h. graduierte oder doch geschulte Juristen, den Übeltäter. Am meisten üblich war es, das Tier durch Hängen zu töten oder es zu erdrosseln, und nachher aufzuhängen oder doch zu schleifen. In gewissen Gegenden scheint man aber das Lebendigbegraben oder das Steinigen, das Verbrennen oder das Enthaupten vorgezogen zu haben. Erst seit dem 17. Jahrhundert kommt es ab, die Todesart im Urteil zu bestimmen. Das Gericht überläßt ihre Auswahl hinfort dem Gerichtsherrn oder dessen Vollzugsbeamten.
Der Vollzug des Urteils geschah öffentlich unter dem Geläute der Glocken. Stets obliegt dem Diener der öffentlichen Gewalt, dem Nach- oder Scharfrichter, der Vollzug. Die Richtstatt ist der gesetzliche Hinrichtungsort. Hatte das Urteil auf Hängen gelautet, so geschah das am Baum oder am Galgen. Ein Wandbild in der Kirche Sainte-Trinité zu Falaise zeigt das Tier sogar in Menschenkleidern. Man hatte auch sorgsam darauf zu achten, daß durch den Strafvollzug der Inhaber der hohen Gerichtsbarkeit nicht in seinen Rechten gekränkt wird. In dieser Hinsicht hat das Verfahren mehrmals zu Beschwerden und Streitigkeiten Anlaß gegeben. Noch 1572 liefern, um dergleichen zu vermeiden, die von Moyen-Moutier ein dort zum Strang verurteiltes Schwein an den Probst von Saint-Dizenz als den vollzugsberechtigten Herrn unter altherkömmlichen Formen aus, indem sie das Tier bis zum Steinkreuz le Tembroix führen, wo der Probst, dreimal angerufen, alle »Verbrecher« (criminaly) in Empfang zu nehmen hat.
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Die Glocke von S. Marco in Florenz, La Piagnola genannt, läutete am 8. April 1498 Sturm, als die Gegner Savonarolas das Kloster in der Nacht belagerten und erstürmten und den Propheten ins Gefängnis führten. Dieses Rufen verzieh man der Glocke nicht. Am 29. Juni 1498 beschloß der Große Rat von Florenz, daß die Glocke von S. Marco zu bestrafen sei. Am folgenden Tage riß das Volk sie vom Turm herunter, ließ sie von Eseln durch die Straßen der[S. 250] Stadt schleifen, und der Henker folgte ihr und peitschte sie. Dann wurde sie aus der Stadt verbannt. Auf dem Campanile von S. Salvatore al Monte blieb sie elf Jahre im Exil, bis sie am 9. Juni 1509 wieder auf den Glockenturm von S. Marco heraufgezogen wurde.
Die Glocke, ein Werk Donatellos und Michelozzos, befindet sich seit 1908 im Museo di S. Marco, wo man sich von den damals erlittenen Mißhandlungen überzeugen kann.[222]
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Dafür, daß die Frauenemanzipation nicht zu Übergriffen führte, war im Gesetz in weniger ritterlicher als wirksamer Weise gesorgt: »Wenn ein böses schnödes Weib auf freier Straße einen Bürger oder Bürgerkinder mit ehrenrührigen Worten anfährt, so darf er das Weib dreimal vermahnen, solche Worte heel zu halten, und wenn es auch das drittemal fruchtlos, seine Faust nehmen, dem Weibe an den Hals schlagen, sie in die Gosse werfen, mit Füßen vor den Hintern stoßen und dann gehen ohne Strafe.«[223]
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Daneben findet sich eine Ritterlichkeit, die unsere Gesetzgebung vermissen läßt: Die Schwangere genießt das Vorrecht, ihre Gelüste zu befriedigen, ebenso darf ohne weiteres für eine Kindbetterin Wein und Brot entwendet werden. Ja, mehr als das. Im Weistum von Galgenscheid (Untermosel) von 1460 heißt es, nachdem das Jagen verboten: »is enwere dan, das eyne frawe swanger ginge mit eyme kinde und des[S. 251] wiltz gelustet, die mag eynen man oder knechte usschicken, des wiltz so viel griffen und sahen, das sie iren gelosten gebussen moge ungeverlichen.«[224]
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Bekannt ist das Verbrennen und Hängen in Effigie. Aber daß man auch in Effigie gerädert werden konnte – für den Delinquenten entschieden wesentlich dem Verfahren in natura vorzuziehen –, berichtet Felix Platter im Jahre 1554.[225]
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Die Gespenster mischten sich früher in so mancherlei Angelegenheiten des Lebens, daß die Juristen nicht umhin zu können glaubten, ihre Rechte zu bestimmen. Der berühmte Rechtslehrer Johann Samuel Stryck verfaßte darüber eine 1700 zu Halle erschienene umfangreiche Dissertation (De jure spectrorum. Halle 1700. recusa ib. 1738), in der er sich so eingehend mit der Materie befaßte, daß das Gespensterrecht es sicher zum Range einer selbständigen Wissenschaft, wie Handels- oder Wechselrecht, gebracht hätte, wenn die Aufklärung nicht schnöderweise das schöne System über den Haufen geworfen hätte.
Nach einer Einleitung, in der die verschiedenen Sorten von Gespenstern, als da sind Kobolde, Nixen, Feldgeister, Bergmännchen etc. dem Leser vorgestellt werden, kommen in schönster systematischer Ordnung die durch dieselben entstehenden Rechtsfälle an die Reihe. Der Hexenhammer hatte ja auch mehr als zwei Jahrhunderte früher diese Materie behandelt. Man[S. 252] sieht daraus wieder einmal, wie sehr die weltlichen Wissenschaften den geistlichen nachhinken.
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Doch ad rem! Es gibt bekanntlich Personen, die von Gespenstern sehr geplagt werden. Was ist nun zu tun, wenn ein Ehegatte die Beobachtung macht, daß sein Gespons zu dieser Sorte gehört? Stryck gestattet aus diesem Grunde zwar die Auflösung eines Verlöbnisses, nicht aber die Ehescheidung. Der Mann muß dann eben den Spuk als Hauskreuz ansehen und es zusammen mit seinem angetrauten mit Würde tragen.
Da ein Haus, in dem die Geister spukten, nahezu wertlos war, findet es Stryck nur gerecht, wenn gegen den Verkäufer, der damit den Käufer betrog, Klage erhoben wird. Natürlich wird dadurch auch ein Mietkontrakt hinfällig. Wenn der Spuk aber so harmlos ist, daß die Geister nur in den abgelegensten Teilen des Hauses an die Türen klopfen oder ein wenig heulen, dann darf man deshalb nicht gleich die Flinte ins Korn werfen und ausziehen. Auch ist der Vermieter nicht zum Nachgeben verpflichtet, wenn er beweisen kann, daß bisher sein Haus von Geistern rein war und erst seit der Vermietung, weil die neue Partei mit Hexen und Zauberern in Feindschaft lebe, von ihnen zum Tummelplatz auserkoren wurde. Natürlich hat der Hausherr das Recht auf Injurienklage, wenn ein Verleumder sein Haus für nicht geheuer bezeichnet.
Wenn der Teufel jemand zu Verbrechen bewegt, so ist der Delinquent darum nicht jeder Strafe ledig, aber unter gewissen Umständen ist es doch billig, sie[S. 253] zu mildern, z. B. wenn der Delinquent anführen kann, der Teufel habe gedroht, ihn zu ersticken oder den Hals umzudrehen.
Augenscheinlich hatte Stryck die Materie nicht gründlich genug behandelt, denn der Rechtsgelehrte Karl Friedrich Romanus in Leipzig sah sich 1703 gezwungen, die Frage, ob wegen Gespenstern der Mietkontrakt aufgehoben werden könne, mit großem Aufwand von Gelehrsamkeit und Spitzfindigkeit nochmals zu behandeln. (Schediasma polemicum expendens quaestionem an dentur spectra, magi et sagae. Lips. 1703.) Da er die Gespensterfurcht durch hundert Zitate beweist, so steht für ihn fest, daß selbst die manierlichsten Geister den Mieter zur Auflösung des Kontraktes berechtigen. Thomasius war allerdings anderer Ansicht (De non rescindendo contractu conductionis ob metum spectrorum. Halle 1711 recusa ib. 1721. Deutsche Halle 1711), doch der bedeutende Mann stand dem Geisterglauben überhaupt recht skeptisch gegenüber. Dieser Stryck nun ging den Theologen in der »Gläubigkeit« nicht weit genug und mußte sich deshalb mit einer Menge Gegner herumschlagen.[226]
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Friedrich der Große hob bekanntlich durch die Kabinettsorder vom 3. Juni 1740 die Tortur in seinen Ländern auf, außer bei Majestätsverbrechen, Landesverrat und Massenmord. Natürlich gegen den Willen der Juristen. Ein teilweises, allerdings sehr verklausuliertes Zurückgreifen auf sie enthält das Zirkular Friedrich Wilhelms III. von Preußen vom 21. Juli[S. 254] 1802. Es ordnet zwar an, daß »bei Criminal-Untersuchungen die Angeschuldigten durch thätliche Behandlung nicht zum Bekenntniß der Wahrheit zu nöthigen« sind, führt aus, »wie unzulässig der Gebrauch der Schärfe in einer Criminal-Untersuchung sei, und wie leicht die Inquirenten von der ihnen eingeräumten Befugniß, einen verstockten Verbrecher für offenbare Lügen zu züchtigen, Mißbrauch machen können«. Deshalb sei »die Anwendung körperlicher Züchtigungen als Mittel zur Erforschung der Wahrheit bei Criminal-Untersuchungen gänzlich zu untersagen.« Das klingt sehr schön. Dann aber heißt es weiter:
»Damit aber der halsstarrige und verschlagene Verbrecher durch freche Lügen und Erdichtungen, oder durch verstocktes Leugnen, oder gänzliches Schweigen sich nicht der verdienten Strafe entziehen möge, soll... das Collegium befugt sein..., eine Züchtigung gegen einen solchen Angeschuldigten zu verfügen. Vorzüglich findet eine solche Züchtigung alsdann statt, wenn der Verbrecher bei einem gegen ihn ausgemittelten Verbrechen, welches er nicht allein ausgeübt haben kann, die Angabe der Mitschuldigen verweigert, oder wenn der Dieb nicht anzeigen will, wo sich die gestohlenen Sachen befinden, oder wenn dieser hierin durch falsche Angaben den Richter täuscht. Die Züchtigung muß nach Beschaffenheit des körperlichen Zustandes in einer bestimmten Anzahl von Peitschen- oder Rutenhieben bestehen, auch kann an deren Stelle Entziehung der besseren Kost, einsames Gefängnis oder eine ähnliche, der Gesundheit des Angeschuldigten unschädliche Maßregel gewählt werden.«[227]
Das heißt auf deutsch, daß es in Preußen noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts rechtens war, Geständnisse in gewissen Fällen durch Peitschenhiebe zu erzwingen.
Das scheint uns haarsträubend und doch haben wir heute noch eine viel schlimmere Tortur, als sie früher bestand. Wirft Müller dem Meyer ein Schimpfwort an den Kopf, dann hat er obendrein noch das Recht, durch Zeugen alles an schmutziger Wäsche in die Öffentlichkeit zu zerren, was sich nur über seinen Gegner auftreiben läßt. Die Zeugen selbst aber sind verpflichtet, bis in die intimsten Intimitäten ihres eigenen Lebens hinein alles nur irgend einer sensationslüsternen Menge interessant erscheinende vor aller Welt aufzudecken. Eine Reihe von Prozessen aus letzter Zeit beweisen, daß ungezählte Existenzen durch diese moderne Tortur vernichtet werden können. Es ist nur Glückssache, ob nicht jeder von uns einmal gezwungen wird, seinen eigenen moralischen Henker vielleicht um einer Bagatelle willen zu machen. Manchem dürften da die Stockschläge von ehedem humaner erscheinen.
