Project Gutenberg's Aus Prager Gassen und Nächten, by Egon Erwin Kisch This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Aus Prager Gassen und Nächten Author: Egon Erwin Kisch Illustrator: Karl Kostial Release Date: December 8, 2020 [EBook #63984] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS PRAGER GASSEN UND NÄCHTEN *** Produced by Peter Becker, Jens Sadowski, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp. net. This file was produced from images generously made available by The Internet Archive.
Von
Egon Erwin Kisch.
Umschlagszeichnung
von Karl Kostial.
.. 2. Auflage ..
1912.
Verlag von A. Haase, Prag,
Wien, Leipzig.
Die in diesem Buche enthaltenen Skizzen
wurden größtenteils 1910 und 1911 geschrieben.
Übersetzungsrecht vorbehalten.
Vom Autor erschien ferner:
Vom Blütenzweig der Jugend | Leipzig 1902. |
Der freche Franz und andere Geschichten | Berlin 1906. |
K. u. k. Hofbuchdrucker A. Haase, Prag.
Der Clamsche Garten | 1 |
Die Gemeindetruhe | 6 |
Verzehrungssteuer | 10 |
Floßfahrt | 14 |
Gäste der Polizei | 23 |
Café Kandelaber | 27 |
Geschichten vom Brückenkreuzer | 31 |
Der Chef der Prager Detektivs | 35 |
Der Mann mit der Straßenspritze | 39 |
Eine Nacht im Asyl für Obdachlose | 43 |
Das Lied vom Kanonier Jaburek | 52 |
Die Erlaubnis zum Fußballspiel | 56 |
Bei „Antouschek“, dem Wasenmeister | 59 |
Razzia | 65 |
Die Zwangsarbeitsanstalt auf dem Hradschin | 71 |
Theatervorstellung der Korrigenden | 75 |
Das Märchen vom Mistwagen | 80 |
Weihnachtsmarkt | 84 |
Wie ich aus dem Rathause hinausgeworfen wurde | 89 |
Prager Ziehung | 93 |
Die Irren | 101 |
Volksküchen | 106 |
Ein tadelnder Ballbericht | 111 |
Von Feilbietungen, Auktionshallen und vom Chabrus | 115 |
Die Verhaftung | 125 |
Drehorgelspieler | 130 |
Die Gifthütte | 136 |
Karl May in Prag | 141 |
Polizeimuseum | 144 |
Unter Statisten | 151 |
Der Dichter der Vagabunden | 158 |
Arrestgebäude | 166 |
Alt-Prager Mensurlokale | 170 |
Prags Erwachen | 175 |
In der Wärmestube | 179 |
Westend von Prag. Endstation der Elektrischen, die Smichow und Koschiř durchquert.
Über dem Gittertor steht die Aufschrift „Klamovka“ mit so großen Goldbuchstaben, daß jeder erkennen müßte, die hohe, von blütenschweren Bäumen überdachte Mauer umschließe keine öffentlichen Anlagen, keinen Privatpark. Es ist offenbar ein Wirtshausschild, das dringlich zum Eingange lädt. Aber das Tor ist versperrt, und keine Klingel ist vorhanden, die einen öffnenden Pförtner herbeizurufen vermöchte. Und selbst wenn man in der abzweigenden Weißbergstraße das offenstehende Seitentürchen entdecken, durch dieses eintreten und die Stiegen zum Garten hinaufschreiten würde, so müßte man umkehren, denn ein Zettel verwehrt strenge dem Fremden den Eintritt. Der abweisende Inhalt des kleinen Zettels auf dem Seitentor kontrastiert mit der einladenden Aufschrift der großen Tafel auf dem Haupttor. Sodaß man doch in Zweifel gerät, ob hier ein Wirtshausgarten oder ein Herrschaftspark sei.
Beides oder keines von beiden. Früher haben Grafen und Gräfinnen hier im Clamschen Garten auf schattigen Kieswegen lustwandelt. Aber später wurde der gräfliche Park an einen bürgerlichen Gastwirt verkauft, und der baute in der Mitte des Gartens ein Gasthaus mit einem Tanzsaal.
Nun aber wird hier auch nicht mehr getanzt. Seit heuer. Noch im vorigen Jahr war die „Klamovka“ am Sonntag nachmittag ein Wallfahrtsort der Dienstmädchen, der Burschen und Mädchen aus dem Volke, und oben im Saale wurden bis spät in den Abend Quadrillen und Walzer getanzt, besonders schlürfend der Sechsschrittwalzer, der im Volksmund „Na šest“ heißt, dessen charakteristisches Merkzeichen die langgezogenen, langsamen Schritte bei der Linksdrehung sind, und bei dem man in erheuchelter oder echter Verzückung die Augen zu schließen hat. In den Pausen aber gingen die Liebespaare, sich umschlungen haltend, hinunter in den Garten, in dem die hohen Christusakazien, die duftenden Syringensträucher, die schattigen Kastanienbäume, die silberglänzenden Rotbuchen, die dichten Ahornsträucher und die verzweigten Hagedornbüsche in Blüte standen. Wenn auch die Blütenpracht von den Liebespaaren wohl kaum eines Blickes gewürdigt worden ist — der Einfluß des Milieus muß doch im Unterbewußtsein seinen Nachhall geweckt haben, dem Frühling der Herzen muß es doch inmitten des Frühlings der Natur am wohlsten gewesen sein. Sonst wären die jungen Leute doch in nähere Sonntagstanzlokale gezogen, wie in das Weinberger Bräuhaus, in das Gasthaus „Na Slovanech“ auf dem Karlsplatz, wo der Wirtsgarten nur aus paar verkrüppelten Bäumen besteht. Doch dort war’s nie so voll wie in der „Klamovka“.
Zwölf Jahre tanzte man hier. Am Anfang schien es, als wolle sich das entlegene Tanzlokal nicht einbürgern, und der alte Hlavaček, der für den Ankauf des Gartens und für die Aufführung des Wirtshausbaues sein Vermögen verwendet hatte, schoß sich aus Verzweiflung eine Revolverkugel ins Herz. Sein Sohn aber hatte mehr Glück und allsonntäglich war es voll im Clamschen Garten.
Vor zwei Jahren aber haben die Barmherzigen Brüder den herrlichen Garten gekauft, um in ihrem menschenfreundlichen Wirken keine Stockung eintreten zu lassen, falls ihr jetziges Spitalsgebäude in der Josefstadt als Opfer der Assanierung fallen würde. Von heuer ab bleibt das Gasthaus unvermietet und das Gartentor steht geschlossen. So werden die Nachfolger der Liebespaare, die sich hier im Garten ihrer Jugend freuten, die bleichen Kranken sein, die humpelnd oder in Rollwägelchen wehmütig den Glanz der Blumen betrachten und den Duft der Blüten atmen werden. Es kann sein, daß vielleicht einmal ein alter Patient oder ein krankes Mütterchen, den Garten betretend, schwermütig lächeln werden, weil sie in diesem Garten, der nun ihr Krankenasyl sein soll, in der schönsten Zeit ihres Lebens viel geweilt haben und seither nicht mehr. So wird ihnen doppelt wehe ums Herz sein. Aber das Gefühl wird kein bedauerndes sein. Denn auf der „Klamovka“ ging es nicht ausschweifend zu, wie z. B. in einer unmittelbar benachbarten Gartenwirtschaft, welche heuer als Erbe der „Klamovka“ die Koschiřer Jugend übernommen hat und auf deren Usancen ein Mordprozeß des vergangenen Jahres ein böses Licht warf. Auf der „Klamovka“ gab es nie eine „parta“, wie die Platten im Prager Vorstadtjargon heißen. Hier hatte fast jedes Mädchen bloß einen ständigen Tänzer, den Liebhaber. Wenn der gewechselt wurde, gab es stumme Katastrophen.
So hat beispielsweise einmal ein Artillerie-Freiwilliger hier Unheil angerichtet. Der hatte richtig kalkuliert, daß seine schmucke Uniform ihm hier ein siegendes Liebesglück verschaffen müsse, und war in den Clamschen Garten gefahren. Sein Eintritt in den Saal war eine Sensation. Hierher, wo schon die Uniform eines Infanterie-Pferdewärters auf die unbefangenen Mädchenherzen elektrisierend einwirkte, kam ein Einjährig-Freiwilliger mit tadellosem Scheitel, blanken Lackkanonen, silbernen Salonsporen, hellblauen Kammgarnhosen, dunkelbraunem Waffenrock mit dem verschnürten Schützenzeichen und einem vorschriftswidrigen Flitterstern auf dem feuerroten Kragen! Er kam in den Saal und musterte die Paare kritischen Blickes. Dann wählte er sich ein Mädel zum Tanz, ein Mädel, dem die Stammgäste prophezeiten, daß es gar bald von der blonden Jarmila den von allen angestrebten Titel „Hvězda Klamovky“, des Sterns des Clamschen Gartens, erben werde. Er tanzte, tanzte wieder, und der junge Monteur, der bis zur Stunde der Liebhaber der Kleinen gewesen war, der tanzte nicht. Der saß in dem Saalteile, der durch Säulen vom Tanzsaale geschieden und für die Biertische reserviert war. Als es 8 Uhr und gerade eine Tanzpause war, ging er zu dem Mädel, das mit dem goldstrotzenden Galan promenierte.
„Komm’ nach Hause, Božena.“
„Ich will nicht.“
„Ich muß doch um 9 Uhr im Elektrizitätswerk sein. Sonst wirft man mich hinaus.“
„Dann wird man dich eben hinauswerfen.“
„Du weißt doch, daß mein Vater beim Bürgermeister war, damit ich die Stelle bekomme.“
„Ich halte dich nicht. Du kannst ja gehen.“
Den letzten Satz sprach sie schon davontanzend, denn die Musik hatte das tschechische Volkslied begonnen, das an zwei blaue Augen die Frage richtet, warum sie voll Tränen seien. Der Monteur empfindet das Schmerzliche des letzten Satzes doppelt schmerzlich, weil es im Arme des anderen gesagt worden ist. Er fühlt, daß das Mädel, indem sie ihn abwies, dem anderen eine Liebeserklärung gemacht hat. Fühlt, daß sich jetzt die zwei fester aneinander schmiegen und vielleicht über ihn, den heimgeschickten Dritten lächeln. Der Bursch geht zu seinem Platz zurück und ist blaß.
Allein fortgehen kann er nicht, trotzdem die Božena das behauptet hat. Sonst geht das Mädel mit dem Kanonier nach Hause, und dann lächeln die zwei nicht mehr, sondern sie lachen. Noch mehr Leute, die Stammgäste der „Klamovka“ würden alle lachen über „křen“, den Wurzen, der ein Mädel zum Tanz führt, damit dieses mit einem anderen nach Hause gehen könne. So bleibt der junge Monteur sitzen bis 9 Uhr (die Stunde, zu der er bei der Kontrolluhr im Elektrizitätswerk sein soll) längst vorbei ist. Er sitzt blaß beim Bier und möchte sichs nicht anmerken lassen, wie sehr ihm die Musik in das Herz schneidet, die seinem Mädel zum Tanz mit einem anderen aufspielt. So wiederholt er sich die Worte, die ihm ein Freund im Vorbeigehen tröstend zugerufen: „Was liegt an einem Mädel!“ Spät abend geht er mit der Božka nach Hause. Er weiß gar wohl, daß sie sich für morgen ein Stelldichein mit dem Freiwilligen verabredet hat, er weiß gar wohl, daß jetzt alles aus ist. Er hat aber wenigstens die Blamage verhütet, er begleitet wenigstens das Mädel nach Hause, mit dem er gekommen war. Mag es ihn immerhin seine Stellung gekostet haben!
Es war zum letztenmale, daß er mit Božka heimging. Es war zum letztenmale, daß er auf der „Klamovka“ getanzt hat. Auch wenn das breite Gittertor nicht verschlossen wäre, würde er nicht mehr hingehen. Er verkehrt jetzt in anderen Lokalen. Fast täglich mit einem anderen Mädel. Und wenn jetzt jemand seine Begleiterin verlangend mustert, dann muntert er sie noch auf, den Blick zu erwidern. Er hat auch gar nichts dagegen, wenn sie jetzt mit jemandem den ganzen Abend tanzt, ja selbst wenn sie dann mit dem anderen nach Hause geht. Er fürchtet nicht mehr, als „křen“ zu gelten. Er will nur Geld haben. „Was liegt an einem Mädel!“ Das Wort, mit dem er sich damals zu trösten versuchte, ist seine Lebensmaxime geworden ...
Eine Pointe hat die Geschichte nicht. Es sei denn, man wollte es vielleicht als Pointe ansehen, daß an manchen Abenden auch die Božka (die ginge übrigens heute auch nicht mehr auf die „Klamovka“) zu seiner Klientel zählt. Der Artillerie-Freiwillige tanzt aber schon lange nicht mehr mit ihr.
Das war so einer von den kleinen Romanen, die im Clamschen Garten begonnen haben. Sie stehen nirgends verzeichnet und jeder der Besucher kannte nur einen solchen Roman. Und wenn man die Sehenswürdigkeit des Gartens zeigt, so weist man auf das „Himmelchen“, einen runden, entzückenden Kapellenbau, durch dessen sternförmige Öffnungen in der Wölbung das Himmelslicht strahlt, so zeigt man den hübschen Eselsstall, so zeigt man den aus Stein gemeißelten Pferdetrog, der auf einem mit einem steinernen Zaumzeug gemeißelten Sockel steht und ein Denkmal für des Grafen Clam-Gallas Schlachtroß „Cassil“ darstellt, so zeigt man den Platz, auf dem Prinz Wilhelm von Auersperg an einem Maitage vor vierunddreißig Jahren im Duell sein Leben ließ. Aber man zeigt nicht die Sträucher, in denen mancher junge Mensch seinen Liebesgram ausgeweint hat, man zeigt nicht die Stelle, von der aus der blasse Monteur seinem davontanzenden Liebesglück nachblickte.
Die Einführung der Gemeindetruhe sei den Kommunalbehörden aller Weltstädte ans Herz gelegt. Nicht etwa, daß diese Empfehlung meinem ausgeprägten Lokalpatriotismus oder irgend einem anderen Gefühle entspringen würde. Persönliche Beziehungen verknüpfen mich mit der Gemeindetruhe nicht. Ich kann auch aus eigenem nichts über das Innere dieses hermetisch verschlossenen Verkehrsmittels sagen. Aber es ist ganz hübsch. So sagt mein Freund Franta Cuček, der in der Gemeindetruhe geboren wurde, schon oft in ihr nach Hause gefahren ist und auch mutmaßlich einst mittels dieses Vehikels in die „Pathologie“ geschafft werden wird. Der kennt das „Etui“, wie er es in dem Tonfall der tschechisch-französischen Verbrüderung ausspricht, in- und auswendig. Von weitem und um die Ecke erkennt er, welche Nummer jene Truhe hat, die da herangerasselt kommt, um irgend einen Gast unseres Stammlokales nach Hause zu befördern. Ohne je den Zettel zu betrachten, der an der Rückseite des Korbes baumelt und eine rote Ziffer — die Wagennummer — trägt.
Daß Franta Cuček die Lenker des Gefährtes kennt, ist ganz natürlich. Er steht mit allen auf Du und Du und sein „Serbus“ wird von dem menschlichen Zweigespann mit gleicher Herzlichkeit erwidert. Aber diese private Freundschaft hat natürlich nicht etwa zur Folge, daß Franta den Lenkern bei der Ausübung ihrer Berufspflicht irgendwelche Erleichterungen gewähren würde. Dienst ist Dienst. Es ist ein schöner Zug im Leben Frantas, daß er einmal einem dieser Automedonten, dem Jaro Roztopil, mit dem er selbst treu befreundet war, das linke Auge ausgeschlagen hat, als dieser ihn in den Korb zu betten versuchte. Trotzdem das linke Auge für jeden Menschen im Sommer nur eine unnötige Mehrbelastung des Körpergewichtes darstellt, trotzdem das linke Auge zum ehrsamen Gewerbe des Gemeindetruhenwärters nicht unbedingt erforderlich ist und trotzdem Jaro Roztopil anläßlich dieser in Ausübung der Berufspflicht erlittenen Wunde aus dem Stadtsäckel ein Schmerzensgeld erhalten hat, lassen es seither die beiden Truhenmänner nicht mehr auf die Betätigung von Frantas Unparteilichkeit im Dienste ankommen. Sobald sie an den Ort kommen, auf welchen man sie begehrt, und sehen, daß Franta Cuček zu ihrem Passagiere auserkoren ist, dann eilen sie mit unheimlicher Schnelligkeit auf ihn zu und umklammern aus einem nicht in die Augen springenden Grunde seine vier Gliedmaßen mit gußeiserner Gewalt. Der eine hält Frantas rechten Arm und den rechten Fuß, dem anderen ist die ehrenvolle Aufgabe zugewiesen, mit den linken Gliedmaßen ein Gleiches zu tun. Oh, Franta Cuček wehrt sich noch immer nach Leibeskräften, aber es hilft ihm nicht mehr viel. Er fällt, wie einst Cäsar von Brutus Hand, von den Händen seiner Freunde. Er fällt in die Truhe, ohne daß er im Kampfe mit seinen Widersachern siegreich geblieben wäre. Sein einziger Erfolg ist höchstens, daß er manchmal einen Fuß aus der Umklammerung der beiden befreit und einem von diesen durch einen Tritt die Uniform beschmutzt hat.
Ach, die Uniform der Gemeindetruhenwärter! Wer kennte sie nicht, diese Livree: Die fesche Bluse aus blauweißer Leinwand, der nur im Winter durch ein einfaches braungestricktes Cachenez verhüllte Hals, die hohen Kanonenstiefel und die Eishackerhosen, die Ledermütze von undefinierbarer Farbe mit dem blechernen Wappen der königlichen Hauptstadt darauf — gibt es etwas Einfacheres, etwas Schöneres? Ist das nicht schöner als der blaue Frack, den man in Wien vor kurzem als Festkleidung für die Magistratsfunktionäre bestimmt hat?
Übrigens sei erwähnt, daß die Chauffeure der Gemeindetruhe ihre Uniform in Ehren tragen. Ihre Aufgabe ist schwer, aber sie erfüllen sie gut. Nicht nur dann, wenn sie ihren Passagieren à la Franta beim Einsteigen in die Karosserie behilflich sind, sondern auch beim Entladen des Korbes. Dieses Entladen ist, da die Seitenwände des Korbes nicht heruntergeklappt werden können, sondern fix sind, nicht so einfach, als sich ein Laie auf dem Gebiete des modernen Verkehrswesens denken würde. Aber das Problem wird dennoch auf findige Weise gelöst. Indem man die Truhe zu einem Tobogan umwertet. Wenn nämlich die Truhe an ihrem Endziele, dem Hof des Arrestgebäudes angelangt ist, so wird sie derart aufgestellt, daß der Korb windschief auf den Rädern ruht und die Füße des Etui-Inhaltes nach unten zu gerichtet sind. Nun klappen die aurigae den Deckel auf, heben die Beine ihres Pflegebefohlenen in die Höhe und schieben dessen Rumpf längs der schiefen Ebene so weit hinab, bis die Beine des Passagiers über die untere Wand des Korbes ragen. Dann tritt man auf die Füße des Korbinsassen, diese senken sich zu Boden, und der Passagier steht vertikal auf Mutter Erde. Ein sichernder Druck auf den Rücken hindert ihn an dem Rückfall in das Vehikel.
In noch zarterer Weise ist man jenen Passagieren beim Aussteigen behilflich, deren Reiseziel nicht der Hof des Polizeigefangenhauses, sondern der Flur des Krankenhauses ist. Denn auch solche gibt es. Wenn jemand auf der Straße überfahren wird und mit gebrochenem Schenkel daliegt, wenn jemand von Krämpfen oder von Blutsturz befallen wird, so holt ihn, wenn ihn nicht inzwischen der Teufel geholt hat, nach sehr geraumer Zeit die Gemeindetruhe ab und führt ihn ins Spital, wo er in den meisten Fällen noch lebend ankommt. Das ist das einzige, was Franta Cuček gegen die Gemeindetruhe einzuwenden hat. Das ist auch wirklich ein Mißbrauch dieses Vehikels. Wie kommen jene Leute, die Zeit und Geld für Alkohol geopfert und sich so mühselig das Anrecht auf die unentgeltliche Beförderung in diesem städtischen Fahrzeuge erworben haben, dazu, dieses Recht mit jedem ixbeliebigen auf der Straße ganz unabsichtlich und ganz zufällig erkrankten Menschen zu teilen? Geradezu unappetitlich ist das! Aber das ist der einzige Fehler des Etuis und dieser Fehler vermag die Liebe Cučeks zu seinem Fahrzeug nicht zu erschüttern. Und wenn er auch immer wieder von seinen Ausflügen per Schub nach Prag zurückbefördert wird — er empfindet es nicht unangenehm. Denn Prag ist die angestammte Heimat der Gemeindetruhe.
Ja, anderswo gibt es so etwas nicht. Man läßt zwar auch in anderen Städten die Leichen, die Bierleichen und die prosaisch Erkrankten nicht unbemerkt bis zu ihrer Auferstehung auf der Straße liegen. Aber in den anderen Weltstädten gibt es Räderbahren, bei denen die beiden Holme verschiebbar und die Füße der Bahre (nicht, wie in Prag, die des Kranken) umgeklappt werden können. Die Bahre dieser Transportmittel ausländischer Provenienz wird am Endziel der Reise einfach vom Rädergestell abgehoben — ein ungeheurer Nachteil, weil die Prager Entlade-Prozedur „System Rutschbahn“ dadurch unmöglich wird. Auch besitzen die auswärtigen Bahnen keinen Deckel, sondern ein zum Abknöpfen eingerichtetes Plantuch, das dem Kranken das Hinausblicken auf die Straße gestattet, aber es den Passanten verwehrt, das Gesicht des Patienten zu sehen. Daß dies eine Verletzung der Gleichberechtigung ist, liegt klar auf der Hand. Aber was kann man auch von einer Truhe verlangen, die keine Truhe ist!
Es gibt eben nur ein Prag, es gibt eben nur eine Gattung von Gemeindetruhen. Nur schade, daß es nur den breiteren Volksschichten möglich ist, dieses ebenso vornehme, wie praktische Straßenfahrzeug zu benützen. Warum könnte man nicht die Droschken und Fiaker durch Gemeindetruhen erster und zweiter Güte ersetzen? Sogar zu Gummiradlern könnte man die Gemeindetruhen umgestalten. Auf dem Josefsplatze stehen die Automobildroschken unbenützt. Würde man hier nicht auf dieser Stelle (vor dem Repräsentationshaus) einen Standplatz für Gemeindetruhen mit mehr Erfolg errichten können? Ich glaube nicht, daß ein Einheimischer oder ein zufälliger Fremder der Versuchung widerstehen könnte, wenn ihm aus dem Munde von Etui-Chauffeuren die einladenden Rufe entgegenschallen würden: „Gemeindetruhe gefällig?“, „Fahr’n m’r Euer Gnad’n?“ und „Einsteigen, meine Herrschaften, einsteigen!“
„L’octroi, s’il vous plaît.“
Der städtische Verzehrungssteuerbeamte am Bahnhofsausgang in Paris spricht diesen höflichen Satz in höflichem Ton, fast entschuldigend. So höflich, daß in dem Fremden gar nicht die Befürchtung wachgerufen wird, er werde jetzt Koffer und Kolli öffnen und nach Nahrungsmitteln und Getränken durchsuchen lassen müssen. Den Fremden aber, der dennoch auf die Vermutung kommen würde, daß die höfliche Frage bitterbös gemeint sei, beruhigt der Baedeker vollkommen: „Die Kontrolle, die auf dem Bahnhof stattfindet, erledigt sich für die Fremden in der Regel durch die Erklärung, daß man nichts Steuerpflichtiges bei sich führe.“
Prag ist, wie hier ausdrücklich festgestellt sei, nicht Paris. In Prag darf der Fremde — wenn einen solchen vielleicht widrige Winde von der Route des internationalen Fremdenverkehres in unsere gastliche Stadt verschlagen würden — den Bahnhof ungehindert verlassen. Die höfliche Vorstellung des Oktroi-Beamten bleibt dem Ankommenden erspart. Aber wenn er ahnungslos, den Koffer in der Hand, dem Hotel zustrebt, muß er sich über den Mann entsetzen, der mit einer Harpune in der Rechten, in kriegerischer Uniform, an irgend einer Wegkreuzung aus dem Hinterhalte auf ihn zuspringt und ihm in einer Weise Halt gebietet, die selbst den Marschall Vorwärts zum Stehen gezwungen hätte.
Und mit dem bloßen Schrecken kommt man nicht davon. Der Koffer muß geöffnet werden, auch wenn der Reisende tausendmal beteuern würde, daß er den Kofferschlüssel nicht bei sich trage, da diesen seine Frau in ihrer Handtasche schon tags vorher nach Prag genommen habe, auch wenn er zehntausendmal beeiden und durch Zeugen erhärten würde, daß der Koffer weder einen Apfel, noch ein Kognakfläschchen, sondern bloß Wäsche und nichts als Wäsche enthalte. Der Prager Baedeker müßte bemerken, daß die Bediensteten der Verzehrungssteuer hier in ihrem Pflichteifer vor keiner Mühe — des Fremden zurückschrecken. Im Prager Baedeker könnte dem Reisenden empfohlen werden, sich auf empirischem Wege von dem Pflichteifer der Akzise-Bediensteten zu überzeugen. Zum Beispiel so: Man lege eine Zündhölzchenschachtel, die man vorher mit Spagat kreuz und quer verbunden und hernach vierfach versiegelt hat, auf die offene Handfläche und versuche, sich aus der Parkstraße durch den gegenüber dem Staatsbahnhofe gelegenen Eingang in den Stadtpark zu begeben. Auf die forschende Frage des Akzisaken erwidere man, man kenne den Inhalt der Schachtel nicht. Ein alter Onkel habe sie dem Überbringer mit dem strikten Auftrag anvertraut, sie erst nach seinem Tode zu öffnen. Der Verkehrsbedienstete wird unnachsichtlich den Schachtelträger entweder zu dem Akzisgebäude an der Ecke der Bolzanogasse oder zu jenem gegenüber dem Neuen deutschen Theater weisen, wo sich das Frage- und Antwortspiel wiederholen und nachher die verdächtige Schachtel geöffnet werden wird. Man weide sich sodann an dem Gesichte der Beamten beim Anblick der in der Schachtel befindlichen Zündhölzchen.
Viel leichter ist es, ein lebendes Schwein an dem uniformierten Argus vorbeizuschaffen, als eine Streichhölzchenschachtel. Das lehrt die Geschichte jener Wette, die vor etlichen Jahren in einem Gasthause in Dejwitz geschlossen und damals viel besprochen worden ist: Ein Dejwitzer Fleischhauer hatte mit einem Gastwirte gewettet, daß er ohne Wagen mit einem großen lebenden Schwein die Tor-Akzise des Bruskatores passieren werde. Der Fleischhauer erklärte das Schwein und 40 Kronen, der Wirt den Kaufpreis für das Schwein und zwei Hektoliter Bier als Einsatz. Der Fleischer stand auf und ging in seinen Laden. Hier packte er seinen großen Hund, band ihm das Maul zu und steckte ihn in einen mächtigen Sack. Dann ging er zum Bruskator. Auf die Frage des Verzehrungssteuer-Bediensteten erwiderte er, scheinbar ein Lachen verbeißend: Er trage seinen Fleischerhund, der Anzeichen von Tollwut zeige, zum Tierarzt. Der Torwächter schenkte dieser plumpen Ausrede kein Gehör und band den Sack auf. Im selben Augenblicke sprang der eingesackte Hund, der vielleicht auch die Befürchtung seines Herrn verstanden hatte, aus dem Sacke und jagte mit Riesensätzen zurück, den heimischen Fleischtöpfen zu.
„Sie sind daran Schuld. Das größte Unglück kann jetzt geschehen!“ Diese Worte schrie der Fleischer dem pflichttreuen Bediensteten, der vor dem Bruskator, wie das bekannte Haustier vor dem neugemalten Haustor stand, erregt zu und rannte dem „tollen“ Hunde nach. Zu Hause band der Fleischer seinem größten Schwein den Rüssel zu und steckte es in den Sack. Dann ging er in das Gasthaus, in dem die Zeugen der Wette versammelt waren. Er zeigte ihnen den Inhalt des Sackes, nahm diesen huckepack auf den Rücken und forderte die Gesellschaft auf, ihm unauffällig in beträchtlicher Distanz zu folgen. Beim Bruskator warf er dem noch immer bestürzten Akzismann einen verachtungsvollen Blick zu und sprach kein Wort. Der Wächter erst recht nicht. So ging der Fleischer ruhig über die Verzehrungssteuerlinie und am Abend wurde bei Schweinsbraten und bei zwei Hektolitern Bier das Schwein des Fleischhauers jubelnd erörtert.
Nicht nur von Schwein, sondern auch von Pech wissen die Bewohner der Oktroi-Häuschen ein trauriges Liedchen zu singen. War da einmal in Prag ein junger Schauspieler — heute wirkt er in Hamburg — dessen Spezialität die Darstellung von Paralytikern war. Der hatte einst den Entschluß gefaßt, den Wächtern einen Schabernack zu spielen. Mit einem großen Paket unter dem Arm, in respektvoller Entfernung von einer eingeweihten Freundesschar gefolgt, versuchte er es, sich an dem Verzehrungssteuerkontrollor unterhalb des Belvedere vorbeizuschleichen. Dieser aber packte den ertappten Schmuggler, und dieser begann sofort zu winseln und den Paralytiker zu spielen. „Hab’ ich ein Pech, hab’ ich ein Pech,“ wiederholte er schluchzend, und auf die Frage nach dem Inhalt seines Pakets hatte er keine andere Antwort. Bis es dem Bediensteten zu bunt wurde, er den Deckel des Pakets aufhob und mit schnellem Griff in das Innere fuhr. Über und über mit Pech bedeckt war seine Hand, als er sie herauszog. „Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich Pech hab’,“ sagte der Paralytiker, der plötzlich wieder normal geworden war, und lächelte infam und schadenfroh darüber, daß auch einmal ein anderer „Pech gehabt“ hatte.
Ein übler Streich, der in den Tagen des Hagenbeckschen Besuches der Aktualität nicht entbehrt, wurde vor wenigen Jahren dem Manne gespielt, der am Ende des Wenzelsplatzes auf Nahrungsmittelschmuggler zu warten hat. An einem Winterabend, gegen 9 Uhr fuhr ein Möbelwagen aus der Stadt Weinberge gegen Prag. Auf Anruf des Akzisbediensteten ließ der Kutscher die Pferde stoppen. Als aber der Mann seines Amtes walten wollte, trat ein Herr, der den Wagen begleitete, auf ihn zu und bat, dies möge unterlassen werden, da der Inhalt nicht ungeldpflichtig sei und eine Überraschung darstelle. Der Verzehrungssteuer war aber unerbittlich und nach längerem Hin- und Herreden öffnete er selbst die Türe des Möbelwagens. In demselben Augenblick sprangen aus diesem Wölfe, Bären, Löwen, Tiger und Leoparden mit ohrenbetäubendem Gebrüll heraus. Der biedere Wächter sprang entsetzt zurück und streckte seine einzige Waffe, den Bratspieß, mit dem er ansonsten friedlich unter die Sitze der Equipagen und Straßenbahnwaggons, in die Rückenkörbe der Weiber und in die Heu- oder Kohlenladung der Lastwagen zu stochern pflegte, abwehrend von sich. Aber der Gebrauch der Waffe war nicht nötig, denn die Bestien kehrten nach kaum einer Minute wieder zurück — es war eine Künstlergesellschaft, die als Menagerie zu einem Maskenball nach Prag fuhr. Der Verzehrungssteuerbedienstete atmete hörbar auf.
Auf verschiedene Weise wurden die Leute geprellt, denen die Aufgabe obliegt, für die Lebensmittelteuerung zu sorgen. Sie waren nicht nur die Zielscheibe von Scherzen und Wetten, sondern auch von vielen Schmugglertricks. Aber die gelungensten dieser Gaunerstreiche sind nicht bekannt. Weil sie eben gelungen sind.
Wittenberg, den 1. Juli 1910.
In Prag hatte unser Floß fünf Tage lang Haft halten müssen. Mit schweren Ketten gefesselt lag es im Smichower Floßhafen. In den Gegenden am Oberlauf der Moldau, an der Maltsch und der Luschnitz ließ es nicht ab zu regnen, und auf der Moldau war Hochwasser. Wegen der Gefährlichkeit und wegen der Anordnungen der Strompolizei — oder eigentlich nur wegen dieser — durfte man nicht abfahren. Aber dann sank der Moldauspiegel auf 60 Zentimeter über der Normale — die Grenze des Erlaubten. So fuhren wir.
Das Floß war prachtvoll. Keine dünnen Stöcke, wie sie hauptsächlich von der Sazawa her geflößt werden, sondern breite Riesenstämme. „Eine Salon-Prahme“, hatte mir Herr Max Winterberg versichert, als er meine ihm erstaunliche Bitte, auf einem Floß der Firma „Löwy u. Winterberg“ bis nach Sachsen fahren zu dürfen, in liebenswürdiger Weise erfüllt hatte. Majestätisch schwammen die Balken dahin, ein breites Stück der Moldau erfüllend. Doch schon hinter der Palackybrücke, unter welcher der Mauteinnehmer zu unserem Floß gerudert kam, um die Zahl der Holztafeln zu kontrollieren, nahmen wir eine schmälere Formation an. Es hieß „Einzeln abfallen“, denn das Schittkauer Wehr war in der Nähe, und dessen Floßschleuse ist eng. Während wir bisher mit zwei nebeneinander befestigten Holztafeln gefahren waren, mußte jetzt die linke Floßhälfte losgelöst und rückwärts befestigt werden.
Floßführer und Floßknechte arbeiteten fieberhaft. Der Vorderteil des Floßes wurde durch einen mächtigen Überlegbaum an der nächstfolgenden Tafel befestigt, damit er von der Gewalt der Wassermassen der Schleuse nicht zu tief gerissen werde. Die Durchschlagsstämme, welche je zwölf Balken zu einer Tafel verbinden, wurden scharf darauf angesehen, ob sie nicht schadhaft geworden seien. Die Bindwieden, die Weidenbänder, welche die dreizehn Tafeln des Floßes aneinander festhalten, wurden mit Wasser besprengt, damit sie nicht zu spröde seien und von der Wucht des Schleusenwassers nicht zersprengt würden. Die Flößer bohrten mit Energie und Schwung die harpunenartigen Staaken tief in den Moldaugrund und schritten, sich mit dem ganzen Körper gegen die eingebohrte Stange stemmend, rüstig vorwärts, wobei sie natürlich immer an derselben Stelle blieben, da sich das Floß mit gleicher Schnelligkeit in entgegengesetzter Richtung bewegte. An den Rudern war man beschäftigt, die Prahme in die Verlängerung der Schleuse zu bringen — keine leichte Arbeit, denn das Schittkauer Wehr ist schief gegen den Stromstrich gelegen, weshalb auch die Kanalisierungskommission seine Demolierung und die Errichtung eines neuen Wehres in der Höhe der Schittkauer Mühle projektiert. Das Wehr teilt sich überdies gegen das linke Moldauufer in zwei Arme und das Floß, das mit Mühe richtig in die erste Schleuse eingefahren ist, muß wenige Meter hinterher, inmitten der Gewalt der Schleusenströmung schon in die zweite einlenken. Die Vorsichtsmaßregeln, die der alte Steuermann Vrabec und seine beiden nicht jüngeren Flößer Kolenský und Konečny — die aus drei Leuten bestehende Bemannung des Floßes war zusammen 182 Jahre alt — getroffen hatten, verfehlten ihre Wirkung nicht: Trotzdem die Stämme krachend an den Schleusenrand stießen, kamen die schwimmenden Balken unversehrt durch Strömung und Gischt, und lenkten, die Schützeninsel links liegen lassend, zum Altstädter Wehr ein.
Beim „Frantischek“ erhielten wir Vorspann. Der Remorqueur „Austria“, der die Ehre hat, der erste Dampfer im Weichbilde Prags zu sein, schleppte uns nun bis zum Neumühl-Wehr unterhalb der Karlsbrücke — dem letzten Wehr alter Konstruktion, das bis zur Mündung zu passieren ist. Bisher waren die einzelnen Tafeln des Floßes nur lose aneinander geknüpft gewesen, sodaß, unmittelbar nach Passieren der Schleuse, der Vorderteil schon gegen die Moldaumitte gesteuert werden konnte, ohne daß die noch vor oder innerhalb der Schleuse befindlichen Floßteile aus ihrer Fahrtrichtung gebracht worden wären. Nachdem das Neumühlwehr durchfahren war, wurde dem Floß durch Anspannen der Bindwieden eine steife Formation gegeben. Die Schleuse des neuen Nadelwehres bei der Hetzinsel ist nämlich lang, und es ist streng erforderlich, daß der rückwärtige Teil des Floßes die gleiche Richtung habe, wie die ersten Tafeln.
In Holleschowitz wurde Halt gemacht. Die Schregge, ein um einen festen Punkt drehbarer Riesenbalken, wurde von zwei Flößern senkrecht aufgestellt, und die Spitze bohrte sich tief in den Moldaugrund ein. Ächzend blieb das Floß stehen. Nun ging es auf den hier in breiter Reihe verankerten anderen Flößen ans Land, in das Wirtshaus „Baštecký“. Das war mit Flößern dicht gefüllt. Gesprächsthema: Zwei Prahmen seien in der Hetzinsel-Schleuse auseinander gegangen und die Bemannung, die selbst in Gefahr geschwebt habe, müsse nun den ganzen Tag arbeiten, die Stämme wieder zu ordnen und zu binden. Die Erregung ist allgemein. Darüber, daß die Schleuse schlecht sei, sind alle einig. Auch gegen die Ansicht, daß die deshalb an die Statthalterei gerichtete Eingabe ohne Erfolg bleiben werde, erhebt sich kein Widerspruch. Aber über die Art der Abwehrmaßregeln kann man sich nicht einigen.
„Wir sollten einfach erklären, daß wir nicht durchfahren,“ meint aufgeregt ein junger Flößerbursch.
„Dann fahren einfach andere durch!“ erwidert ihm ruhig ein Steuermann.
„Wir sollten uns auf andere Sachen kaprizieren, so lange die Schleuse nicht gebessert wird,“ meint da ein blutjunger Bursch — der jüngste Steuermann auf der Moldau. Der Sprosse eines Podskaler Flößergeschlechts. Sein Vater ist Floßtransporteur in der Kanzlei einer großen Prager Holzfirma, drei seiner Brüder sind Steuermänner, ein vierter, der gleichfalls Floßführer war, hat vor Jahren den Flößertod im Helmschen Wehr gefunden. „Wir sollten die Flöße ausmessen. Und wenn eines länger ist als 130 Meter, sollten wir nicht darauf fahren — so wie es das Gesetz vorschreibt.“
„Das ist unmöglich,“ wirft ein alter Flößer ein. „Man kann doch die Stämme nicht abschneiden, wenn sie um einen Meter länger sind!“
„So müßte eben eine Tafel weniger angekoppelt werden,“ meint der junge Floßführer.
„Na, dann legt man sie eben als Fracht auf die Prahme, und du bist gerade dort, wo du warst. Im übrigen würde sich das Ausmessen der Flöße nur gegen die Holzhändler richten, und die haben mit der Schleuse nichts zu tun.“
Der junge Steuermann läßt nicht locker: „Wenn sich die Holzhändler der Sache annehmen würden, würde schnell Abhilfe geschaffen werden.“
„Schmarrn!“, belehrt ihn der Alte. „Die Holzhändler haben sich gegen die ganze Moldaukanalisierung eingesetzt, welche die Flößerei fast ruiniert hat. Und was hat’s ihnen genützt?“
Jetzt ist das Fragen an mir: „Wieso hat die Kanalisierung dem Floßtransport geschadet?“
„Weil sie die ganze Moldau verschandelt hat. Ist denn das noch ein Fluß? Gibt es denn noch unterhalb Prags eine Strömung? Lauter gestautes Wasser, lauter Tümpel. Jede Weile muß man sich von Remorqueuren ans Gängelband nehmen lassen. Von Holleschowitz bis Troja, von der Selzer Dynamitfabrik bis Kletzan, von Žalow bis Libschitz, von Libschitz nach Miřowitz, von da nach Wranian, von hier nach Hořin, dann nach Beřkowitz, dann nach Wegstädtl müssen wir uns von den Remorqueuren ins Schlepptau nehmen lassen. Lauter Vorspann, lauter blöde Schleusen. Gott sei Dank, daß das Land kein Geld hat. Sonst hätten sie uns auch schon in Leitmeritz und Raudnitz solche Hürden errichtet. Lauter Wehrmeister, lauter Kontrolle ...“
„Nicht einmal ein Mädel kann man sich mitnehmen,“ brummt ein junger Flößer, ein „Podskalák“ von reinstem Wasser, der sich eine Schmachtlocke so tief über das rechte Auge gekämmt hat, daß er auf diesem fast blind sein muß.
„Na, du nimmst dir ein Mädel auf jeden Fall mit! Und wenn du es unter dem Floß vor dem Wehrmeister verstecken müßtest.“ So ruft man lachend dem „Don Juan von der Wasserkante“ zur Antwort, und selbstgefällig streichelt das Wassergigerl seine Stirnlocke.
Dann ergreift mein Steuermann das Wort: „Früher wars eine Kunst zu flößen. Wenn man sich nicht auskannte, saß man flugs auf dem Trockenen. Im Jahre 1872 flößte ich mit zwei anderen jungen Burschen am alten Buchta vorüber. Der Buchta, das war ein guter Steuermann. Jetzt ist er schon lang tot. Damals war er auf einer Sandbank stecken geblieben und mußte Wasser stauen, um die Prahme flott zu kriegen. Als wir vorbeischwammen, schimpfte der Alte: Verfluchte Buben! Wir alten Esel bleiben stecken und die fahren glatt vorbei!“
Wenn jetzt der Steuermann nur hinzugefügt hätte, daß ein solches Auffahren auf Sand heute nicht mehr vorkommen könne, so hätte er den Anschein zu erwecken vermocht, er habe die Geschichte vom alten Buchta nur erzählt, um zu zeigen, wie damals selbst der erfahrenste Steuermann eine böse Fahrtunterbrechung erleiden konnte. Aber der Erzähler hat darauf verzichtet. Offen rühmt er sich des Buchtaschen Zitates, dessen Datum er sich durch 38 Jahre gemerkt, in denen er etwa 1200 Floßfahrten unternommen. Der Fluch des alten Buchta ist dem alten Vrabec ein kostbares Vermächtnis.
Ein Bediensteter der Schiffahrtsgesellschaft kommt jetzt in das Gasthaus und meldet, daß der Remorqueur, der andere Flöße bis Troja gezogen hat, eben zurückkehrt. Man bricht auf und bald schwimmt das Floß wieder talwärts.
Im Karolinentaler Hafen werden je vier Flöße zu einem Schleppzuge, dem „Transport“, rangiert. Die beiden vorderen Prahmen werden mit zwei Seilen an den Schleppdampfer gebunden und die vier Flöße mit einander verknüpft. Jetzt ist für die Flößer Zeit zur Rast. Nur hie und da muß an den Vorderrudern gearbeitet werden, damit man bei scharfen Biegungen des Flusses nicht an das Ufer anrenne. Im übrigen wird jetzt bloß für das eigene Wohl gesorgt. Steuermann und Flößer setzen sich auf die Holzladung, die auf dem Floße ruht, und stecken ihr Pfeifchen in Brand. Einer der Flößer richtet den Feuerherd her. Rasenstücke, die aus Prag mitgenommen worden sind, werden auf der Holzladung hoch aufgeschüttet und reichlich mit Wasser begossen. Dann klatscht der „Hafner“ mit der flachen Rückseite einer Schaufel das Erdreich glatt, wobei dem anderen Flößer einige andere Kotpatzen in das Gesicht fliegen, was von diesem mit unvergleichlich prachtvollen Schimpfworten (Made in Podskal) quittiert wird. Nun wird ein Stück von einem Rundbalken abgesägt, klein gehackt, und bald flackert ein lustiges Herdfeuer über den Wassern. Die irdenen Kochgefäße hat einer der an vielen Stellen heranrudernden Marketender den Flößersleuten gegen ein stattliches Stück Buchenholz eingetauscht. Jetzt brodelt Kaffee in den Gefäßen, dem ein verteufelt starkes Quantum Rum beigemengt wird. Dann wird gejaust. Um die Fahrt braucht man sich nicht zu sorgen.
Das gestaute Wasser ist still und unbeweglich. Lautlos fährt das Vierfloß durch diesen Teich, und nur sein Vorderrand wird von leichten Wellen umspült, die der vorauseilende Remorqueur verursacht. Fast scheint es, als ob dadurch, daß dem Flusse die Strömung genommen wurde, auch die Uferlandschaft ihrer Romantik verlustig gegangen wäre. Es fehlt den Bäumen, deren Zweige auf das Wasser überhängen, es fehlt den Sträuchern, welche die beiden Flußränder umrahmen, ein strömendes, an das Ufer plätscherndes Wasser. Die ganze üppige Landschaft sieht eintönig drein. Die Balken des Floßes schaukeln nicht, man spaziert auf ihnen wie auf einem Parkettboden.
Um so mächtiger wirkt der Kontrast, wenn man durch die Schleusen fährt. Etwa zweihundert Schritt vor dem Wehr wendet sich der Dampfer mit einem schrillen Pfiff, die vier Flöße des Transports knüpfen sich von einander und vom Remorqueur los, und fahren einzeln — eine Distanz von 400 Metern einhaltend — durch die Schleusen. Das ist ein Nervenkitzel. Man möchte aufjauchzen während dieser Fahrt. Die Wellen schlagen hoch über die Balken und peitschen das lodernde Herdfeuer, ohne es verlöschen zu können, in das Geräusch der aus der Höhe zurückklatschenden Wogen mischt sich das dumpfe Krachen der Randbalken der Floßtafeln, die in ohnmächtiger Wut gegen die Steinwände des künstlichen Hohlweges Sturm laufen und jeden Augenblick die Prahme zu zerschellen drohen. Einzelne Balken sind durch das darüber schlagende Wasser verdeckt und es scheint, daß die Binden entzweigegangen, das Floß in seine Bestandteile zerrissen worden sei. Die Plattform der Prahme, die erste Floßtafel, ist vollständig unter den schäumenden Wassermassen vergraben, trotzdem ein am zweiten Floßgliede befestigter Mastbaum sie krampfhaft in die Höhe zerrt. In der Mitte der zweiten Floßtafel steht der Steuermann, auf deren rechtem und linkem Rande die beiden Gehilfen. Und wenn das Ende der Schleuse nahe ist und die Vordertafel aus dem Wasser emportaucht, dann rennen die drei in wilder Hast, der Wogen nicht achtend, die hoch über ihre Wasserstiefel schlagen, zu den Steuerrudern. Es gilt nach innen zu lenken, sonst würde die Gewalt des Schleusenwassers die schwanke Prahme auf die Uferböschung treiben. Kaum ist das Wehr passiert, so glätten sich die Wasser, die Balken ordnen sich wieder parallel und an das Toben des Elementes, in dessen Mitte man sich eben befunden, erinnert nur noch ein Blick nach rückwärts: Das nächste Floß saust kämpfend die Schleuse hinab ...
Hinter jeder Schleuse sammeln sich die vier Flöße des Transportes wieder, ein anderer Remorqueur wird vorgespannt, und es geht bis zum nächsten Wehr.
In Jedibab, einem von Gott und Menschen verlassenen Nest, machten wir Nachtquartier. Das Dörfchen liegt nicht einmal am Ufer, und man hat von diesem noch gute 20 Minuten auf schlechten Wegen zu gehen. Aber Jedibab hat das Glück 33 Kilometer von Prag gelegen und derjenige bewohnte Punkt zu sein, welcher dem Nadelwehr von Wranian am nächsten liegt. Die Flöße kommen nachts hier an, und da sie die Kammerschleuse nicht mehr passieren können, so wandert die Bemannung in das Dorf, das auf diese Weise zu einem gar nicht zu verachtenden Fremdenverkehr gekommen ist. Man aß hier in der Schenke ein Stück warmen Brotes und trank ein ebensolches Bier. Dann wurden Strohsäcke ins Wirtslokal geschafft und man ging schlafen. Draußen peitschte ein scharfer Regen die Fensterscheiben. Das nahmen die Flößer mit schadenfrohem Lachen zur Kenntnis, denn einer von ihnen, der erklärt hatte, es falle ihm nicht ein, das teuere Hotellogis (in Jedibab beträgt der Preis für das Nachtlager 8 Heller, in einigen anderen Stationen wird nichts berechnet) zu bezahlen, war draußen am Floße über Nacht geblieben. Die anderen malten sich schon aus, wie sie ihn am Morgen uzen wollten. Aber dazu kam es nicht. Als um ¼2 Uhr nachts aufgestanden und die Weiterreise angetreten wurde, goß der Himmel noch immerfort Wassermassen auf das Floß, das oben bald ebenso feucht war, wie unten. Die Balken waren naß und glatt, bei jedem Schritte, den man machte, rutschte der Fuß aus und man fiel in das tote Wasser zwischen den einzelnen Balken und Tafeln. Finstere Wolken, die wie schwarze Berge aussahen, schienen wenige Schritte vor dem Floße zu liegen und den ganzen Strom zu verstellen. Das Floß fuhr weiter, aber da sich die Distanz zwischen ihm und den schwarzen Bergen durch Stunden nicht verringerte und die Ufer in dem Nebel nicht erkennbar waren, so sah es aus, als ob sich die Prahme nicht von der Stelle rühre, als ob sie mit einer unsichtbaren Schregge festgehalten würde.
Dabei knurrte der Magen. Im Jedibaber Restaurant haben wir früh weder Kaffee noch Brot bekommen und an ein Feueranmachen auf dem Floße war in dem gießenden Regen nicht zu denken. Proviant hatten wir nicht und kein einziger schwimmender Marketenderwagen ließ sich blicken. Wenn ein Gasthaus von der Ferne sichtbar wurde, dann brüllte der alte Flößer Kolenský mit heiserer Stimme, der die Verzweiflung eine furchtbare Gewalt lieh, sein „Pivo“ über Wasser und Land. Immer heiserer, immer verzweifelter klang sein Sehnsuchtsschrei, und als er hinter der Sprachgrenze, von Liboch und von Wegstädtl an, nach „Bier“ zu schreien begann, tönte sein Ruf wie der Todesschrei eines verwundeten Hirsches. Die Leute an den Ufern vernahmen das Flehen und eilten mitleidsvoll in das Gasthaus, wo der Wirt ein Paar Gläser einschenkte und in den Kahn einstieg, um zum Floße zu rudern. So sehr er sich aber auch beeilen mochte — die Strömung war schneller und unser Floß war schon vorbei, als er herankam. Der Wirt wartete in der Mitte des Stromes und bot dann seine Biere der Bemannung der nächsten Flöße — unseres schwamm als das erste — zum Kaufe an. Diese konnte natürlich nicht in jedem Orte Bier trinken und am Abend erzählten uns die Flößer in der Schenke, wie die Wirte auf den Booten geflucht, als ihnen das mit so viel Eindringlichkeit bestellte Bier auf dem Halse blieb. Was aber können die Flüche aller Wirte gegen jeden einzelnen Fluch bedeuten, den der durstige Kolenský jedesmal ausstieß, wenn er sah, wie das von ihm bestellte Bier den „Nachfahrern“ angeboten wurde!
Ein Anlegen des Floßes während der Fahrt — sei es wegen Sturmes, Regengusses oder Hagelschlags, sei es infolge Hungers oder selbst Durstes — gibt es nicht. Nur wenn der Flößer Feierabend machen muß, weil es ihm die Vorschrift anordnet und weil er die Ufer nicht mehr erkennt, hält er an. Er weiß, daß ihm die Reise als solche sehr gut bezahlt wird (so erhält z. B. der Steuermann für die 2½ Tage währende Fahrt nach Mittelgrund 59 K.), daß er aber auch an den Tagen, an denen er sich auf keinem Holztransport befindet, daß er auch in den vier Wintermonaten von seinen Reisehonoraren zehren muß. Er muß trachten, von seiner Fahrt so bald es möglich zurück zu sein, um einen neuen Holztransport zugewiesen zu erhalten. Das ist der oberste Grundsatz des Flößers, und trotz des verzweifelten Durstes fiel es dem alten Kolenský nicht ein, ein Anlegen des Floßes zu verlangen. Erst um 7 Uhr abends nahmen wir, die wir um ¼2 Uhr nachts aufgebrochen waren, in Birnai, einem Dorfe oberhalb Aussigs, unser Frühstück (einige Bierquargel) ein.
Um 1 Uhr nachts brachen wir wieder auf. Die Nacht, durch die wir glitten, war dunkel, aber die machtvollen Zacken der Uferberge waren sichtbar. Drohend und schwarz schob sich der zerklüftete Workotsch in das nächtliche Elbtal hinein, rechts blickte der Schreckenstein noch düsterer als sonst übers Land. Es war ein Anblick, den selten ein Tourist zu genießen Gelegenheit hat, vom Niveau des Wassers die wechselnden Schattenrisse des Elbpanoramas zu bestaunen. Eine Reise durch eine Silhouettenlandschaft. Wenige Stunden später wurden auch die Hänge der Uferlandschaften sichtbar, allerdings nur in dem bizarren Rahmen der Nebelrisse. Als wir hinter Tetschen das Elbesandsteingebirge erblickten, war schon die Morgensonne mit glänzendem Leuchten aufgegangen und bestrahlte die Elbfluten und die seltsamen Felsgebilde an den Ufern. Das ruhig dahingleitende Floß war wohl ein besonders geeignetes Beobachtungsniveau für die Schönheit der Landschaft.
Ich bin auf der Elbe weitergefahren. Noch immer — jetzt bin ich in Magdeburg — ist, wenn man von der stellenweisen Remorquage absieht, die Elbströmung die einzige treibende Kraft für das Fahrzeug, dessen Passagier ich bin. Auf meiner Fahrt habe ich manches herrliche Bild auf den Elbufern gesehen, aber noch nichts hat die Pracht der Landschaft zu übertreffen vermocht, die sich in der Heimat, von Leitmeritz bis über die Grenzen des Nachbarlandes bis zur Bastei nächst Wehlen breitet.
„Departement für die öffentliche Sicherheit.“ So steht es auf dem Torschild. Aber das ist ungenau, unpräzis. Sagt zu viel, also zu wenig. Denn in das Gebiet der öffentlichen Sicherheit gehören auch Baubehörden, Schieneninspektionen, Feuerwehren, Rettungsstationen, Kesselprüfungen, Automobilvorschriften, Kutscherschulen und viele andere Dinge, mit denen das Sicherheitsdepartement nichts zu tun hat. Immerhin bleiben ihm noch mehr als genug Agenden. Und auf die Art dieser Agenden weist viel deutlicher als die Aufschrift auf dem Schilde das Relief hin, das über dem Tore prangt und eine Zusammenstellung dreier Symbole zeigt: Das Richtbeil, das Fascesbündel und die Wage der Themis. Nun wird zwar hier im Departement das Richtbeil nicht geschwungen, die Themis hat hier noch nicht ihre wägende Tätigkeit zu entfalten und die Fasces, das Sinnbild der strafenden Gewalt über Tod und Leben, dürfte eigentlich erst die nächsthöhere Instanz, der Gerichtshof, mit voller Berechtigung im Wappen führen. Jedoch das Sicherheitsdepartement ist Agentie und Werbeamt, und wenn es durch seine Beamten und Detektivs nicht das Menschenmaterial herbeischaffen würde, so könnten sich die symbolischen Manipulationen mit Richtbeil, Fasces und Wage im allgemeinen nur auf die kleinen Gauner, die genügsamen Dorfdiebe und die armen Landstreicher erstrecken, welche die Gendarmerie dem Landesgerichte überantwortet.
Übrigens ist es die Verbrecherwelt nicht allein, auf die sich die Tätigkeit des Sicherheitsdepartements erstreckt. Mit allerhand Anliegen kommt man in diese Räume. Da ist ein ehrsamer Handwerksmann, der sich seit einigen Tagen durch die Amtslokalitäten schleicht. Auf seinem Wege muß er durch das Zimmer der Detektivs. Die kennen den wackeren Bürger und schütteln die Köpfe: Wie der in den letzten Tagen gealtert ist! Der Ankömmling geht zu dem Beamten, der die Vermißten und Wiedergefundenen in Evidenz führt. Dieser, ein junger Polizeikonzeptspraktikant, kennt schon des Alten Begehr und hat diesem schon einigemale den Bescheid gegeben, daß man von dem Aufenthalte seines Sohnes, der nach mißglückter Prüfung nicht mehr nach Hause zurückgekehrt ist, noch immer nichts wisse. Heute aber ist die Nachricht da, eine Hiobspost: Die Leiche des jungen Mannes ist aus der Moldau gezogen worden. Der junge Polizeipraktikant spielt verlegen mit dem Bleistift. Wie soll er dem Alten die furchtbare Botschaft beibringen. Er nötigt ihn, sich zu setzen. Da weiß der bedauernswerte Handwerksmann schon alles.
„Tot?“, stößt er hervor. Und bald hält er das Telegramm in Händen, das im Lapidarstil die Bestätigung der ärgsten Befürchtungen des Vaters birgt.
„Tot“, schluchzt der Alte, „tot! Und ich bin schuld. Ich habe ihn studieren lassen, damit er’s besser hat, wie ich! Tot!“
Am gegenüberliegenden Tisch wird ein Fall von grundverschiedener Natur verhandelt, aber auch etwas, was mit der öffentlichen Sicherheit gar wenig zu tun hat, auch etwas Unkriminalistisches im Kriminaldepartement. An den Grenzen des Polizeirayons ist ein Weib aufgelesen worden, das kaum viel mehr als einen Meter groß, taubstumm, irrsinnig und halbblind ist und nun apathisch bei dem Tische des Kommissärs steht. Dieser hat auf den ersten Blick gesehen, daß aus der Alten über ihre Identität und Heimatszuständigkeit nichts herauszubekommen ist, und so setzt er sich resigniert und schreibt zuerst einen kurzen Begleitakt an das Taubstummeninstitut, wohin die Arme zunächst gebracht werden muß, damit man dort versuche, mittels Zeichensprache ihr irgendwelche Angaben zu entlocken. Aber im Taubstummeninstitut wird man die Alte nicht behalten, weil sie irrsinnig ist, ebensowenig wie man sie in der Landesirrenanstalt aufnehmen wird, weil sie taubstumm ist. Und so muß ein zweiter Akt an den Magistrat abgesandt werden, der aus dem Tschechischen ins Amtsdeutsch übersetzt, folgendermaßen lautet: „Inliegend beschriebene, unbekannte Taubstumme wird zur Unterbringung in das Gemeindearresthaus bis zur Feststellung ihrer Heimatszuständigkeit in Empfehlung gebracht.“ Und dann muß die Beschreibung, die polizeiliche Photographie, die Stilisierung der Notiz für den „Polizei-Anzeiger“ erfolgen. Unwillig brummt der Kommissär in den Bart: „Wenn nur die Gemeindevorsteher in die Bluse solcher Kretins den Namen der Heimatsgemeinde einnähen ließen, dann könnte man solche arme Leute gleich per Schub nach Hause befördern, und alle diese Scherereien, Schreibereien und Suchereien wären erspart!“ Ja, wenn! Aber das tun die Gemeindevorsteher wohlweislich nicht, denn jeden Tag, der mit den Recherchen verloren geht, hat die Gemeinde an Erhaltungskosten für den lästigen Dorftrottel erspart!
Die Expediträume des Sicherheitsdepartements beherbergen gleichfalls eine Gruppe unkriminalistischer Gäste. Fünf oder sechs Männer und eine junge Frau stehen dort beisammen. Jeder hält eine Harfe in der Hand und die gibt alles an — Legitimation, Heimatsort, Leidensgeschichte und Begehr. Aus dem Harfenistenstädtchen Nechanitz sind sie, von wo die böhmischen Wandermusikanten stammen, und ihre Schicksale sind die ewig alten: Vom Impresario engagiert, ausgebeutet und ohne Entlohnung verlassen, von den österreichischen Auslandsbehörden nach Prag einwaggoniert, kommen sie ins Sicherheitsdepartement der Polizei, um eine Reiseunterstützung zu erbitten. Jeder erhält eine Eisenbahnkarte von Prag nach Königgrätz oder den Fahrpreis von K 4.40 auf die Hand. Und von Königgrätz gehen sie zu Fuß ins Heimatsstädtchen und leben hier, bis sie wieder ein Impresario engagiert, ausbeutet, ohne Entlohnung verläßt ... ad infinitum.
Selbst im anthropometrischen Kabinett kann man oft unkriminelle Leute sehen, obzwar dieses, wie schon aus dem Namen und der daraus zu deduzierenden Bestimmung ersichtlich ist, nur für die Rückfälligkeit, beziehungsweise die zu befürchtende Rückfälligkeit der hier gemessenen Verbrecher eingerichtet ist, und obzwar hier schon das Milieu, und die Einrichtungsstücke darauf deuten, welche Beachtung man den Inhaftaten zollt. Mit Kopfzirkeln, Ohrmessern, Meßkreuzen, Sitzhöhenmaßen, Narbenmaßen, Fingerdruckkissen und dem übrigen Instrumentarium der beiden Bertillons wird man doch nicht die Personaleigentümlichkeiten bedauernswerter Bettler, harmloser Kretins und unterstützungsbedürftiger Musikanten auf der Meßkarte verewigen! Gewiß nicht. Man braucht aber auch nicht zu glauben, daß jedes halbwegs ehrliche Gesicht, das man hier auf Ohren-, Nasenlänge und Pupillennuance mißt, gleich das Wort von der „Verbrecherphysiognomie“ Lügen straft. Gar viele Abdrücke von Finger-Papillarzügen, die in die Meßkarten-Registratur einverleibt worden sind, müssen nie wieder hervorgeholt werden. Und der im anthropometrischen Kabinett tätige Beamte hat schon von seinen Klienten, besonders jenen, die im jugendlichen Übermut entgleisten, das Wort gehört:
„Meine Maße werden Sie nie mehr brauchen!“
Das verrät, schon nach dem Tonfall, Selbstmordabsicht. Aber der Beamte hat da einen alten Kniff. Er mißversteht absichtlich.
„Nun, es freut mich zu hören,“ bemerkt er wohlwollend, „daß Sie von nun an alle derartigen Entgleisungen vermeiden wollen. Denn wenn Sie noch ein zweites Mal hierher kommen, dann sind Sie für Ihr ganzes Leben als Verbrecher gebrandmarkt.“
„Das bin ich schon,“ lautet die stereotype Antwort, „jetzt kommt es in die Zeitungen, alle Leute erfahren es ...“
„Nun, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie von jetzt ab ein ehrlicher Mensch sein wollen, dann verspreche ich Ihnen, mich dafür einzusetzen, daß Ihr Name nicht in die Zeitung kommt. Einmal ist keinmal! Ihr Ehrenwort?“
Gar mancher gibt hier im anthropometrischen Kabinett das ehrenwörtliche Versprechen. Und mancher hält es auch.
Wenn dann wirklich nach ein paar Jahren ein solcher junger Mann als ehrlicher, tüchtiger Mensch in das Sicherheitsdepartement kommt, um sich dafür zu bedanken, daß man ihn einst so vom Selbstmord abgehalten, dann ist das auch ein unkriminalistischer Besuch bei der Kriminalpolizei. Der einzige freilich, den man dort gerne sieht.
Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an, wenn ich so um fünf Uhr früh beim Café Kandelaber mein Frühstück verzehre. Es ist zwar ein famoser Trunk, der 80gradige, mit angenehm im Magen flammendem Rum vermengte Tee, der hier kredenzt wird — aber er bleibt doch nur ein Frühstück, ein verteufelt kategorischer Schlußpunkt nach einer schönen, kaum begonnenen Nacht. Das ist es, was mich grollen macht. Ich bin bös auf die ganze Welt. Es ist aber auch wirklich zu arg mit ihren Einrichtungen. Jedes Schulkind weiß z. B., daß der Erfinder der Dampfmaschine James Watt hieß. Weil dieser beim Brodeln eines Teekessels auf die Idee kam, die Dampfmaschine zu erfinden. Auch schon etwas? Ein anderer Erfinder, der wohl beim Vorbeifahren einer Dampfmaschine, sei es einer Lokomotive oder einer Lokomobile auf die Idee kam, sie als Teekessel zu verwerten, ist keinem Schulkinde bekannt, seinen Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch. Und doch ist die Verwendung der Lokomotive als Teekessel — das „Café Kandelaber“ — eine Erfindung, die Hunderten von müden Pilgern im nächtlichen Prag die Wohltat eines aufpulvernden, wärmenden Trankes gewährt. Der Name eines solchen Wohltäters wird in der Weltgeschichte nicht verzeichnet! Ich muß meinen Groll hinunterspülen.