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Friedrich Wilhelm III. erließ am 7. Juli 1802 das »Publicandum wegen Deportation incorrigibler Verbrecher in die Sibirischen Bergwerke«. Unter der Motivierung, daß der beabsichtigte Zweck, die getreuen Untertanen vor Verbrechern zu schützen, nicht erreicht wurde, da von Zeit zu Zeit solche Verbrecher aus den Strafanstalten entwichen und andrer[S. 256]seits die Hoffnung auf Flucht selbst lebenslängliche Verurteilung diesen Bösewichtern nicht hinlänglich schrecklich erscheinen läßt, heißt es:
»Aus diesen Gründen haben Allerhöchst dieselben beschlossen, die in den Strafanstalten befindlichen incorrigible Diebe, Räuber, Brandstifter und ähnliche grobe Verbrecher, in einen entfernten Weltteil transportieren zu lassen, um dort zu den härtesten Arbeiten gebraucht zu werden, ohne daß ihnen einige Hoffnung übrig bliebe, jemals wieder in Freiheit zu kommen. Diesem gemäß ist mit dem Russisch-Kaiserlichen Hof die Vereinbarung getroffen, daß dergleichen Bösewichter in dem im äußersten Sibirien, über tausend Meilen von der Grenze der Königlichen Staaten belegenen Bergwerken zum Bergbau gebraucht werden sollen, und es sind hierauf vorerst Acht und Funfzig der verdorbensten solcher Verbrecher am 17. Junius d. J. an den Kaiserlich Russischen Kommandanten zu Narva würklich abgeliefert, um von dort in diese Sibirischen Bergwerke transportiert zu werden.
Seine Königliche Majestät werden durch fernere, von Zeit zu Zeit zu bewürkende Absendungen solcher Verbrecher die Eigenthumsrechte der sämmtlichen Bewohner Ihrer Staaten gegen die Unternehmungen solcher Bösewichter schüzzen, und lasse daher dieses zur Beruhigung Ihrer gutgesinnten Unterthanen und zur Warnung für jedermann hierdurch öffentlich bekannt machen.«
Daß der Staat zur Sicherung seiner Untertanen zur Deportation oder zu sonstigen Gewaltmitteln greift,[S. 257] ist gewiß kein Kultur-Kuriosum, wohl aber, daß eine Großmacht sich der Hilfe einer anderen bedient, um seiner verbrecherischen Untertanen, noch dazu in friedlichen Zeiten, Herr zu werden.
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Übrigens waren die herrschenden preußischen Gesetze nicht durch Milde ausgezeichnet. Das Vermögen der politischen Verbrecher wurde eingezogen, auch ihre Kinder durften »zur Abwendung künftiger Gefahren« in beständiger Gefangenschaft gehalten oder verbannt werden. Selbst Eltern, Kinder und Ehegatten waren bei zehnjähriger bis lebenslänglicher Festungsstrafe zur Denunziation und Verhütung dieses Verbrechens verpflichtet. Landesverräter sollten »zum Richtplatz geschleift, mit dem Rade von unten herauf getötet, und der Körper auf das Rad geflochten werden«. Zum Landesverrat gehörte auch die Verleitung zur Auswanderung und Verrat von Fabrik- und Handlungsgeheimnissen, doch hatte es in diesem Falle mit vier- bis achtjähriger Festungs- oder Zuchthausstrafe sein Bewenden.[228]
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Im Palais, das Friedrich Wilhelm III. bewohnte, wurden Gegenstände im Werte von 50 Talern gestohlen. Bei einem Mädchen, das für die Königin strickte, fand man einige Sachen. Sie wurde verhaftet, der Fall dem König angezeigt und er befahl: »daß man[S. 258] die eingezogene und arretirte Inquisitin Louise M. so lange peitschen sollte, bis sie ihre Mitschuldigen bekenne, und anzeigen würde, und wenn sie unter den Streichen tot bleiben sollte.«
Darauf zählte man dem Mädchen den ersten Tag 79, den andern Tag 86 und nachmittags 50 Peitschenhiebe »theils auf den bloßen Hintern, und theils auf den Rücken ohne Barmherzigkeit auf, überließ die Direktion des Verfahrens den niedrigsten Beamten, das heißt Schreibern und Boten. – Das Urtheil erfolgte und sie wurde zu Zuchthausstrafe auf des Königs Gnade (d. h. so lange der König wollte!!) condemnirt. Durch diese von dem jetzt regierenden König eingeführten Peitschenhiebe bei den Inquisitionen ist die Tortur der Alten optima forma eingeführt.«
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Das noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts gültige Preußische Kriegsrecht hatte folgende Todesstrafen: »1. Arquebusieren (erschießen), 2. Hinrichtung durch das Schwert, 3. durch den Strang, 4. durch das Feuer, 5. durch das Rad von oben hinab oder von unten herauf, 6. durch Viertheilung.
Bei der Hinrichtung durch das Schwert ist die Verscharrung des Leichnams auf der Exekutionsstätte, oder das Flechten des enthaupteten Körpers auf das Rad eine gesetzliche Folge der mindern oder größern Wichtigkeit des Verbrechens.
Die Hinrichtung durch den Strang kann theils in der Garnison... theils außerhalb der Garnison an dem gewöhnlichen Galgen geschehen... Im[S. 259] zweiten Fall bleibt der Körper bis zur Verwesung am Galgen hängen.
Die Exekution durch Feuer, durch das Rad oder durch Viertheilen wird jedesmal außerhalb der Garnison auf der gewöhnlichen Gerichtsstätte vollzogen, und erfolgt sodann die Verscharrung des Leichnams oder dessen Heftung auf das Rad, oder Anschlagen der Theile an den Galgen oder an besonders dazu errichtete Pfähle nach der Größe und Wichtigkeit des Verbrechens.
In wie weit bei Militär-Personen die Todesstrafe verschärft werden kann, wobei... die... bestimmte Gattung der Strafe... für den Verbrecher empfindlicher und für den Zuschauer abschreckender zu machen ist, wohin das Schleifen zur Richtstätte, das Abhauen einer oder beider Hände und so weiter gehören mag, muß in jedem einzelnen Falle entweder nach den besonderen Militärgesetzen, oder bei gemeinen Verbrechen der Militär-Personen, nach dem allgemeinen Landrechte beurtheilt und festgesetzt werden.«
Wer sich selbst entleibte, wurde unter dem Galgen durch den Schinder verscharrt.
Die Ehefrau eines Deserteurs, welche mit ihrem Ehemann zugleich entwichen oder zwar zurückgeblieben, aber der Durchhelfung desselben schuldig befunden, wurde mit dem Verlust ihres eingebrachten oder sonst eigentümlichen Vermögens, welches der Generalinvalidenkasse zufiel, bestraft.[229]
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Die letzte Tortur in Deutschland fand im Jahre 1826 im Amte Meinersen in Hannover statt. Ein Häusler Wiegmann war im Anfang des Jahres verhaftet worden, weil er zwei Pferde gestohlen haben sollte, die auf 80 Taler gewertet wurden. Da er leugnete, ging man nach den Regeln des Inquisitionsprozesses mit »Verbal- und Realterrition« gegen ihn vor. Man bedrohte ihn erst mit der Folter, zeigte ihm dann die Instrumente und erklärte sie und folterte ihn endlich wirklich. Die Justizkanzlei in Celle erließ am 4. März eine ausführliche Instruktion über das hierbei zu beobachtende Verfahren. So sollte der Nachrichter bei Vorzeigung der Folterwerkzeuge den Inquirierten zu einem »ungezwungenen« (sic!) Bekenntnisse ermahnen, ihn aber, wenn er kein Geständnis ablegte, auf die Folterbank setzen, ihm Daumenschrauben anlegen und mit deren Zuschraubung einen »gelinden« Anfang machen.
In der Nacht vom 12. zum 13. März führte man Wiegmann in den Keller unter dem Amtshause, wo der Scharfrichter mit zehn Henkersknechten schon versammelt war. Zehn Minuten vor ein Uhr wurde der Inquirent seiner Ketten entledigt, noch einmal befragt, beteuerte aber seine Unschuld.
Der Scharfrichter erklärte ihm nun die furchtbaren Werkzeuge, die in der absichtlich matten Beleuchtung immer noch entsetzlich genug aussahen, und man drängte ihn wieder um ein Geständnis. Da er standhaft blieb – er war aller Wahrscheinlichkeit nach unschuldig –, trat nun der Scharfrichter mit seinen Gesellen in ernstere Funktion.
Lärmend fielen die rohen Burschen über Wieg[S. 261]mann her, rissen ihm die Kleider vom Leibe und setzten ihn auf den mit Stacheln gespickten Marterstuhl. Die Augen hatte man ihm verbunden, die Hände an die Stuhllehne gefesselt und den Stuhl selbst zurückgelehnt, damit er die Stacheln mehr fühle. Trotzdem beteuerte er seine Unschuld.
Nun nahm man den Unglücklichen auf eine Minute herunter und ermahnte ihn abermals zur Wahrheit. Da er nicht gestand, legte man ihn sofort wieder zurück und setzte ihm obendrein die schrecklichen Daumenschrauben an. Er hielt geduldig die Hände hin und zuckte nur einige Male zusammen, als man ihm noch unvermutet Peitschenhiebe versetzte. Er jammerte: »Wie kann ich etwas bekennen was ich nicht getan.«
Nun wurden ihm, während man seine Wunden mit Salben bestrich, wieder neue Folterinstrumente gezeigt und angedroht, aber seine Kraft war erschöpft. Er sagte: »Ich friere und kann nichts mehr sehen.« Man führte ihn nun ins Gefängnis zurück.
Seine Angst vor neuer Folterung, die gesetzlich nicht zulässig gewesen wäre, beutete man in diabolischer Weise aus. Man erweckte durch raffinierte Vorkehrungen aller Art in ihm den Glauben, daß er abends wieder gefoltert werden würde und erzählte ihm allerlei von den furchtbaren Vorbereitungen, die getroffen würden.
Nun gestand er in seiner Zelle aus Todesangst. Der Richter hatte sich eilig zu ihm begeben, und um einem Wiederruf vorzubeugen, ließ man in der Amtsstube Licht machen, trieb Leute, die Geräusch machen mußten, auf dem Amtshofe zusammen und ließ[S. 262] Männer mit brennenden Kerzen zwischen Amtsstube und Folterkeller hin- und herlaufen. So erweckte man in ihm den Glauben, daß noch mehr Henkersknechte angekommen seien, ihre Zurüstungen träfen, und daß Neugierige etwas davon zu erhaschen suchten.
Die Justizkanzlei tadelte allerdings scharf die unnötige Strenge der »Realterrition«, dann die einen Tag dauernde Verbalterrition. »Für künftige Fälle« hatte die Kanzlei dem Amt ein solches Vorgehen, wie dieses, verboten. Gottlob sollten sie sich aber nicht mehr ereignen. Am 17. April 1822 (nach Krieg erst 1840) wurde die Folter in Hannover abgeschafft.
Wiegmann hatte vier Jahr Zuchthaus auf sein »freies Geständnis« hin erhalten, und im Zuchthaus starb er auch.[230]
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Bis zum Jahre 1648 erhielt sich zu Oudewater in Holland der Brauch, daß sich Leute, die der Hexerei beschuldigt wurden, auf der großen Stadtwage wiegen ließen. Bis aufs Hemd entkleidet geschah dies in Gegenwart des Stadtschreibers und der Gerichtsschöppen. Bei Weibern war auch die Wehmutter gegenwärtig. Dafür zahlte man 6 Gulden und 10 Sols, erhielt aber ein gerichtliches Zertifikat, worin bestätigt wurde, »daß ihr Gewicht ihrem Wuchse gemäß und nichts Teuflisches an ihrem Körper befindlich sey«. Durch dieses Attest entging man der Inquisition. Deshalb zog man es natürlich vor, das Geld zu erlegen, statt den Scheiterhaufen zu riskieren.[231]
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Aus dem Jahre 1752 hat sich ein Kabinettsbefehl des Markgrafen Karl Friedrich von Baden-Durlach erhalten, der an die Einwohner des am Fuße der Hardt nördlich von Landau gelegenen Fleckens Rodt gerichtet ist und Verfälschung des Weines mit Spießglas, Silberglött und anderen Mineralien mit dem Tode durch den Strang bedroht, in milderen Fällen, d. h. bei Anwendung von Zucker, Rosinen etc. mit dreijähriger Zuchthausstrafe.[232]
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Der letzte Fall von krimineller Behandlung der Häresie liegt auch noch keineswegs so weit zurück, als man annehmen sollte. Er ereignete sich nämlich im Jahre 1751 und betraf einen Advokaten und Notar in Tirol. Lief die Sache auch nicht allzu grausam ab, so wurde der Angeklagte doch recht wenig glimpflich behandelt.[233]
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Das erinnert einigermaßen an die – allerdings in Abrede gestellte – Äußerung eines bayerischen Ministerialbeamten dem Professor Sickenberger gegenüber, daß Personen, die mit ihrer Kirche zerfallen wären, suspekt seien und daher wenig Aussicht haben, eine Staatsanstellung zu erhalten!!! Wurde die Äußerung auch bestritten, die Tatsache, daß bis heute keine Anstellung erfolgte, bleibt bestehen.
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In einem Pommerschen Städtchen ist die Benutzung von Leitern ohne Spitzen untersagt. Eines Nachts[S. 264] im Jahre 1909 besuchte ein Dieb ein Gehöft und benutzte eine auf dem Hofe stehende Leiter, um in das Haus einzusteigen. Er wird gestört, die Leiter fällt um und er bricht den Oberschenkel. Nun haben wir aber die sogenannte Haftpflicht, und das war für den Dieb ein großes Glück. Der Besitzer des Gehöftes muß dem Herrn Einbrecher die durch den Schenkelbruch entstandenen Kurkosten und eine Entschädigungssumme zahlen, weil die spitzenlose Leiter gegen das Gesetz verstieß!![234]
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Zu dieser erbaulichen Geschichte bietet die folgende ein allerliebstes Gegenstück. In einem Dorfe in der Provinz Schleswig-Holstein bricht Feuer aus. Fünf Menschenleben sind in Gefahr. Ein Arbeiter wagt sein eigenes und rettet die fünf, wird dabei aber so schwer verletzt, daß er längere Zeit keine Arbeit verrichten kann. Sein Antrag bei der Gemeinde um Unterstützung wird rundweg abgelehnt, weil er – die Rettung »ohne Order« vorgenommen hatte. Difficile est satyram non scribere.[235]
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Der Ruhm des schleswig-holsteinschen Abdera ließ die edlen Bewohner Altonas anscheinend nicht schlafen. Sie bemühten sich also auch ihrerseits, eine denkwürdige Tat zu begehen, und das gelang ihnen über Erwarten glänzend. Der früher in Altona angestellte Schutzmann Riese hatte vor einiger Zeit ein Kind aus dem Treibeis der Elbe vor dem Tode des[S. 265] Ertrinkens gerettet. Durch das kalte Bad, das der Beamte dabei unfreiwillig nahm, stellte sich bei ihm ein rheumatisches Leiden ein, das Dienstunfähigkeit im Gefolge hatte. Darauf kündigte die Stadt Altona dem wackeren Beamten den Dienst und entließ ihn ohne Pension, weil er – der heilige Bureaukratius fordert es so – noch nicht zehn Jahre sein Amt verwaltet hatte. Riese verklagte nun die Stadt auf Zahlung einer Pension, die Stadt aber, jedenfalls aus Furcht, ihre Munifizens könnte nicht weit genug bekannt werden, führte den Prozeß sowohl vor dem Landesgericht, als auch vor dem Oberlandesgericht. Sie verlor aber schändlicherweise und wurde zur Zahlung der Pension verurteilt.[236]
Es gibt eben keine Gerechtigkeit mehr auf der Welt.
In den Göttinger Statuten des Jahres 1342 mußte besonders verboten werden, nicht im Ratskeller, wo man beisammen aß und trank, seine gröbste Notdurft zu verrichten.
Übrigens erzählt Schweinichen, daß sich 1571 unter den schlesischen Adeligen ein Verein der Unflätigen gebildet hatte, mit dem Statut, sich nicht zu waschen, nicht zu beten und unflätig zu sein, wohin sie kämen.[237]
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Was man dem Adel alles zutraute, geht u. a. aus der preußischen Hofordnung aus der Zeit Herzog Albrechts hervor. Es handelt sich um Vorschriften für den Besuch der Junker im Gemach der Hofdamen: »desgleichen sollen die vom Adell auch zuchtig neben ihnen (den Hofdamen) nidersitzen und alldo alle unzuchtige geberden und wort vermeiden, wie dann solchs die Adeliche zucht und gebrauch ehrlicher furstlicher frauenzimmer erfordert.[S. 267] Und das dem also, und nicht anderst, gemes gelept, soll der Hoffmeister und Hoffmeisterin darauff fleißig sehen und daruber halten und in Summa keynem Edelman den eingang gestatten, dan der sich zuchtig, ehrlich, erbarlich und, wie sich geburt, beweysen thue.«[238]
Zu denken gibt auch folgender Passus in der Hofordnung des Markgrafen Philipp II. von Baden-Baden (1571–1588): »Khein Unzucht, so die Natur in Niechterkeit nothalber erfordert, solle anderer Enden dann an denen orthen, da es sich gebürt und die darzu verordnet, verricht und dargegen die schandtliche und ergerliche unhöflichkeiten und schanden, so anderwerts biß anhero bößlich und schädlich in vil weg fürgangen, gewißlich vermiden bleiben, bey gefengkhnus und unserer ungnad unnachläßlicher gefahr.«
Die württembergische Hofordnung Herzog Johann Friedrichs enthält sogar noch 1614 einen ganz ähnlichen Passus.[239]
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In der Hofordnung Karls II. von Baden-Durlach heißt es: »Und nachdem von dem hofgesindt bißher mermaln clag furkhomen, das sie nachts uff der gassen allerhandt unzucht treiben und etwa den Burgern mit einschlagung und einwerffung der fenster und in ander weg schaden beschicht, so wollen Ire f. Gn. – edel und unedel hiemit, sich eins solchen gentzlich zu enthalten, gebotten haben und, da solches nit helffen (wurde), mit der straaff niemandts schonen.«
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Eine Bestimmung, die sich häufig findet und tief blicken läßt, ist die Karls II. von Baden-Durlach: »Disgleichen soll niemandts kein büchsen in der Statt abschießen, sonder solchs vor der Statt an unschadlichen ortten tun.« Es war damals augenscheinlich gang und gebe, daß die Hofleute in der Stadt herumschossen.[240]
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Jede Hofordnung fast ohne Ausnahme enthält Bestimmungen über den Burgfrieden, der unter dieser rauhbeinigen Gesellschaft gar nicht energisch genug aufrecht erhalten werden konnte. So bestimmen die württembergischen Hofordnungen noch das ganze 17. Jahrhundert hindurch, daß, wer vom Gesinde sich an seinem Vorgesetzten vergreift, die rechte Hand verlieren soll. Ebenda wird als Burgfriedensverletzung auch bezeichnet, wenn jemand sich weigert, mit einem andern am selben Tisch zu sitzen.[241]
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Zur Illustrierung des höfischen Tones dient auch folgender Passus in der Hof- und Feldordnung der Herzöge Adolf Friedrich und Johann Albrecht II. von Mecklenburg vom Jahre 1609: »Es sol auch bei und uber den Malzeiten ohne uberlauts schreyen, auch zerprech- und werfung der Trinckgeschier sich ein jeder zuchtig und eingezogen verhalten...«[242]
Dazu passen aus der Hofordnung des Markgrafen Johann von Küstrin die Bestimmungen: »§ 2. Eß soll auch der Hoffmeister bei seinen Unß gethanen[S. 269] pflichten kein unordnunge in unsern furstlichen frauenzimmer gestadten und darauf mit gut achtung geben, das keine Unfleterei weder im Frauenzimmer noch davor getrieben werde, und do es von jungen oder alten geschehe...
§ 3. Do auch der Hoffmeister einig Winkellsitzen, es were von Magden oder Andern vormerckte, oder daß sonsten unrichtigkeitt befunden, soll ehr uns und unsere(m) Gemahll solches jederzeitt zu vermelden schuldigk sein, auch kein unordentlich gereiß oder dergleichen scherz, so mit Jungfern oder Megden vorgenommen wurden, nicht gestatten, sondern straffen.
§ 4. Es soll auch keine Saufferey in dem frauenzimmer verstattet noch nachgeben werden.
Es folgen dann noch ähnliche Bestimmungen, so daß die Edelleute nur bis 8 Uhr abends sich mit den Jungfrauen, unter denen selbstverständlich Hofdamen gemeint sind, unterhalten dürfen etc. Man denke sich eine moderne Hofordnung! Und dazu muß ausdrücklich bemerkt werden, daß sehr viele es für nötig hielten, in dieser Weise für den Anstand zu sorgen. So z. B. Herzog Bogislaw XIV. von Pommern-Stettin, der den Hofmeister dafür sorgen läßt, daß ›auch darin (im Gemach der Hofdamen) keine unzulessige vollsaufferey oder sonsten wüstes, wildes wesen getrieben, besonders (sondern) ein jeder zu rechter Zeit wiederumb wegk an seinen ort gehen und das Frauenzimmer zu rechter Zeit geschlossen werden möge.‹«[243]
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Der Ton bei Hofe wird deutlich aus der Hofordnung Herzog Johann Albrechts von Mecklenburg vom Jahre 1574. »Und weill S. f. G. in erfahrung kommen, das die Diener, wan S. f. G. auf der Jagd oder sonsten auff den höfen seindt, den Leutten die huener todtschlagen, daß Obst auß den Gertten nehmen und sich sonsten dergleichen Dingen erzeigen, alß wan eß in offenem feldtzug wehre, auch dißfalls S. f. G. eigen Höfe und Gartten nicht verschonen. Also wollen S. f. G. solches hiemitt ernstlich verbotten ...«
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Montaigne, der im Jahre 1580 seine Reise antrat, ist von der Sauberkeit, die er überall in Deutschland findet, entzückt. Besonders lobt er die Reinlichkeit in den Augsburger Häusern, wo er sogar nirgends Spinnweben antrifft. Köstlich ist, wie er die Einrichtung der Schlafzimmer beschreibt: »ils metent souvent contre la paroy a coté des licts, du linge et des rideaus, pour qu’on ne salisse leur muraille ein crachant«.[244]
Nun muß man ja berücksichtigen, daß Montaigne gemäß seiner sozialen Stellung und Vermögen nur mit wohlhabenden Kreisen in Berührung kam und wohl auch von Frankreich her durch Reinlichkeit nicht allzu verwöhnt war. Denn beim niedern Volk sah es anders aus. Ein Jahrhundert früher schreibt Platter über die Läuseplage im Spital: »Ich hette schier offt man gwelt hette, dry leuß mit einandren uß dem busen zogen.« Das heißt: so oft er gewollte hätte,[S. 271] würde er drei Läuse mit einem Griff aus dem Busen gezogen haben![245]
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Der Furcht vor Insekten, die ja nicht unbegründet gewesen zu sein scheint, dienten auch die Baldachine oder Betthimmel. Man war besonders besorgt, den Kopf der Schlafenden vor Ungeziefer zu schützen, das von der Decke herabfallen konnte. Deshalb waren – was nicht für unsere Sauberkeit sprechen will – im 15. und 16. Jahrhundert die Betten zum Teil der ganzen Länge nach, zum Teil auch nur am Kopfende mit einem Holzhimmel überdeckt. In den Niederlanden genügte Stoff, wohl leichte Seide, diesem Zweck. Aber man machte die bittere Erfahrung, daß das gerade geschah, was man vermeiden wollte: die ungebetenen Gäste ließen sich in den Baldachinen häuslich nieder. Deshalb verschwand im Laufe des 17. Jahrhunderts das Himmelbett langsam, wenigstens das schwere mit Holzdach.[246]
Wie es im 16. Jahrhunderte etc. von Flöhen und Läusen wimmelte, geht aus der Rolle hervor, die diese Tierchen im öffentlichen Interesse einnahmen. So prophezeit Fischart in seiner Praktik (S. 27), daß diese Wandleuß in Frankreich gedeihen werden – ähnlich auch Rabelais wiederholt in Gargantua und Pantagruel – und in der Flohatz 2082, daß »kein Wandlauß nach kein Floh nicht bleibt.«
Ho. Coler (Oeconomia Bd. XVIII, c. 19) setzt im Ernste auseinander: »Es sind aber von diesen edlen Creaturen dreyerley: Kopfleuse, Kleiderleuse und Filtzleuse. Die erste befehle ich den Kindern und[S. 272] Weibern, die andere den Landsknechten, Botten und Bettlern, die dritten den Bulern und Hurenhengsten.«
Montaigne war also nicht nur naiv, sondern auch recht anspruchslos!