„Frau Jemelka, noch einen Achtziggradigen, Zwanzigprozentigen um fünf, etwas zum Aufweichen und zwei Retten.“
Frau Jemelka stellt ein Glas unter die Mündung des Messingrohres, dreht den Hahn nach rechts und läßt die Essenz in mein Glas rinnen, in welches nun das heiße Wasser kommt. Dann sucht sie mir eine Mohnbuchte zum „Aufweichen“ aus und gibt mir zwei „Sport“. Sie weiß ganz gut, daß mit der Bestellung der Retten — so wird der Ausdruck „Zigaretten“ in vorgerückter Nachtstunde abgekürzt — nur „Sport“ gemeint sein können, damit die Zeche die runde Summe von 20 Hellern ausmache.
Jawohl, bloß zwanzig Heller! Man zeige mir, bitte, ein Kaffeehaus, wo für dieses Geld ein warmes Frühstück mit Mehlspeise und Zigaretten erhältlich ist. Dabei habe ich noch die feinere Teesorte, die um 10 Heller — nobel muß die Welt zugrunde gehen! — getrunken und „Sport“, statt der billigen und hier bedeutend stärker verlangten „Drama“ geraucht.
Frau Jemelka steckt das Zwanzighellerstück in eine Blechbüchse, die ihr als feuer- und einbruchssichere Kassa dient. Zwölf Prozent gehören der „Cafetiere“, die nicht selbständige Unternehmerin ist, sondern eine Angestellte der Kleinschen Likörfabrik vom „Roten Stern“ in Karolinental. Das fahrbare Teehaus ist Eigentum der Kleinschen Fabrik und diese liefert die Essenz, die Tee, Rum und Zucker enthält. Den Erlös der verkauften Quanten, abzüglich der Provision von zwölf Prozent, muß Frau Jemelka abführen.
Keine Angst, die gesetzte, ins Pragerische transponierte Geisha kommt trotz alledem auf ihre Kosten. Das ambulante Teehaus, das manchen nächtlichen Passanten nährt, nährt auch seinen Mann. Im Winter kommen die Bettmeider frierend zu dem Teeverschleiß, um sich an dem behaglichen Koksofen zu wärmen, im Sommer aber gibt es zahllose Menschen, welche den im Einkehrhaus „U valšu“ zu entrichtenden Logierpreis von 20 Hellern als eine überflüssige Ausgabe betrachten, und lieber in der lauen Luft der Gassen umherspazieren. Die statten dann dem „Café Kandelaber“ längere Besuche ab und geben oft dreimal so viel Geld aus, als das Nachtquartier kosten würde.
Außerdem haben die Kandelaber-Cafetiers noch ganz gute Nebeneinkünfte. Wenn irgend ein Neuling kommt — an der Frage nach dem Preise eines Glases Tee ist er erkennbar — dann wird ihm statt der feinen, der 10 Heller-Essenz, die 8 Heller-Essenz gereicht, aber das Greenhorn muß den teuereren Preis bezahlen. Oder wird der Hahn des Kesselrohres zurückgedreht, bevor das vorschriftsmäßige Quantum der Essenz herausgeronnen ist. Wehe aber, wenn der Teemann eine solche Manipulation bei einem gewiegten Bummler in Anwendung bringen wollte! Der weiß ganz genau, daß der rechte der beiden durch ein festes Schloß vor Verfälschung oder Verwässerung durch den Kandelaberwirt geschützte Kessel die teure, der linke Kessel die billige Essenz birgt, und der wacht mit Argusaugen darüber, daß kein Tröpfchen der vorgeschriebenen Essenzmenge im Rohre des Kessels bleibe. Der würde für einen Übervorteilungsversuch Worte finden, die selbst in dem Milieu des Café Kandelaber ihre Wirkung nicht verfehlen würden.
„Café Kandelaber.“ Eigentlich haben die gastlichen Lokomotiven, die in der Nacht an den Straßenecken Station machen, offiziell einen anderen Namen. „Ambulance heißer Getränke“ steht mit goldenen Lettern auf der Wagenfront. Aber der Ausdruck hat sich nicht eingebürgert. Er trifft auch nicht mehr so recht zu. Freilich ist das Teehaus ambulant, und um die neunte Abendstunde kann man das nicht mehr ungewohnte, darum aber nicht minder seltsame Schauspiel genießen, eine Lokomotive mit einer vorgespannten Dogge durch die Straßen fahren zu sehen. Dann aber bezieht sie ihren Standplatz, den sie jahraus, jahrein innehat, der Hund kuscht sich zwischen den Rädern, und Wagen und Hund rühren sich bis zum Morgengrauen nicht von der Stelle. Früher, vor etwa dreißig Jahren, war das anders. Da fuhr der Teemann durch die Straßen und machte nur auf Anruf eines hungrigen oder durstigen Passanten Halt. Dieses Geschäft, das nur auf dem Zufall einer solchen Begegnung aufgebaut war, rentierte sich nicht. So zogen sich denn die Kandelaber-Cafetiers resigniert an die Ecken der Gassen oder an die Kandelaber der Plätze zurück. Und siehe da! Kaum hatte sich der Planet in einen Fixstern verwandelt, so war er schon beliebt. Da der Berg nicht mehr zum Mohammed kam, da kamen die Mohammedaner zum Berg. Der Ausdruck „Café Kandelaber“, dessen beide Worte so prächtig mit einander kontrastierten, wurde populär und er ist dieser Erfrischungsstelle bis zum heutigen Tage geblieben, obwohl jetzt eine Verwechslung möglich wäre, da sich ein findiger Wirt für sein Nachtkaffeehaus in der Karlsgasse, dessen Stammgäste sich aus denselben Gesellschaftsschichten rekrutieren, aus denen die Gäste der fahrbaren Teehäuser stammen, den Namen „Café Kandelaber“ behördlich protokollieren ließ.
Von da ab erfreuten sich die fahrbaren Teehäuser steten Zuspruchs. Die Droschkenkutscher des nahen „Staffels“ und der gleichfalls dicht benachbarte Würstelmann polemisierten und pokulierten, bis längst das Licht auf der Höhe des städtischen Kandelabers verlöscht und die Wagenlaterne des „Kaffeehauses“ angezündet war. Zu ihnen gesellten sich Nachtvögel verschiedener Gattungen und blieben auch keine kürzere Zeit stehen. Der Teewagen auf dem Altstädter Ring erfreute sich einer so außerordentlichen Beliebtheit, daß sie dem Wirte sogar verhängnisvoll wurde. Hier strömten nämlich zu der Zeit, als noch die Josefstadt nicht assaniert und voll von niedrigen Beiseln war, nach der Gasthaus-Sperrstunde verschiedene Leute zusammen, die hier ihre Affären der Liebe, des Alkohols und des Verbrechens fortsetzten. Das ging gar nicht leise und gar nicht ohne blutige Raufhändel ab. Das „Café Kandelaber“ war fast täglich in den Rapporten des Altstädter Polizeikommissariates erwähnt und schließlich verbot man dem Wirt diesen Standplatz. Er durfte den Ring überhaupt nicht mehr passieren und erst als die dunkelsten Häuser der Josefsstadt dem Erdboden gleichgemacht worden waren, durfte er wieder in das gelobte Land einziehen. In der letzten Zeit wird diese Geschichte in den Kreisen der „Kandelaber“-Gäste besonders oft besprochen. Man glaubt, daß durch dieses seinerzeitige Platzverbot ein Präzedenzfall vorhanden ist, der dem Teemann vom Josefsplatz verhängnisvoll werden kann: Man werde ihm diesen Platz verbieten, damit er dem Repräsentationshaus keine Konkurrenz mache.
Es ist fünf Uhr geworden. Schon graut der Tag und dem Leser. Ich muß meine sachlichen Erwägungen schließen, wenn ich noch rechtzeitig zum Five-o’clock-tea ins „Café Kandelaber“ kommen will.
Man kann freilich von einer Brücke nicht verlangen, daß sie außer einem Fluß auch noch die sozialen Gegensätze überbrücken soll. Aber die Prager neuen Brücken verschärfen diese Gegensätze noch, denn die Armen haben jetzt oft einen nahen Weg vor sich und müssen doch — um den Brückenkreuzer zu ersparen — den Umweg über die älteste Brücke, die unentgeltliche Karlsbrücke, machen. Durch die Prager Brücken werden zwar die Stadtteile verbunden, aber die Bewohner dieser Stadtteile haben keine Ursache dafür verbunden zu sein. Denn der Brückenkreuzer ist eine Unbequemlichkeit für die Reichen, eine empfindliche Ausgabe für die Armen. Jedesmal, wenn man in Prag eine Brücke schlägt, so schlägt man dem modernen Verkehrswesen ein Schnippchen und die Logik aufs Haupt, indem man je ein Mauthäuschen an die Brückenenden setzt.
Das Vergnügen, in den verschiedenartig duftenden Anlagen des Stadtparkes und auf dem von Alpinisten sehr geschätzten Pflaster der Prager Straßen zu promenieren, hat man ganz umsonst. Aber die Notwendigkeit über eine Brücke zu gehen, die muß man bezahlen. Obwohl das Prager Pflaster noch teurer ist als die Prager Brücken. Von der Verkehrshemmung, welche die Einhebung der Brückenmaut bedeutet, gar nicht zu reden. Man stelle sich vor, daß auf der Weidendammer oder auf der Potsdamer Brücke in Berlin jeder Passant stehen bleiben, jedes Auto stoppen müßte, um zwei oder fünf Pfennige zu bezahlen. Auch der gemütliche Wiener würde wohl verteufelt ungemütlich werden, wenn er sein „letztes Kranl“ wechseln müßte, um über die Aspernbrücke gehen zu dürfen.
Aber es wird uns doch ein Äquivalent für die Entrichtung des Brückenzolls geboten. Das sind die Straßenbilder und die Geschichten, die sich auf diese Institution gründen, und um die uns jede andere Stadt beneiden muß. Hier fleht ein Bettelweib mit weithin hörbarem Weinen die Gnade des Brückentyrannen an, dort nimmt ein kleines Kindermädchen den ihr anvertrauten fünf Jahre alten Bengel keuchend auf den Arm, hier schlängelt sich ein Gamin zwischen zwei Straßenbahnwagen auf die Brücke, dort springt ein Prager „Pepík“ vor dem Mauthäuschen auf die Elektrische, um jenseits des Häuschens wieder abzuspringen — alles, um zwei Heller zu ersparen.
Auch andere Typen und Geschichten sind bekannt. Ein Einjährig-Freiwilliger hat den Brückenkreuzer prinzipiell — „ich lasse mir nichts schenken“ — bezahlt, trotzdem ihn die Uniform zu freiem Eintritt berechtigte. Von dem Jungtürken, der es absolut nicht verstehen konnte, wie ein fremder Mann auf offener Brücke von ihm ein Bakschisch zu verlangen wage, und dem schließlich eine hundertköpfige Menschenmenge zu Hilfe kam, war im November des vorigen Jahres in allen Blättern zu lesen. Der uralte Ulk des Defilees im Gänsemarsch ist bei den Bewohnern des Mauthäuschens gar nicht beliebt, weil sich diese die Mühe nehmen müssen, die Teilnehmer des Zuges, für die der Letzte zahlen soll, genau zu zählen. Zum Glück läuft der zahlungspflichtige Letzte gewöhnlich davon, so daß ein Rechenfehler ohnedies gleichgültig ist. Es gibt viel solcher Scherze.
Rückte da neulich ein Marsjünger in Zivilkleidern, nur an der keck über dem linken Ohre baumelnden Mütze als k. u. k. Infanterist kenntlich, vom Ernteurlaub nach Prag ein. An dem Smichower Ufer streckte ihm der Zöllner begehrlich seine Hand entgegen. Der Urlauber aber verweigerte die Zahlung des Tributs. Er sei Soldat und als solcher brauche er keinen Kreuzer zu zahlen. Der Mauteinnehmer wies auf die Zivilmontur des Widerspenstigen, dieser legitimierte sich mit seinem Urlaubsschein als Angehöriger der Armee. Da die Frequenz auf der Brücke gerade sehr groß war, so hatte sich bereits ein stattliches Häuflein von Zuschauern um die streitenden Parteien geschart. Nun konnte der Zöllner erst recht nicht nachgeben, wenn er nicht sein Ansehen einbüßen wollte. Aber auch dem Krieger kam es nicht in den Sinn, der Klügere zu sein, und er bestand auf seinem Schein. Wer weiß, welche Dimensionen der Rechtsstritt genommen hätte, wenn nicht zufällig ein Einjährig-Freiwilliger des Weges gekommen wäre, der in hilfsbereiter Weise für seinen Fahnenbruder zwei Heller auf das Opferbrett der Stadtgemeinde niederlegte? Der also losgekaufte Urlauber aber setzte seinen Weg nicht sogleich fort, sondern eilte in die genau gegenüber dem Mauthäuschen auf der Brücke gelegene Tabaktrafik. Er kaufte sich für die ersparten zwei Heller zwei „Drama“-Zigaretten und zog, die eine „Drama“ zufrieden im Munde haltend, die andere kokett hinter dem Ohre, unter dem Lachen des Publikums so stolz über die Brücke, wie einst im Mittelalter siegreiche Belagerer über die endlich heruntergelassene Zugbrücke in die Burg des Feindes gezogen waren.
Einmal hatte einer meiner Couleurbrüder zur endlichen Bezahlung seiner Schulden 200 Kronen erhalten. Kaum hatte er uns von diesem sensationellen Ereignis auf unserer Bude, die sich in dem Gasthaus auf der Judeninsel befand, in Kenntnis gesetzt, als wir auch schon beschlossen, damit dem Brückenmann der Franzensbrücke einen Streich zu spielen. Zehn Bursche wurden je mit einer Zwanzigkronennote beteilt, selbstverständlich erst nachdem sie sich „auf Grand-Cerevis“ — die Eidesformel beim Biertisch — verpflichtet hatten, sie wieder zurückzustellen. Nun ging es dem Mauthause zu. Der erste von uns reichte dem Zöllner die Banknote und dieser gab murrend 19 Kronen 98 Heller zurück. Dann kam der zweite, und gleichzeitig streckten acht andere Hände dem Mauteinnehmer die Banknoten zu. Der gute Mann war entsetzt. „Es könnte doch einer für alle Herren zahlen,“ wandte er ein. „Wir kennen einander ja gar nicht,“ war unsere Antwort. Nun wollte uns der Einnehmer mit großmütiger Gebärde die Entrichtung erlassen. Aber wir wollten uns keinesfalls unserer Prager Bürgerpflicht begeben, wollten den Stadtsäckel nicht schädigen. Schließlich machte Meister Zöllner dem Konflikt ein Ende, indem er sich in seine Hütte verkroch. Da mußten wir denn doch von dannen, ohne unserer Bürgerpflicht Genüge getan zu haben. Wahrscheinlich hat sich der Zöllner darüber ins Fäustchen gelacht. Wir aber lachten laut.
Einmal zogen wir aus der „Quelle“ in Bubentsch nächtlicherweile nach Prag. Als wir zum Kleinseitner Brückenkopf des Kettenstegs kamen, schlief der Zöllner bereits den Schlaf des Gerechten und an seinem Fenster war der Holzladen heruntergelassen, denn drüben am andern Ufer versah der andere Mauteinnehmer — wie allnächtlich — für ihn den Dienst. Schon wollten wir weckend an die Bude klopfen, als uns ein üppig gelaunter Kommilitone davon abhielt. Er legte still einen Kreuzer auf das Brett vor dem geschlossenen Schalter und befahl uns, ihm in einer Distanz von einigen Schritten über die Brücke zu folgen. Bei der Josefstädter Brückenmündung trat ihm der Zerberus mit heischender Hand entgegen. Unser Freund tat sehr erstaunt. Er werde doch nicht zweimal zahlen, man zahle doch nur beim Betreten der Brücke und das habe er getan.
„Das ist eine Lüge,“ erklärte der Brückenhüter, „drüben ist ja geschlossen. Sie müssen hier bezahlen.“
„Ob drüben geschlossen ist, geht mich nichts an. Darauf habe ich nicht geachtet. Ich habe drüben bezahlt, wie ich immer beim Betreten der Brücke zahle.“
Der Zöllner rief die heilige Hermandad herbei. Der Wachmann kam und mein Freund verlangte die Sicherstellung des Mauteinnehmers, da er von diesem durch das Wort „Lüge“ beleidigt worden sei. Der Zöllner leugnete nicht.
„Der Herr hat behauptet, drüben gezahlt zu haben und das ist eine Lüge!“
Unser Freund verlangte nun erregt, der Wachmann möge konstatieren, ob der Kreuzer wirklich drüben liege. Dies werde bei der Verhandlung in der Ehrenbeleidigungsklage das wichtigste Moment sein. Das sah der Wachmann ein und war bereit mit unserem Freunde auf das jenseitige Ende der Brücke zu gehen. Der Zöllner, der eine eventuelle Beeinflussung des Polizisten vermeiden wollte, sperrte seine Bude und ging mit. Wir hinterdrein. Als der Zug wieder glücklich auf der anderen Seite war, erblickte man das künftige Corpus delicti: Der Kreuzer lag friedlich auf dem Schalterbrett. Mit majestätischer Handbewegung wies unser Freund auf ihn. Der Brückner war geschlagen. Schon wollte er mit mißmutiger Gebärde den Kreuzer an sich nehmen, als unser Kommilitone herzusprang und ihn einsteckte.
„Über eine Brücke, auf der man die Passanten derart behandelt, gehe ich nicht. Wir gehen über die Elisabethbrücke.“ Und zum verdutzt dastehenden Zöllner gewandt, fügte er hinzu: „Auf diese Weise treiben sie alle ihre Kundschaften der Konkurrenz in die Arme.“
„Der alte Lederer“, der Chef der Prager Polizeidetektivs, hat gestern, am 30. März 1909, im Sicherheitsdepartement sein Pensionierungsgesuch geschrieben, heute übergibt er es und morgen macht er schon keinen Dienst mehr. Zum erstenmale seit 38 Jahren. (Von den Krankheitszeiten abgesehen, die er im letzten Jahre zu bestehen hatte.) Nun hat er ausgedient und geht in den Ruhestand. Die Kunde wird bei allen, die ihn kennen — und die Zahl derer, die ihn kennen, ist immens — Interesse erwecken; mit Bedauern sehen ihn wohl nur wenige aus dem Amte scheiden. Er war bestgehaßt. Ein Bann, analog jenem, der vor Jahrhunderten den Henker umsponnen, hat auch ihn, den „Spitzel“, den „Spion“, den „Schnüffler“ umgeben. Dergleichen Charakterisierungsworte gebrauchte man immer, wenn man in der Nacht einen Begleiter auf den alten Lederer aufmerksam machte, wenn dieser, Stock und Hände auf dem Rücken haltend, mit gebückter Haltung und patrouillierenden Augen über das Trottoir wandelte. In den Spelunken hatte man ärgere Namen für ihn. Aber noch keiner hat es gewagt, sie ihm ins Gesicht zu schleudern. Man hatte vor dem Alten Respekt.
Revertenten und berufsmäßige Nachtwandlerinnen verschwanden, sobald sie ihn von der Ferne sahen, mit größtmöglicher Akzeleration um die Ecke. Und wenn er so gegen vier oder fünf Uhr früh in die Schenke „Zum Kranz“, „Bei den 3 Sternchen“, im „Goldenen Zweier“, „Zur Schokolade“, „Beim Frosch“ oder „Beim Banzett“ erschien, dann sprangen die auf den Tischen, auf den Bänken oder auf dem Fußboden schlafenden Stammgäste beiderlei Geschlechtes flugs auf, als ob der kommandierende General eine Wachmannschaft beim Kartenspiel erwischt hätte. Die schlaftrunkenen Augen der Nächtlinge blickten scheu auf den Gefürchteten und mit heuchlerischer Devotion scholl ihm allerseits ein „Ruku líbám, milostpane“ (Küss’ die Hand, gnä’ Herr) entgegen. Alle kannten ihn. Aber auch er kannte alle. Sein Blick durchschnitt das rauchgeschwängerte Lokal. Schon hat er einen erspäht, der aus Prag für immer ausgewiesen ist. Er winkt ihm und ohne ein Wort der Widerrede zu dulden, nimmt er den Liebhaber Prags bis zum nächsten Wachposten mit. Oder er schaut jemanden an, den er nie zuvor gesehen: „Sie sind der R. S.!“ Aus den Worten eines Steckbriefes hat er sich das Bild des R. S. konstruiert und nun den Gesuchten erkannt. Das war seine Spezialität, Spürsinn oder Routine?
Aber die Unbeliebtheit in den Verbrecherkreisen hätte ihm in den Kreisen der gesetzmäßig lebenden Bürgerschaft Sympathie gesichert, wenn sich der Detektivinspektor Lederer nicht aus beruflicher Pflicht auch in ein Gebiet hätte einmischen müssen, in welches eine Einmengung spürender Behörden mit vielem Rechte von der Allgemeinheit sehr angefeindet wird: Das Gebiet der Politik. Für diese Idiosynkrasie gegen „Spitzeltum“ in der Politik hat der alte Lederer am meisten leiden müssen. Erst während der letzten Grabenkrawalle ist er in der Nähe des Spinka von einer Gruppe tschechisch-nationaler Sozialisten erkannt und bedroht worden, die Sozialdemokraten haben gegen ihn Gerichtsprozesse angestrengt und sogar von deutscher Seite ist der eifrige Geheimpolizist einmal weidlich durchgeprügelt worden. Noch dazu auf reichsdeutschem Boden. Das war am Sonntag, den 12. Juli 1897. Die österreichischen Behörden hatten den Egerer Volkstag verboten, aber damit nichts erreicht. Denn die Teilnehmer zogen in hellen Scharen nach dem nahen bayrischen Städtchen Waldsassen, um hier — von keinem „landesfürstlichen Kommissär“ gehört und gestört — zu beraten und zu beschließen. Aber man hatte „oben“ um so größeres Interesse an der Versammlung jenseits der schwarz-gelben Grenzpfähle und — so zog Herr Lederer mit einer Kornblume im Knopfloch, als unentwegter Alldeutscher gleichfalls nach Waldsassen. Aber er wurde erkannt, und er, der was erfahren wollte, hat nur Schlimmes erfahren. Auch sonst hat er zahlreiche Reisen in politischer Spürmission unternommen, aber er muß hiebei von einem Mißgeschick à la Waldsassen verschont geblieben sein, denn nur der eine tragikomische Fall ist bekannt geworden. U. a. hat Inspektor Lederer bei Kaiserreisen in der ganzen Österreichisch-ungarischen Monarchie als Auge des Gesetzes fungiert und ist spähend auf den Spuren Wilhelm des Redseligen, King Edwards und Milans des weiland Lebenslustigen gewandelt. Sogar ein Sonnen- oder Löwenorden wurde ihm verliehen, zum Dank dafür, daß er den Beherrscher des Perserreiches vor eventuellem Mißgeschick behütete.
Bei der Ausmittlung von Verbrechern hat er gute Dienste geleistet. Freilich von moderner Kriminalistik, von Daktyloskopie und Anthropometrie, von Kopfzirkeln, Meßkreuzen, Narbenmaßen und dem übrigen Instrumentarium der beiden Bertillons verstand er ebensowenig wie seine Klienten von Ehrlichkeit. Aber er erkannte seine Prager, Weinberger und Žižkower Einbrecher an der Art, wie der Einbruch ausgeführt war. Und verstand sie zu finden. Besonders in der Josefstadt, die vor ihrer Assanation das Heim der Prager Kamorra gewesen war, kannte sich Lederer — er war dort jahrelang Polizei-Wachkommandant gewesen — in jedem Schlupfwinkel aus und jeden einzelnen Bewohner und jede einzelne Bewohnerin der zahllosen Beisel mit Namen.
Aber auch in besserem Milieu ließ den Detektivinspektor sein Spürsinn nicht im Stich. Da ließ er sich auch durch Eleganz und weltmännisches Auftreten nicht blüffen. So hat er aufs Geratewohl einmal im Kaffeehaus einen gutgekleideten Herrn nur deshalb festgenommen, weil er champagnisierte und freizahlte. Der Herr protestierte. Aber der alte Lederer ließ sich nicht irre machen. Im Sicherheitsdepartement wollte man ihn schon ausschimpfen, daß er jemanden grundlos festgenommen habe. Man forschte aber nach der Provenienz des Geldes und da stellte sich heraus, daß der Arretierte ein eigenes Telegraphenamt in Nusle inszeniert, aus diesem Geld angewiesen hatte und beheben ließ. Der Name dieses Mannes ist seither in der Geschichte des Postbetruges Europas geläufig: Plocek.
„Ich hab’ gleich gesehen, daß der das Geld nicht schwer verdient hat,“ sagte der alte Lederer, als er die Prämie für seinen Fang ausbezahlt erhielt.
Er war bei allen Morden der letzten Jahre zur Stelle: beim Mord am Omladinisten Mrwa, an der Juwelierin Gollerstepper, an den Mädchen Hruza und Klima im Polnaer Walde, am Hotelier Wolf, am Liebespaar Takacz-Hanzely zu Krtsch, am Schulmädchen Smrček, am Portier des Gewerbemuseums Schaněl, am Gefangenaufseher Kaucky und an der neuvermählten Frau Novotny in der Böhmerwaldgasse. Immer machte er sich als einer der ersten auf die Suche. Manchmal mit Glück, manchmal mit Unglück. Sein Name war in den Berichten über Prager Kriminalfälle stereotyp. Darum geziemt es sich, das heutige Datum als das des Tages zu registrieren, da der alte Lederer aufhört, seines Amtes zu walten.
Wenn es regnet, ist es naß. Besonders in Prag. Hier werden nämlich bei Regen die Straßen besprengt. Manchmal während des Regens, manchmal nach und manchmal vor dem Regen. In den beiden erstgenannten Fällen müßte man nichts besonderes erblicken, weil man ja zu der Vermutung kommen kann, der bekannte Satz, daß Feuchtigkeit des Erdbodens Regen zur Folge habe, sei auch in der Umkehrung richtig. Aber daß man in Prag auch vor dem Regen die Straßen besprengt, ist interessant. Es kommt ja auch nur selten vor. Dann ist es aber umso interessanter.
Der Mann, dem die ehrenvolle Aufgabe obliegt, die Bazillen des Prager Straßenstaubes mit den Bazillen des Prager Wassers in fruchtbaren Zuchtverkehr zu bringen, ist näherer Beachtung wert. Sie wird ihm auch zuteil. Dort, wo der Spritzenmann ist, dort ist auch die Straßenjugend. Die kennt die Prager Spritzenschläuche ganz genau und weiß, daß sie feine Löcher haben, durch die beim Spritzen hohe Wasserstrahlen in die Luft steigen. Diese kleinen Löcher lassen sich bequem mit einem Finger zuhalten und wenn man diesen wegzieht, so spritzt der dünne Strahl mit verdoppelter Gewalt in die Höhe oder auf einen Passanten. Ja, das Spritzen ist eine Lust für die jeunesse dorée der Straße. Aber auch ältere Passanten, die ohnedies schon um der sengenden Sonnenglut willen, sich nicht der Eile befleißigen wollen und die — die Abneigung der Muhme Mephistos gegen das Staubschlucken teilend — lieber auf besprengtem Pfade weiterwandeln wollen, bleiben stehen und schauen dem Mann mit der Straßenspritze zu. Schon die Vorbereitungen, die dieser trifft, wirken erfrischend. Ich glaube, dieses Straßenbild wäre ein famoser Stoff für eine Pantomime. Sie wäre abendfüllend.
I. Akt. (Eine schmutzige Straße.) Leute treten auf, die sich den Schweiß aus dem Gesichte wischen und dann die Taschentücher auswinden. Plötzlich malt sich Begeisterung in ihren Zügen und freudigen Antlitzes weisen sie in die rechte Kulisse. Aus dieser kommen zunächst barfüßige Knaben und Mädchen mit Jubel und Tanz. Dann rollt ein Handwagen heran, der ein großes Faß trägt. Der Wagen wird von einem Spritzenmann geschoben, ein zweiter geht neben dem Wagen. Der Spritzenmann rekognosziert das Terrain. Fragend blickt er seinen Genossen an. „Soll man hier spritzen?“ Die Antwort scheint eine verneinende Gegenfrage zu sein: „No, soll man hier spritzen?“ Aber Passanten und Straßenjugend drängen sich an die beiden Begleiter des Fasses heran und bitten flehentlich um einen Gespritzten für das Straßenpflaster. Die beiden nicken Gewährung und senken den Vorderteil des Wagens zur Erde. Die Zuschauer (auf der Bühne) treten scheu zurück. Die Spritzenleute beginnen je eine Tabakspfeife anzuzünden. Der Vorhang fällt langsam.
II. Akt. (Spielt eine halbe Stunde später. Personen: Wie im ersten Akt.) Die Spritzenleute vollenden das Anzünden der Tabakspfeife. Sie nehmen ein T-förmiges Eiseninstrument, das wie ein jugendlicher Galgen aussieht und halb Schraubenschlüssel, halb Pfropfenzieher ist, vom Faßwagen und heben mit der einen Zacke dieses Werkzeuges den Deckel des Hydranten in die Höhe. Ein süßer Geruch steigt aus den Tiefen empor. (Das Orchester spielt: „Das duftet nach Trèfle incarnat“ aus „Graf von Luxemburg“.) Der Duft erfüllt das Theater. Die Zuschauer (auf der Bühne) verschwinden im Hintergrund. Die Zuschauer (im Zuschauerraum) auch. Der Vorhang fällt rasch.
III. Akt. Aus dem Faß wird durch dessen obere Öffnung ein Metallrohr herabgenommen, das im Sonnenglanze glitzert, wie das Rheingold in der Komischen Oper zu Wesseli-Mezimosti. Am Ende des Rohres hängt ein Elefantenrüssel; aber es ist gar kein Elefantenrüssel, sondern ein Spritzenschlauch. Das andere Ende des Rohres wird irgendwo in dem Abgrund befestigt, aus dem die bereits beschriebenen unbeschreiblichen Düfte steigen. Damit das T-Instrument sich nicht zurückgesetzt fühle, schraubt man es gleichfalls an den Hydranten. Die Zuschauer denken nun wie Schiller: Wohl, nun kann der Guß beginnen. Aber damit ist’s noch nichts. Dem einen Spritzenmann ist das Feuer der Tabakspfeife ausgegangen und er bemüht sich nun, ein Zündholz an einem Teile seiner Hose anzuzünden. Der Vorhang fällt diskret.
IV. Akt. Die Pfeife brennt. Einer der beiden Spritzenleute kurbelt den Miniaturgalgen, der andere packt den Spritzenschlauch, dessen Mündung das Straßenpflaster zärtlich küßt. Wasserströme, welche die neue hechtgraue Felduniform tragen, strömen durch den Schlauch und verwandeln die Gegend um den Hydranten in eine romantische Meereslandschaft. Ein schmuckes Dienstmädchen, einen Korb mit Eßwaren unter dem Arme, kommt des Weges und lächelt den Wassermann an, der den Schlauch hält. Ein Strahl der Freude zuckt über sein Gesicht und ein Strahl Wasser über das ihre. Der Spritzenmann hat nämlich in seiner freudigen Erregung die mit dem Schlauch bewehrte Hand erhoben. Auch die Eßwaren sind angenehm besprengt worden und der Korb sieht aus wie ein volles Lavoir. Das Mädchen schimpft. Die Spritzenmänner bleiben ihr die Antwort nicht schuldig und gebrauchen einige Ausdrücke ... (Der Vorhang fällt über Anordnung der Zensurbehörde sehr rasch.)