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Im 14. Jahrhundert und früher hatten die Betten eine riesige Größe. Solche von vier Meter Breite waren die Regel. Allerdings schlief nicht nur das Ehepaar im gleichen Bett, wie ja mancherorts heute noch üblich, sondern die Adeligen luden auch regelmäßig ihre Waffengefährten ein, in ihrem Bett zu schlafen, zum Zeichen der Waffenbrüderschaft. Und zwar lud man den Freund auch ins Ehebett ein, so daß häufig die Gattin neben dem Gast lag. Aber auch Hunde genossen die Gastfreundschaft.[247]
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Noch im 17. Jahrhundert besaßen die Damen keinen Salon, vielmehr empfingen sie Besuche im Schlafzimmer, und zwar auf dem Bett liegend. Das Bett spielte überhaupt eine große Rolle im Leben der Damen. Als am 2. Oktober 1686 die Gesandtschaft von Siam dem Sonnenkönig ihre Aufwartung machte, empfing die Gemahlin des Dauphin sie im Bett, desgleichen lagen alle Prinzessinnen von Geblüt auf dem Bett, als sie den exotischen Gästen Audienz erteilten.
Der Dichter Gombault hatte freien Zutritt bei der Königin Maria von Medici. Eines Tages traf er[S. 273] sie auf ihrem Bett liegend, die Kleider in Unordnung. In Verse goß er seine Erlebnisse:
Die Sitte gab um so mehr zu pikanten Situationen und entsprechenden Erlebnissen Gelegenheit, als die Intimen des Hauses und Ehrengäste sich auf das Bett setzen oder gar legen durften.
Ein Handbuch des guten Tones vom Jahre 1675 muß deshalb ausdrücklich feststellen, daß es unschicklich ist, sich auf das Bett einer Dame zu setzen, und daß es sehr ungehörig sei, sich zur Konversation auf ein Bett zu werfen.
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Noch merkwürdiger war die Sitte, daß die Neuvermählte sich vom Tage nach der Hochzeit an drei Tage lang auf ihrem Bett liegend allen Bekannten zeigen mußte. Und zwar hatten auch ganz Fernstehende zu diesem Schauspiel Zutritt. Man unterzog dabei die junge Frau einem Kreuzverhör, um ihre Haltung zu prüfen. Selbst die höchsten Damen konnten sich dem Brauch nicht entziehen. Der Herzog von Lauzun renommierte bei dieser Gelegenheit mit seinen Heldentaten...!
Im Jahre 1698 heiratete der Graf d’Ayen ein Fräulein d’Aubigné, Nichte der Mme. de Maintenon. Nach dem Souper legte man das Paar zu Bett. »Der König reichte, wie Saint-Simon (II, p. 59) erzählt, das[S. 274] Hemd dem Grafen, die Herzogin von Bourgogne der Braut das ihre. Der König sah beide im Bett mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft; er selbst zog ihnen den Bettvorhang zu...« Am andern Morgen empfingen Mme. de Maintenon und in einem anstoßenden Zimmer die Gräfin d’Ayen auf ihren Betten liegend den ganzen Hof.
Aber noch in der Mitte des folgenden Jahrhunderts gehörte das Bett zum höfischen Zeremoniell. Im Februar 1747 heiratete der Dauphin, Sohn Ludwigs XV., in zweiter Ehe Maria Josepha von Sachsen, nachmals Mutter dreier Könige. Der Herzog von Croy erzählt darüber in seinen Memoiren (Ed. Grouchy, p. 49):
»Wir waren bei der Toilette der Dauphine anwesend, die sich öffentlich abspielte, bis zu dem Augenblick, wo die Königin ihr das Hemd gab. In diesem Augenblick ließ der König alle Männer zur Toilette des Dauphin gehen, dem Seine Majestät das Hemd reichte. Als beide Zeremonien beendet waren, kehrte jedermann wieder ins Schlafzimmer der Frau Kronprinzessin zurück. Sie war in der Nachthaube und in ziemlicher Verlegenheit, aber weniger wie der Dauphin. Als sie im Bett lagen, zog man die Vorhänge zurück und jedermann betrachtete die beiden einige Zeit lang.«
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Im 17. Jahrhundert stand das Bett ziemlich in der Mitte des Zimmers und hatte infolgedessen rechts und links je einen freien Raum, eine Gasse, von ungefähr gleicher Breite. Aber während die eine, etwas[S. 275] schmälere, für intim galt, war die etwas breitere die offizielle. Einst spielte König Heinrich IV., durch Gicht ans Bett gefesselt, mit Bassompierre, der uns die Geschichte erzählt (Mémoires ed. Chantérac T. I, p. 218), Würfel, und zwar saß er in der kleinen Gasse, während die große für eventuelle Besuche frei blieb. Da kam Mme. d’Angoulême. Der König drehte sich sofort herum und empfing die Herzogin »auf der andern Seite des Bettes«.
Selbst die königlichen Prinzessinnen mußten, wenn sie am Bett Ludwigs XIV. vorbeigingen, es durch eine tiefe Verbeugung grüßen. Auch bei der Königin grüßten die Damen das Bett.[248]
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Im ausgehenden 15. Jahrhundert war der Gebrauch des Taschentuches nicht allgemein verbreitet. Man konnte sich mit der Hand schneuzen – das erlaubten sogar die Sittenlehrer – nur mußte es die linke Hand sein, da man mit der rechten bei Tisch das Fleisch aß! Bediente man sich aber der Linken, dann konnte man ruhig seine Finger zur Reinigung benutzen.
Daher mußte es als geradezu verwegene Neuerung gelten, wenn Jean Sulpice in seinem Libellus de moribus in mensa servandis vom Jahre 1545 das Taschentuch empfiehlt und schreibt: »Wenn du dich schneuzen mußt, dann darfst du eine solche Ausscheidung nicht mit den Fingern nehmen, vielmehr in einem Taschentuch bergen.«
Erhebend ist auch die Vorschrift, die Erasmus von Rotterdam in seiner unter dem Titel: Civilité[S. 276] moral des enfants im Jahre 1613 im Französischen erschienenen, aus dem Lateinischen übersetzten Schrift gibt. Daß der Nasenschleim entfernt werden müsse, steht bei ihm fest: »Aber sich in seine Mütze oder an seinem Ärmel zu schneuzen ist bäuerisch; sich am Arm oder am Ellenbogen zu schneuzen, mag den Zuckerbäckern anstehen; sich mit der Hand zu schneuzen, wenn du sie zufällig im gleichen Augenblick an deinen Anzug hinbringst, ist nicht viel gesitteter. Aber die Ausscheidungen der Nase mit einem Taschentuch aufzunehmen, indem man sich etwas von Standespersonen abwendet, ist eine hochanständige Sache. Und wenn durch Zufall etwas davon zu Boden fallen sollte, wenn man sich nämlich mit zwei Fingern schneuzt, dann muß man sofort darauf treten.«[249]
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Montaigne erzählt im 22. Kapitel des 1. Buches seiner Essais von einem Edelmann, der sich noch mit seiner Hand schneuzte. Und zwar tat er das, weil er dem Nasenschleim nicht das Privileg einräumen wollte, in feiner Wäsche aufgenommen und sorgfältig eingesteckt zu werden. Er hielt es für viel verständiger, sich dieser Unreinlichkeit zu entledigen, wo es gerade sei. Und Montaigne pflichtete ihm bei!
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Noch im 17. Jahrhundert war der Gebrauch des Taschentuches so wenig absolutes Erfordernis des wohlerzogenen Mannes, daß selbst ein großer Herr[S. 277] sich der Finger bedienen durfte. Eines Tages sah Hauterive de l’Aubespine, ein Edelmann von hohem Range, die Blüte Frankreichs bei sich, darunter den berühmten Turenne. Als während des Mahles Hauterive sich schneuzen mußte, drückte er mit dem Finger ein Nasenloch zu und schleuderte den Inhalt des andern wie einen Pfeil gegen den Kamin. Dabei machte er ein Geräusch wie ein Pistolenschuß. Ruvigny rief bei dieser Detonation zum großen Gaudium der andern aus: »Mein Herr, Sie sind doch hoffentlich nicht verwundet?«
De la Mésangère schrieb im Jahre 1797 über dieses nicht sehr appetitliche Thema: »Vor einigen Jahren machte man eine Kunst daraus, sich zu schneuzen. Der eine ahmte den Trompetenton nach, der andere das Schnurren der Katze. Der Gipfel der Vollendung bestand darin, weder zu viel noch zu wenig Geräusch zu verursachen.«[250]
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Einen Einblick in das höfische Zeremoniell gewährt uns die Kammerordnung Herzog Wilhelms V. (dankt 1595 ab, † 1626) von Bayern vom Jahre 1589. Dieser fromme, ja asketische Monarch bestimmt: »Alß wir unß dann anzuclaiden wellen anfangen und die Camerpersohnen darzue verordent werden, sollen die Camerer die Rekh und Mentl in der Vorcamer von sich legen und also eingenestlet in den Goldern (Kollern) oder Rekhlen mit anhangenden Iren Rapieren und seittenwähren zu uns hineingehen und nach vorgehender reverentz on alle Dif(f)erenz und forgang, wie bißhero geschehen, sondern vertraulich[S. 278] under einander zu dienen anfachen. Wir verordnen es dann in dieser Instruction oder ordnung in nachvolgendem anderst, hat es seinen Weg; Nemblich es soll unser Oberst Camerer oder in seinem abwesen der von uns verordnet verwalter und, so der kheiner vorhanden, allzeit dem Dienst nach der öltist oder auch ain anderer Camerer das Schlafhemet von uns empfahen und alßbaldt unser Leibbarbierer oder in seinem abwesen ainer aus den Camerdienern unsern Leib mit Tüechern reiben und abstreichen, dieweil uns der Oberst Camerer den Camb raichen, damit wir uns selbs daß Haar und Parth khemen, alß dann unser Obrist Camerer das hemet von dem Camerdiener nemmen und unß solchcs sowol als hernach den Prustfleckh und gestrickht hemetgeben. Volgents solle uns ainer aus den Camerern die Leinen sockhen und dariber die Hosen, schuech und Pantofel, deren Ime die Camerdiener indifferenter ains nach dem andern raichen sollen, anlegen. Auf dasselb soll uns das Tuech, so wir zu dem hendwaschen fir unß zu braitten pflegen, gegeben werden und daruf aus unsern Camerern ainer daß Peckhen und khandlen und der ander daß Mundtwasser nemmen und mit vorgehender Credentz daß Wasser, der Obrist oder anderer Camerer aber das Tuech zum Trinckhen raichen, welche alßdan nach verrichtem handwaschen daß handt- und Mundtwasser auszeschitten und das Peckhe(n) wiederumben zu seubern wie auch bemelte Tüecher dem Camerdiener zuestellen sollen. Also solle uns hernach unser oberster Camerer daß Wames raichen, uns anlegen und aus den Camerern ainer den Nachtrockh von uns nemmen, aus unsern Camerdienern ainem[S. 279] zuestellen und je zween von den Camerern uns einnesteln und alsoforth ganz und gar ankhlaiden und, so offt es auch von nothen, die seitenwehr, Pareth oder Gurt und gulden flüß (Goldenes Vließ) geben.
Der Leibbarbierer sollr, da wir es begern, dem obristen Camerer, mit ainem Haubttuech verdeckht, daß Zanpulfer und Handsaiffen langen, derselb uns solches auf vorgehende Credenzung zu gebrauchen raichen und Ime, Barbierer, hernach wider zuestellen.
Wenn wir dann auß unser Camer in die Vorcamer gleich alßbalden gehen, so sollen uns unsere Camerer alle vor(–), die Oberst Camerer aber strackhs volgen und nachgehen, uns zue und von der khurchen biß zu der Tafel belaitten. Da wir auch die Wöhr im Zimer nit wurden anhengen, solle sy der Obrist Camerer uns und sonst niemandts nachtragen.«[251]
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In dieser umständlichen Art sind auch die andern Dienste, der bei der Tafel, beim Auskleiden etc. festgesetzt. Interessant ist aber diese Stelle nicht nur wegen ihrer zeremoniösen Umständlichkeit, die den spanischen Einfluß deutlich verrät und sich wesentlich vom Brauch der andern damaligen deutschen Höfe unterscheidet, auch nicht allein, weil sie uns Gelegenheit bietet, die Toilette des Fürsten genau zu verfolgen, sondern besonders deshalb, weil sie lehrt, daß man sich damals nicht wusch! Nur Hände und Zähne kommen mit dem Wasser in Berührung. Das andere wird schlecht und recht durch Abreiben mit Tüchern ersetzt.
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Madame Campan erzählt in ihren berühmten Memoiren folgende Geschichte, die die unglückliche Marie Antoinette zum Gegenstand hat:
Das Ankleiden der Prinzessin war ein Meisterwerk der Etikette. Hier war alles vorgeschrieben... Wenn eine Prinzessin der königlichen Familie beim Ankleiden der Königin zugegen war, mußte die Ehrendame ihr ihre Funktionen abtreten. Aber sie zedierte sie nicht direkt den Prinzessinnen von Geblüt; in diesem Falle gab die Ehrendame das Hemd der ersten Kammerfrau zurück, die es der Prinzessin von Geblüt überreichte. Jede dieser Damen beobachtete skrupulös diese Gebräuche als Bestandteile ihrer Rechte bildend.
An einem Wintertage ereignete es sich, daß die Königin, bereits ganz entkleidet, im Begriffe war, ihr Hemd anzuziehen. Ich hielt es ganz entfaltet. Die Ehrendame tritt ein, beeilt sich, ihre Handschuhe auszuziehen und nimmt das Hemd. Es klopft leise an die Tür, man öffnet: es ist die Frau Herzogin von Orléans; ihre Handschuhe sind ausgezogen, sie tritt vor, um das Hemd zu nehmen, aber die Ehrendame darf es ihr nicht reichen; sie gibt es mir zurück, ich gebe es der Prinzessin. Es klopft neuerdings: es ist Madame, Gräfin von der Provence; die Herzogin von Orléans überreicht ihr das Hemd. Die Königin hielt ihre Arme über der Brust gekreuzt und schien zu frieren. Madame sieht ihre peinliche Haltung, wirft nur ihr Taschentuch fort, behält die Handschuhe an und bringt, indem sie ihr das Hemd überstreift, die Haare der Königin in Unordnung. Diese lächelt, um ihre Ungeduld zu bemänteln, aber erst, nachdem[S. 281] sie mehrmals zwischen den Zähnen gemurmelt hatte: »Das ist scheußlich. Welche Belästigung.«[252]
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In der Vergangenheit trauerte das ganze Land um den Tod des Landesfürsten, und zwar in Frankreich ein volles Jahr lang. Die ganze Nation ging schwarz. Kein Bürger, mag er in noch so beschränkten Verhältnissen gelebt haben, der nicht Trauerkleidung getragen, auf Schmuck verzichtet und seine Familie und Dienstboten zum mindesten in dunkle Gewandung gesteckt hätte. Allerdings erhielten die Angestellten des Hofes – ein Begriff, der außerordentlich weit gefaßt wurde – von diesem die Trauerkleidung geliefert. Es genügte aber nicht, für die eigenen Fürsten Trauer anzulegen, man trug in Paris Trauer um jeden europäischen Fürsten.
Da die lange Hoftrauer so drückend, besonders von der Luxusindustrie, empfunden wurde, reduzierte eine königliche Ordonnanze vom 23. Juni 1716 ihre Dauer auf ein halbes Jahr. Natürlich gab es über die Art ihrer Ausführung die genauesten Vorschriften.
Übrigens war auch die Privattrauer – die ersten Zeugnisse, daß die Trauer überhaupt äußerlich kenntlich gemacht wurde, gehen in Frankreich nicht weiter, als zum Beginn des 14. Jahrhunderts zurück – außerordentlich riguros. Aliénor de Poitiers, eine große Dame, die zwischen 1484 und 1491 »Les honneurs de la Cour« schrieb, ein Buch, in dem die genauesten Details über Fragen der Etikette sich finden, erzählt, daß ihre Standesgenossinnen beim Tode der Eltern neun Tage lang auf ihrem Bett sitzen[S. 282] mußten, zugedeckt mit blauem Tuche. Das Zimmer aber mußten sie sechs Wochen hüten. Bei dieser großen Trauer um Gatten oder Eltern durfte man auch weder Ringe noch Handschuhe tragen.
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Nach dem Tode des Herzogs von Bourbon im Jahre 1456 blieb seine Tochter, Frau von Charolais, nicht weniger als sechs Wochen in ihrem Zimmer, und zwar auf einem mit weißem Tuche überzogenen Bett liegend. Das Zimmer aber war ganz mit schwarzem Tuch ausgeschlagen, und schwarze Tücher vertraten auch die Stelle von Teppichen. Davor aber war ein großes Gemach ebenso hergerichtet. Übrigens lag sie, wenn sie allein war, weder immer, noch blieb sie stets im gleichen Zimmer. 40 Tage Stubenarrest nach dem Tode des Gatten war so gebräuchlich, daß ein Jahrhundert später Katharina von Medici fast getadelt wird, als sie sich nicht fügte.
Die Witwe mußte ihre Trauerkleidung immer tragen, es sei denn, sie verheiratete sich wieder, was selten genug vorkam, schon weil die Kirche es nicht gern sah. Übrigens war diese Witwentracht schwarz oder grau, zu Beginn des 16. Jahrhunderts und im 17. weiß, ebenso weiß bei Königinnen noch im 18. Jahrhundert. Im 16. Jahrhundert mußten die Witwen ihre Haare zwei Jahre lang verbergen und nur mit einem bis zu den Füßen reichenden Schleier ausgehen.
Heinrich III. von Frankreich trug nach dem Tode der Marie von Kleve an seiner ausnahmsweise schwarzen[S. 283] Kleidung silberne Tränen, Totenköpfe und ähnliche Embleme. Nach dem frühen Tode Karls VIII. 1498 trug Anna von Bretagne um ihn, abweichend vom königlichen Brauch, schwarze Trauer. Neun Monate nach seinem Tode hatte sie sich aber durch die Ehe mit Ludwig XII. getröstet. Als sie starb, trauerte ihr zweiter Gatte auch schwarz um sie und ließ keinen Gesandten vor, der nicht schwarz gekleidet war. Auch er heiratete neun Monate später wieder. Regel war, daß die Könige in Violett trauerten, sogar noch im 18. Jahrhundert, noch Napoleon hielt den Brauch aufrecht. Brantôme sagte ausdrücklich, daß Maria Stuart weiß trauerte, also sich dem Brauch fügte. Noch heute heißt ein Zimmer im Hotel Cluny »Zimmer der weißen Königin«, weil Marie von England, die junge Witwe Ludwigs XII., sich dorthin zurückgezogen hatte.[253]
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Über die Volkssitten, die im Jahre der Entdeckung Amerikas im bischöflichen Brixen herrschten, unterrichtet uns ein gleichzeitiger venetianischer Reisebericht. »Hier verbrachten wir den Rest des Feiertages (Fronleichnam) und nahmen wahr, daß die Einwohner sich in ihren Häusern sehr vergnügten, indem sie, das Haupt mit Eichen- oder Efeuguirlanden geschmückt, mit den Frauen zum Klange der Querpfeife tanzten. Danach führte jeder seine Dame zu einem Sitz, wobei er sie mit sehr großer Ausgelassenheit umarmte und herzte. Auch einige junge Venezianer Edelleute aus der Begleitung der Gesandten versuchten mit den hübschesten Damen[S. 284] zum Zeichen ihres Wohlgefallens auf dem Balle zu tanzen. In Brixen herrscht überhaupt ein ausgelassener Ton, denn auf den Straßen ist es – und zwar nicht bloß den Einheimischen, sondern auch den Fremden – erlaubt, junge Damen anzufassen und zu berühren und ihnen Liebenswürdigkeiten zu sagen.«[254]
Also ein Seitenstück zu dem aus dem 1. Bande bekannten Bericht des Bracciolini aus den Bädern in der Schweiz! Nur daß es hier wenigstens äußerlich trockener war.