V. Akt. Es wird fortgespritzt. Alle Passanten erhalten eine Dusche gratis. Hier erhält ein hellgelber Herrenüberzieher eine schön braune Glasur, dort wird einem Panamahut Gelegenheit geboten, zu erweisen, ob er wirklich wasserdicht ist. Mit Wilhelm Tell-artiger Sicherheit lenkt der schlichte Bedienstete der Prager Kommune sein feuchtes Geschoß gegen die wandelnden Ziele. Oft weiß er mit ein- und demselben Strahl mehreren Ahnungslosen etwas von dem erfrischenden Naß der Moldau zuteil werden zu lassen. Längst hat sich die Straße in das Schwarze Meer verwandelt — der Spritzenmann arbeitet weiter, als gälte es den Kanal trocken zu legen. Da fängt es zu regnen an. (Man verwende den Platzregen aus „Das Weiße Rößl.“) Die Spritzenmänner freuen sich höchlichst, denn im Regen ist die Arbeit viel angenehmer. Sie lassen aus dem Schlauche Wasser in das Faß des Wagens laufen, damit sie mit Hilfe der bekannten Holzkannen auch jene Straßenteile besprengen können, zu denen der Spritzenstrahl nicht gelangen kann; wenn der Regen diese Stellen näßt, so gilt das nicht. Das Faß ist bald gefüllt und nun kommt der Deckel wieder auf den Hydranten, Röhre, Schlauch und Schraubenschlüssel wieder auf den Wagen. Es regnet weiter — besonders faule Äpfel und Eier aus dem Zuschauerraum. Der Vorhang fällt mit wolkenbruchartiger Geschwindigkeit.
Auf Hofbühnen und anderen großen Theatern kann man statt des Faßwagens fahrbare Riesenspulen verwenden, um die sich der Spritzenschlauch ringelt; die Aufführung verliert dadurch nicht an Lokalkolorit, da man solche Spulen beim Besprengen der Prager Hauptstraßen verwendet. Anderer Requisiten bedarf mein Mimodrama nicht. Trotzdem mir die Tantiemen ganz gut zustatten kämen, sage ich den Theaterdirektoren ganz offen: Das Stück braucht nicht sofort aufgeführt zu werden, denn der Stoff bleibt dauernd aktuell. In Prag wurde seit jeher die Straßenbesprengung so betrieben und wird auch weiter so betrieben werden. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhundertes haben diese Arbeit Leute besorgt, welche von Feuerwehrmännern auf der Straße ad hoc engagiert worden waren und unter deren Aufsicht spritzen mußten. Daß diese Leute die Sache nicht mit jener virtuosen Sicherheit, nicht mit jener genialen Schlauchtechnik betreiben konnten wie das wohlorganisierte städtische Spritzenkorps von heute, liegt klar auf der Hand. Ist das nicht Fortschritt genug? Ein Mehr wäre von Übel, hieße die Tradition verleugnen. Und die Stadt Prag hält auf Tradition. Strahlend war früher die Straßenbesprengung, strahlend soll sie auch in Zukunft sein. Das ist eine Beruhigung für mich. Kann doch meine Pantomime nie veralten, wenn die Männer, die spritzen, nie selbst „gespritzt“ werden.
Eine Minute von der Elisabethstraße entfernt, in der alltäglich Fiaker, Automobile, Straßenbahnwagen, Equipagen und Droschken nach dem Baumgarten hinausfahren, zweigt von der Klemensgasse die Neumühlgasse ab. Sie ist keine Verkehrsstraße; vier scharfe Ecken bildend, kehrt sie zur Klemensgasse zurück. Hier ist nichts mehr von Promenade, nichts mehr von Luxusfuhrwerken zu merken. Nur wenige Passanten bevölkern sie. Abends jedoch sammeln sich hier Gruppen von Menschen an, die des Augenblickes harren, wo sich das Tor des Hauses Nr. 11 eröffnet, auf dem in großen schwarzen Lettern die Worte „Útulna — Asyl“ stehen.
In diesem Haus, das Eigentum des Prager Asylvereines für Obdachlose ist, habe ich gestern übernachtet. Bei einem Freunde, der in der nahen Sametzgasse wohnt, hatte ich mich vorher in full dress geworfen. Den Rock, den ich anhatte, hatte voriges Jahr unser Dienstmädchen einem Bettler geschenkt, aber dieser hatte die Annahme des Geschenkes unter schweren Beleidigungen abgelehnt. Wenn in dem Hut, den ich aufgesetzt hatte, noch die Firmabezeichnung erkenntlich wäre, könnte man ihn als famoses Mittel für Erpressungen verwenden: Der Hutmacher würde jeden Betrag bezahlen, um diese seinen Namen tragende Schmach aus der Welt zu schaffen. Der Rock hatte zwar keine Fasson, aber dafür hatte er auch keine Farbe und Löcher, auf die jede Regimentsfahne stolz sein könnte. Die Risse der Stiefel waren durch die in sanften Wellenlinien hinabfallenden roten Socken teilweise verdeckt. Die Hosen — reden wir nicht davon.
So ging ich, in den wahrlich nicht verwöhnten Gassen des Petersviertels peinlichstes Aufsehen erregend, zum Asylhaus. Hier waren schon Gruppen von Obdachlosen angesammelt. Einige saßen auf dem Geländer, das die schmalen Anlagen der Klemenskirche umfriedet, andere auf den Stufen am rückwärtigen Kircheneingang. Etliche standen vor dem Eingang eines Gasthauses in der Klemensgasse, wieder andere an die Häuser der Neumühlgasse gelehnt. Auch Frauen waren darunter. Im ganzen etwa 70 Leute. Ein Doppelposten der Polizei hielt Wache.
In der Gruppe, in der ich mich anstellte, war ein fünfzehnjähriger Bauarbeiter, der gerade von seiner Fußwanderung aus Triest in Prag eingetroffen war. Dann ein Prager Geschäftsdiener, elternlos und ohne Verwandte, der ohne Stellung war. Vor anderthalb Tagen hatte er bei einem ehemaligen Kollegen eine Suppe bekommen, seither hatte er überhaupt nichts gegessen. Unter anderen Umständen hätte ich diese Angabe vielleicht skeptisch aufgenommen. Aber hier konnte ich nicht daran zweifeln. Was für ein Interesse hätte er gehabt, die Kollegen, die gleich ihm arg im Bruch waren, zu belügen? Erwarten konnte er von ihnen ja nichts. Ich versprach ihm meine Suppenportion für den Fall, als ich, trotzdem ich kein Dienstbuch habe, in das Asyl eingelassen würde. Ich hätte einen verdorbenen Magen und könne nichts essen. Seither wich der Bursche nicht von meiner Seite, damit er in das gleiche Zimmer mit mir komme. Seine einzige Sorge, die er fortwährend zu mir äußerte, war die: „Ob man dich nur ohne Büchel hineinlassen wird?“ Von Zeit zu Zeit kamen Besuche zu unserer Gruppe. Leute, die Arbeiter suchten. In meinem Leben habe ich nicht so viele Engagementsanträge erhalten, wie vorgestern. „Bist du ein Müllergehilfe?“ fragte mich ein wohlgenährter Herr, der auf unsere Gruppe zugetreten war. Nein, ich sei kein Müllergehilfe. Damit aber gab sich der Herr noch nicht zufrieden: „Willst du nicht in der Mühle arbeiten?“ Ich müsse morgen abreisen, sagte ich und der Vertrag war nun endgültig gescheitert.
Von den übrigen Aktionen, die nichts geringeres zum Zwecke hatten, als meine wertvolle Arbeitskraft für verschiedene Unternehmungen, wie einen Brückenbau, eine Schneiderwerkstätte etc. zu gewinnen, sei noch eine erwähnt. Ein Bäckergehilfe kam zu mir: „Du bist ein Bäcker?“ Wieder verneinte ich. „Das macht nichts,“ sagte jener. „Du könntest heute nachts bei uns in der Werkstätte statt meiner arbeiten. Mein Mädel ist heute früh nach Prag gekommen und ich möchte gern mit ihr ausgehen. Du brauchst nicht viel zu machen, nur soll der Alte nicht merken, daß einer fehlt. Ich gebe zwanzig Kreuzer.“ Ich erklärte, daß ich ablehnen müsse. Ich hätte schon drei Nächte nicht geschlafen.
Die Arbeitgeber waren nicht die einzigen Personen, die um unsere Gunst warben. Zwei Frauen traten auf einzelne von uns zu und boten uns privates Logis an. Mich forderten sie nicht auf; ich sah sehr schäbig aus. Aber auch bei den anderen hatten sie kein Glück, da ihre Forderung zu hoch war. Je zwei hätten in einem Bette schlafen und jeder dreißig Heller zahlen sollen. Ein jüngerer Wanderbursche ließ sich in Unterhandlungen ein, aber ein erfahrenerer Genosse zog ihn zurück. „Unsinn! Im Asyl schläfst du allein im Bett, zahlst keinen Heller und kriegst noch zweimal Suppe.“ Da mußte denn die Wohnungsvermieterin wieder abziehen.
Wir standen von ¾6 Uhr abends bis 7 Uhr. Dann wurde das Tor geöffnet, entweder weil der Hausvater sehen wollte, wieviel Leute draußen seien, oder weil irgend ein Angestellter des Asyls eingelassen wurde. Das Öffnen des Tores war das Signal zur Vergatterung vor diesem. In weitem Bogen drängte sich die Schar der Obdachlosen. Die Frauen wurden in die erste Reihe gelassen. An sie schlossen sich, auf Anordnung eines alten Kunden, zunächst die Leute, die schon tags vorher die Gastfreundschaft des Prager Asylvereines genossen hatten. In den nächsten Reihen standen die Obdachsuchenden, welche die Bestätigung ihrer Genossenschaft darüber in Händen hatten, daß sie stellungslos und „auf der Walz“ in Prag seien. Dann kamen diejenigen, die durch ihr Arbeitsbuch den Nachweis ihrer Arbeitslosigkeit führen konnten und deshalb das Anrecht auf Annahme in das Obdach der Obdachlosen besaßen. Zuletzt die Schar jener Burschen, die zwar stellungslos waren, aber schon zwei oder drei Tage im Asyl genächtigt hatten; sie wußten wohl, daß sie kaum wieder Einlaß finden würden und berieten, wo sie im Falle ihrer Abweisung nächtigen würden. Die einen schwärmten von einer sehr schönen Scheuer in Žižkow, die anderen waren entschieden für den Stall eines Prager Einkehrhauses, wo es allerdings drei Kreuzer Quartiergeld koste, wieder andere propagierten eine Exkursion in den Kinskygarten oder den Karlspark.
Auch die drei anderen Schichten — jetzt waren auch die Obdachlosen, diese untersten Repräsentanten der menschlichen Gesellschaft in Gesellschaftsschichten geteilt — debattierten eifrig. Ein Alter, mit schwarzem Bart und Havelock, führte das große Wort. Das Thema der Debatte war nichts geringeres, als — die Frage der Landtagstätigkeit. Es war die finanzpolitische Seite, welche diese in Lumpen gekleideten Menschen am meisten interessierte. In der Naturalverpflegsstation hatte man ihnen den Mangel verschiedener Gegenstände mit der Finanznot begründet, und deshalb waren viele für die Flottmachung des Landtages, aber einzelne waren dagegen, indem sie erklärten, wenn die Regulierung der Landstraßen wieder in vollem Maße aufgenommen werde, dann gäbe es wieder lauter Schikanen von seiten der Wegmeister.
Das neuerliche Öffnen des Tores machte diesen hochpolitischen Erwägungen ein Ende. Man ließ die Frauen — größtenteils beschäftigungslose Feld- und Fabriksarbeiterinnen — ein und schloß wieder. Dann, nach etwa zehn Minuten die Männer. Ein Asylbediensteter rief die Gruppe aus. Einzeln wurde man eingelassen, jeder mußte sich legitimieren. Bei der Gruppe „Arbeitsbücher“ fand auch ich mich ein.
„Wo hast du dein Arbeitsbuch?“, fragte mich der Mann an der Pforte.
„Ich habe keines,“ war meine Antwort. „Ich komme aus Reichenberg und wollte ins Spital. Aber man hat mich nicht aufgenommen, weil überfüllt ist.“
„Warum fährst du nicht zurück?“
„Ich habe kein Geld. Auf der Polizei werden sie mir ein Rückreisebillett geben. Aber erst morgen. Nachmittag wird nicht amtiert, und da haben sie mich hergeschickt.“
„Wer hat dir das gesagt, daß du hergehen sollst?“
„Der Offizial S...“ Ich nannte den Namen des Beamten, der die Reiseunterstützungen aushändigt, und dies genügte, um den Auguren von der Richtigkeit meiner Aussage zu überzeugen. Aber er hatte noch eine Besorgnis:
„Weshalb wolltest du ins Krankenhaus?“
„Ich habe Herzschwäche.“
Er sah mir forschend ins Gesicht, ob ich wirklich krank sei. Nun aber war ich — welche ein Zufall! — ausnahmsweise, ganz ausnahmsweise in der vorigen Nacht „auf dem Flam“ gewesen und war blaß. Da ließ er mich denn aus Mitleid ein. „Ein Neuer!“, rief er einem anderen Bediensteten zu, der auf der anderen Seite des Tores stand und Protokoll führte. Ich gesellte mich zu den anderen Obdachlosen, die sich im Hausflur drängten. Der Asylbedienstete wandte sich nun an die, die draußen harrten. „Ist noch jemand, der noch nicht zwei Nächte hier war?“ Keine Antwort. „Gute Nacht, hochgeehrte Herren,“ mit diesem ironischen Gruß schloß er das große Tor. Nun stellte sich ein Angestellter des Asyls auf die erste Stufe der Wendeltreppe und ordnete an:
„Stiefel abputzen, Hemdkragen öffnen, paarweise antreten!“
Geräuschvoll wurde diesem Befehle Folge geleistet und vom ersten Stock erscholl die zweite Order:
„Die beiden ersten herauf!“
Nach etwa einer Minute: „Die beiden nächsten herauf.“ Und so fort. Oben wurden alle eingehend nach Ungeziefer untersucht. Von Zeit zu Zeit hörte man von oben Schimpfen und Protestieren, und dann kam immer ein Obdachloser wieder die Treppe herunter: Man hatte bei ihm das Gesuchte gefunden ... Das Tor öffnete sich und der Paria ward entlassen. Ich war mit dem hungernden Handlungsdiener im Paar. Man fand nichts bei mir, und meiner Aufnahme stand nichts im Wege. Man wies mir ein Bett an.
In einem kleinen Zimmer, in dem vier Betten standen, wurde ich einquartiert. Meine Zimmergenossen zogen ihre Stiefel aus und nahmen je ein Paar der harten Lederpantoffeln, die auf dem Eisenofen lagen. Ich zog gleichfalls die „Batschkoren“ an, setzte mich aber dabei auf das Bett. Das war ein Fehler, denn ein zufällig in das Zimmer tretender Angestellter des Hauses fragte mich sofort, ob ich eigentlich glaube, daß ich im Spital sei. Ich vermutete, daß dies eine rhetorische Frage sei, und beantwortete sie nicht. Damit gab sich der Asylbedienstete nicht zufrieden.
„Du bist aber ein Häuschen“ (hajzl), meinte er. Was er damit sagen wollte, weiß ich nicht, aber ich vermute, daß dies ein Schimpfwort gewesen sei, da er gleich darauf die Mitteilung hinzufügte, daß ich ein „Bastard“ (parchant) sei. Diese Angabe ist unrichtig; doch der Asylbedienstete konnte sich ja irren. Wieso er aber von mir behaupten konnte, daß ich ein „Lausbub“ (všivák) sei, während doch die unmittelbar vorhergegangene Untersuchung vollständig negativ verlaufen war, ist mir unverständlich. Trotzdem habe ich es unterlassen, den Asylmann zu kontrahieren. Für einen künftigen Ehrenrat, der mich eventuell dafür zur Verantwortung ziehen würde, daß ich grundlose Beschuldigungen nicht mit der ritterlichen Forderung durch die Waffe beantwortet habe, sei gleich vorweg bemerkt, daß meine Kartellträger in das Asylhaus überhaupt nicht eingelassen worden wären, da man eines Arbeitsbuches oder des Nachweises einer Gewerbeausübung unbedingt zum Eintritte bedarf.
Der Asylbedienstete, dessen Groll ich mir zugezogen hatte, kam nach einer Pause von etwa zehn Minuten wieder in unser Zimmer. Diesmal war seine Mission viel sympathischer. Er legte jedem von uns ein Stück Brot auf das Bett und bestimmte dann zwei von uns zum Holen der Suppe. Ich — war ich doch sein Feind! — war einer von den zweien. So ging ich denn mit meinem Arbeitsgenossen die Stiegen hinunter in den ebenerdig gelegenen Küchenraum. Hier stand ein Holztablett für uns bereit, das mit fünf gefüllten Blechtassen beladen war: die Suppe. Wir beförderten die Ladung in unser Zimmer. In den Blechtassen stak kein Silberlöffel, sondern bloß ein schlichter Zinnlöffel, was wohl der Grund dafür gewesen sein mag, daß jeder meiner Zimmergenossen den Gebrauch des Löffels verschmähte und den Inhalt direkt aus der Schale trank. Ich verkostete einen Löffel und erfüllte dann das Versprechen, dem hungrigen Handlungsdiener meine Suppenportion zu schenken, leichten Herzens. Leichten Herzens, weil mich die ungewohnte Auftischung des Kuverts beeinflußt hatte. Den anderen aber schmeckte die Suppe ganz famos, wie an ihren behaglichen Mienen zu erkennen war.
Ich benützte die Souperpause, um in den Räumen des Asyls Umschau zu halten. Einzelne Zimmer waren doppelt so groß wie das unsrige und beherbergten dementsprechend die doppelte Anzahl von Betten. Im ganzen sind in den beiden Stockwerken, die für die Männer bestimmt sind, 78 Betten untergebracht. Es sind eiserne Kavalets, die einen Strohsack, einen Roßhaar-Kopfpolster, eine benähte Drillichdecke und ein ziemlich reines Leintuch enthalten. Überhaupt herrschte auf den Wänden und Fußböden der Schlafsäle, auf den Gängen, Stiegen und auf der die ganze Front umgebenden Pawlatsche eine peinliche Sauberkeit — kein Wunder bei der eisernen Disziplin, über die ich kurz vorher in so energischer Weise belehrt worden war.
Als die Suppe verzehrt und die Holztasse samt den Suppennäpfen unter meiner Mitwirkung wieder in die Küche getragen worden war, setzten wir uns auf die Stühle, und es begann die Konversation. Schon die Art des Bekanntwerdens war eine viel bessere, als sie in der Gesellschaft üblich ist. In den Salons geschieht die Vorstellung durch eigene Initiative, sie ist aufdringlich, jeder gleichgültige Mensch stellt sich jedem gleichgültigen Menschen vor und nennt seinen gleichgültigen Namen, der überhaupt nicht verstanden wird. Im Asyl fragt einer den anderen: „Was für einen Beruf hast du?“ Mit der Antwort ist alles Wissenswerte über den Schlafgenossen gegeben. Nach dem Namen wird nicht gefragt. Namen sind Schall und Rauch.
Ich erfuhr, daß mein Bettnachbar zur Linken ein Kanalräumer, beziehungsweise ein Kutscher sei, der nur in den letzten vierzehn Tagen mangels anderer Beschäftigung der Prager Gemeinde nächtlicherweile beim Entleeren der Kanäle behilflich gewesen, aber gerade tags vorher wegen allzu großer Trunkenheit im Dienst entlassen worden war. Er war übrigens nicht bös darüber: „Länger als vierzehn Tage bin ich ohnedies seit zehn Jahren in keiner Stadt gewesen.“
Das Bett zu meiner Rechten hatte mein neuer Freund, der Handlungsdiener inne, links von dem Kanalräumer war ein Zuckerbäckergehilfe aus Hartburg bei Graz, der von dort geradewegs zu Fuß nach Prag gekommen war. Bei diesem kam ich durch ungeschickte Beantwortung seiner Fragen in den Verdacht ein Protz zu sein. Er fragte mich nämlich, ob ich schon in Hamburg gewesen sei und ich bejahte.
„Wie ist’s dort im Asyl?“
Ich mußte wahrheitsgemäß antworten, daß ich dies nicht wisse. Ich hätte bei einem Freunde geschlafen, sagte ich.
„Und wie weit ist es von hier?“
„Zu Fuß?“, schlüpfte mir als Gegenfrage aus dem Mund und das war dumm.
„Willst mi eppa pflanzen?“, fuhr er mich bös an. „I wer doch net im Fiaker hinfahren!“
Zum Glück machte der Kanalräumer, der sich auch Jahre lang in Deutschland herumgetrieben hatte und nicht nur deutsch, sondern auch italienisch — der Verkehr mit den italienischen Erdarbeitern brachte das mit sich — verstand, weiteren Angriffen des steirischen Zuckerbäckers gegen mich ein Ende. Er teilte ihm mit, daß er von Prag nach Hamburg etwa zwölf Tage zu gehen habe, wenn er täglich fünfzig Kilometer zurücklege. In Hamburg gebe es zwei Asyle, er möge aber nicht in das Polizeiasyl gehen, denn dort werde jeder Kunde photographiert. Auch im Asyl der Magdeburger Arbeiterkolonie möge er sich nicht aufhalten; dort müsse man vor der Aufnahme das Arbeitsbuch abgeben und müsse Holz sägen und hacken, „ärger wie im Arbeitshaus.“ Dann gab der Kanalräumer dem Zuckerbäcker noch einige geographische Ratschläge. Er beschrieb ihm den Weg, den er einschlagen müsse, um vier Heller Überfuhr zu ersparen, und nannte ihm die Straßen, auf denen gute Zwetschken zu erhaschen seien. Auch über die Schubverhältnisse, über die Handhabung des Vagabundagesetzes und über die Naturalverpflegsstationen und die Herbergen in den einzelnen Orten sagte er dem Zuckerbäcker manch kräftiges Wörtlein.
Während des Gespräches zog der Kanalräumer wiederholt ein Fläschchen aus der Tasche und stärkte sich. Schließlich war der Schnaps alle.
„Hol’s der Teufel, daß man hier kein Bier kriegt,“ brummte der Kanalräumer wütend.
„Ich wär’ wieder froh, wenn ich rauchen könnte,“ sagte ich, um etwas zu sagen.
„Hast du denn ein Stückchen Zigarette?“ meinte jener mit lauerndem Blick. „Ich würde mich draußen einsperren und rauchen.“
Ich brach in der Tasche eine „Sport“ in die Hälfte und reichte meinem Schlafgenossen eine Hälfte. Der hatte sie kaum in der Hand, als sich schon der Zuckerbäckergehilfe an ihn herandrängte und ihn flehentlich bat: „Schenk mir ein Stückel.“ Da wurde denn die halbe Zigarette redlich geteilt.
Um 9 Uhr verlosch das Gaslicht. Ich benützte die Dunkelheit, um mich in Kleidern auf das Bett zu werfen. Während der Nacht schloß ich kein Auge. Rechts neben mir schnarchte der postenlose Geschäftsdiener wie ein Lokalbahnzug, links neben mir stieß der Kanalräumer in seinem alkoholschweren Schlaf wüste Drohungen gegen irgend ein Mädel aus, von dem er träumte. Aus dem Nebenzimmer drang in Intervallen von je zwei Minuten ein Husten herein, als ob der Mann zu ersticken drohe. Es dauerte lange, lange bevor es sechs Uhr wurde. Endlich aber schrillte eine Glocke: Reveille. Alles kleidete sich an und machte das Bett zurecht. Bald darauf kam der Aufseher und besah das Werk kritischen Auges. Hier fand er die Decke zu wenig geglättet, dort war das Leintuch unten zusammengefaltet, statt unterhalb des Kopfpolsters. Schließlich verließ er uns, um auch die Nachbarräume mit seiner Inspektion zu beehren. Als er wiederkam, legte er jedem von uns einen „Pandur“, einen runden Wecken, auf das Bett und wir durften wieder Suppe holen.
Nach einer halben Stunde ertönte ein lauter Ruf des Asylvaters: „Magazin!“ Das war das Aviso für die Obdachlosen, sich um den bis dahin versperrten Schrank zu scharen und daraus die Ranzen und Kofferchen in Empfang zu nehmen, die sie hierher in Verwahrung gegeben hatten. Um 7 Uhr wurde das Tor geöffnet und der Strom der Obdachlosen mündete wieder in die Stadt. Der Doppelposten der Polizei stand wieder da und schaute uns mißtrauisch an.
Die meisten der Obdachlosen begaben sich zunächst in die Arbeitsvermittlungsanstalt im „Alten Gericht“, dann in jene von Žižkow. Ohne das Visum dieser beiden Institute finden sie anderswo weder eine Genossenschaftsunterstützung, noch Aufnahme im Asyl. Ich schlich mich wieder in das Haus in der Sametzgasse, in dem mein Freund wohnte. Der Hausbesorger und die Hausbewohner, die mir begegneten, blickten mir mit unverhohlenem Mißtrauen nach, bis mir die Wohnungstüre geöffnet wurde. Nun restaurierte ich mich so weit, um kein Refus von seiten eines Droschkenkutschers erwarten zu müssen und fuhr dann nach Hause. Hier angekommen, telephonierte ich ins Bureau, daß ich wegen Unwohlseins fernbleiben müsse. Ich gedachte einen langen Schlaf zu tun. Vorher habe ich aber noch gründlich gebadet — eine Tatsache, die zwar selbstverständlich ist, die ich hier aber im Interesse meiner nicht obdachlosen Bekannten doch hier besonders registrieren will.
An den Korridorwänden in den Kasernen hängen Schlachtenbilder, Porträts ruhmreicher Feldherren, Gedenktafeln für gefallene Soldaten des Regiments. Alles in schönen Rahmen. Dann hängt noch in jedem Kompagniegang ein „Verzeichnis der Gastlokale, deren Besuch der Mannschaft untersagt ist“. Diese Tafeln haben den schönsten Rahmen. Mit Recht. Denn in Friedenszeiten kann der Soldat seinen kriegerischen Sinn und seine persönliche Tapferkeit nirgends so gut erweisen, wie in den Wirtshäusern. Und in den „Gastlokalen, deren Besuch der Mannschaft untersagt ist“, wurde eben dieser kriegerische Sinn und diese persönliche Tapferkeit ruhmreich erprobt. Also ist es nur löblich, daß dieses Verzeichnis der Kriegsschauplätze und Schlachtfelder kostbar eingerahmt wird.
Die Schlachten werden manchmal gegen Zivilisten geführt. Diese sind aber verächtliche Gegner. Sie haben keine Waffen. Man wirft die Kerle einfach hinaus, und gut ist’s.
Ernster ist es schon, wenn sich zwei Teile unserer Armee, jener, der dem Reichskriegsminister, und jener, der dem Landesverteidigungsminister untersteht, wacker bekriegen. Wer nie einen Fernkampf der Biergläser, oder einen Nahkampf der Ohrfeigen mitgemacht hat, der sich zwischen den Angehörigen der Landwehr und jenen des Heeres entsponnen hat, der kennt Euch nicht, Ihr himmlischen Mächte, die Ihr von Zeit zu Zeit die Militärbehörden veranlaßt, das Verzeichnis der verbotenen Gastlokale um eine neue Nummer zu bereichern.
Ob es nun bei Trunk oder Tanz ist — immer kommt die Rivalität zwischen den Teilen der Wehrmacht zum Ausdruck, immer ist diese in zwei Gruppen gespalten. Ja, selbst wenn eines jener Soldatenlieder, deren Absingung im Felde die Offiziere nur nach Gewaltmärschen nachsichtig und stillschweigend dulden, im Wirtshause angestimmt wird, stört die friedliche Gruppe durch ein anderes Lied die Harmonie der Stimmen. Nur eine Ausnahme gibt es: Das Lied vom Kanonier Jaburek. Zu dessen Gesang vereinigen sich Landwehrmänner mit Heeressoldaten, die Träger der schwarzen mit jenen der grauen Mützen, Infanteristen und Sanitätssoldaten, die Soldaten, die Wunden schlagen, und die Soldaten, die Wunden lindern, die Pioniere, die im Kriege Bauten errichten, und die Artilleristen, die im Kriege Bauten zerstören. Es ist ein hochheiliger Kantus.
Die einmütige Ehrung, die dem Liede zuteil wird, ist ein Beweis von Sinn für kriegerische Heldentaten. Denn der Kanonier Jaburek, über dessen Persönlichkeit leider weder das deutsche, nach das tschechische Konversationlexikon etwas zu verzeichnen wissen, ist ein Mann, gegen den die anderen Helden der Kriegsgeschichte aller Zeiten und Völker ein Nichts darstellen. Der vielbesungene Leonidas zum Beispiel hat bei der Verteidigung des Engpasses von Thermopylae — wie ein zeitgenössisches Marterl meldet — nicht anders gehandelt, als „wie das Gesetz es befahl“. Aber der Kanonier Jaburek! Wo steht im Wehrgesetz geschrieben, daß jemand, dem der Kopf wegfliegt, sich noch entschuldigen muß, daß er seine Hände nicht salutierend an den Kopf legen könne, wo steht im Exerzierreglement, daß jemand ... aber dem Liede sei nicht vorgegriffen.
Die Epopöe hat siebzehn vierzeilige Strophen und ist in tschechisch-deutscher Sprache abgefaßt. Eigentlich ist sie tschechisch, aber sie ist von militärischen Ausdrücken, wie „Feuerwerkr“, „Kmán“ (Gemeiner), Lunte, „meldovati“ und deutschen Flüchen derart durchsetzt, daß vom Tschechischen nicht viel übrig bleibt. Komponist und Textdichter des Liedes sind, wie jene des Liedes „Prinz Eugen, der edle Ritter“, nicht bekannt. Das Lied vom Kanonier Jaburek behandelt — wie vielleicht schon der Name erraten läßt — die Geschichte des Kanoniers Jaburek. Dieser hat in der Königgrätzer Schlacht im dichtesten Kugelregen, während sich Gemeine, Chargen, Offiziere, Pferde und Kanoniere (man beachte die Reihenfolge dieser Rangsliste) in ihrem Blute wälzten, seinen Heldenmut bewährt:
„Bei der Kanone dort
Stand er und lud in einem fort,
Bei der Kanone dort
Stand er und lud noch fort.“
Jedesmal wenn eine seiner zwei Zentner schweren Kanonenkugeln in die preußischen Reihen einschlägt, hört man auf der Gegenseite auf Jaburek fluchen. Aber dieser schießt weiter. Der General, der von Jabureks tapferem Verhalten gehört hat, eilt herbei und bietet diesem einen Trunk aus seiner Feldflasche an. Aber der Kanonier weist die freundliche Aufforderung mit der noch freundlicheren Aufforderung ab, der General möge seine Spassetln für sich behalten, ihm auf den Buckel steigen und ihn weiter schießen lassen:
„Bei der Kanone dort
Stand er und lud in einem fort etc.“
Der Held schießt wie ein Wahnsinniger und zertrümmert ein feindliches Regiment. Kronprinz Friedrich von Preußen reitet vorbei und sieht den Recken — oder, um mit den Worten des Liedes zu sprechen:
„V tom ho viděl kronprinc Friedrich:
Her je den Kerl erschieß ich.“
Der Kronprinz selbst feuert gegen Jaburek, und die ganze preußische Armee erwählt sich das gleiche Ziel, um sich beim Kronprinzen einzuschmeicheln. Eine Kartätsche fliegt dem Artilleristen durch den Mund in den Magen, aber der Getroffene nimmt sie schnell wieder heraus und schießt ruhig weiter. Eine gegnerische Petarde reißt dem Schützen beide Arme ab, doch er zieht schnell seine hohen Stiefel aus und schießt mit den Füßen weiter. Schon aber kommt, von einem preußischen Freiwilligen („prajský frajbilik“) gefeuert, ein Shrapnell herangeflogen und reißt Jabureks Kopf ab. Der Kopf fliegt am General vorbei und meldet diesem im Vorübergehen, daß er nicht salutieren könne. Aber Jaburek selbst steht noch immer bei der Kanone dort und ladet in einem fort. Endlich wird seiner Aufopferung eine Grenze gesetzt: Der Feind schießt auf seine im Fluge befindlichen Geschosse, und diese fallen in die eigenen Reihen zurück. Da gibt Jaburek das Laden auf (bei dieser Strophe soll der Refrain entfallen), er packt seine Kanone und eilt aus der Schußlinie. Dafür aber — für die Rettung der Kanone nämlich — wird er geadelt und heißt von da ab „Edler von die Jaburek“. Er hat jetzt den Adelsstand, und über das Fehlen seines Kopfes tröstet er sich mit dem Bewußtsein, daß — das Lied schließt sehr gehässig — die kopflosen Adeligen angeblich doppelt geachtet seien. Auf seinem Wappen stehen die Worte:
„Bei der Kanone dort
Stand er und lud in einem fort,
Bei der Kanone dort
Stand er und lud noch fort.“
Dieses ist das Lied vom Kanonier Jaburek, dessen Namen die Kriegsgeschichte verschweigt. Aber sein Ruhm lebt im zechenden Soldatenkreise weiter, und jedesmal wenn das Lied den Refrain „laden“ bringt, nehmen die Sänger dem tapferen Recken zu Ehren eine stärkende Ladung zu sich. Und das Lied hat siebzehn Strophen.
Mein kleiner Bruder kam gestern aus dem Gymnasium nach Hause.
„Heute ist uns erlaubt worden, in einen Fußballklub einzutreten.“
So, so. Ich habe diesen Beschluß des Landesschulrates schon gekannt. Aber doch ... Das, was da den Gymnasiasten aus dem schwarzen Buche vorgelesen worden ist, war der Epilog für eine Zeit, die erfüllt war von einem monomanen Fanatismus der Jugend, für eine Zeit, deren Bedeutung längst über den Rahmen der Sportrubrik hinausgewachsen ist. Die Regierungszeit des Fußballs ist beendet. Le roi est mort.
Man darf jetzt in einen Fußballklub eintreten. Wer uns vor fünfzehn Jahren gesagt hätte, daß einmal eine solche Erlaubnis kommen werde, dem hätten wir nicht zu glauben vermocht. Auf das Fußballspielen standen damals alle Todesstrafen, die die Schule zu fällen hat: Strenges Prüfen, Karzer, Repetieren. Selbst bei den Jugendspielen mußten wir, die wir an zehrendem „Ballfieber“, an der „englischen Krankheit“ litten, uns beim Barlaufspiel und beim Passatschlagen langweilen, und erst als wir dann alle von den Jugendspielen wegblieben, erlaubte man uns für jeden Spieltag ein knapp bemessenes Fußballwettspiel.
Wehe dem, dessen Zugehörigkeit zu einem Klub man in der Schule in Erfahrung brachte. Und doch: Wir spielten fast alle. Was bedeuteten die ärgsten Strafen gegenüber dem Vergnügen zweimal je fünfunddreißig Minuten der Gelegenheit nachjagen zu dürfen, ein Goal zu schießen. Freilich man ließ alle möglichen Vorsichtsmaßregeln walten. In der Zeitung waren oft alle zweiundzwanzig Spieler und der Schiedsrichter eines Wettkampfes nur mit Pseudonymen angekündigt, zum Spielfelde wählte man die äußersten Ränder der Kaiserwiese, des Dejwitzer Exerzierfeldes und des Invalidenplatzes (der Teil, der hart an die Heinesche Besitzung grenzt, war immer von Schülermannschaften bevölkert), um vor den Blicken eines vielleicht patrouillierenden Professors möglichst gedeckt zu sein, und die Mannschaftsitzungen fanden in den verstecktesten Spelunken der Kleinseite, auf dem Belvedere, von Dejwitz und Karolinental statt. Nicht die Angst vor den Professoren allein, auch allerhand Unbequemlichkeiten hatten die Mittelschüler zu bestehen, die im vorigen Jahrhundert, um die Mitte seines letzten Dezenniums dem Sporte oblagen. Zum Eintritt in die bestehenden Vereine, die einen eigenen Sportplatz hatten, reichten weder der Mut (nicht der Mut gegenüber der Schule, sondern der Mut gegenüber den maßgebenden Faktoren des Klubs), noch die Geldmittel. So mußte man denn den Wahlspruch „Mein Feld ist die Welt“ beherzigen und auf den unverbauten Flächen Prags die Balltechnik üben. Da warf man sich denn schon zu Hause in Dreßhemd, Stulpen, Schienbeinschützer und Dreßhosen, zog darüber die Straßentoilette an, und stapfte, trotz sengender Sonnenglut, in der doppelten Kleidung auf die Kneippwiese, auf den Invalidenplatz, nach Dejwitz aufs Exerzierfeld, auf die Holleschowitzer Heide, in den Canalschen Garten. Dort zog man die Straßenkleider aus und warf sie auf zwei Haufen aufeinander, die in einer Breite von sechs Metern von einander entfernt waren; die Kleiderhaufen bildeten die Goalstangen. Die Anschaffung des Fußballes, sowie die Reparaturen seiner irdischen Hülle und seiner leider auch nicht unsterblichen Seele wurden aus den vereinigten Taschengeldern der Elf bestritten, und wenn man sich vom Schuster fünf feste Lederstöpsel auf die Stiefelsohlen nageln ließ, so konnte man schon in dem Wahne leben, ein Paar englischer Treter sein eigen zu nennen. Man bedurfte keiner Goalnetze, keiner Querpfosten, man bedurfte keiner Ankleidekabinen und keiner verschließbaren Utensilienkästen, manchmal auch keines Unparteiischen und keines Goalrichters, ebensowenig wie man der Erlaubnis der Professoren bedurfte. Man spielte.
Dafür kannten einen die Schüler der ganzen Anstalt, und mit scheuer, schrankenloser Bewunderung schauten die Schüler zu den Fußballkapazitäten der nächsthöheren Klasse auf. Und wenn solch einer der „erstklassigen Menschen“ im Schulhofe oder auf dem Korridor eine Orangenschale in die Höhe „kickte“, dann ging ein Murmeln der Anerkennung durch die Reihen. Wenn der Sekundaner irgend eines Gymnasiums den Tertianer irgend einer Realschule kennen lernte — was war da der Gegenstand des Gesprächs? Die Namen der Großen im Fußballreich, mit denen der Untergymnasiast derselben Anstalt anzugehören die Ehre hatte. Was Wunder, daß der Ehrgeiz nach solchem Ruhm das Fußballfieber noch mehr entfachte, daß zu Hause und in der Schule mit allen Gegenständen „gedribbelt“, „kombiniert“ und „geshootet“ wurde, die nicht niet- und nagelfest waren. Die Professoren teilten allerdings weder die Liebe zum Fußballspiel, noch das Verständnis für die Leistungen seiner Jünger. Sie haßten das „rohe Spiel“ und dieser Haß zeitigte oft die komischesten Blüten. Wenn in irgend einer Klasse wirklich irgend ein schwerblütiger Junge saß, der beim Fußballspiel nicht mittat, dann konnte man mit tödlicher Sicherheit darauf rechnen, daß er bei den Professoren in den Verdacht geraten werde, ein Vorkämpfer des Fußballsportes zu sein. Und ein Turnlehrer, der es besonders scharf aufs Fußballspielen abgesehen hatte, warf in der Besprechung eines Jugendspiel-Wettspieles dem besten Stürmer vor, daß er beim Laufen eine schlechte — Körperhaltung einnehme. Natürlich wurden solche Kritiken ebenso belacht, wie der Vorschlag eines sonst ganz intelligenten Schulpädagogen, man möge, um Füße und Hände in gleichem Maße auszubilden, mitten im Fußballwettspiel nach jedem Goal Hantelübungen einführen ... Seit dieser Kinderzeit des Fußballsportes sind fünfzehn Jahre verstrichen. Mancher der einstigen Märtyrer in Fußballdreß gehört heute dem Lehrkörper einer Mittelschule an, und so ist doch ein sportfreundlicher Erlaß herausgekommen.
Weshalb aber der Nekrolog? Fängt denn nicht erst jetzt, da die letzte Hürde genommen ist, die Renaissance des Fußballsportes an? Mit nichten. Gerade jetzt, da der fußballspielenden Jugend auch der letzte Hauch des Märtyrertums genommen ist, da nicht mehr der romantische Reiz des Verbotenen besteht, da man gewissermaßen unter der Patronanz der Schule ein Endback oder ein Forward sein darf, gerade jetzt wird die Jugend aufhören, mit ungeteilter Begeisterung bei der Sache zu sein. Die Sportliebe war nur eine Ingredienz.
Und wenn nun auch noch ein Erlaß des Landesschulrates herausgegeben werden sollte, der den Gymnasiasten und Realschülern gestattet, Studentenverbindungen zu bilden, dann verbrenne ich das grün-silbern-blaue Band unserer Pennälerblase und sage endgültig meiner Jugendzeit ade.
Genau eine halbe Stunde, nachdem es einem widerwärtig geworden ist, die endlose Beneschstraße in Pankratz zu durchschreiten, zweigen die Telephonstangen nach rechts ab, und man hat ihnen zu folgen. In der Třebizskygasse sieht man zum höchsten Erstaunen, daß die Gegenden, die man vorher durchschritten hat, höchstentwickelte Großstadt waren. Im Verhältnis nämlich. Auf einem Feldweg geht es weiter gegen Dworetz. Der Schnee ist weiß wie das Kleid einer Kranzeljungfer; wenn er doch auch kniefrei wäre! Auch die Volants sind von stilwidriger Färbung: Braune Spuren der Wagenräder, die den Schnee in Kot verwandelt haben.
Schließlich kommt man zu einem Bildstock, dem man ganz deutlich ansieht, daß er vor Jahren grün angestrichen war. In einer blauen Nische steht eine winzige, mit Gold bemalte Nepomukstatue. Rechts und links vom Bildstock stehen Häuser. Links ein kleines, verfallenes Anwesen, rechts eine Reihe von langen Gebäuden, an die sich eine Umfriedung schließt. Man würde diese Besitzung für ein Bauerngut halten können, aber der breite Schlot dementiert diese Vermutung. Aber auch eine Fabrik ist es nicht. Das Hundegebell, das herausdringt, verkündet, daß hier die Prager Abdeckerei, die thermochemische Vernichtungsstation ist.
Im Hofe drinnen steht ein Bursche. Hohe Stiefel und ein am Rocke befestigtes blaues Emailschild mit der Umschrift „Kontumaz- und thermochemische Station“ und sein Aussehen sind die Abzeichen seiner Würde: Man hat einen jener Meister des Lassowurfes vor sich, die ihre Kunst nicht in der Prärie des wilden Westens, sondern in den Straßen Prags, nicht an Büffeln, sondern an Hunden ausüben. Ich frage den Schinderknecht nach seinem Herrn und bald stehe ich vor Herrn Rudolf Nešvara, dem Wasenmeister von Prag. „Antouschek“ nennt ihn der Volksmund, seitdem vor sechzig Jahren der Gehilfe eines seiner Vorgänger im Amte, der Anton Schek dadurch populär geworden war, weil sein Familienname gleichzeitig die tschechische Diminutiv-Endung ist. Ich trage Herrn Antouschek-Nešvara mein Begehr vor, die Vernichtungsstation besichtigen zu dürfen, und wir treten bald einen Rundgang durch die Gebäude an.
Zuerst öffnet Herr Nešvara die Türe zum langgestreckten Hundestall, in dem vierzig Boxe für Hunde sind. Ein wütendes Gekläff geht an: Morituri te salutant! Sie sind alle „morituri“, die schönen stichelhaarigen Foxe, die eleganten Windspiele, die putzigen Pudel hinter den schwedischen Gardinen. Drei Tage waren sie in „Untersuchungshaft“ in der Aufbewahrungs-, der Kontumaz-Station für eingefangene Hunde untergebracht, die sich auf der Taborer Reichsstraße zwischen den beiden unbeschreiblich schönen Wyschehrader Toren befindet, und hier hätten sie ihre Besitzer binnen drei Tagen durch Entrichtung der Geldstrafe auslösen können. Das haben diese aber nicht getan und nun sind die Hunde dem Tode geweiht. Vielleicht bellen sie so wütend, weil die treuen Viecher über die Untreue der Herren erbittert sind, vielleicht bellen sie so wütend, weil sie wissen, daß sie eines unverschuldeten Todes sterben müssen, vielleicht bellen sie so wütend, weil sie sich über den Unverstand der Menschen ärgern, welche diese schönen Exemplare der Hunderasse zwecklos hinrichten, statt sie zu verkaufen. Morgen müssen sie sterben. Ein aus unmittelbarer Nähe abgegebener Schuß aus dem Stutzen und der vom Menschen verlassene Genosse des Menschen wälzt sich in seinem Blute, oder — bei den kleineren Hunden wird es so gemacht — ein Beilhieb auf den Kopf und ein Hundeleben hat geendet. Man glaubt einen wehmütigen Ton in dem erbitterten Bellen und Winseln und Knurren und Kläffen mitklingen zu hören.
Wir verlassen den traurigen Hundekerker. Draußen im Hofe springen einige Hunde, darunter ein prächtiger reinrassiger Bernhardiner, namens „Cyrano“, liebkosend an Herrn Nešvara hinauf. Sie sind von diesem begnadigt worden und gehören zum Personale der Prager Fronerei. Schmeichelnd schmiegen sie sich an das Knie ihres Herrn, den Henker ihrer Stammesgenossen. Solidaritätsgefühl mit ihren eingekerkerten oder justifizierten Kameraden scheinen sie also nicht zu kennen, diese Hunde.
Der Rundgang wird fortgesetzt, er führt jetzt in die Räume, die dem Zwecke der Anstalt, der gefahr- und geruchlosen Vernichtung der Tierkadaver dienen. Wir betreten zunächst den Seziersaal, wo die Kadaver enthäutet und wie die täglich hierher kommenden Konfiskate der Schlachtbank und der Markthalle zerstückelt werden. Die Stücke werden dann durch ein in der Wand angebrachtes Mannsloch in einen Apparat geworfen, der im angrenzenden Maschinensaale an der Wand steht. Dieser Apparat ist der sogenannte Kafilldesinfektor, der vom Antwerpener Schlachthausdirektor de la Croix erfunden und von der Firma „Rietschel & Henneberg“ in Berlin im Jahre 1882 zum erstenmale in Deutschland hergestellt worden ist. Der Bruder des Herrn Nešvara ist hier am Werke. Er scheint der technische Leiter des Unternehmens zu sein. Wenn der Apparat gefüllt ist, verschließt er ihn hermetisch und leitet hernach zwischen die doppelten Wände des Behälters Dampf von fünf Atmosphären. Dadurch findet eine Trocknung der Fleischteile statt, und die durch den Siebboden ablaufende Flüssigkeit wird durch den im Rezipienten sich entwickelnden Dampf in einen zweiten Zylinder gedrückt. Nun wird der Apparat durch sechs Stunden einer Temperatur von hundertfünfzig Grad ausgesetzt, worauf man durch den Dampf alle noch vorhandene Flüssigkeit und das ausgeschiedene Fett in den Rezipienten drückt. Aus diesen gelangt das Fett in den rechts vom Kafilldesinfektor stehenden Fettabscheide-Apparat, während das Leimwasser in den auf der linken Seite des Desinfektors stehenden Verdichtungsapparat strömt. Der nun fast trockene und geruchlose Inhalt wird nun in eine riesige Maschine gebracht, die in der Mitte des Seziersaales steht: Den Podewilsschen Trockentrommelmühl-Apparat, in dem die Fleischreste zu „Tierkörpermehl,“ einem feinen Pulver zermahlen werden, das einer Kunstdüngerfabrik in Pankratz verkauft wird. Die größeren Knochen werden in einem anderen Apparate zu Knochenmehl — gleichfalls ein Düngemittel — zermahlen. Eine hydraulische Presse, die unter einem Drucke von vierhundert Atmosphären das Tierkörpermehl zu runden Kuchen zu pressen vermag, steht außer Betrieb. Während in Deutschland diese Tierkörpermehl-Kuchen als Futtermittel stark verwendet werden, vermochten sie sich in Prag trotz ihres großen Proteïn-Gehaltes nicht einzubürgern. Außerdem stehen im Maschinensaal ein mächtiger Ventilator, Trockenapparate und Schöpfpumpen in Betrieb.
An den Maschinensaal schließt sich der Kesselraum mit der 6 H. P. starken Dampfmaschine und einem Dampfkessel von zwölf Meter Heizfläche. Hinter dem Kesselraum befindet sich das Fettmagazin, in dem große Fässer voll Tierfett stehen. Auf einer schmalen Stiege gelangt man in den Trockenraum für Häute und das Magazin für Tierkörpermehl — weite Bodenräume, in deren Mitte der breite, rote Schlot den Dachstuhl durchbricht. Auf der Erde liegen braune Berge, die wie aufgeschichtete Ackerkrume aussehen, und Tierkörpermehl sind. In einer Ecke ist ein gelbes Pulver, das Knochenmehl aufgeschüttet. In einer anderen liegen Knochen. Wenn man sie angreift, dann zerbröckeln sie in der Hand. Sie sind entfettet, entleimt, sterilisiert.
Der Rundgang ist beendet und Herr Nešvara lädt mich in seine Wohnung ein. Wir kommen durch ein Zimmer, in dem sein jüngstes Söhnchen auf der Erde mit einem Hunde spielt — das billigste Spielzeug dortzulande. Dann sprechen wir vom Fach. Herr Nešvara kennt die Geschichte des Prager Abdeckereiwesens ganz genau, ist sie doch zum Teile seine eigene Familiengeschichte. Sein Großvater, der noch in den städtischen Urkunden nicht „Nešvara“ sondern „Neschwara“ hieß, und sein Vater waren Wasenmeister, seinen ältesten Sohn, der Sekundaner ist, will Herr Nešvara Tierarzneikunde studieren lassen. Dem Abdeckergewerbe ist längst die „Anrüchigkeit“ genommen, die vor Jahrhunderten seinen Angehörigen die Heirat mit ehrbaren Mädchen, den Eintritt in die Zünfte, in den Militärstand, die Zuweisung von Ehrenstellen verbot und die Erblichkeit dieses Berufes anordnete, aber freiwillig erbt sich dieses seltsame Handwerk noch heute vom Vater auf den Sohn fort.
Herr Nešvara kennt die Geschichte seiner Vorgänger auch über seine eigene Ahnenreihe hinaus. Aus einer Schublade holt er ein vergilbtes Dokument hervor: Den Freibrief, mittels welchem Maria Theresia den Schindern und deren Freiknechten gestatte, eine Ehe mit einem bürgerlichen Mädchen einzugehen, allerdings unter der Bedingung, daß diese Männer vorher ihrem Gewerbe entsagen mußten. Das muß ein hochwichtiger Akt gewesen sein, anno dazumal, denn er ist vom Fürsten Karl Egon Fürstenberg und „ad mandatum Sacro-Caesarea Regineque Majestatis ex Consilio Regii Gubernii“ von Johannes Arnvers gezeichnet.
Das Amt des Schinders wurde in Prag vom Scharfrichter versehen, man stellte die Vernichtung der zum Tode geweihten Menschen jener der „abgestandenen“ Tiere gleich. Im Jahre 1860 wurde der Henkersdienst verstaatlicht, die Abdeckerei aber nicht. Die Konzession zur Ausübung des Wasenmeistergewerbes erhielt für die am rechten Moldauufer gelegenen Teile Prags A. Nešvara, der Großvater des heutigen Inhabers, für das linke Ufer J. Jeřábek, dessen Amt heute ein ehemaliger Wachmann namens Josef Černy in der Kontumazstation Tejnka bei Břewnow ausübt. Die Nešvaras haben früher ihr Gewerbe in der Salnitergasse beim Rudolphinum ausgeübt, an der Stelle, wo heute das tschechische akademische Gymnasium steht. Herr Nešvara erzählt von Medizinern, die in seiner Jugendzeit in diese Wasenmeisterei kamen, um hier verschiedene Experimente an den Tieren zu machen. „Unsere häufigsten Besucher von damals sind heute Professoren an der deutschen medizinischen Fakultät,“ fügt Herr Nešvara hinzu. Meine Frage, ob die Tiere eventuell zu Vivisektionszwecken an die Universitätsinstitute abgetreten werden, verneinte Herr Nešvara. Nur bei besonders interessanten Fällen von Tiererkrankungen bitten sich die physiologischen Institute das Materiale aus, wenn sie nicht selbst solches haben. Aber das kommt fast nie vor.
Dann beginnt Herr Nešvara auf sein Geschäft zu schimpfen. Er habe die thermochemische Vernichtungsstation nach reichsdeutschem Muster mit einem Aufwande von 50.000 Kronen so errichtet, daß nicht nur die hygienische Vernichtung aller Kadaver, sondern auch deren Verarbeitung möglich sei. Er habe sich aber verspekuliert. Das Materiale sei gering, die Verwendungsmöglichkeit noch weit geringer. Von der Geldstrafe, die für ausgelöste Hunde entrichtet werde, bekomme er ein Drittel, etwa dreitausend Kronen im Jahr. Davon könne er die Betriebsspesen nicht decken. An die Vernichtung der Kadaver — darunter jährlich etwa tausend Hunde — müsse er jedes Jahr einen Betrag von dreißigtausend Kronen daraufzahlen und bemühe sich daher seit neun Jahren um die Zuweisung einer Subvention von der Stadtgemeinde. Seine Gesuche werden aber ohne Motivierung abgelehnt. Auch sein Antrag, daß man, so wie dies in anderen Städten geschah, den Maulkorbzwang abschaffen und bloß jene Hunde abfangen und vernichten möge, welche ohne Hundmarke herumlaufen, habe keinen Erfolg gehabt. Die Verwertung der Hundekadaver lohne sich nicht und Pferde, welche ein ergiebiges Verwertungsmaterial bilden, werden seit dem Aufschwunge des Pferdeselchergewerbes fast niemals mehr hergebracht. So sei die Abdeckerei buchstäblich auf den Hund gekommen.
„Ja, warum üben Sie denn Ihr Gewerbe aus, wenn Sie wirklich so viel zusetzen müssen?“, ist meine Frage.
„Ich werde es auch aufgeben. Mir liegt schon der Antrag vor, das Unternehmen in eine Farbenfabrik umzuwandeln, und das werde ich tun.“
Es fehlte noch, daß Herr Nešvara seiner Klage das Faustsche Wort anfügen würde: „Es möchte kein Hund so länger leben“ und man müßte diesem Fachmann sein Leid glauben. So aber weiß man nicht, ob er es mit seinem Entschluß gar so ernst meint, ob wirklich dieses Institut bald der Vergangenheit angehören soll, ob ein besseres oder ein schlechteres nachfolgen, und wie in Zukunft dem Hundeleben in Prag ein Ende gemacht werden wird.
Vor der Streifung, da geht’s ja hoch her. Da wird getanzt, gespielt, getrunken, geschäkert, geraucht, gesungen, gestritten, geschrien, geschimpft und gerauft, daß es eine Freude ist. Weiß der Teufel, wenn der Herr Oberkommissär Protiwenski dabei wäre, er würde es gewiß nicht übers Herz bringen, das Idyll mit rauher Hand stören zu lassen. Aber er ist nicht dabei und er kann am Morgen, wenn er die Razzia anordnet, noch nicht wissen, daß es am Abend in den heimzusuchenden Lokalen so lustig sein wird.
„Die Detektivs ... (folgen etwa zwölf Namen) haben um halb 10 Uhr abends gestellt zu sein.“ Das ist die Ordre, die jede Woche — die Wochentage wechseln in zwangsloser Reihenfolge ab — mindestens einmal ergeht. Es ist das Aviso zu der kombinierten Streifung, welche drei oder vier Partien der Sicherheitsbeamten von verschiedenen Ausgängen aus gegen einen gemeinsamen Treffpunkt unternehmen. Auf diese Weise bilden die Polizeigruppen eine Kette, und keinem der lichtscheuen Individuen, die aus einer Spelunke in die benachbarten wandeln, kann das Glück widerfahren, daß er immer vor oder immer nach dem Erscheinen der Streifung kommt und so den Fangarmen der Polizei entgeht. Außer diesen kombinierten Streifungen gibt es auch noch Generalstreifungen, die mindestens zweimal im Jahr unter Mitwirkung aller Polizeibeamten vorgenommen werden, und kleine Streifungen in bestimmte Lokale, die zur besonderen Beaufsichtigung allen Grund geboten haben. Immer werden die Razzien nur von Beamten in Zivilkleidern und von Geheimpolizisten vorgenommen, damit der nächtliche Spaziergang nicht zu großes Aufsehen errege und das Erscheinen in den ominösen Gasthäusern, Schlupfwinkeln, Massenquartieren und Branntweinschenken nicht vorzeitig avisiert werde.
Als noch die alten Häuser der Josefstadt standen, waren die Stätten des Verbrechens und der Ansteckung dort konzentriert. Damals konnte man in einem Hause oft mehr verdächtige und gesuchte Subjekte festnehmen, als heute in etlichen Streifungen. Allerdings wurde dieser Vorteil durch das opferwillige Wirken der Theresia Bartunek fast aufgehoben, von deren in den achtziger Jahren entfalteten Tätigkeit die Verbrechergilde noch heute dankbar schwärmt. Theresia stand oft nächtelang am Johannisplatz in einem Versteck und wartete, bis aus der Türe des Kommissariates die Beamten traten. Dann eilte sie — halb Läufer von Marathon, halb Retterin des Kapitols — von einer Spelunke zur anderen, riß die Türe auf und ließ den Warnungsruf „štrajfuňk“ ertönen ... Heute sind die Nährböden des Lasters zerstreut. Kein Stadtteil, der frei von ihnen wäre, kein Stadtteil, in den nicht Razzien unternommen werden müßten.
Kurz nach zehn Uhr abends öffnet sich das schwere Eisentor des Sicherheitsdepartements in der Bartholomäusgasse. Etwa fünfzehn mit Stöcken bewehrte Männer treten hinaus: Polizeibeamte und Detektivs. Es bilden sich drei Gruppen: die eine zieht zur Postgasse hinunter und wendet sich dann gegen die Obere Neustadt hin. Die beiden anderen Gruppen schreiten zur Altstadt zu. Bei der Husgasse biegt die Altstädter Partie ab und die Gruppe, welche die Untere Neustadt mit ihrem Besuche beehren will, zieht durch die Perlgasse und über den Obstmarkt weiter.
Alsbald haben sie zu tun, allerdings nur mit einer belanglosen Klientel: Es sind Passantinnen, welche die ihnen schon längst bekannten Polizeibeamten mit einem grenzenlos ehrfürchtigen und wohl oft heuchlerischen „Küß’ die Hand, gnädiger Herr“ begrüßen. Paßrevision. Man sieht nach, ob in dem Dienstbuch des Mädchens das Datum des vergangenen Montags eingetragen ist, und sie können ihren Weg fortsetzen. Manche „gehen bloß zu ihrer Schwester“, aber da die mißtrauischen Polizeibeamten aus verschiedenen Gründen dieser rührenden Schwesterliebe absolut nicht glauben wollen, so muß die Dame statt zu ihrer Schwester auf die Wachstube gehen. Eine wieder kann das Buch nicht finden, sie habe es verlegt. Auch diese Buchverlegerin wird dem nächsten Wachmann übergeben, der dem schönen Fräulein Arm und Geleite bis zum nächsten Kommissariat anbietet. Sie wehrt sich: Sie sei weder Fräulein, weder schön und könne ungeleitet nach Hause gehen. Aber das nützt ihr nichts.
Die Streifenden setzen ihren Weg fort. Die Wachposten auf der Straße grüßen nicht; der Gruß würde das Inkognito der Zivilpolizisten lüften, und ihr Nahen könnte leicht drahtlos an die interessierten Stellen depeschiert werden. Endlich ist man vor einem Gasthaus, aus dem Jubel und Lärm auf die Straße dringt. Plötzlich wird es drinnen still, jemand, der gerade im Hausflur war, ist in das Lokal gestürmt und hat das Erscheinen der Streifung gemeldet. Jäh verstummt der Lärm. Paare, die sich zärtlich verschlungen hielten und eben unzertrennliche Liebe schworen, stieben auseinander und rennen, wie die Zecher, die gerade das Glas zum Munde führen wollten, wie die Kartenspieler, die eben den Eichel-Ober übertrumpfen wollten, den Ausgängen zu. Aber die sind besetzt: Im Haupteingang steht der Beamte, an den Seiteneingängen Detektivs. Die aufgeschreckten Gäste sehen, daß an ein Entkommen nicht zu denken ist, und kehren wieder in den Saal zurück.
„Ganz untertänigster Diener, hohe Regierung,“ so tönt es devot von den Lippen des Wirtes, der an den Beamten herantritt, ehrerbietig die speckige Kappe zieht und sich im rechten Winkel verbeugt. Der Wirt hat alle Ursache, mit den Polizeibeamten höflich zu sein, wenn diese auch jetzt seine besten Gäste wegführen werden: Schon mehrere Male ist ihm mit der Entziehung der Konzession gedroht worden und wieder hat vor kurzem ein Gast seines Lokales einen anderen derart liebkost, daß am nächsten Tage in den Zeitungen unter dem Titel „Eine tödliche Ohrfeige“ darüber berichtet wurde.
Der Beamte ignoriert den Gruß. Rundgang und Cercle beginnen. Ein Mädchen sitzt nahe der Türe an einem Tisch, neben ihr ein Jüngling. Die beiden markieren ein zärtliches Gespräch und scheinen sich um die Eintretenden gar nicht zu kümmern. Sie haben verabredet, ein Brautpaar darzustellen.
„Was machen Sie hier?“ fragt der Beamte das Mädchen.
„Ich bitte, ich bin mit meinem Bräutigam hier.“ Fast beleidigt klingt das. Und der Galan nickt eifrig Bestätigung.
„So, so, Fräulein Harlak, Sie haben wohl geglaubt, daß ich Sie nicht erkennen werde, weil Sie jetzt ein Jahr in Brünn waren?“ Die Erkannte wird blaß. Der Beamte wendet sich in strengem Ton an ihren Partner: „Das ist also Ihre Braut?“
Der „Bräutigam“ hat jedoch „Spundus“ gekriegt und er verleugnet seine Braut. Er schweigt. Da wird aber die Verratene, die kurz vorher noch so zärtlich schien, sehr fuchtig:
„Was? Zehn Glas Bier hab’ ich Dir schon gezahlt und jetzt willst Du mich nicht kennen. Du Hundekerl, Du ...“ Ein Wink des Beamten beendet den Redeschwall der Jungfrau. Ein Detektiv führt sie zu dem neben der Türe gelegenen Tisch, wo sich alle versammeln müssen, welche der Beförderung in „Direktor Wejřiks Hotel“, das Polizeigefangenhaus, wert erachtet werden.
Inzwischen hat der Beamte einem Manne seine Aufmerksamkeit zugewendet, der allein an seinem Tisch sitzt. Fast die ganze Biertasse ist schraffiert — jeder Strich bedeutet ein Glas, das der einsame Zecher hinter die fehlende Binde gegossen hat. Beamter und Gast blicken einander in die Augen und über beider Gesichter huscht ein Lächeln, das zu sagen scheint: Sieh da, ein alter Bekannter!
„Guten Abend, Herr Kommissär,“ bricht der Zecher das Schweigen.
„Schönen guten Abend, Herr Lojsa,“ wünscht der Kriminalpolizist. „Was machst Du denn hier?“
„Ich trinke,“ antwortet Lojsa naiv und treuherzig.
„So? Du weißt wohl nicht, daß jetzt schon zwölf Uhr ist, und daß Du (Lojsa steht unter Polizeiaufsicht) um acht Uhr abends zu Hause sein sollst?“
„Gnädiger Herr, ich habe jetzt zwei Tage Holz gehackt und da wollte ich heute ...“
„Holz hast Du gehackt? Es wird wohl das Holz einer Wohnungstüre gewesen sein. Der Kratochwil ist gestern wegen Einbruchs festgenommen worden und hat gesagt, Du könntest sein Alibi nachweisen.“
„Ja, Herr Kommissär, das kann ich nachweisen!“
„Kannst Du? Umso besser.“ Und schon führt ein Polizist den stillen Zecher zu dem Sammelplatz neben der Tür, wo schon Fräulein Harlak Aufstellung genommen hat. Hier haben übrigens auch die Kellnerinnen des Lokales Posto gefaßt, um von den „Auserwählten“ die Zeche einzukassieren.
Der Polizeikommissär hat wieder einen alten Freund erspäht: „Kuželka, Du hast doch Prag!“, ruft er ihn an. Das ist ein elliptischer Satz, das Prädikat „verboten“ ist zu ergänzen. Aber jeder, der das Prager Rotwälsch versteht, versteht auch dieses Satzfragment.