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Von den Sitten in Venedig, das Keyßler 1730 besuchte, erzählt er:
»Eine Maitresse zu halten, wird einigermaßen für ein unabsonderliches Recht eines Edelmannes gehalten: und wenn einer durch seine Armuth verhindert ist, für sich allein eine Beyschläferin zu unterhalten; so tritt er mit drey oder vier Mannspersonen in eine Gesellschaft, um einander die gemeinschaftlichen Unkosten ertragen zu helfen. Jeder begnüget sich alsdann mit denen vierundzwanzig Stunden, welche der Reihe nach an ihn kommen: und wenn des Morgens der eine seinen Schlafrock, Schlafmütze und Pantoffeln aus dem Hause der Curtisane abholen läßt, so nimmt um eben solche Zeit das in der Ordnung folgende Mitglied der loblichen Gesellschaft, durch Uebersendung von dergleichen Equipage Besitz von seiner Statthalterschaft. Die Wollüste gehen in Venedig so weit, und die daraus[S. 285] entstehende garstigen Krankheiten sind so gemein, daß man kaum der Mühe werth achtet, sich von etlichen Arten curiren zu lassen.«[255]
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Am Cirknizer See hatten im 18. Jahrhundert die Bauern das Recht zu fischen. »es läuft aber alsdann bey der Fischerey alles ohne Scham unter einander, Manns- und Weibspersonen, wie sie auf die Welt kommen. Die Obrigkeit und Clerisey hat etliche mal gesucht, solche Gewohnheit abzubringen, vornehmlich wegen der jungen Mönche in den zur Fischerey berechtigten Klöstern, welche sich allsdann nicht gern in ihren vier Mauern eingeschlossen wollen halten lassen, sondern desto mehr begierig sind, einer Augenweide zu genießen, je seltener und verbothener ihnen solche ist; allein man hat es noch nicht dazu bringen können, daß beydes Geschlecht auch nur in leichter Kleidung dabei erschienen wäre. Wahr ist es, daß dieses gemeine Volk kein Arges daraus machet, und keine Versuchung von einer Sache empfindet, die ihnen ganz gewöhnlich ist; man höret auch nicht, daß bei solcher Gelegenheit mehr Böses vorgehe, als bey andern, wo man noch so wohl mit Kleydungen bedeckt ist; allein die fremden Anwesende bekommen Gelegenheit zu manchem üppigen Gelächter und vielerlei Anmerkungen; den Mönchen gereichet in solcher Materie ein geringer Anblick zur starken Versuchung, und obgleich das hiesige weibliche Geschlecht von gemeinem Stande ihrer Schönheit nach nicht so beschaffen ist, daß es in manchen andern Ländern[S. 286] große Liebesgluten entzünden könnte, so ist doch bisweilen das häßliche nicht unangenehm, wo man von nichts schönerem weis.«[256]
Bezeichnend ist hierbei, daß die biederen Landbewohner so wenig wie die Eingeborenen der Tropen erotischen Wallungen ausgesetzt sind, wohl aber die Erbpächter der Sittlichkeit, der Klerus.
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In den Bädern in Ofen war man damals auch nicht prüde: »In dem mittelsten großen Raume dieser Bäder befindet sich beyderley Geschlecht untereinander, und ist das Mannsvolk nur mit einer Schürze, und die Weibspersonen mit einem Vorhemde einigermaßen bedeckt. In dem Raizenbade hält das gemeine Volk sogar dieses wenige für überflüssige Ceremonien.«
[1] Abb. im Jahrbuch des kais. Archäologischen Instituts Bd. XXIV (1909), 2. Heft, S. 93.
[2] Vgl. Rhousopoulos im Archiv f. d. Gesch. der Naturwissenschaften u. d. Technik I, S. 288–291.
[3] Darmstädter, Handbuch f. d. Gesch. der Naturwissenschaften u. d. Technik, S. 14.
[4] Beil. d. Münchner Allgem. Ztg. 1902, Nr. 213. Die wertvollen Aufsätze von Wagler in Nr. 219 und 220 des gleichen Jahrgangs, sowie in Nr. 162 f. und 171 f. des Jahres 1904 sind in diesem Abschnitt verwertet worden.
[5] Alfred Gudeman, Grundriß der Gesch. d. klassischen Philologie, 2. Aufl., S. 60, Anm. 2.
[6] R. Lehmann-Nitsche, Beiträge zur prähistorischen Chirurgie nach Funden aus deutscher Vorzeit. Diss. Buenos Aires 1898.
[7] Vgl. Friedländer, Sittengeschichte Roms III, 6. Aufl., S. 620, Anm. 6.
[8] Außer Wagler vgl. H. Stadler, Neue Jahrbücher f. d. klassische Altertum XXVI. Bd. (1910), S. 146 ff., sowie Friedländer a. a. O., I. Bd., S. 360 ff. und 510 f.
[9] A. Schulz, Höfisches Leben, I, S. 157.
[10] Nach A. Harnack, Block aus der ältesten Kirchengeschichte, in Gebhardt &. Harnack, Texte zur Gesch. d. altchristlichen Literatur, 8. Bd., 1892.
[11] Meyers Konversationslexikon, 6. Aufl., 16. Bd., S. 629.
[12] Vgl. Beil. z. Münchner Allgem. Ztg. 1903, Nr. 267.
[13] E. Huber, Altbabylonische Darlehenstexte in Hilprechts Anniversary Volume 1909, S. 189 ff.
[14] Harnack a. a. O. S. 104.
[15] Vorstehendes zitiert nach W. G. Tennemann, Geschichte der Philosophie, VIII. Bd., 1. Hälfte (1810), S. 236 f.
[16] Zitiert nach G. Kaufmann, Geschichte d. deutschen Universitäten im Mittelalter, 2. Bd., S. 485, Anm.
[17] L. Löwenfeld, »Über die Dummheit«, S. 198.
[18] S. Merkle, Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters, 1909, S. 13 f. und Anm. 19 S. 81 f. Es sei ausdrücklich bemerkt, daß mir die Gegenschrift von Ad. Rösch, Ein neuer Historiker der Aufklärung, 1910 (S. 114 ff., II. Abschnitt, Anm. 3) bekannt ist. Interessenten für die rabies theologorum und Froschmäusekriege sei dieses Pamphlet wärmstens empfohlen.
[19] Vgl. A. Roquette, Zur Frage der Autorschaft älterer Dissertationen im Zentralblatt für Bibliothekwesen IV (1887), S. 335 ff.
[20] Vgl. Allgemeine deutsche Biographie, 2. Bd., S. 399. Carl Hepp hat in seiner Dichtung »Renate«, Stuttgart 1890, die Geschichte besungen.
[21] Fr. Hellwald, Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung, 1. Aufl., S. 618 f. und Anm. 620.
[22] H. Chamberlain, Grundlagen des 19. Jahrhunderts, II. Bd., 4. Aufl., S. 675, Anmerkung 1.
[23] Beilage zur Münchner Allgem. Ztg. 1907, Nr. 119, S. 360.
[24] Türmer, 11. Jahrg., 1. Bd., S. 191 f.
[25] Historische Vierteljahrsschrift 1909, 1. Heft, S. 160.
[26] Ferdinand Rosenberger, Geschichte der Physik, wo auch stets die Quellen angegeben sind; einige Daten wurden aus den bekanntesten Nachschlagewerken ergänzt. II. Bd., S. 18 f., 61 u. 87.
[27] Eb. I, S. 134.
[28] Eb. I, S. 135.
[29] Eb. I, S. 124.
[30] Eb. II, S. 238 und II, S. 217.
[31] Eb. II., S. 239 und 242.
[32] Eb. II, S. 245 ff.
[33] Eb. II, S. 185 und 235.
[34] Eb. III. Bd., S. 145 ff.
[35] Eb. III. Bd., S. 187 f.
[36] Eb. III. Bd., S. 191.
[37] Eb. III. Bd., S. 206 f.
[38] Eb. III. Bd., S. 228 f.
[39] Eb. III. Bd., S. 243.
[40] Eb. III. Bd., S. 295 u. 298.
[41] Eb. II. Bd., S. 342 f.
[42] Eb. III. Bd., S. 60 ff.
[43] Eb. III. Bd., S. 98 f.
[44] Eb. III. Bd., S. 61 Anm., und S. 124 f.
[45] Eb. II. Bd., S. 287.
[46] Eb. II. Bd., S. 268 f.
[47] Eb. II. Bd., S. 265.
[48] Vgl. Allgem. deutsche Biographie, XXVIII. Bd., S. 114, und Kramartsch, Geschichte der Technologie.
[49] Die vier letzten Daten nach W. Schneider, Der neue Geisterglaube, 1882, S. 261 f.
[50] Otto Rabe, in der Beil. d. Münch. Neuesten Nachr. 1908, I, S. 121 f.
[51] Nach gütiger Mitteilung des Herrn Baurat C. Guillery in Pasing, eines alten Schülers.
[52] August Hirsch, Geschichte der medizinischen Wissenschaften (1893), S. 308 ff. und 561.
[53] Hirsch, S. 561, und Neuburger und Pargel, Handbuch der Geschichte der Medizin, II. Bd. (1903). S. 607 f.
[54] Neuburger und Pargel, II. Bd., S. 109 ff. u. 723 ff., und Hirsch, Gesch. d. Medizin, S. 469 ff. u. 476 f.
[55] Camille Flammarion, Unbekannte Naturkräfte, S. 250–279.
[56] Freies Wort, 1909, IX, S. 639 f.
[57] Beil. der Münch. Allgem. Ztg. 1907, Nr. 77.
[58] Johannes Ranke, Der Mensch, II. Bd., S. 361 f., und K. v. Zittel, Geschichte der Geologie und Paläontologie, S. 195 ff. u. 200 f.
[59] L. Löwenfeld, Über die Dummheit, S. 210 f.
[60] Zittel a. a. O. S. 175.
[61] Carl Braun S. J., Über Kosmogenie, 3. Aufl., S. 378 f.
[62] W. Schneider, Der neue Geisterglaube, 1882, S. 262.
[63] Richard Hertwig, Beil. d. Münchner Neuesten Nachr., 1909, Nr. 39.
[64] Beil. d. Münchner Allgem. Ztg. 1903, Nr. 291.
[65] Wissenschaftliche Abhandlungen, Leipzig 1882, I, S. 74.
[66] W. Schneider, Geisterglaube, S. 262.
[67] Th. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft, S. 729.
[68] Zur Wünschelrute vgl. Wolff Hemhard v. Hoberg »Georgica curiosa aucta, d. i. umständlicher und klarer Unterricht von dem adelichen Land- und Feld-Leben«, Nürnberg 1687, 112. Kapitel des 1. Buches »Von Bergwerken und von der Wünsch-Ruth«. Ferner: »Kosmos« III (1906), S. 203. H. Ehlert im Technischen Gemeindeblatt VIII (1906), S. 296 ff., ferner im »Journal für Gasbeleuchtung« 1905, S. 1090 ff., ferner eb. 1906, 49. Bd., S. 71 ff., 198, 229 ff., 403 ff. u. 727 ff. Die Versuche Aigners sind wiederholt in den Münchner Neuesten Nachrichten beschrieben, z. B. in Nr. 414 1909 und 1910 in Nr. 103.
[69] Otto Jahn, W. A. Mozart, IV, S. 320.
[70] Eb. IV, S. 367. Dies und das folgende zitiert auch Heinrich Schwartz. »Das Ende der Tonkunst«, Münchner Neueste Nachr. 1909, Nr. 254 u. 256.
[71] Schindler, Biographie von Ludwig van Beethoven.
[72] Kreißle von Hellborn, Franz Schubert.
[73] Nach dem Leipziger Kalender 1904.
[74] Zusammengestellt von Carl Frey, »Wartburg« I, 1902, S. 186 ff.
[75] Heinrich Heine 1906.
[76] Ferdinand Rosenberger, Geschichte der Physik, 2. Bd., S. 142 ff.
[77] Eb. 1. Bd., S. 130 ff., und M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, 2. Bd.
[78] Rosenberger I, S. 133.
[79] Eb. I, S. 139 ff.
[80] Julius Sachs, Geschichte der Botanik, S. 514 ff.
[71] Umschau XIV (1910), S. 76 f.
[82] Rosenberger II, S. 139 ff.
[83] Eb. II. S. 267.
[84] Eb. II. S. 293.
[85] Eb. II, S. 312 ff.
[86] R. Hennig, Die angebliche Kenntnis der Blitzableiters vor Franklin im Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, II. Bd., S. 131.
[87] Rosenberger III, S. 75 f.
[88] Eb. III, S. 147 ff.
[89] Eb. III, S. 178.
[90] Eb. III, S. 189.
[91] Henry G. Parker in der Chemiker-Zeitung. Zitiert nach der Beil. d. M. Allgem. Ztg. 1908, I, S. 168.