Revertent Kuželka will in einer langatmigen Rede dem Kommissär auseinandersetzen, welch wichtige Angelegenheiten ihn nach Prag geführt haben, während ihn in Wirklichkeit die schönen „Arbeitsgelegenheiten“ und der gleichgestimmte Freundeskreis wieder in die Landeshauptstadt riefen, aus deren Polizeirayon er dauernd abgeschafft ist. Der Beamte hört ihm einen Augenblick lang aufmerksam zu und scheint seinen Argumenten voll beizustimmen. Dann sagt er freundlich zu Kuželka:
„Dorthin stell’ dich.“ Da weiß der erfahrene Kuželka, daß alle weiteren Rekriminationen vergeblich sind und stellt sich zur Tür.
Das Frage- und Antwort-Spiel geht weiter. Der Polizeibeamte läßt sich Arbeitsnachweise zeigen und erkundigt sich nach dem Obdach der Gäste. Manchmal fallen die Antworten befriedigend aus, manchmal aber endet das Spiel mit dem Wink gegen den Formierungsplatz bei der Türe. Alle Gäste sind verhört worden. Da wendet sich der Beamte zu dem Billardbrett und stöbert mit seinem Stock unter die Wachsleinwand, die das Billardbrett bis zum Boden bedeckt. Unten ist jemand. Das hat der Beamte ohnedies gewußt und wollte nur den Zeitpunkt der Entdeckung möglichst lange hinausschieben, damit der dort Versteckte schon die Hoffnung schöpfe, die Polizei überlistet zu haben. Aber als die Person auf seine Aufforderung hin hervorkriecht, ist der Beamte des Kriminalbureaus doch überrascht:
„Die tolle Andula! Wie kommst Du denn her? Um vier Uhr hat Dich der Polizist über die Rayonsgrenze hinausgeführt, und jetzt bist Du wieder hier!“
„Zu Fuß, gnädiger Herr, bin ich wieder zurückgegangen. Ich glaube, daß ich früher hier war, als der Polizist auf dem Kommissariat. So bin ich gelaufen. Meine ganzen Lackschuhe sind kaput. Neun Gulden haben sie gekostet. Und jetzt werde ich wieder eingesperrt.“
Das Mädel, ein siebzehnjähriger Fratz, der verderbter ist, als die ältesten Kolleginnen, verzieht schmollend das Gesichtchen, das nicht unschön genannt werden kann.
Der Polizeibeamte sagt seinen Refrain: „Stell’ Dich dorthin.“ Dann kommandiert er den Ausgehobenen „rechts um, Marsch“, der Wirt zieht noch devoter sein Käppi, draußen übernehmen uniformierte Polizisten die Eskorte. Weiter geht die Razzia.
Nach der Streifung ist in den Lokalen die ganze Stimmung verflogen. Der spärliche Rest der Gäste zahlt seine Zeche, und wenn ein Polizeiorgan die Flüche hören würde, die der vorher so devote Wirt jetzt gegen die Behörden ausstößt, so würde es diesem wohl nicht gut ergehen.
Um halb 2 Uhr nachts treffen die Partien der Sicherheitsleute, wie verabredet, beim Pulverturm zusammen. Die einzelnen Beamten erstatten dem Rangshöchsten Bericht über die Vorkommnisse, die Detektivs werden nach Hause entlassen. Die Razzia ist beendet, der Boden der Großstadt wieder einmal gekehrt worden. Vierundfünfzig Verhaftete. In der Aufnahmskanzlei des Polizeigefangenhauses werden ihre Personalien aufgenommen, die Taschen untersucht, Zellen angewiesen.
Am nächsten Tage werden Akten geschrieben, ärztliche Untersuchungen vorgenommen. Die Verhafteten werden nun in den bekannten grünen Karossen in das Strafgericht, in das Bezirksgericht, in das Allgemeine Krankenhaus oder in die „Fišpanka“, das städtische Arbeitshaus, befördert. Da gibt es dann Requirierungen und Erhebungen, die Heimatszuständigkeit muß ermittelt, der Schubkostenersatz verlangt, Convoyanten für die abzuschiebenden Personen beordert werden und was dergleichen schöne Schreibereien mehr sind.
Was Wunder, daß dann die betroffenen Beamten mehr als die Prager Verbrecher und Vagabunden über die Prager Streifzüge der Polizei schimpfen!
Das rote Riesenhaus, das neben dem Garnisonsfilialspital breitspurig dasteht und die Lorettogasse verstellt, beherbergt gar seltsames Volk. Die Häftlinge der Strafanstalten sind unschuldige Waisenknaben gegen die Gäste dieser Anstalt, welche — ausdrücklich wird das hervorgehoben — durchaus keinen Strafzweck verfolgt. In den Strafhäusern gibt es Diebe, Betrüger, Raubmörder aus Not, Raubmörder aus Überlegung, Affektsverbrecher, die vielleicht ein zweites- oder ein drittesmal das Verbrechen nicht mehr verüben würden. In der Zwangsarbeitsanstalt wohnen nur Individuen, deren Strafliste ganz beträchtliche Dimensionen angenommen hat. Die Quantität der Strafen, nicht die Qualität entscheidet. Manche der Zwänglinge haben über hundert Strafen aufzuweisen, und wenn einer oder der andere auch ein mehrfach vorbestrafter Dieb oder Mörder ist, so ist er das nur nebenbei, und diese Bagatelle hat mit seiner Detention im Arbeitshause gar nichts oder nur wenig zu tun.
Die dreihundertdreißig braungekleideten Bewohner der Landeszwangsarbeitsanstalt sind aus harmloseren Gründen hier. Die Reichsgesetzblätter Nr. 89 und 90 vom Jahre 1885 haben die Errichtung der Zwangsarbeitsanstalten bloß zur Vermeidung von Vagabundage und Bettelei verfügt. Die Anstalten sollen einerseits ein Prohibitivmittel gegen das Landstreichertum, gegen die Belästigung durch Vagabunden und für die Verhütung von Verbrechen sein — ein Zweck, der wohl erfüllt wird. Aber andererseits sollen auch die hierher kommenden arbeitsscheuen Individuen gebessert, zur Arbeit erzogen werden. Damit ist es nichts. Siebzig Prozent bleiben ungebessert. Und die restlichen dreißig Prozent sind auch zum Teile als dubios zu buchen, denn wenn auch keine Mitteilung von einer Gerichtsstrafe eines oder des anderen Entlassenen eintrifft, wer bürgt dafür, daß nicht der biedere Landstreicher in der Zelle irgend eines Bezirksgerichtes unter falschem Namen Obdach gefunden hat? In den Besserungsanstalten für Jugendliche sind gute Resultate aufzuweisen. Aber in die Prager Anstalt kommen nur Leute im Alter von achtzehn bis fünfzig Jahren und die können sich an seßhafte Lebensweise nicht mehr gewöhnen. Der Staub der Landstraße ist ihnen Lebenselement geworden, die Mühen der Fußwanderung und die Chikanen der Gendarmen fechten sie nicht mehr an, ein wilder Reisewahn hat sie gepackt, sie wandern von Ort zu Ort, der Schubwagen ist ihnen eine feine Reisegelegenheit, das Arrest ein famoses, warmes Obdach. Arbeiten — wozu? Wer weiß, ob sie nicht recht haben.
Gar mancher von ihnen hat Haus und Hof verlassen, um arm durch die Welt zu flanieren, viele lassen den Lohn in den Händen ihres Arbeitsgebers zurück, sie schleichen sich — vom Reisefieber plötzlich gepackt — bei Nacht und Nebel aus dem Hof und wandern auf Straßen und Feldrainen geldlos ins Weite. Was man braucht, kann man erbetteln, kann man stehlen. Gelegenheit zum Diebstahl ist immer da, Häuser, Ställe und Scheuern stehen offen. Und doch: Die Zahl derer, die in ihren hundertzwanzig Vorstrafen kein einziges Diebstahlsdelikt aufzuweisen haben, ist nicht gering. Ihre Liste ist einförmig. Immer kehren nur die §§ 1 und 2 des Vagabundagegesetzes wieder. Ehrliche Vagabunden. Sie sind auch durch die wiederholte Detention in Zwangsarbeitsanstalten nicht zu bessern und — nicht zu verderben.
Denn auch die Gefahr des schlechten Einflusses ist nicht ausgeschaltet, da in den Zwangsarbeitsanstalten die ehrlichen Vagabunden mit wiederholt bestraften Schwerverbrechern beisammen sind. Wünschenswert wäre, wenn für die Gewohnheitsverbrecher eigene Arbeitshäuser errichtet werden würden, oder wenn man sie deportieren würde.
Immerhin wäre es ungerecht, wenn man nicht konstatieren wollte, daß auch unter den gegebenen ungünstigen Verhältnissen jährlich eine ganz respektable Zahl von Gebesserten die Anstalt verläßt. So zum Beispiel ein lichtscheues Individuum, das vor Jahren an einem Raubmord in Prag beteiligt gewesen war. Der Gerichtshof hatte ihm eine mehrjährige Kerkerstrafe zuerkannt und sich außerdem für die Zulässigkeit seiner Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt ausgesprochen. Die „gemischte Landeskommission“ bei der Statthalterei, welche die Aufnahme in die Arbeitsanstalten verfügt, entschied sich für den Antrag des Gerichtes, und so kam der Bursche nach längerer Haft in Pankratz in die Zwangsarbeitsanstalt auf dem Hradschin. Hier benahm er sich so korrekt, daß man nach einem Jahre zu seiner bedingten Entlassung schritt, d. h. ihm eine Anstellung besorgte und ihn außerhalb der Anstalt wohnen läßt, trotzdem er noch in deren Stand gehört, und von dieser, wenn er sich nicht bewähren würde, jederzeit eingezogen werden kann. Aber er bewährt sich. In der Schneiderwerkstätte, in der er als Lehrling arbeitet, hat nur der Meister, nicht aber auch seine „älteren“, aber halb so alten Arbeitskollegen eine Ahnung von seinem Vorleben. Der Verein zum Wohle entlassener Sträflinge zahlt ihm die Wohnung, Kleidung und einen Zuschuß von wöchentlich zwei Kronen für Wäsche und Nachtmahl gibt ihm die Anstalt, die übrige Kost erhält er von seinem Meister. Er arbeitet überaus strebsam, und der einstige Raubmörder freut sich schon darauf, bald Geselle werden und sich sein Brot ehrlich selbst verdienen zu können.
Mag sein, daß man sich irrt, und daß der Bursche wieder zur alten Lebensweise zurückkehrt, wenn er dem Auge der Anstaltsleiter entrückt ist. Denn eigentlich sind alle Zwänglinge während der Zeit ihrer Internierung fleißig und folgsam. Sie arbeiten an den Handwebstühlen, an der Erzeugung von Papiersäcken, in den Tapezierer-, Schuster-, Schlosser- und Tischlerwerkstätten, in der Korbflechterei und im Anstaltsgarten, in der Küche und auf den Gängen, in den Arbeitskolonien auf den Feldern und Stallungen der kaiserlichen Güter in Litowitz, Hostiwitz, Rot-Aujezd und Tachlowitz, der Privatgüter zu Dubetsch, Kletzan, Biechowitz und Radigau, sie planieren und regulieren den Erdboden beim Bau der Landesirrenanstalt in Bohnitz und verrichten in der Kadettenschule, in der Strakaschen Akademie, im Palais Toskana und in der Landesfindelanstalt verschiedene Handlangerdienste. Sie arbeiten, weil sie von den anderen abgesondert werden würden, wenn sie das nicht täten. Strafen oder ein anderer Zwang zur Arbeit werden in der Zwangsarbeitsanstalt nicht angewendet. Dessen bedarf es umso weniger, als die Zwänglinge am Lohn ihrer Arbeit partizipieren. Sie sind in drei Klassen eingeteilt. Acht Monate bleiben sie in der dritten, der letzten Gehaltsklasse, in der sie zwanzig Prozent von ihrem Verdienst erhalten, der Rest fließt dem Anstaltsfonde zu. Nach Ablauf der acht Monate rücken sie in die zweite Klasse vor, in der sie fünfundzwanzig Prozent behalten dürfen, nach weiteren acht Monaten in die erste Klasse, in der dreißig Prozent ihres Arbeitsertrages ihr eigen sind. Einen Teil dieser Dienstprämie darf der Zwängling zur Aufbesserung seiner Kost verwenden. Das Nachtmahl ist wohlweislich schon so frugal bemessen, daß es einer solchen Aufbesserung dringend bedarf — ein Ansporn zur Arbeit. Der Rest der Verdienstesprämie wird dem Korrigenden aufbewahrt und oft erhält dieser nach Ablauf seiner Internierung — diese währt mindestens zwei und höchstens drei Jahre — einen ersparten Betrag von hundert Kronen ausgehändigt.
Die Hoffnung auf die Aushändigung des Verdienstes kann manchen nicht vor dem Entweichen abhalten. Aus dem Anstaltsgebäude selbst kann wohl niemand flüchten, denn die Gittertüren auf den Korridoren und die dichtgekreuzten Eisenstäbe in den Fenstern haben aus dem alten Palast der Trauttmansdorffs, aus diesem stillen Kleinseitner Patriziergebäude, in dessen Garten vor drei Jahrhunderten Tycho de Brahe seine erste Sternwarte errichtet hatte, einen Käfig gemacht. Aber draußen in den Arbeitskolonien, wo die Sonne zur Wanderschaft lädt, wo das rote Wirtshausschild so freundlich zum langentbehrten Schnapsgenuß auffordert, wo ein Hügel dem Zwängling zeigt, daß kein Aufseher in der Nähe und die Welt so groß ist, da packt den Vagabunden die alte Leidenschaft, da vergißt er, daß ihn seine Kleidung stigmatisiert, da vergißt er, daß ihm die Flucht arg bekommen wird, da vergißt er, daß er für jede Strafe zwei Monate länger in der verhaßten Anstalt bleiben muß, da vergißt er, daß in der Zwangsarbeitsanstalt auch Pfähle sind, an die man strafweise angebunden wird.
Dort in der Ecke der Korbflechterwerkstätte sitzt so ein Bursche, der erst vor kurzem entwichen und wieder eingebracht worden ist. Direktor Tilšer geht vorbei und fragt auch ihn, wieviel er heute gearbeitet habe. Die Antwort wird in kaum verständlichem Tone geknurrt. Und aus den Augen des Gefragten kommt ein wilder Blick des Hasses, eine Botschaft jener Gefühle, die vor kurzem die Revolte der Korrigenden in Bohnitz entfacht und ein Menschenleben gekostet haben.
In dieser historischen Woche, in der aus Anlaß des Regierungsjubiläums so viele Veranstaltungen „Fürs Kind“ stattfanden, gab es auch eine, deren Arrangeure ihre Veranstaltung als Selbstzweck betrachteten. Kein „Anlaß“, kein „wohltätiger Zweck“. Und wer war es, der diese Ehrlichkeit bewies? Die Korrigenden in der Landeszwangsarbeitsanstalt auf dem Hradschin.
Am Donnerstag um halb 3 Uhr nachmittags fand oben eine Theatervorstellung statt. Direktor Tilšer hatte mir nach Erscheinen eines Artikels, den ich über Bewohner und Einrichtungen der Hradschiner Zwangsarbeitsanstalt veröffentlicht hatte, die Einladung zu dieser Vorstellung gesandt, damit ich „bei dieser Gelegenheit auch die lichteren Seiten des Anstaltslebens kennen lernen“ möge. So kam ich hinauf.
Im Hofe waren die Zwänglinge. Aber nur wenige promenierten, nur wenige vergnügten sich am Kegelspiel. Die meisten drängten sich vor dem breiten Tor, das sich nun bald öffnen sollte, um die Theaterbesucher in das Haus zu lassen. Sie drängten sich und zwängten sich, wie die Leute an den Kassen zu den Maifestspielen. Aber sie benahmen sich doch wie Menschen dabei, und wenn ein Besucher kam, machten sie willfährig Platz.
Gespielt wurde im Korbflechtersaale. Der war sorgfältig adaptiert. An der einen Breitseite stand festgezimmert die Bühne.
Vor Jahren wurden aus dem Dekorationsmagazine des Deutschen Landestheaters durch dessen Intendanten, weiland Abg. Dr. Ludwig Schlesinger, der Zwangsarbeitsanstalt mehrere Flächen kassierter Kulissenleinwand überwiesen. Aus einem dieser Stücke war der Vorhang geschnitten und mit Lyra, Lorbeer und Maske bemalt worden. Oben das Landeswappen und einige naive Landschaften. Irgend eines Korrigenden Werk. Vor der Bühne brennen zwei halbverdeckte Gaslampen — die einzige Beleuchtung des langen Saales. So nimmt sich der Zuschauerraum gar seltsam aus. An zweihundert Zuschauer mit dumpfen Gesichtern und scharfen Blicken. Einige haben die braunen Flanelljacken anbehalten, andere sitzen in den schmutzigweißen Zwilchkleidern auf den Bänken da. Das sind fast die einzigen Toilettenunterschiede im Publikum. An der Wand stehen die Aufseher in Uniformen als Logenschließer. Vor die Bankreihen, auf denen die Korrigenden sitzen, sind zwei Reihen von Stühlen gestellt, die sonst in den Wachzimmern verteilt sind: Die Fauteuils für die Gäste. Denn auch Gäste sind da. Einige Frauen und Kinder von Aufsehern, sowie von Landwehrfeldwebeln und Oberfeuerwerkern aus der Nachbarschaft. Vor den Fauteuilreihen bedecken ausrangierte Bettdecken aus den Schlafsälen die Steinfliesen — Teppiche.
Heute ist deutsche Theatervorstellung, „Deutsches Landestheater“ wie die Zwänglinge sagen. Das „Tschechische Nationaltheater“ hat eine Woche vorher gespielt. Aber das Publikum ist zweisprachig. Wenn auch mancher kein Wort von dem versteht, was da oben auf der Bühne gesprochen wird, so freut er sich doch der Kleider und des Gehabens seiner deutschen Kollegen auf dem Podium.
In einer Nische neben der Bühne sitzt das Orchester. Vier Mann. Der Kapellmeister fehlt dem „Deutschen Landestheater“ ... Die Musikanten dirigieren selbst. Der Primgeiger ist ein alter, gebückter Mann mit einer Brille, der krampfhaft in sein Notenblatt blickt. Der zweite Violinist hat blondes, aufwärts gekämmtes Haar und einen stattlichen Schnauzbart: er ist ein ehemaliger Musikfeldwebel, der von Stufe zu Stufe gesunken ist, und nicht zum erstenmale dem Orchesterpersonale der Hradschiner Zwangsarbeitsanstalt angehört. Neben ihm spielt ein etwa vierzigjähriger Mann die Flöte; sein schwarzes, gescheiteltes Haar ist tief in die Stirne gekämmt — der Typ des „šumař“, des böhmischen Dorfmusikanten. Der vierte und letzte in dieser Kapelle ist der Harfenist. Sein Instrument hat er sich während seiner Detention, in den Mußestunden, die ihm nach seinen Taglöhnerarbeiten beim Bau der Bohnitzer Landesirrenanstalt geblieben sind, selbst angefertigt, und er beherrscht das Instrument ganz famos, trotzdem er nie Harfespielen gelernt hat. Sie sind Tausendsassas, diese Gegner der Arbeit.
Gegenüber an der Wand lehnt ein Feuerwehrmann. Bei näherer Betrachtung merkt man aber, daß es gar kein Feuerwehrmann ist, sondern ein Korrigend, der den Feuerwehrmann spielt, weil eben ein solcher zu jeder anständigen Theatervorstellung gehört. Der Mann hat blankgeputzte Röhrenstiefel, einen sauber gewaschenen Zwillichanzug, einen Feuerwehrhelm — aus Pappendeckel und einen Gürtel aus dem gleichen feuersicheren Material. Er ist von seiner Rolle ganz durchdrungen und sein Blick schweift fortwährend durch den Saal, inspizierend und Bewunderung heischend.
Man spielt heute, laut dem autographierten Programm, das auch die Namen der Darsteller nennt, drei Einakter. Zunächst das „Versprechen hinter’m Herd“. Hinter der Bühne wird geläutet, die Musik bricht jäh ab, der Souffleur kriecht coram publico in einen in der Korbflechterei hergestellten Strandkorb, dessen offene Seite der Bühne zugewendet ist. Der Vorhang hebt sich bis etwa zur halben Bühnenhöhe. Dann kann er nicht weiter. Aber der Darsteller des „Freiherrn von Strietzow“ legt selbst Hand an, ein Ruck und der Vorhang ist ganz oben. Die Erwartungen, die man nach dieser vielversprechenden Leistung des „Baron Strietzow“ an diesen knüpft, werden leider nicht erfüllt. Dieser Schauspieler hat kein Gefühl für das Parodistische, das in dieser Rolle des Berliner Salontirolers liegt. Er redet nicht „berlinerisch“, sondern den Dialekt, den man in seinem Heimatsorte Georgswalde bei Schluckenau spricht. Sein Kostüm ist schon aus technischen Gründen kein karikiertes, kein gigerlhaftes, und so maßt er sich auch nicht das Recht an, anders zu sein, wie die übrigen Darsteller, die echte Tiroler sein sollen. Sogar wenn er aus seinem Notizbuch einen verstümmelten „Nationalgesang“ vorträgt, singt er ihn wie ein Schnadahüpfel. Er trägt ihn vor, so gut er eben kann, und würde es unverständlich finden, daß ein Schauspieler absichtlich patzen soll.
Grandios ist der Darsteller des Wirtes und Wilddiebes Quantner. Sein Lob wäre nur in Superlativen zu singen. Wenn er sich räuspert, wenn er sich schneuzt, wenn er sich seine Pfeife ansteckt, wenn er sich nach herzhaftem Trunk mit der Zunge den Bart reinigt, wie er sein Versprechen, daß alles, was hinter’m Herde liegt, des Dirndls Eigentum sein soll, langsam und schwerfällig auf das Papier kritzelt, ist er von einer Echtheit, wie sie kein Berufsschauspieler aufzubringen vermag. Und wie er dann mit geballter Faust auf seinen unfolgsamen Sohn zustürzt — das kann kein Mime kopieren, das muß von klein auf gelernt sein. Da sich die Biographie dieses vortrefflichen Schauspielers in keinem Bühnenlexikon vorfindet, sei erwähnt, daß „Quantner“, ein etwa fünfzigjähriger Mann, schon zum viertenmale im hiesigen Arbeitshaus deteniert ist. Nach seiner Freilassung treibt es ihn immer wieder in die Alpen, wo er im Sommer und Winter umhervagiert. Aber auch auf den Bergen, wo angeblich die Freiheit wohnt, gibt es Gendarmen, und die bewirken es, daß er immer wieder nach Prag, zum Schauspielerberuf, zurück muß. Nach der Überzeugungstreue, mit der er den Wilddieb auf der Bühne verkörpert, könnte man schließen, daß er dieses Handwerk auch außerhalb der Bühne auszuüben gewohnt ist. Wie dem auch sei: Erwischt wurde er wegen dieses Deliktes noch nicht, denn unter seinen achtzehn Vorstrafen finden sich nur solche wegen Landstreicherei, Diebstahls, Vagabundage u. dgl.
Das „Nandl“, die brave Bauerndirn, spielt ein jüngerer Korrigend. Er sieht ganz reizend aus und beherrscht seine Rolle vortrefflich. Den Sohn des Quantner und Geliebten der Nandl spielt gleichfalls ein junger Bursch. Er war noch vor kurzem in der Arbeitsanstalt für Jugendliche in Grulich interniert, hat sich aber nicht dauernd gebessert, obwohl er dort brav und fleißig gewesen war. Gleich nach seiner Entlassung hatte er seine Kleider verkauft und sich einer umherziehenden Zigeunertruppe angeschlossen. Aus der Hradschiner Anstalt, in die er dann gebracht worden ist, ist er entwichen, als er zur Arbeitsleistung in die Findelanstalt beordert worden ist. Sein Spiel ist gedrückt. Er geht fast fortwährend im Hintergrund der Bühne auf und ab und bringt seine Sätze halb zaghaft, halb mürrisch hervor. Das wirkt sehr gut, denn er gibt ja einen unglücklichen Liebhaber.
Das Stück ist aus. Das Publikum klatscht stürmisch und die Darsteller machen ungelenke Komplimente. Der Vorhang fällt. Herr Direktor Tilšer willfahrt in liebenswürdiger Weise meinem Wunsche, die Bühne von rückwärts besichtigen zu dürfen. Man stellt die Kulissen zum nächsten Stücke auf. Der Protagonist, der „Quantner“, hockt auf der Schulter des „Feuerwehrmannes“ und schlägt oben auf der Kulisse zwei Nägel ein. Auch „Fräulein Nandel“ zimmert eifrig und keiner von den Akteuren ist müßig. Die Anordnungen schwirren durcheinander: Einen Regisseur scheint es nicht zu geben, und ein Aufseher darf nicht hierher. Die Künstler achten streng auf die Wahrung ihrer Autonomie. Auf einem Tisch liegt ein dickes Heft, auf dem von ungeschickter Hand mit Bleistift unorthographische Sätze gekritzelt sind: Die Rolle.
Das zweite Lustspiel beginnt. Es heißt „Ein Zwiegespräch“ und der Witz besteht darin, daß ein alter Sonderling einen Besucher für den Aspiranten auf die Wärterstelle bei seiner Katze hält, während sich der Fremde um die Hauslehrerstelle bei der Tochter des Privatiers bewirbt. Den Hauslehrer spielte ein junger Bursch, ein wiederholt vorbestrafter Einbrecher, ganz gut. Aber den größten Beifall hatte er, als er wie unversehens an seinen Partner anstieß, und in einem prächtigen Purzelbaum zu Boden stürzte. Ebenso bildete es im nächsten Stücke, dem Lustspiel „Er muß taub sein“, den Höhepunkt der Handlung, als der von seiner Taubheit geheilte Hausherr plötzlich die Beschimpfungen seines Dieners vernimmt, und diesem einen Fußtritt in den Rücken versetzt, der entschieden an anderer Stelle nach § 421 StG. geahndet worden wäre. (Stürmischer Beifall.) In diesem letzten Stücke spielt übrigens auch ein ehemaliger Bauzeichner, der sich ganz als Gentleman benimmt und seine Mahlzeit in einer Weise verzehrt, die auch den höchsten Anforderungen des guten Tones entspricht.
Zum Schluß der Vorstellung singen die Darsteller aller Stücke ein weihevolles Abschiedslied „Gute Nacht“. Es ist ganz rührend, wie diese wetterharten Feinde der menschlichen Gesellschaft den feierlichen, kindlichen Choral anstimmen.
Alles ergießt sich in den Hof, um sich draußen die Tabakspfeife anzuzünden. Nur die Akteure müssen hierbleiben. Sie haben die Kostüme abzulegen und einzupacken, damit sie morgen der Maskenleihanstalt wieder rückerstattet werden können, von der sie um den Preis von drei Kronen ausgeliehen worden sind. Dies sind die ganzen Barauslagen: sie werden aus den Zinsen des Depositenfonds und durch freie Spenden des Direktors gedeckt. Dann muß die Bühne abgenommen, die Kulissen, der Vorhang und der geflochtene Souffleurkasten wieder ins Magazin getragen werden. Jetzt hört für die Schauspieler das Benefizium auf, am Abend eine Stunde länger aufbleiben und die Rollen lernen zu dürfen; in dem Saal, in dem sie heute akklamierte Künstler waren, müssen sie morgen auf den Steinfliesen sitzen und Weidenruten zu Körben flechten. Für geraume Zeit bleibt ihnen nur die Erinnerung an ihren Erfolg, an die „lichteren Seiten des Anstaltslebens“.
Es war einmal — so geht ein Grimmes Märchen — eine Stadt, die sehr, sehr alt war. Das konnte man an den vielen altertümlichen Häusern und Türmen sehen und an dem Schmutz, der überall in den Straßen, auf den Plätzen, in den Häusern und selbst im Wasser des Stromes vorhanden war. Während aber die altertümlichen Häuser und Türme den Machthabern dieser Märchenstadt durchaus nicht heilig waren, war es der Unrat um so mehr. So heilig war der, daß eine unverbürgte Sage ging, im Hause des weisen Rates der Stadt sei am meisten Schmutz verborgen und seine Erhaltung verschlinge jährlich viele Millionen Goldes.
Und draußen vor der Stadt, am Fuße eines Berges, auf dem Žižka, der Einäugige, eine Schlacht gekämpft hatte, in einer Gegend, die nach diesem Žižka benamset war, lebte ein Recke. Der war ein kühner Kämpfer und ein mutiger Rufer im Streite, aber er war von unbezwingbarer Habgier beseelt. Er hatte nicht genug an dem Schmutze, der in seiner Behausung war, er wollte auch den Schmutz der anderen sein eigen nennen. So fuhr er denn, um dieses Kleinod zu erringen, alltäglich auf seinem hohen Streitwagen auf Beute aus.
Seine Farbe war grau. Grau war der Wagen, den er stehend lenkte, grau war der Morgen, wenn er seinen Beutezug antrat, grau war die Kunde von seines Vaters Nam’ und Art, und grau war der Inhalt der Kisten und Kasten, deren Besitz er erstrebte. Statt eines Helmes trug der reisige Held eine blaue Kappe, auf der das Wappen seines Heimatsortes prangte. In diesem Wappenschilde sah man ein vergittertes Fenster, wie man ihrer auch im städtischen Arresthause „Fišpanka“ mancherlei sieht, und in dem Fenster sah man einen Arm, der gebogen war, wie der Arm eines ritterlichen Mannes beim „Šlapák“-Tanze. Im Gegensatze zu den Hörigen und Unfreien, die draußen vor der Stadt auf dem Pankratius-Hügel wohnten und kurzgeschorenes Haar hatten, trug unser Ritter eine Locke in die Stirn gekämmt, die sein linkes Auge verdeckte, so daß er aussah wie sein Ahnherr Žižka. Das war das Zeichen, daß er kein Unfreier, sondern ein „freier“ war. Keinen Marschallstab, kein Szepter trug er in seiner Hand — nur eine Peitsche; wenn er aber die seinen mutigen Rössern um die Ohren sausen ließ, so erdröhnte ein stärkerer Knall als jener des Mörserschusses, der allmittäglich den Sklaven in dieser Stadt verkündete, daß sie in ihrer Robottarbeit innehalten durften.
Vor seinem Wagen schritt ein Herold, der kündete das Nahen des Recken, indem er eine Sturmglocke läutete.
Die Bürger wußten, was dieses schrille Läuten zu bedeuten habe, aber niemand wagte es, mit dem Recken anzubinden, niemand wagte es, ihm die Asche, den Kehricht und den Schmutz, diese so kostbaren Kleinodien vorzuenthalten. So sandten sie ihre Jungfrauen hinab auf die Straße, auf daß diese seinen kriegerischen Sinn betörten, und ihm selbst den Tribut überantworten mögen.
Aber der Ritter war rauh und unbeugsam, und er hatte kein Auge für die holden Mägdlein, die, malerisch gruppiert, seinen Wagen umstanden. Er hatte nur Augen für die Schätze, die sie ihm in kostbar alten Kisten und seltsam verbogenen Gefäßen darreichten. Mochte die Last, die so ein schwaches Jungfräulein auf den hohen Wagen zu heben hatte, noch so schwer sein, nie beugte er sich über seines Wagens Brüstung, um dem schwachen Wesen behilflich zu sein. Nur beim Entleeren des Gefäßes griff er selbst Hand an, der Habgierige, auf daß auch nichts von dem Inhalte in der Opferschale zurückbleibe. Er begnügte sich nicht damit, daß ihm die ehrsamen Bürger der Stadt ihre Opfergaben durch schöne Jungfrauen an den Wagen bringen ließen, er verlangte auch, daß die Schätze gesalbt, mit dem heiligen Wasser der Stadtbrunnen geweiht und besprengt seien. Wehe aber, wenn ein Mädchen dies unterließ! Dann schalt und drohte er grimmig, und manches Wort entfuhr ihm, das man selbst am Fuße des Žižkaberges nicht allzuhäufig vernommen. Die trägen Mägde mußten nochmals zurück in das Haus und neuerlich wiederkehren.
Aber er war schön in seinem Groll und manches Mägdlein unterließ es, ihre Gabe zu besprengen, um in des kühnen Ritters Auge den Blitz des Zornes zucken zu sehen. Andere aber vergaßen in ihrer heimlichen Liebe zu dem Ritter, die Gabe zu nässen. Und wieder andere Mägde waren, wie das damals vorzukommen pflegte, sehr faul und besprengten deshalb die Asche nicht.
Nur eine Einzige vergaß niemals an ihre Pflicht. Das war ein Mädchen, so brav und tugendhaft, wie es nur im Märchen vorkommen kann. Dieses fegte sorgsam die Aschenreste der ganzen Wohnung zusammen und legte sie fein säuberlich in eine alte Kohlenkiste zusammen, besprengte sie mit Wasser und ließ sich durch die anderen Mägde, welche müßig und schwatzend auf dem Gang umherstanden, nicht stören. Deshalb nannten sie die anderen: „Aschenbrödel.“
Der sorgsame Eifer dieses Mädchens war dem Ritter nicht verborgen geblieben. Sein Herz entflammte in jäher Liebessehnsucht zu der minniglichen Maid, und er mußte dem Mädchen nachschauen, wenn er sein Werk beendet hatte und wieder von dannen fahren mußte gegen Hrdlořez, wo er in einer Senkgrube alle die Schätze verbarg, die er tagsüber eingeheimset hatte. Und er begann das Aschenbrödel sichtlich auszuzeichnen, er half ihr beim Aufladen des Schatzes, er lächelte ihr von der Höhe seines Wagens freundlich zu.
Ist es da ein Wunder, daß das Aschenbrödel hoffärtig wurde, und daß es beschloß, den Rittersmann, den sie selbst minniglich liebte, auf die Probe zu stellen, wie weit seine Liebe gehe. Auch wollte sie den anderen Mägden, die sie bislang aus ihres Herzens Grunde verachtet hatten, die Liebe des Ritters beweisen. So fegte sie an einem schönen Herbsttage die Asche wie sonst zusammen und häufte sie in die Kohlenkiste, aber sie besprengte die duftige Gabe diesmal nicht mit Wasser.
Als sie hinunter kam vor des Hauses Pforte, wo schon die anderen Jungfrauen auf ihres Ritters Ankunft harrten, da wurden diese schier starr vor Staunen. Denn aus Aschenbrödels Kiste wirbelte beklemmender Staub empor ...
Atemlos und begierig wartete man des Ritters. Dieser kam herbei und sein Gefährt hielt. Mit zitternden Knien, bleich vor Erregung, kam Aschenbrödel mit ihrer Truhe herbei — galt es doch heute die Liebesprobe. Liebevoll neigte sich der Recke zu ihr, um ihr behilflich zu sein, als er den Staub bemerkte, der aus der hölzernen Opferschale des Mädchens emporstieg. Einen Augenblick sah man ihn zaudern. Sollte er, um seiner Liebe willen, für heute die Mißachtung seiner Vorschrift ungerügt hingehen lassen? Nein, sagte sein Rittersinn. Und mit schmerzlichem Sinn verweigerte er die Annahme der Gabe. Er wandte sich den anderen Mägden zu, welche ihr höhnisches Lachen nicht verbargen.
Aschenbrödel ging nicht in das Haus zurück. Sie stellte den Kehrichtbehälter auf die Erde, setzte sich darauf, schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Aber die Staubwolke, die aus dem Gefäße hervorstieg, vermochte das Mädchen durch sein Körpergewicht nicht zurückzuhalten, die Wolke hob Aschenbrödel in die Höhe, hüllte es ein und entführte es in die Prager Luft, in der es bald den Blicken der staunenden Mägde und des schier zu Eis erstarrten Recken entschwand.
Seither hat man nichts mehr von Aschenbrödel gesehen, nichts mehr von Aschenbrödel gehört.
Aber der Ritter hat die Hoffnung nicht aufgegeben, daß das Mädchen doch im Gleitflug irgendwo landen und wieder in die Stadt zurückkehren könne. Und während längst in allen anderen Städten der Erde die staubfreie Müllabfuhr mittels Kehrichtschächten, mittels verschlossener, auswechselbarer Eisenkisten und mittels verschlossener Wagen eingeführt worden ist, fährt unser Ritter noch heute auf seinem Streitwagen suchend durch die Straßen jener Märchenstadt, läßt sich von den minniglichen Mägdlein den Inhalt offener Kästen in den offenen Wagen schütten und wird so fahren bis zum jüngsten Tag.
Unter dem Balkon des Altstädter Rathauses wurde an einem heißen Junitage des Jahres 1621 an sechsundzwanzig böhmischen Adeligen ein furchtbares Blutgericht vollzogen. Gegenüber, unter den Türmen der Teinkirche liegen die Gebeine des Tycho, der gestorben ist, weil er an der Tafel seines gekrönten Freundes das spanische Zeremoniell nicht verletzen und deshalb ein plötzliches Unwohlsein mit Gewalt niederkämpfen wollte. Zwischen diesen beiden Stätten breitet sich ein großer Platz, auf dem verhärmte Menschen allabendlich, vor der Madonnenstatue kniend, inbrünstige Lieder singen. Aber im Dezember, vom Sonntag vor Nikolo bis zum Weihnachtsabend, wogt auf diesem Platze Weihnachtstreiben.
Und doch: Selbst im Jahrmarktskleide verliert der Ringplatz sein sentimentales Gepräge nicht, und aus dem Lärm der Ausrufer, der drängenden und gedrängten Menschenmassen, der Marktschreier und Verkäufer dringen die Untertöne der Schwermut hervor. Es ist kein Jahrmarkt. Zwar ist es vollzählig versammelt, das fahrende Volk, das während der übrigen elf Monate die Bewohner der böhmischen Dörfer beglückt, aber hier im Zentrum der Großstadt nehmen sich seine Waren und Vergnügungen allzu armselig aus. Die Jahrhunderte mit ihren Errungenschaften sind spurlos an ihnen vorübergegangen, und die Späße, Schaustellungen, Buden und Verkaufsobjekte hätten samt und sonders auch in den Zeiten kein Staunen erweckt, deren Ereignisse den Prager Ringplatz zu einer historischen Stätte stempelten.
Parallel zur Front des Platzes, welche die Zeltnergasse verlängert, läuft eine der Budenstraßen. Sie ist das Dorado der Spielwarenhändler. Aber was sind das für Spielwaren, die hier feilgeboten werden? Keine Miniaturautomobile oder Miniaturaeroplane, keine sprechenden Puppen und singenden Kanarienvögel — nichts von raffinierten Kunstwerken für Kinder der Reichen. Nur Zehnkreuzeruhren, nur Ballons auf dünner Gummischnur, nur Holzpferde auf Rädern, papierene Tschakos und hölzerne Säbel. Musikinstrumente überwiegen — wir sind im Heimatland der böhmischen Musikanten. Kinderviolinen, denen selbst ein künftiger Kubelik keine Töne zu entlocken vermöchte, Flöten, in die man von beiden Seiten mit der gleichen nervenmarternden Wirkung blasen kann, verschiedengestaltete Gummispezialitäten, die aufgeblasen werden, um mit herzzerreißendem Gekreisch den fremden Odem wieder auszuhauchen, Mundharmonikas, runde Mundpfeifen, mit denen man das Zwitschern der Nachtigall wenn auch nicht nachahmen, so doch persiflieren kann u. dgl. Dann die armseligen Nikolos, die aus einer unmöglichen Gipsmaske mit langem weißen Bart bestehen, an die sich ein weißes Papiergewand schließt, dann die Krampusse, die armen Teufel, die nicht Furcht erregen, sondern nur Mitleid erwecken können, dann die Soldaten, die in jeder besseren Kinderstube als untauglich erklärt oder superarbitriert werden würden.
In einer anderen der hier entstandenen Straßen stehen die braunleinenen Warenhäuser, deren Besitzer sich von dem Pumpernickel nähren, den andere essen müssen. Lebkuchenherzen dominieren; sie weisen Inschriften aus Tragantzucker auf, die ebenso geistvoll, wie schmackhaft sind. Auf den Firmenschildern aus Wichsleinwand sind lauter vergrößerte Ehrenmedaillen und Ordensauszeichnungen abgebildet. Es scheint also, daß in Potentatenfamilien Pumpernickel leidenschaftlich geliebt wird und daß die Monarchen bei freudigen Anlässen einander Lebkuchenherzen schenken.
Rote und schwarze Kegelchen stehen auf einem Verkaufsbrett: Räucherkerzen. Die Erfindungen der Parfümindustrie haben diesen Artikel, der beim Glimmen wie ein rauchender Vesuv aussieht, nicht aus der Welt zu schaffen vermocht. Die moderne Technik der Papierindustrie wiederum hat nichts mit den handgeschnittenen Papiersternen und den zusammengeklebten Papierketten zu tun, welche in der benachbarten Bude zur Verzierung der Weihnachtsbäume käuflich erworben werden können.
Überhaupt die Technik! Die Budenbesitzer haben die denkbar schlechteste Erfahrung mit ihr gemacht. Vor einigen Jahren hatten sie z. B. den Phonographen in den Dienst des Jahrmarktes und auf einen Tisch inmitten der Budenstadt gestellt. Dieser Phonograph posaunte nicht — wie es die anderen Phonographen tun — seine ganze Weisheit durch einen Schalltrichter in die Welt hinaus, sondern er flüsterte sie durch dünne Gummischläuche den besonderen Menschen ins Ohr, welche sich von den anderen Passanten wohltuend durch die Entrichtung von drei Kreuzern unterschieden. Die anderen Menschen aber konnten gar nichts hören, und blickten daher staunend auf die neben ihnen stehenden Auserwählten, deren Mienen eine unbändige Heiterkeit verrieten und deren Körper und Füße in irgend einem Marschtakte zuckten. Ebenso unerklärlich war es den Leuten, warum der Mensch, der sich wieder an einer anderen Stelle des Weihnachtsmarktes in herzbewegenden Grimassen, schmerzhaften Ausrufen und krampfhaften Körperzuckungen erging, die Halter der Elektrisiermaschine nicht einfach loslasse ... Aber der Phonograph hat sich auf dem Prager Jahrmarkt nicht rentiert, er war dort heuer nicht mehr anzutreffen, und auch die Elektrisiermaschine sucht nur noch in den Nachtlokalen der unteren Zehntausend ihren Erwerb.
Einen Augenblick könnte man doch glauben, die größten Wunder der Technik seien vertreten. Wenn man nämlich den hochtrabenden Worten des Ausrufers vor dem „Mechanischen Theater“ Glauben schenken würde, der im nördlichsten Teile der Marktstadt seine Nachbarn, die Ausrufer der drei Ringelspiele, der vier Schießbuden und des Panoptikums durch Ton und Inhalt seiner Anpreisungen zu übertreffen sucht. Aber wenn man den Lockungen des Mannes vom „Mechanischen Theater“ folgt, dann ist es mit dem Glauben an irgend eine maschinelle Vorführung gründlich vorbei. Man sieht ein großes Kinderspielzeug, das wohl irgend ein invalider Bergmann in seinen Mußestunden mit geschickten Händen gefertigt hat. Es stellt ein Bergwerk dar, und dessen Lebewesen werden durch eine im Hintergrunde versteckte Kurbel bewegt. Durch diese dynamische Kraft bewegen sich die Männchen — die „Panaken“, wie man in Prag sagt. Bergleute mit Hunten fahren im Schachte auf und nieder, sie hacken Erz und sie trinken. Oben bewegt sich der Leichenzug eines verunglückten Bergmannes. Zuerst der Leichenwagen, dann die weinende Witwe mit den Kindern, dann der nach allen Seiten grüßende Geistliche, dann die Schar absolut unmöglicher Bergleute in Reih und Glied. Es ist zum Weinen. Auf beiden Seiten des Budeninnern steht je eine Kulisse. Die eine stellt einen Seesturm, die andere eine Karawane dar, und so vervollständigen sie beide die Illusionen, daß man sich in einem Bergwerk befinde.
In den photographischen Ateliers werden Bilder hergestellt wie weiland zur Zeit Daguerres, und die Kunstblumen, die man feilhält, sind so ehrlich imitiert, daß kein Mensch sie für echte halten könnte. Während längst andere Städte ihren Lunapark haben, in dem alle Errungenschaften des Maschinenbaues zu irrsinnigen menschlichen Vergnügungen ausgeschrotet sind, gibts auf dem Altstädter Weihnachtsmarkt noch immer bloß Ringelspiele mit sichtbarem Handbetrieb. Und während man anderswo in spiritistischen Seancen des Schicksals Tiefen zu erforschen droht, läßt sich hier — allerdings mit der gleichen Wirkung — das Prager Dienstmädchen von weißen Mäusen oder Kanarienvögeln die „Planeten“ ziehen, Zettel mit gedruckten Weissagungen und — allerdings entrichtet man hiefür eine erhöhte Taxe — mit dem Bilde des Zukünftigen. Während anderswo die Hygiene ängstlich für das Wohl des Menschen sorgt, reißt hier der Fruchthändler mit schmutzigen Händen schmutzige Datteln von den schmutzigen Waben und wickelt sie in schmutziges Papier. Auch „Niko Petkovac“, der biedere Südslawe mit dem braunen Gesicht und der Astrachanmütze, macht Geschäfte mit seinem „Sultansbrot“ und „türkischen Honig“. Unten, an der Niklasstraße schon, feiert Kasperl, der von Gottsched feierlich von der Bühne verbannte Kasperl, im Kampfe mit einem Hündchen herrliche Triumphe.
Überhaupt: Der Markt übt seine Anziehungskraft aus. Die anderen Marktfeste, die „Fidlovačka“, das Fest der Schusterinnung im Nusler Tal, das „Strohsack“-Fest der Schneidergilde in Bubentsch, das Mathäi-Fest in der Scharka, das Josefi-Fest auf dem Josefsplatz und das „Ordens“-Fest im Stern sind teils abgeschafft, teils bedeutend restringiert worden. Nur der Nikolo- und Weihnachtsmarkt, gerade das Fest im Innern der Stadt, ist in der alten Form erhalten geblieben, und steht jetzt ohne Konkurrenz da. Ob es nun Pietät ist, ob man der Tradition huldigt, ob es zu den weltmännischen Neigungen mancher Gesellschaftsklassen gehört, sich in Kirchweihfesten auszuleben — der Markt ist voll von Menschen. Sie ziehen an den Dezembersonntagen in bunten Scharen auf den Ring, in diese aus morschem Holz gezimmerte Stadt, deren Gassenfronten aus verschlissener Leinwand sind. Aus allen Vorstädten kommen die Menschen und drängen sich hier, die Handwerksleute mit Weib und Kind, die bekannten Prager Lebeknaben aus den Kolonialwarengeschäften und Werkstätten, Dienstmädchen, Fabriksmädel, Ladenmamsells, Mädchen für alles und noch mehr. Alles was sonst in Tanzlokalen der Vororte und auf den Schleifplätzen der Moldau die Liebe sucht, ist im Dezember hier vereint. Der langhaarige Jüngling nähert sich innig im Gedränge seiner Angebeteten. Oder er schleudert, wenn eine Schöne in entgegengesetztem Menschenstrom vorbeikommt, ihr seinen Papierball, dessen Gummischnur er in der Hand hält, als schüchternen Annäherungsversuch wuchtig ins Gesicht. Das Mädchen quittiert mit quietschendem Aufschrei, aber sie fühlt sich durch die gezollte Aufmerksamkeit geehrt, und mißt ihren Anbeter mit einem Blick, in dem Aufmunterung, Aufforderung, Leichtsinn und vielleicht ihr Schicksal liegt.
Auf meinem Leben lastet eine Sünde, die ich nicht in das neue Jahrzehnt hinüber nehmen will. So will ich durch aufrichtige Beichte diesen Alp von meiner Seele abwälzen. Meinem Gedächtnis, dem vielleicht einzelne Phasen des Verbrechens entschwunden oder verwischt sein könnten, kann ich ja leicht nachhelfen. Ich brauche nur in der Universitätsbibliothek in den gebundenen Exemplaren der tschechischen Zeitungen nachzuschlagen. Darin steht die reine Wahrheit.
Dort ist meine Schande zum Studium und abschreckenden Beispiel für künftige Geschlechter aufbewahrt. War doch der Vorfall ein bedeutsamer, und ich glaube: Über den Prager Fenstersturz, der den dreißigjährigen Krieg einleitete, wurde nicht so ausführlich berichtet, wie über meinen Hinauswurf aus dem Altstädter Rathause.
Aus allen diesen Berichten geht hervor, daß ich mich damals im Prager Rathause skandalös benommen habe. Und darf man sich denn im Prager Rathaus skandalös benehmen? Hat man überhaupt schon gehört, daß sich jemand im Prager Rathause skandalös benommen hätte? Nein, heute muß ich unbedingt zugeben, daß man mich mit Recht hinausgeschmissen hat. Und es war unverdiente Gnade, daß man mir eine ungeheure Strafmilderung zugestand: Man hat mich nicht durch einen Hausknecht hinausgeworfen, sondern man hat mich durch den Stadtverordneten Březnowsky hinausexpedieren lassen.
Dieser hat mich durchaus nicht mit Glacéhandschuhen angefaßt, obwohl er sich in seinen stillen Stunden mit deren Erzeugung beschäftigt. Er hat es nicht getan, weil ich es nicht verdiente. Habe ich mich denn nicht, laut Bericht des „Hlas Národa“, das einem alttschechischen Stadtverordneten gehört und dem daher in Rathauskreisen eine gewisse Authentizität zukommt, „sehr frech und wütend“ benommen? „Er versetzte,“ so heißt es in der Morgenausgabe dieses Blattes vom 10. November 1908 u. a., „dem Stadtverordneten Vanha einen Stoß und mit dem Ausrufe ‚Ich werde diese Diebshöhle schon beleuchten‘, sauste er blitzesschnell die Stiegen hinunter“. Also bitte, man bedenke: Ich habe einem unserer Stadtväter einen Stoß versetzt, und die ehrwürdige Ratsstube eine Diebshöhle genannt. Weshalb bin ich eigentlich nicht geklagt worden! Wie übel wäre es mir doch ergangen! Ein Leugnen hätte mir nichts geholfen, denn auch das offizielle Rathausorgan, die „Nár. Listy“, erklärten in aufgeregtem Tone, ich hätte die Drohung ausgestoßen, daß ich Diebstähle (die tschechische Sprache kennt keinen bestimmten Artikel) aus dem Rathause veröffentlichen werde. Auch den Stoß gegen den Stadtverordneten Vanha registriert das Rathausorgan, und weiß sogar das interessante Detail hinzuzufügen, daß ich den Stoß mit der Faust versetzt habe.
Der klerikale „Čech“ bedeckt den Rippenstoß mit dem Mantel der Nächstenliebe. Er verschweigt ihn ganz, trotzdem sein Bericht sonst an Ausführlichkeit durchaus nichts zu wünschen übrig läßt. Er schreibt u. a.: „Als erster fand sich Redaktionsmitglied der „Bohemia“ „buršák“ Kisch ein, der durch seine Provokation auf dem Graben berüchtigt ist. Es wurde ihm gesagt, daß es nicht angehe, in den Sitzungssaal des Kollegiums das Redaktionsmitglied eines Blattes einzulassen, welches alles, was aus Prag kommt, verdreht und beschimpft. Kisch aber machte keine Miene, den Saal zu verlassen. Es traten also die Ordner hinzu und führten ihn auf den Gang hinaus. Kisch schäumte, drohte und lehnte sich auf, es blieb ihm aber nichts übrig, als zu suchen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hatte.“ Im weiteren Verlaufe des ausführlichen Berichtes registriert das genannte Blatt die Tatsache, daß nach meiner angedrohten Enthüllung über die Diebstähle im Prager Rathause „in dem auf den Korridoren angesammelten Publikum Bewegung entstand“. So?
Solche Referate konnte das nationalsoziale „České slovo“ durch Radikalismus nicht mehr übertrumpfen; damit es aber doch in seinem Berichte mehr Stiefel habe, als die anderen Blätter, schrieb Georg Střibrny, der damals noch nicht Abgeordneter war, man habe die Stiefel hinausgetragen, in denen ich steckte.
Die Folgen meines Hinauswurfes spukten noch lange. Zuvörderst veröffentlichte ein Mann, der davon lebt, daß andere sterben, ein Partezettelagent, in allen tschechischen Blättern eine Erklärung: Er heiße zwar ähnlich wie ich, aber sei nicht mit mir identisch. Ich kann dies vollinhaltlich bestätigen, und um auch den Rest jeden Verdachtes von dem Herrn abzuwenden, erkläre ich hiemit freiwillig, daß ich überhaupt nicht mit ihm verwandt bin. Auf Ehrenwort.
Der gute Mann war nicht der einzige, der sich meiner schämte. Der „Večerní List“ veröffentlichte unter dem Titel „Sie kann nichts für ihren Namen“ folgende Erklärung: „Herr Egon Kisch, Redakteur der „Bohemia“, ist nicht, wie allgemein verlautet, mein Neffe, und ich bin überhaupt nicht mit ihm verwandt. Marie Kisch, Hausbesitzerin, Prag II, Zderasgasse.“ Der „Čech“ reproduzierte diese harmlos scheinende Erklärung am nächsten Morgen mit der Aufklärung, daß die Absenderin der Zuschrift die Besitzerin eines verrufenen Hauses sei. Worauf dann ein Weinberger Lokalblatt hämische Glossen darüber machte, wieso gerade das klerikale Organ gewußt habe, daß das Haus ein verrufenes sei.
Ferner griff mich Abg. Myslivec im Parlamente an, und die Abgeordneten sollen sich höchlichst darüber verwundert haben, daß man sich auch unanständig benehmen könne.
Der „Illustrovaný kurýr,“ eine Zeitung, die sonst hauptsächlich Momentphotographien vom Augenblicke der Mordverübung bringt, reproduzierte am 3. November mein Bild. Dabei passierte dem Bildredakteur eine Verwechslung, die in den Annalen dieser Zeitschrift gewiß nicht allzuhäufig ist. Er muß in ein falsches Fach gegriffen haben, und — wie es der Zufall oft will — es war wirklich mein Bild, das er erwischte und das ins Blatt kam. Allerdings steht in dem Texte, daß ich ein sehr mürrisches Gesicht mache. Aber gerade auf dieser Photographie bin ich „bitte, recht freundlich“.
Das Furchtbarste aber war: Es muß sich ein Ephialtes in der Nation gefunden haben, denn über die Stadtverordnetensitzung, aus der ich cum infamia exkludiert worden war, erschien ein ausführlicher Bericht in den deutschen Blättern. Mit bangem Grausen, von grenzenlosem Entsetzen gepackt, richtet der „Čech“ an die Nation am 12. November die Gewissensfrage: „Wer hat wohl dem aus dem Rathause hinausexpedierten Kisch mitgeteilt, was im Stadtverordnetenkollegium vorgegangen ist?“ Und weiter: „Da ergibt sich eine Menge von Fragen und verdächtigen Umständen ...“
Auf diese „Menge von Fragen“ kam keine Antwort, diese „verdächtigen Umstände“ erfuhren keine Aufhellung, und die Berichte über das Rathaus erscheinen in den deutschen Blättern auch weiter mit gebührender Ausführlichkeit. Von schwerwiegenden Folgen war also mein Ausflug aus dem Rathaus für mich nicht begleitet. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß ich mich empörend benommen habe. Ich habe die damalige Rathauswirtschaft beleidigt und einem Stadtverordneten einen Rippenstoß versetzt. Wie leicht hätte ich ihn verletzen können! Peccavi.
Im Ziehungssaale der Lotterie strömen alle die Gefühle zusammen, die auf den Pawlatschen und in den Waschküchen, auf dem Markte und in den Fabriken, bei den Planetenziehern und bei den Kartenlegerinnen, in und vor den Kollekturen in gewisperten Gesprächen des Aberglaubens und der Mystik zum Vorschein kommen. Der Ziehungssaal der Lotterie ist vielleicht der einzige Raum, in welchem eine Harmonie des Einzelempfindens eine Massenstimmung bildet, die nicht das Produkt momentaner Erregung ist. Die fremden Menschen, die sich hier drängen, sind wohl, was die Herkunft, was den Charakter anlangt, von einander grundverschieden. Herabgekommene, und solche sind da, in deren Geschlecht seit Menschengedenken nur gerüchtweise bekannt war, daß es irgendwo Wohlstand gebe. Die Gruppen sind schwer zu unterscheiden — das Elend hat die Unterschiede ihrer Abstammung verwischt, die Einleitungskapitel ihrer Lebensromane sind mit freiem Auge nicht lesbar. Aber die laufenden Kapitel, die ihres gegenwärtigen Seins, stehen deutlich in ihrer Anwesenheit, ihren Blicken, ihren Gesten, ihren Worten, ihren Ausrufen geschrieben. An allen diesen Menschen zerrt eine quälende Unzufriedenheit mit ihrem Schicksal, in allen diesen Menschen zuckt als einzige Hoffnung die Hoffnung auf den Zufallsgewinn, aller dieser Menschen Glauben ist der Aberglauben. Ihr Handeln beschränkt sich auf das Abreißen des Marginales an den Kollekturen, auf das Auslegen von Spielkarten, Träumen, Erscheinungen und Ereignissen, und auf deren Transponierung in Ziffernwerte, auf den Ankauf von Riskonti und auf ihr Erscheinen bei der öffentlichen Ziehung. Alle ihre Hoffnungen heißen Terno und Ambo, Nominate und Extratto.
Prag teilt mit sieben Hauptstädten Österreichs die Ehre, der Schauplatz einer öffentlichen Lotterieziehung zu sein, einen Sammelkanal für jene Wissenschaft des Unverstandes zu besitzen, die sich unfruchtbar müht, die wirren und unzusammenhängenden Traumgebilde mit nüchternen Ziffern und Zahlen auszudrücken, die unklaren Wünsche und unklar ersehnten Schicksale ziffermäßig zu werten, und die exakteste und klarste Wissenschaft, die Mathematik in den Dienst waghalsigen Aberglaubens zu stellen. In dem an der Ecke der Ziegengasse und des Ziegenplatzes stehenden Ärarpalaste, der die Berghauptmannschaft und das Münzamt beherbergt, ist auch das Lottoamt untergebracht. Alle vierzehn Tage — immer am Mittwoch — findet hier die „Prager Ziehung“ statt, auf deren Ergebnis tausende und abertausende aus allen Teilen des Reiches mit hoffender Zuversicht harren. Die, die zur Ziehung kommen, sind gewissermaßen eine Elite: Nicht alle jene, die ihr mühsam erworbenes Hab an den Schaltern der Kollekturen entrichten, wissen, daß sie dabei sein können, wenn sich ihr Los entscheidet. Aber die zur Ziehung kommen, das sind die Gewohnheitsspieler, welche die staatliche Kontrolle kontrollieren wollen, das sind die Vertreter des Verstandes in diesem Reiche des Unverstandes, das sind die Menschen, die alles von dem Moment der Ziehung erwarten und es nicht erwarten können, bis die Kollektanten die fünf blauen Ziffern an ihren Läden affichieren.
Der Ziehungssaal steht im Hofe des Gebäudes. Schon um halb 2 Uhr nachmittags bilden sich an den Ziehungstagen im Hofe debattierende Gruppen. Weiber mit Kopftüchern sind da, Burschen, denen man ansieht, daß sich der Großteil ihres Tagewerkes auf die Pflege ihrer „šístky“, ihrer Sechserlocken, erstreckt, dann die Typen der Prager Straßen, Bettler und Hausierer, Halbidioten und Trunkenbolde. Sechs Wachleute halten hier Dienst.
Die Gespräche drehen sich durchwegs um Dinge, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Die Debatten werden zwar ernst und sachlich geführt, aber es kann eine Einigung nicht erzielt werden, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, daß weder Unterausschüsse noch Referentenkomitees eingesetzt werden. Eine Gruppe wird gänzlich von der Frage beherrscht, ob „Verhaftung“ die Ziffer 79 bedeutet, wie das eine der beiden tschechischen Traumbücher besagt, oder die Ziffer 88 — die Ansicht des anderen Traumbuches. Frau Kratochvil vom Obstmarkt und Frau Lenovsky aus der Markthalle haben nämlich in der Nacht von Sonntag auf Montag den gleichen Traum gehabt: der Markthelfer Jaro Krejsa sei arretiert worden. Kaum hatte sich in den Kreisen der Halledamen das Gerücht von dieser Duplizität der Träume herumgesprochen, als die Polizei wirklich den Jaro Krejsa, diesen Lumpen, wegen Diebstahls verhaftete. 79 oder 88, das ist hier die Frage.
Auch in einer anderen Gruppe sind Traumbücher aufgeschlagen. Aber es handelt sich beileibe nicht um simple Traumdeutungen, sondern um mathematisch-kabbalistisch-astrologische Berechnungen höheren Grades. Das Traumbuch, das — so sagt das Titelblatt — „von Madame Lenormand nach besten Quellen und untrüglichen Erfahrungen altägyptischer Priester und persischer Magier“ zusammengestellt ist, enthält auch eine Fülle von tabellarischen Systemen und saturnalischen Quadraten, nach denen die Amben und die Ternen zusammenzustellen sind. Die Grundlage bilden die Ziffern, die bei den letzten Ziehungen in Brünn, Wien, Innsbruck, Lemberg, Linz, Prag und Triest Treffer brachten. Das sind die Intelligenzspieler. Sie verachten und belächeln jene Lotteriespieler, die ihr Glück dem Zufall anvertrauen, die sich von den an den Kollekturen ausgehängten Marginalenummern, den sogenannten „trhačky“ (Abreißzetteln), einen beliebigen auswählen oder gar sich willenlos der Prophezeiung des Kollektanten unterwerfen, indem sie einfach die Ziffern setzen, die auf einer schwarzen Tafel im Innern der Kollektur als besonders empfehlenswert aufgeschrieben sind und „Kabbala“ genannt werden.
Die Gruppe der verachtenden Intelligenzspieler wird wieder von einer Gruppe verachtet, die über alle anderen erhaben ist. Nicht bloß, weil sie die drei Stufen besetzt hält, die zu dem Saaleingang führen, sondern weil sie alle die Manipulationen und Berechnungen als hellen Unsinn erkennen.
„Die blöden Weiber,“ sagt der eine, der mit höhnischem Lächeln ein Gespräch der benachbarten Weibergruppe zugehört hat, „sie glauben, daß man die Einer der bei der letzten Ziehung herausgekommenen Zahlen zur ersten Ziffer addieren muß. Subtrahieren muß man sie.“
Diese Übergescheiten spielen auf Sieg und nicht wie die anderen auf Platz. In der Prager Lotteriesprache heißt dieser Turfausdruck „Na Ruf“ und bedeutet, daß die gesetzte Ziffer an eine bestimmte Stelle, z. B. als dritte, gezogen und ausgerufen werden muß. Sie können sich diese Vorausbestimmung schon leisten, denn nach ihren präzisen Berechnungen müssen sie ja gewinnen. Sie sind auch gar nicht aufgeregt und spötteln über die Aufregung der anderen. Wenn man sie aber fragen wollte, warum sie denn dann hierhergekommen seien und warum sie sich unmittelbar an der Türe anstellten, dann würden sie wohl die Antwort schuldig bleiben.
Vom Turme der Jakobskirche tönen zwei Glockenschläge. Alles drängt sich zur gläsernen Eingangstüre, durch die jetzt im Innern des Saales der Amtsdiener sichtbar wird. Der sperrt die Türe auf und alles strömt in den Ziehungssaal.
Wie im Hofe, so stehen auch im Ziehungssaale Polizisten, Acht an der Zahl. Vier von ihnen bilden an der kaum acht Meter langen Barriere, welche den für das Publikum reservierten Raum der Breite nach abgrenzt, einen Kordon. Reelle Geschäfte pflegen im allgemeinen polizeilichen Schutzes nicht zu bedürfen. Aber das macht die Leute nicht stutzig, die sich durch die Türe aus dem Hofe in den Saal ergießen.
Die Wachleute sind nicht die einzige Sicherheitsvorkehrung, durch die sich das Lottoamt vor seinen Kundschaften schützt. Die Distanz wird gewahrt. Zwischen der Barriere und dem Podium ist ein etwa zwei Meter breiter Zwischenraum und längs des Podiums zieht sich neuerlich ein Geländer.
Überdies bemüht sich die Verwaltung, durch Beobachtung allerhand strenger Kautelen darzutun, daß das Lotto schon an sich ein so lukratives Geschäft ist, daß es nicht auch zu seiner Durchführung einer Düpierung des Publikums oder gar eines Schwindels bedarf. Als noch das alte Lottoamt bestand, war das Podium sehr erhöht und das Publikum konnte den Beamten nicht genau kontrollieren. Da gab es denn arge Verdächtigungen.