[92] Rosenberger III. S. 201 und 204 f.
[93] Eb. III, S. 122 f.
[94] Eb. III. S. 125 f.
[95] Eb. III, S. 208 und 228 ff.
[96] Eb. III, S. 273.
[97] Eb. III, S. 243.
[98] Eb. III. S. 247.
[99] Eb. III, S. 332 und 352.
[100] Eb. III, S. 356, 561 und 407.
[101] Eb. III, S. 362.
[102] Zittel, Geschichte der Geologie und Paläontologie, S. 65.
[103] Eb. S. 95, 99 und 289.
[104] E. Schutze i. d. wissenschaftl. Rundschau der Münchner Neuesten Nachr. 1909. Nr. 579.
[105] Karmarsch, Geschichte der Technologie, S. 104.
[106] Vgl. Morses Biographie von Trownbridge, Boston 1901.
[107] Beil. der Münchner Allgem. Ztg. 1905, Nr. 64.
[108] Beil. d. Münchner Neuesten Nachr. 1908, I. S. 480.
[109] Archiv für die Gesch. der Naturwissenschaften u. d. Technik I (1909), S. 146.
[110] Rosenberger III, S. 792 f. und Allgemeine deutsche Biographie, 28. Bd., Artikel Reis.
[111] Felix Auerbach, Das Zeißwerk, Jena 1903, S. 4–9.
[112] Vgl. Süddeutsche Monatshefte 1908, Märzheft, u. Allgem. deutsche Biographie, 5. Bd., Artikel Drais.
[113] Rich. Hertwig in der Beil. d. Münch. Neuesten Nachr. 1909. Nr. 38.
[114] Beil. d. Münch. Allgem. Ztg. 1905, Nr. 44.
[115] Th. Benfey, Gesch. der Sprachwissenschaft S. 346.
[116] Eb. S. 348.
[117] Allgem. deutsche Biographie, 9. Bd., S. 763 f.
[118] Th. Benfey, S. 729 (ergänzt). Es handelt sich hier nur um eine Ergänzung der in meinen »Dingen, die man nicht sagt«, S. 68 ff. genannten Namen.
[119] Georg Kaufmann, Geschichte der deutschen Universität im Mittelalter, 2. Bd., S. 481 f.
[120] Georg Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten, 2. Bd., S. 180 ff. und 415.
[121] Zeitvertreiber, S. 87, zitiert nach A. Schultz, Das häusliche Leben im Mittelalter, S. 214. »Curiositäten«, 2. Bd. (1810), S. 253.
[122] Danach berichtet Misson in seiner Reise durch Italien, S. 169 und 178 dasselbe.
[123] Kaufmann, 2. Bd., S. 220 und 377.
[124] Eb. II, S. 451 ff.
[125] Eb. II, S. 317 f.
[126] Eb. II, S. 446.
[127] Beil. d. Münchn. Allgem. Ztg. 1905, Nr. 173.
[128] Kaufmann II, S. 219.
[129] Eb. 2. Bd., S. 354–363.
[130] Ferd. Rosenberger, Geschichte der Physik, 1. Bd., S. 124.
[131] Kaufmann 2. Bd., S. 477 ff.
[132] H. Witte im Jahrbuch für Schweizerische Geschichte, IX. Bd. (1886), S. 264 ff.
[133] Abgedruckt von Joh. Voigt, »Herzog Albrecht von Preußen« in Raumers »Historischem Taschenbuch«, 2. Jhg., 1831, S. 284 ff.
[134] Allerneueste Nachricht S. 655 ff.
[135] Nach Friedr. Eisner, Das Ende des Reiches, S. 180. Zu S. 131, Z. 5 v. o.
[136] Kaufmann II, S. 389 ff. Die Reden, gedruckt bei Zarncke, Die deutschen Universitäten im Mittelalter, Leipzig 1857, S. 49–154.
[137] Voigt, bei Raumer, II, S. 257.
[138] Donat, S. J., Die Freiheit der Wissenschaft, 1910, S. 383.
[139] Eisner, S. 177 f.
[140] F. S. Sack, »Über die Verbesserung des Landschulwesens in der Kurmark Brandenburg«, Berlin 1799. Nach Eisner.
[141] Bassewitz, Kurmark, S. 343 ff. und Tabelle XI (nach Eisner).
[142] Generalanzeiger der Münchner Neuesten Nachr. 1909, 5. April.
[143] Kurt Eisner, Das Ende des Reichs, S. 44 f.
[144] Eb. S. 148 f.
[145] Archenholtz, Minerva, July 1794, S. 161 f.
[146] Kölnische Volkszeitung 7. Sept. 1893. Zitiert – wie das folgende – nach Donat, Freiheit der Wissenschaft.
[147] Staatslexikon IV, S. 550, und P. Majunke, Geschichte des Kulturkampfes, 2. Aufl., S. 99 f.
[148] Donat S. 210 ff.
[149] Eb. S. 213 f.
[150] Deutsche Revue, 25. Bd. (1900), S. 97 ff.
[151] Eb. S. 217.
[152] Keyßlers »Reisen«, Hannover 1776, 73. Brief, S. 1097.
[153] Deutsche Revue 25. Bd. S. 218.
[154] Zusammenstellung nach E. Stemplinger in den »Süddeutschen Monatsheften« V, 2 (1908), S. 478 f.
[155] Nach der Kölnischen Zeitung.
[156] »März«, 3. Jhg. 4 (1909), S. 398.
[157] Berliner Tageblatt 1910, Nr. 96.
[158] In der Vita des Johannes von Gorze, Monumenta Germaniae Scriptores IV, p. 354, Kap. 61. Vgl. dazu und zum folgenden Joh. Kleinpaul, Das Typische in der Personenschilderung der deutschen Historiker des 10. Jahrhunderts. Diss. Leipzig 1897. Mon. Germ. SS.
[159] IV, p. 588, Kap. 17.
[160] Mon. Germ. SS. IV, p 358, Kap. 76, IV, p. 592, Kap. 23, IV, p. 354, Kap. 64.
[161] IV, p. 290, Kap. 10 und IV, p. 295, Kap. 17. VII, p. 336 und SS. rer. Merov., II, p. 99.
[162] SS. IV, p. 266, Kap. 30.
[163] Harnack, Medizinisches aus der älteren Kirchengeschichte, bei Gebhardt und Harnack, Texte zur Gesch. der altchristlichen Literatur, 8, 1892, S. 63 ff.
[164] Mon. Germ. SS. IV, p. 391, Kap. 18 und p. 392, Kap. 22. Eb. IV, p. 266, Kap. 30. IV, p. 359, Kap. 78 und IV, p. 354, Kap. 63.
[165] III, p. 778, Kap. 24. III, p. 843, Kap. 18. IV, p. 417, Kap. 75 und IV, p. 414, Kap. 27.
[166] Alw. Schultz. Höfisches Leben, 2. Bd., S. 265, Itin. reg. Ric. IV, 12.
[167] Krumbacher, Beilage der Münchn. Neuesten Nachr. 1908, Nr. 23, S. 219.
[168] Mabillon, Annales Ordin. S. Benedicti V, p. 424 f. (nach J. Scheible, Das Kloster, 12. Bd., S. 888 f.)
[169] Ferd. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 3. Bd., 2. Aufl., S. 81 ff.
[170] Montaigne, Journal de voyage Ed. Lautray 1906, p. 234 f.
[171] Eb. p. 259 ff.
[172] »Reisen«. Hannover 1776. 47. Brief, S. 448 f. Das Nächste, 62. Brief, S. 901.
[173] Vgl. Steinhausen, Gesch. d. deutschen Kultur, S. 191, Ed. Winkelmann in d. Jahrbüchern d. deutschen Geschichte, Philipp von Schwaben und Otto IV. von Braunschweig, II, S. 465, und S. Riezler, Gesch. Bayerns, V. Bd., S. 7, zu den Maranen vgl. Beil. d. Münchn. Neuesten Nachr. 1908, I, S. 638.
[174] Vgl. die Besprechung in den »Stimmen aus Maria Laach« 1909.
[175] Türmer, 10. Bd., I, S. 426.
[176] Münchner Neueste Nachr. 1909, Nr. 390.
[177] E. Petzet, Süddeutsche Monatshefte V, 1 (1908), S. 563 ff. S. Günther in der bayerischen Abgeordnetenkammer 25. Mai 1910.
[178] Obiges nach H. V. Sauerland, Urkunden und Regesten zur Geschichte der Rheinlande 3. Bd., S. XLII ff. und XLVIII ff.
[179] Eb. 4. Bd., S. XLVII f.
[180] Eb. 4. Bd., S. LIX f.
[181] Sauerland, Westdeutsche Zeitschrift, 27. Bd., 1908, S. 313 ff.
[182] Sauerland, Urkunden und Regesten, I. Index, 1326, Nr. 917.
[183] Sauerland, 4. Bd., S. XXV ff. Pfründenjäger im großen waren auch die Mitglieder der gräflichen Familie von der Mark. Vgl. eb. S. XXXI ff.
[184] Vgl. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 7. Bd., 2. Aufl., S. 237 ff., und L. Pastor, Geschichte der Päpste, 2. Bd., 2. Aufl., S. 456 ff.
[185] Sauerland, 4. Bd., S. LXVIII cis LXXI.
[186] Eb. IV, S. LXXII.
[187] Zeitschrift d. Ges. f. Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte, 13. Bd. (1883), S. 158, 173 f., 185 u. 231, und Römische Quartalsschrift, 4. Supplementband, 1896, S. 11.
[188] Geschichte des deutschen Volkes, I. Bd. (17. und 18. Aufl.), 1897, S. 453, 709, Anm. 6, 722, Anm. 6.
[189] Bericht im Codex 2727 der Alfterschen Sammlung in der Darmstädter Hofbibl. Abgedruckt von J. Hashagen, »Zur Sittengeschichte des westfälischen Klerus im späteren Mittelalter«, Westdeutsche Ztschrft., 23. Bd., 1904, S. 139 ff. Diese vortreffliche Arbeit liegt obiger Darstellung zugrunde.
[190] Sauerland, Westdeutsche Zeitschrift. 27. Bd., 1908, S. 300 f.
[191] Eb. S. 306. Hartzheim, Concilia Germaniae III, 113. Das Folgende, Eb. III, 112.
[192] Sauerland, Urkunden und Regesten, 4. Bd., S. XCVI.
[193] J. Frh. v. Hormayr, Taschenbuch für vaterländische Geschichte, XXX. Jhrg., 1841, S. 158 ff.
[194] Sauerland, Westdeutsche Zeitschrift, 27. Bd., 1908, S. 279 f. und 296. Die folgenden Berichte eb. abgedruckt, S. 297 u. 298 f.
[195] St. Infessura, ed. J. G. Eccard, Leipzig 1723, II, p. 1937.
[196] Gregorovius, VII. Bd., S. 686.
[197] Vgl. J. Hashagen, Westdeutsche Zeitschrift, 23. Bd., 1907, S. 125 ff.
[198] Vgl. Kluckholm, Zschft. für Kirchengeschichte, 16. Bd., 1896, S. 596 f. Hier auch interessante Visitationsberichte.
[199] Vgl. S. Riezler, Geschichte Bayerns, 6. Bd., S. 240 ff.
[200] Zitiert nach »Curiositäten«, I. Bd., Weimar 1811, S. 278 ff.
[201] »Reisen«, Hannover 1776, 57. Brief, S. 763. Zum folgenden vgl. »Neuester Hexenprozess aus dem aufgeklärten heutigen Jahrhundert von A. v. M. 1786.«
[202] Keyssler, Reisen, 17. Brief, S. 112. Ferner Fiorillo, Gesch. d. zeichnenden Künste in Deutschland I, S. 370. Zu den Spottfiguren vgl. die sehr unzüchtige Erklärung Fischarts und die abweichende von J. Nass, Ingolstadt 1588. Abgedruckt bei J. Scheible, Das Kloster, 10. Bd., S. 1023 ff. und S. 1178 ff.
[203] Keyssler, Reisen, 89. Brief, S. 1349.
[204] Mangelhafte Abb. bei Bernh. Grueber, Die Kunst des Mittelalters in Böhmen, besser bei Ed. Fuchs, Das erotische Element in der Karikatur. S. 52.
[205] Fiorillo, l. c. I, S. 305 ff. u. 309 f.
[206] Abb. bei E. W. Bredt, »Sittliche oder unsittliche Kunst«, S. 7.
[207] Fiorillo, Gesch. d. Malerei in England (1808), 5. Bd., S. 185.
[208] Friedrich Chr. Jo. Fischer, »Über die Probenächte der teutschen Bauernmädchen«, 1780, S. 8 f.
[209] Eb. S. 10.
[210] Joh. Georg Keysslers »Reisen«, Hannover 1776, 4. Brief, S. 15.
[211] Zitiert nach A. Schultz, Häusliches Leben, S. 156 f.
[212] Fünf Briefe der Gebrüder von Humboldt an J. R. Forster, Hergb. v. Fr. Jonas, Berlin 1889, S. 33. Zitiert nach Karl Weinhold, Die deutschen Frauen im Mittelalter, 2. Bd., 3. Aufl., S. 189 f.
[213] Beides abgedruckt bei Fischer, Probenächte, S. 33 ff. Das Folgende, Eb. S. 93 Anm. e.
[214] Nach dem Juristischen Wochenblatt, Leipzig 1773, 2. Jhg., S. 683 ff. Zitiert nach Fischer, eb. S. 20 Anm.
[215] Chron. Bajoar. L. V. c. 17. Bernh. Pez, Thesaurus Anecdot. III, col. 257. Nach Fischer, S. 25 ff.
[216] Alfred Franklin, La vie privée d’autrefois. Magasins de nouvautés. Lingerie, p. 19 u. 23.
[217] François des Hotmans, Opuscules, Paris 1616. Traité de la Dissolution de mariage par l’impuissance et froideur de l’homme ou de la femme. 3eme ed., 1595, p. 223 ff.
[218] »Curiositäten«, 2. Bd., Weimar 1812, S. 85 f. Das Folgende eb. S. 276 ff. Mit Belegstellen.
[219] Vgl. Franz Falk. Die Ehe am Ausgang des Mittelalters in »Erläuterungen zu Janssens Gesch. d. deutschen Volkes«, 6. Bd., 3. Heft, 1908, S. 18 ff. Zu Spadolino vgl. »Curiositäten« 2. Bd., S. 134.
[220] »Neuvermehrter Curieuser Antiquarius«, 8. Aufl. von P. L. Berckenmeyer, Hamburg 1746, S. 886 f.
[221] K. v. Amira, Tierstrafen und Tierprozesse in den »Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung«, XII. Bd., 1891, S. 561 und 566 f. Das Folgende, eb. S. 553 ff.
[222] (Zu S. 250, Z. 10 v. o.) Guido Carroci im Bolletino d’Arte. Vgl. Beil. d. Münchner Neuesten Nachr. 1908, Nr. 224.
[223] Jakob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 4. Aufl., II, S. 350. Das Folgende, eb. II, S. 346.
[224] A. Schultz, Deutsches Leben, S. 160.
[225] Felix Platter, Selbstbiographie, S. 228.
[226] »Curiositäten«, Weimar 1812, 2. Bd., S. 393–402.
[227] K. Eisner, Das Ende des Reichs, S. 160. Das Folgende, eb. S. 368.
[228] Eb. S. 161 f. Das Folgende, eb. S. 128. Vgl. »Das gepriesene Preußen oder Beleuchtung der gegenwärtigen Regierung.«
[229] Eisner, S. 195.
[230] Leider war es mir nicht möglich, die Quelle dieser der »Zeit am Montag« 1908 entnommenen Darstellung aufzufinden. Für Mitteilung wäre ich dankbar.
[231] »Curiositäten«, 1. Bd., Weimar 1811. S. 391.
[232] Beilage d. Münchner Allgem. Ztg. 1902, Nr. 213, S. 532, Anm.
[233] Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte von Tirol und Vorarlberg, VI. Jhg., 1909, S. 276 f.
[234] Münchner Neueste Nachr. 28. Mai 1909.
[235] Münchner Allgem. Ztg. 1909, S. 1014.
[236] Nach Zeitungsmeldungen im März 1910.
[237] W. Roscher, Ansichten der Volkswirtschaft, 3. Aufl., I, S. 142.
[238] Artur Kern, Deutsche Hofordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts, I. Bd., S. 91 f.
[239] Eb. II. Bd., S. 121 und 154.
[240] Eb. S. 131 f.
[241] Eb. II, S. VIII.
[242] Eb. I, S. 259.
[243] Eb. I, S. 79 u. 163. Das Folgende, eb. I, S. 213.
[244] Montaigne, Journal de voyage. Ausg. von Lautray, Paris 1906, S. 119.
[245] Thomas Platter, Selbstbiographie, S. 22.
[246] A. Schultz, Das häusliche Leben im Mittelalter, S. 139 f.
[247] Obiges nach A. Franklin, La vie privée d’autrefois. Les Magasins de nouvautés. La lingerie, p. 27 f.
[248] Eb. p. 89–103.
[249] Eb. S. 69 f.
[250] Franklin, l. c. p. 115 ff. Tallemant des Réaux, T. I, p. 493. Das Folgende in Le voyageur à Paris. Tableau pitoresque etc. T. II, p. 95.
[251] Artur Kern, Deutsche Hofordnungen, 2. Bd., S. 212 f.
[252] Mémoires, T. I, p. 97.
[253] Franklin, Vie privée, Magasins de Nouvautés, Tinturerie et Deuil, p. 30 f., 44 f., 67–72. 106 u. 128–133.
[254] Vgl. den Reisebericht des Andrea de Franceschi von 1492. Simonsfeldt, Zeitschrift für Kulturgeschichte, 2. Bd., 1895, S. 246.
[255] »Reisen«, 74. Brief, Hannover 1776, S. 1106.
[256] Eb. S. 1192, das Folgende, eb. S. 1282.
Dr. Max Kemmerich
Kultur-Kuriosa
Erster Band
7. Tausend
Schrifttitel von Walter Tiemann
Geheftet 3 Mark 50 Pf., gebunden 5 Mark
Münchner Neueste Nachrichten: Wenn ich den Verfasser recht verstanden habe, so hat er mit dieser Veröffentlichung von Kulturdokumenten aller Zeiten und Völker das ethische Ziel verfolgt, im Spiegel der Vergangenheit das Bild der Gegenwart zu zeigen und dadurch auch seinerseits dazu beizutragen, daß Leben, Ehre, Freiheit und fremde Überzeugung jene Achtung genieße, die er mit vollem Recht als das wichtigste Kulturkriterium betrachtet, wichtiger als alle technischen und wissenschaftlichen Fortschritte und alle künstlerischen Großtaten.
Der Tag, Berlin: Ein ganz verflixtes Buch. Vom Standpunkt der Orthodoxie aus – hüben wie drüben – höchst verwerflich nach Tendenz und Inhalt. Und nun gar: wenn man sich »Töchterschülerinnen« als seine ungebetenen Leserinnen vorstellen wollte – einfach Pfui Deibel! Und dennoch: recht zum Nachdenken bewegend, zur Einkehr stimmend, zur Umschau anregend. Notabene: Für solche, die ihr bißchen Spiritus gewöhnt sind nicht nach einem irgendwie vorgeschriebenen Schema F einzustellen. Bei allem Pessimismus, der daraus spricht, eine sinnige Gabe für geborene Optimisten.... Der wahre Satiriker will nicht nur bloßstellen, sondern auch bessern; so will auch dies Buch bei aller Boshaftigkeit oder doch Ungeschminktheit den unserer »Bildung« durchaus nicht überall adäquaten Stand unserer sogenannten Kultur heben. Möchte es vor allen Dingen unter die Augen der Männer geraten, die es namentlich angeht!
Generalanzeiger Mannheim: Solche Bücher sind selten. Denn zu gern verschließt sich der Mensch solch grassem Bekenntnis der Wahrheit. Aber sie haben eben dadurch doppelten Wert. Kemmerichs »Kultur-Kuriosa« sollte jeder besitzen, der Anteil nimmt an menschlicher Kultur, und es ist jedem von uns heilsam, mitunter in dem Buche zu blättern.
Neue Züricher Zeitung: Eine Sammlung drastischer Anekdoten aus dem weiten Reiche der Kulturgeschichte, mit viel Geschick ausgewählt zum Behufe des Nachweises, »daß unsere Kultur, soweit sie auf Befreiung von Grausamkeit, Intoleranz und Borniertheit beruht, noch sehr jungen Datums ist.« In der Tat ist es unglaublich, von welcher Barberei wir herkommen, und in welcher Barberei wir vielfach heute noch stecken, auf dem Gebiete des Rechts, der Ehe, der Sittlichkeit, des Glaubenslebens usw. Manchmal traut man seinen Augen nicht; aber der Verfasser beruft sich in einem überaus reichen Literaturnachweis durchgängig auf die besten Quellen.
Verlag von Albert Langen in München
Dr. Max Kemmerich
Dinge, die man nicht sagt
5. Tausend
Preis geheftet 5 Mark 50 Pf., gebunden 5 Mark
Der Tag: Dies neue Buch stellt eine gediegene, gut durchdachte, durchaus zusammenhängende, fein gegliederte Beweisführung dar. Freilich ganz ohne Anmerkungen, Belege, Kommentare, sogar ohne Register: es ist erlebt. Ein heißes Streben und Sehnen nach Besserung, Veredelung, Modernisierung durchzieht das Ganze. Und wo die Satire scharf zu schneiden gezwungen ist, weil der baumelnde Zopf gar zu fest sitzt, da wird ihr versöhnlich geholfen durch einen den schlimmsten Griesgram entwaffnenden Humor. Zur Habilitation würde Kemmerich wohl nirgends zugelassen werden – schad’t nix: der Stand der wahrhaft freien Schriftsteller, der streitbaren Ritter vom Geiste, hat auch Daseinsberechtigung, Verdienste und Adel.
Gerichtszeitung, Wien: Es ist ein Vorzug des Kemmerichschen Buches, durch drastische Beispiele größere Wirkungen zu erzielen, als durch tiefsinnige, wissenschaftliche Betrachtungen.
Neue Weltanschauung: Der Verfasser sieht den Dingen überall mutig ins Auge und hat die lobenswerte, wenn auch an vielen Stellen ungern gesehene Gewohnheit, sie beim richtigen Namen zu nennen. Kurzum wir haben ein tapferes Buch vor uns, an dem jeder Freund der Wahrheit und des Fortschrittes seine helle Freude haben muß.
Öst.-Ungar. Buchhändler-Zeitung: Das ist eine kleine, harmlose Blumenlese der »Dinge, die man nicht sagt«, die aber Dr. Kemmerich, der Verfasser der »Kultur-Kuriosa«, ausführlich niederschreibt. Vieles in dem vorbildlich vornehm ausgestatteten Buche ist wahr, manches übertrieben, alles interessant.
Verlag von Albert Langen in München
Druck von Hesse & Becker in Leipzig
Papier von Bohnenberger & Cie., Papierfabrik, Niefern bei Pforzheim
Einbände von E. A. Enders, Großbuchbinderei, Leipzig
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