„Aha! Seht Ihr den Kerl? Die richtigen Nummern legt er auf den Tisch und seine eigenen Nummern gibt er in die Kapseln!“
Solche und ähnliche Rufe wurden gegen den Finanzrat laut, der oben am Tische saß. Überhaupt das alte Lottoamt! Die bejahrten Kundschaften Frau Fortunas wissen davon sehr viel übles zu berichten. Damals war noch der „langnasige Hausmeister“. War das ein Lumpenkerl! Der drehte und drehte das Glücksrad wie er es brauchte. Wenn er achtmal drehte, dann kamen die kleinen Nummern heraus, wenn er siebenmal drehte, die großen.
Und erst die Waisenknaben! Das waren ausgesuchte Lausbuben. Die hatten die Nummern schon im Gefühl und wer sie am besten bezahlte, dem taten sie den Gefallen und zogen sein Terno.
Ja, und die Soldaten! Das war auch ein Schwindel. Früher bildeten nämlich Soldaten das Spalier an der Barriere. Wenn nun die Herren vom Lottoamt wollten, dann bestellten sie sich die Jäger, die kleinen Soldaten. Natürlich wurden dann immer die kleinen Nummern gezogen. Aber wenn man die Ziehung großer Nummern beabsichtigte, dann bestellte man die größten Soldaten vom Infanterieregiment Teuchert-Kauffmann, daß diese das Herz der mannstollen Frau Fortuna beeinflussen mögen. War es da nicht berechtigt, daß man die 88er-Infanteristen mit unverhohlenem Unwillen empfing, wenn man gerade die kleinen Nummern gesetzt hatte?
Heute ist’s anders. Es kommen keine Soldaten mehr, sondern Wachleute, der langnasige Hausmeister ist einem Amtsdiener mit einer indifferenten Nase gewichen und das Podium ist so niedrig, daß man den Beamten gehörig auf die Finger schauen kann. An dem Tische auf dem Podium sitzen drei Beamte. Einer in Uniform, zwei in Zivil. Der eine sitzt in der Mitte des Tisches, sein Gesicht ist dem Publikum zugewendet. Die beiden anderen sitzen zu seinen Seiten und zeigen dem Publikum nur ihr Profil. Einer von ihnen hat eine Kassette vor sich, in der die Nummern 1 bis 90 fein säuberlich geordnet liegen. Er entnimmt die erste Nummer und reicht sie einem vierten Beamten, dem Assistenten, der — mit dem Rücken zum Publikum gekehrt — bei dem Tische steht. Der Assistent steckt den Zettel zunächst dem uniformierten Beisitzer zu, der diesen mit ostentativ scharfen Blick betrachtet. Dann reicht der Assistent den Zettel dem in der Mitte des Tisches sitzenden Finanzrat und verkündet dabei laut:
„Jedna — Eins.“
Der Finanzrat kontrolliert neuerlich, ob sich der Inhalt des Papierstreifens mit der ausgerufenen Nummer deckt, und legt dann den Zettel in eine hagebuttenähnliche Holzkapsel. Diese Hülse schraubt er mit feierlicher Langsamkeit zu und wirft sie dann in das zu seiner Rechten stehende Glücksrad, dessen Seitenwände aus Glas sind und so den kritischen und mißtrauischen Beobachtern den Einblick in das Innere gewähren. Glück und Glas.
Mit den nächsten Nummern geht es ebenso. Die einzelnen Ziffern werden von den Stammgästen mit allerhand Glossen und Reminiszenzen begleitet. Jeder der Beteiligten konstatiert mit Befriedigung, daß auch seine Nummer der Glastrommel einverleibt wurde: Der erste Schritt zum Terno ist getan. Manche stoßen, wenn die Ziffer ihres Extratos in das Glücksrad geworfen wird, inbrünstige Wünsche aus. Die Nennung der Zahlen 79 und 88, die durch die Verhaftung des Markthelfers Jaro Krejsa besondere Aktualität gewonnen haben und im Vordergrunde des Interesses stehen, wird allseitig mit beifälligem Gemurmel begrüßt. Der Zettelvorrat in der Kassette des Beamten nimmt zusehends ab, was sich von der Aufregung im Zuschauerraum nicht behaupten läßt. Im Gegenteil. Sie steigt mit der Höhe der verkündeten Ziffern.
„Hned bude neunzig,“ prophezeit Frau Lenovsky.
Sie hat recht. Bald ruft der Assistent die „Neunzig“ aus und das Glücksrad wird verschlossen. Der Amtsdiener schnallt einen Riemen um den Messingmantel des Glücksrades. Einer der beiden Waisenknaben, die bislang unbeachtet in einer Ecke des Podiums saßen, steigt auf den Stuhl, der zwischen dem Rat und dem Rad steht. Auf einen Wink des Finanzrates beginnt der Diener die Kurbel der Glastrommel zu drehen. Einigemale nach rechts, einigemale nach links. Die hölzernen Hagebutten springen klappernd in ihrem gläsernen Palaste hoch empor und hopsen lustig durcheinander, als ob sie nicht wüßten, daß sich an sie ein verzehrendes Hoffen und Sehnen der Leute da unten knüpfe. Und wieder ein Wink des Finanzrates. Es klingelt, und das Rad steht still. Ein Fensterchen in der Messingwand des Glücksrades wird geöffnet. Der Waisenknabe streckt seinen rechten Arm in die Höhe. Der rechte Ärmel seines grauen Zwilchmantels, den er soeben anstelle seines Rockes angezogen hat, ist bei der Schulter abgeschnitten, das Hemd hinaufgeschlagen, so daß der Arm nackt ist. Der Bub streckt die Finger der Hand von sich, damit man sehe, daß er auch hier nichts verborgen habe. Er macht das ganz putzig und lächelt dazu.
„Ein entzückender Junge,“ registriert Frau Lenovsky, „und was er für zarte Fingerchen hat. Der zieht sicher etwas gutes.“
Inzwischen hat der also Belobte seinen Arm in Fortunas Rad versenkt, eines der hölzernen Futterale herausgezogen und es einem Mitgliede des Beamtenquartetts gereicht, der die Hülse auseinanderschraubt, den Papierstreifen herausnimmt, entfaltet, betrachtet und dann seinen Kollegen reicht. Einer von diesen schreibt die gezogene Nummer ins Protokoll und der Assistent ruft in tschechischer und deutscher Sprache in die atemlose Stille hinein:
„Erster Ausruf: Vier.“
Im Nu weicht die Ruhe einem Gemurmel des Entsetzens. Von den verehrten Festgästen hat gerade auf „vier“ niemand gesetzt, wie sich aus den Mienen der Enttäuschung und den Ausrufen der Bestürzung erkennen läßt. Ein Marktweib findet die Lösung des Rätsels, wieso gerade der Vierer gezogen wurde:
„Weil sie den Jaro Krejsa in den Vierer gebracht haben!“
Der „Vierer“ wird im Volksmunde das Departement IV der Polizeidirektion, das Sicherheitsbureau, genannt. Wie Schuppen fällt es von der Leute Augen. Daß man daran gar nicht gedacht habe! Jaros Verhaftung hatte weder 79, noch 88 zu bedeuten, sondern 4. Natürlich!
„Vielleicht wird noch außerdem die Neunundsiebzig gezogen.“ An diese Hoffnung versucht sich eine Dame der Halle zu klammern. Aber die alten Stammgäste der „Tante Lotty“ belehren sie eines besseren.
„Wenn einmal eine kleine Nummer gezogen worden ist, dann kommen lauter kleine Nummern.“
Der Assistent hat unmittelbar nach seinem Ausrufe den gezogenen Zettel in die Menge geworfen. Ein junger Lebemann von der Podskaler Wasserkante hat ihn erhascht und diesen Talisman eingesteckt. Das nächstemal wird er auf „vier“ setzen.
Die Prozedur wiederholt sich. Beim zweiten Ausruf wird die Ziffer „81“ gezogen, was nicht ganz dem prophetischen Ausspruche entspricht, daß heute nur kleine Nummern gezogen würden. Aber auf dieses Nichteintreffen der Prophezeihung ist die Erregung der Gemüter nicht zurückzuführen, die sich nach jedem Ausruf des Assistenten in den Ausrufen des Publikums Luft macht. Die verlesenen Zettel werden abwechselnd in den rechtsstehenden und in den linksstehenden Teil des Publikums und in dessen Mitte geworfen. Die Papierstreifen sind das einzige, was Frau Fortuna ihren Bewerbern aus dem Füllhorn beschert ... Der Verkündung der letzten Nummer ist ein besonderer Sturm der Entrüstung gefolgt. Keiner der Harrenden hat gewonnen. Was nützt es, wenn von den drei Nummern, welche jene Frau gesetzt hat, eine gezogen wurde? Erst zwei gezogene Nummern des Ternos, erst zwei gezogene Nummern des Ambosolos bedeuten einen Gewinn. Was nützt es, wenn jenem Burschen die Ziffern eines Extratos in verkehrter Reihenfolge herausgekommen sind? Mit Unwillen werden die Marginalzettel, diese Dokumente trügerischer Träume und falscher Deutungen, in kleine Stücke zerrissen.
„Seht Ihr den Galgenvogel,“ kreischt Frau Lenovsky den Waisenknaben an, den sie vorher nicht genug zu loben wußte, und der sich jetzt mit knabenhaftem Lächeln wieder seinen Rock statt des ärmellosen Amtskittels anzieht. „Seht Ihr den Lumpenkerl, den Wechselbalg. Seht Ihr die Diebsfinger? Zum Stehlen, da taugt er. Aber zu etwas Anständigem? Gott weiß, wer sein Vater war!“
Das Unglücksrad wird versiegelt. Der Saal leert sich. Die Kollektanten eilen in ihre Geschäfte, um dort die fünf roten Ziffern auszuhängen, welche heute ausgelost worden sind. Noch früher aber als die Kollektanten sind in deren Geschäften die Leute, die jetzt ihr Glück den blauen Ziffern von Brünn anvertrauen. Die Hyperklugen aber eilen in besondere Kollekturen, in jene in der Wassergasse, in der Myslikgasse, auf dem Petersplatz und in der Schalengasse, wo man nicht bloß auf die blauen und roten Gewinnziffern, sondern auch auf die goldenen der Wiener Ziehung, auf die schwarzen von Linz und Triest und auf die grünen von Graz setzen kann.
Sie werden auch dort den großen Reichtum nicht erringen, trotz aller ihrer geometrisch-astrologisch-okkultistisch-kabbalistisch-kryptographisch-arithmetischen Kombinationen. Grau, teurer Freund, ist alle Theorie. Und graue Gewinnziffern gibt es nicht.
Sie gehen umher und laufen, sie drängen sich auf den Gängen, sie stehen in Gruppen beisammen oder schauen aus den Fenstern in den beschneiten Garten hinunter, den fünf Gassen der Oberen Neustadt begrenzen. Der eine raucht eine Zigarette, ein anderer hält seine Pfeife, ein dritter die Zigarre im Mund. Der eine trägt die graue Anstaltskleidung, der zweite einen schwarzen Gehrock, der dritte einen tadellosen grauen Straßenanzug. Hier springt mit wirrem Lallen, gesenktem Kopf, roten Augen und schlenkernden Armen ein Patient vorüber, dort im offenen Zimmer spielen zwei ruhige Männer eine Partie Schach — brillante Spieler, sagt der Arzt.
Ein Herr reicht dem Arzt den Aufnahmsbogen eines neuen Patienten. Das Nationale und die Anamnese sind aus dem tschechischen Rapport eines Polizeiarztes ins Deutsche übertragen und fein säuberlich mit Schreibmaschine geschrieben. Der Arzt vergleicht den Akt mit dem Polizeirapport, der Überreicher steht wartend. „Auch ein Kranker,“ sagt der Arzt französisch zu mir.
Ich sehe mir den Mann an. Er ist behäbig, sehr sorgfältig gekleidet, und hat einen wohlgepflegten grauen Schnurrbart. Er geht weg, und der Arzt sagt zu mir: „Der Mann hat vor einigen Jahren einen Prager Stadtverordneten aus Rache auf der Straße erschossen. Das Verfahren wurde eingestellt, da sich herausstellte, daß der Mörder unzurechnungsfähig war. Jetzt versieht er bei uns Kanzlistendienste. Die Übersetzung des tschechischen Polizeirapports und die Übertragung auf der Schreibmaschine hat er selbst besorgt.“ Ich erinnere mich genau an den Mord, der in Prag beispielloses Aufsehen hervorgerufen hat. Der Mann, der geglaubt hatte, von dem Stadtverordneten verfolgt zu sein, hatte zuerst in den Zeitungen gegen ihn geschrieben, und schließlich war sein Haß so furchtbar ins Krankhafte gewachsen, daß er dem Feinde auflauerte und ihn erschoß. Und jetzt sieht der Mann so ruhig, äußerlich und innerlich so ausgeglichen aus.
Ein zweiter Patient: Doctor juris. Auch sein Name ist mir geläufig. Er hat vor einigen Jahren an dem studentischen Leben Prags regen Anteil genommen. Er spricht mit meinem Begleiter.
„Nun, Herr Doktor, sind Sie schon zu meiner Überzeugung gelangt, daß Ihre Diagnose falsch ist?“
Es entspinnt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf sich der Jurist als Fachmann auf psychiatrischem Gebiet entpuppt. Er ist hierher gebracht worden, weil er in Intervallen von etwa zwei Jahren gefährliche Anfälle bekommt; er ist überzeugt, daß er mit Unrecht in der Irrenanstalt zurückgehalten wird:
„Ich tröste mich aber. Auch Christus würde heutzutage nicht mehr gekreuzigt werden; seine Widersacher würden ihn ins Irrenhaus sperren.“
Ein dritter Patient: hochelegant, brauner Straßenanzug von englischem Schnitt, linierter Scheitel. Über dem rechten Auge trägt er eine schwarze Binde. Er hat in Teplitz eine Kellnerin erschossen und sich selbst durch einen Revolverschuß ins Auge verletzt. Sein Vater ist Rektor in einer Stadt in Deutschland; er will von dem entarteten Sohn nichts wissen. Der junge Mann ist der Freund des internierten Doktors. Die beiden Geisteskranken sind Meister im Schachspiel, diesem Spiel, das die größte Anspannung geistiger Kräfte verlangt.
Von einem anderen Patienten, einem Dégénéré supérieur, der früher Photograph war, und mit Josef Kainz in regem Verkehr stand, liegt mir eine Reihe herrlicher Gedichte vor, die er einem der klinischen Ärzte eingehändigt hat und die seine Stimmung in der Irrenanstalt schildern. Aus einem Sonettenzyklus „Die Irren“ sei folgendes Gedicht hier veröffentlicht:
„Dann sterben sie in weißgetünchten Zellen
Noch einmal, da sie lange schon gestorben,
So wie die grüne Frucht, die früh verdorben
Sich noch vom Baume löst, um zu zerschellen.
Vielleicht ist ihnen mancher Wunsch geworden,
Eh’ sie die fahlen Augen endlich schließen:
Ein süßes, schwelgerisches Traumgenießen
Und Kampfgetön, wie ferner Wind von Norden.
Sie schwinden dann, wie Glocken, die zerschlagen,
Weil die metallne Mischung einst mißlungen,
Da ihre Hüter in der Schenke lagen.
In Harmonien und in Dämmerungen
Von neuem Blühen und von neuen Tagen
Ruht still ihr Staub, zu bess’rem Sein gezwungen.“
Der Dichter, der dieses singt, ist schwer krank. Er hat seine Mutter töten wollen, weil er ihre Not nicht mehr mit ansehen konnte. Man denkt wieder an Lombroso: Genio e follia.
Er ist nicht das einzige künstlerische Genie in der Irrenanstalt. Drüben in der Frauenabteilung sitzt ein hübsches, braunes Mädel beim Fenster, und zeichnet mit Bleistift das deutsche naturwissenschaftliche Institut. Ich beginne mit ihr ein Gespräch. Aber die Kleine ist schnippisch; es ist eine äußerliche Keckheit, die innere Zagheit und Schwäche verbergen will. Das Mädchen will mir seine Zeichnung nicht zeigen.
„Sie verstehen ja doch nichts davon,“ lacht es.
Erst als der Doktor um das Bild ersucht, zeigt die Kranke es her. Es ist mit natürlichem Geschick gemalt, viel Strichtechnik ist darin zu sehen, und der gute Blick der Zeichnerin ist unverkennbar. Das Mädchen befaßt sich viel mit Kunstgeschichte: früher war Manes, jetzt ist Aleš ihr Lieblingsmaler. Die junge Malerin ist früher Köchin gewesen; der Tadel über eine mißlungene Speise versetzte sie in Paroxysmus, sie entlief ihrer Herrschaft, wollte sich ins Wasser stürzen, flüchtete dann in die Wälder der Umgebung Prags und lief dort einige Tage umher, ohne zu essen oder zu trinken. Entkräftet lag sie im Wald, als man sie fand. Jetzt sieht sie gut aus, und malt. — Wir treten wieder auf den Gang hinaus.
„Herr X.,“ ruft der Arzt einen Mann an.
Der kommt herbei. „Wie geht’s?,“ fragt ihn der Doktor.
„Danke, jetzt hab’ ich ja wieder ein neues Ministerium zusammengestellt. Sie setzen jetzt in den Zeitungen einen römischen Dreier zu meinem Namen. Na, wir werden ja sehen, wie’s gehen wird.“
Der Mann, der herbeigekommen war, als der Arzt seinen wirklichen Namen rief, glaubt Bienerth zu sein. Die Politik ist dem Armen zu Kopf gestiegen.
Wir treten in ein Krankenzimmer. Ein alter Patient kommt auf uns zu, und bittet ehrerbietig, ein Theaterstück aufsagen zu dürfen. Und nun spricht er den Puppenspieler-Faust, die Stimme variierend, wenn neue Personen auftreten. Er erzählt von den Taten des Doktor Faust, von seiner Geistesbeschwörung und der Verschreibung seiner Seele an den Teufel, und von den Wunderdingen, die er am Hofe des Kaisers vollbracht habe. Er erzählt — bis wir ihm Einhalt gebieten. Ob er noch etwas tanzen dürfe, fragt er bescheiden. So tanzt er denn, und hopst im Zimmer herum. Die anderen Patienten betrachten seine Sprünge kaum, so wie sie früher nicht auf seine Rezitation geachtet haben. Sie kennen diese letzten Reste der Kunst, die der Alte — ein ehemaliger Marionettenspieler und Schaubudenbesitzer — aus dem einstigen Beruf in seine Krankheitszeit hinübergerettet hat.
Wir müssen noch eine andere Vorstellung über uns ergehen lassen. Ein Irrsinniger, der nicht sprechen, sondern nur unverständliche Laute zu stammeln vermag, hängt einen Hampelmann an einen Schrank, umhüllt sich und einen anderen stummen Irren mit einem Laken, schlägt mit einem Löffel dreimal an ein Wasserglas, und beginnt nun vor dem Hampelmann verzückte Tänze und Körperschwingen zu exekutieren. Er singt dabei in eintönigem Rhythmus irgendwelche Worte. Sein Genosse, der überhaupt sein willenloses Werkzeug ist, hat nur die Aufgabe, die Bewegungen zu kopieren, und tut es mit einem dumpf-begeisterten Lachen. Was aber in dem Innern des Protagonisten vorgeht, des Irren, dem die Anbetung des Hampelmannes etwas Primäres ist — wer weiß das zu sagen.
Noch trübere Bilder: Ein Kranker steht gebückt in seinem Bett und starrt aus dem Fenster hinaus ins Leere. Eine Woche steht er schon so da, und selbst wenn man ihm Speise einflößt, schaut er aus dem Fenster hinaus in jene Richtung, in der sein Sehnsuchtsland liegt.
Ein ganz kleiner Junge, der sehr, sehr schwer krank ist, treibt in einem Krankenzimmer seine Possen. Er ist der Liebling seiner alten Zimmerkollegen, und sie vollführen alle seine Wünsche. Der Kleine ist ein Adeliger, der Enkel eines Hofrates, der früher in Österreich eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hat. Die Töchter des Hofrates sind tief gesunken, der kleine Enkel kam zunächst ins Waisenhaus und dann hierher.
Dort im Bette in der Ecke verstummt plötzlich das Röcheln, das bislang hörbar war. Der Arzt geht hin und leuchtet dem wachsbleichen Mann unter das Augenlid. Die Irren sammeln sich rings um das Bett und stieren auf den Alten. „Exitus,“ konstatiert der Arzt leise.
Hiemit will ich einige grundlegende Details über Prager Volksküchen veröffentlichen, auf daß sich der geneigte Leser, der — bei der gegenwärtigen Nahrungsmittelteuerung kann man nicht wissen! — dort Stammgast werden will, nicht so blamiere, wie ich bei meinem ersten Besuche. So habe ich zum Beispiel in der Straße, in der sich die Volksküche befindet, eine Gruppe von Verwahrlosten danach gefragt, wo die Volksküche sei. Da musterte der eine meinen derangierten Anzug, und weil er sich nicht vorstellen konnte, daß ich Lump zum erstenmale den Weg in das Volksrestaurant gehe, und es mit meiner Frage ernst meine, so lachte er:
„Wenn du nicht weißt, wo die Volksküche ist, so kannst du ja ins Hotel „Blauer Stern“ essen gehen. Das ist am Graben.“ Und ein wüstes Gegröhle der anderen lohnte den Witzbold und verhöhnte mich.
Ich fand aber den Eingang zur Volksküche doch, und drängte mich am Schalter. Dort hatte ich Gelegenheit, mich zum zweitenmale zu blamieren.
„Was kostet eine Suppe?“ fragte ich einen Burschen, der sich neben mir drängte.
„Zwei,“ antwortete der Lakonier.
„Zwei Sechser?“, fragte ich weiter.
„Sag gleich zwei Gulden,“ brummte der Gefragte. Dabei maß er mich mit einem Blick, in dem sich die Verachtung über die Unbildung eines Menschen, der nicht weiß, daß eine Suppe zwei Kreuzer koste, mit dem Verdachte paarte, daß ich ihn uzen wolle.
Vor solchen Blamagen will ich den geschätzten Leser bewahren, und so sei hier ein kurzes Vademekum für Volksküchenbesucher publiziert.
Es gibt in Prag sechs Volksküchen, die vom Volksküchenverein unterhalten werden: Für die Alt- und Josefstadt in der Gemeindehofgasse, für die Untere Neustadt in der Petersgasse, für den Wyschehrad in der Wratislawgasse, für die Kleinseite auf dem Malteserplatz, und je eine für Holleschowitz und für Lieben. Die Ausgaben in sämtlichen Küchen betrugen im vergangenen Jahre 49.059 Kronen 34 Heller. Diesen steht als Einnahme die Bezahlung der Speisen im Betrage von 35.518 Kronen 80 Heller gegenüber, so daß in den Küchen ein Defizit von 13.540 Kronen 54 Heller bestand und diese mit einem Schaden von 38 Prozent arbeiten.
Ich selbst pflege in den letzten neunundzwanzig Tagen jeden Monates sehr häufig die Volksküche für die Alt- und Josefstadt zu frequentieren, und von den 122.298 Portionen Suppe à 4 Heller, von den 111.026 Portionen Mehlspeisen à 12 Heller, die im Vorjahre in dieser Speisehalle zur Ausgabe gelangten, habe ich meinen geziemenden Teil verzehrt.
In einem der neuen Häuser, die auf der dem Gemeindehofe gegenüberliegenden Rampe stehen, ist sie untergebracht, in einem Parterrelokale — anscheinend zwei Geschäftsräume, die vereinigt wurden. Auf den glatten Schamotteziegeln, mit denen der Fußboden belegt ist, lagert allmittäglich dicker Kot, denn die Gäste sind von weither gewandert, und sie reinigen ihre Stiefel vor dem Eintritt in das Etablissement nicht. Der Türe gegenüber ist der Schalter zur Speisenausgabe. Die Hungrigen drängen sich in langer Queue. Ihr Geld halten die meisten abgezählt in der Hand, denn wer sich zulange am Schalter zu schaffen macht, wird unbarmherzig zur Seite geschoben. Die wenigsten bestellen ein ganzes Menu, denn dreißig Heller sind viel Geld. Die meisten verlangen nur eine Suppe, das billigste in diesem Restaurant. Vier Heller hat jeder. Manche nehmen zwei Suppenportionen, mancher nimmt zur Suppe eine Mehlspeise. Fleisch ist wenig und teuer, und so sind die Gäste der Volksküche größtenteils unfreiwillige Vegetarianer. Die Küchenverwalterin Frau Schepkes nimmt die Bestellungen und die Bezahlungen entgegen, und reicht die verlangten Speisen. Aus einem Holzkistchen, das am Schalterbrett steht, nimmt sich jedermann einen Zinnlöffel. Auch Messer und Gabel sind darin. Aber dessen bedürfen die wenigsten, da sie ja kein Fleisch kaufen, und man die Mehlspeise mit der Hand zum Munde führen kann. Tafelzeremoniell und Tischetikette gibts hier nicht.
Jeder trägt sich seine Speisen selbst auf seinen Platz. Im Saale stehen dreizehn Tische, drei links, zehn rechts vom Eingang. Sie sind so schmal, das an ihren Breitseiten kein Sessel steht — es wäre kein Raum für die Schüsseln einer hier sitzenden Person. An der Längsseite jedes Tisches läßt eine etwa einen Meter lange Bank für zwei Esser Platz. Aber das genügt nicht für die Schar der Kostgänger, es müssen sich mehrere aneinanderdrängen, und außerdem sitzen an jeder Ecke des Tisches vier Leute halb auf der Bank und halb in der Luft.
Gegen ¼1 Uhr mittags faßt ein Polizist im Saale Posto. Aber er hat nur eine Ordnerfunktion, ist nur zur Hintanhaltung eventueller Exzesse da. Nach Vagabunden und Revertenten fahndet er hier nicht — dieser Zufluchtsort der Hungernden scheint stillschweigend als eine Art exterritorialen Bodens betrachtet zu werden. Beim Eintritte des Wachmannes ist ein hünenhaft gebauter Bursche, in Kleidung, Frisur und Blick der Typus des Prager „Pepiks“, krampfhaft zusammengezuckt. Dann schiebt er den Suppennapf, den er vor sich stehen hat, bedeutend nach links, damit er beim Essen sein Gesicht von dem Polizisten abwenden kann. Wohl nicht aus Abneigung gegen den Hüter des Gesetzes, sondern er scheint eher seit seiner letzten Beichte vor dem Strafrichter eine neue Sünde auf sich geladen zu haben. Aber bald fühlt unser Freund, daß der schlenkernde Blick des Mannes mit der Hahnenfeder auf ihm haften bleibt. So wendet er sich dem Wachmann zu. Aber der nickt nur lächelnd. Und Pepik erwidert mit freundlichem Lächeln den Blick. Nach einer Viertelstunde verläßt der Hüter des Gesetzes wieder den Saal.
„Diesem Kerl habe ich einmal vor „Reismann“ (das bekannte Tanzlokal in der Kastulusgasse) den Rüssel zerschlagen,“ konstatiert jetzt der Bursche laut. Lebhafte Heiterkeit, beifällige Zurufe.
„Und wieviel haben sie dir dafür gegeben?“ forscht ein Gründlicher.
„Sechs Wochen. Wegen öffentlicher Gewalttätigkeit. Während es doch eine rein private Angelegenheit zwischen mir und ihm war.“ Neuerliches Halloh.
Ein etwa vierzehnjähriger Bursch im blauen Arbeitshemd, der mit dem Wortführer am selben Tisch sitzt, ist vielleicht der einzige, der dem Gespräch nicht zugehört hat und der in das Beifallslachen nicht einstimmt. Er hat das schwarze Heftchen einer tschechischen Kriminalbibliothek aufgeschlagen vor sich liegen, und während er mit der rechten Hand den Löffel mit Suppe mechanisch zum Munde führt, blättert er mit der linken die Seiten um, deren Inhalt seine glänzenden Augen verschlingen. Was rings um ihn vorgeht, weiß er nicht, er hat die Erzählung des Renkontres von „Reismann“ nicht gehört. Der Junge, der hier die ungesunde Nahrung der geistigen Volksküchen verschlingt, der träumt wahrscheinlich davon, auch einst ein berühmter Räuber zu werden, wie der Betyare Rosza Sandor war. Und wird doch nur ein Pepik werden, wie sein Nachbar.
Es sind noch jüngere Burschen da. Schulkinder, deren Eltern in der Arbeit sind und die sich um achtzehn Heller ihr Mittagsbrot kaufen. Sie verschlingen gierig die stark gezwiebelte Graupensuppe und den Mohnkuchen — ihre einzige Nahrung bis zum Abend, vielleicht bis zum nächsten Mittag.
An Greisen fehlt es nicht im Raume. Altersschwache, müde Männer, denen vielleicht sogar der Weg vom gegenüberliegenden Gemeindehof lang und beschwerlich war. Daß sie von dort kommen, sieht man an ihrer Mütze, die das Stadtwappen trägt. Straßenkehrer sind sie, sieche Angehörige Prags, die eben nur zu einer ganz belanglosen Beschäftigung taugen: Zur Straßenreinigung von Prag.
Ein greiser Bettler wankt gebückt vom Schalter zu einem Tisch. Mit der rechten Hand stützt er den Stock auf, in der heftig zitternden Linken trägt er den Suppennapf, aus dem die heiße Flüssigkeit auf die Erde spritzt. Die Hälfte des Inhaltes ist verschüttet, als sich der Alte endlich niedergelassen hat. Jetzt hebt er mit seiner zuckenden Hand den Löffel, aber auf dem Wege vom Teller zum Munde geht wieder ein beträchtlicher Teil der Nahrung verloren. Und schmerzvoll bedauernd starrt der Alte auf die kleinen Lachen, die das teure Naß auf dem ungedeckten Tisch und auf dem Boden bildet.
Das Mädchen, das von Zeit zu Zeit die leeren Teller und Bestecke von den Tischen räumt, kommt auch zu mir und nimmt, da sie mich nicht mehr essen sieht, meinen Suppennapf weg. Aber kaum hat sie hineingesehen, so stellt sie mir ihn wieder hin. Wirklich, es sind noch etwa drei Löffel Suppe darin!
„Sie können sich den Teller nehmen,“ sage ich. „Ich esse nicht mehr.“
Das Mädchen wundert sich über diese Verschwendung.
Jawohl, ein tadelnder Ballbericht. Du traust, lieber Leser, deinen Augen nicht, da du dieses liest. Du glaubst — auf langjährige Erfahrung gestützt — es könne keinen Ballbericht geben, in dem nicht stünde, daß das heutige Fest alle bisherigen und künftigen weit übertroffen habe, daß ein Flor bezaubernd schöner und junger Damen in noch nicht dagewesenen Toiletten, von einem Heer tanzlustiger Herren umschwärmt, das Tanzbein geschwungen bis sogar dem Morgen graute, daß die Dekoration den alten Ballsaal — ei, wer hätte das gedacht — zur höchlichsten Überraschung in einen wahren Salon verwandelt hatte, daß Frau Disponent Kanarienvogel in einer duftigen rosa Crêpe-de-Chine-Toilette mit achtzig echten Maréchal-Niel-Rosen am Decolleté und Fräulein Kiki Chocholauschek in ihrem bordeauxgrünen Satinkleidchen mit echten Elbekosteletzer Spitzen wirklich entzückend ausgesehen haben, und daß sich auf der Estrade diesmal wirklich alle hervorragenden Vertreter der hohen Beamtenschaft, der Großindustrie und des Großhandels, Advokaten, Ärzte, Offiziere u. dgl., sowie Herr Larmitzer, Bureauchef der Kolonialwarenhandlung „Porges, Ladovička & Co.“ in der Eisengasse und Herr Jarosch in Vertretung der Ortsgruppe Prag des Südwestböhmischen Briefträgervereines ein Stelldichein gegeben haben etc. etc.
Und doch: Ich kenne einen tadelnden Ballbericht. Es ist allerdings schon lange her, seit er in der Zeitung stand. Das Fest ist längst aus dem Repertoire der Prager Faschingsveranstaltungen gestrichen und das Gebäude, in dem es stattfand, kennen die heutigen Prager kaum vom Hörensagen mehr. Man muß in den alten „Bohemia“-Bänden um fünfzig Jahre zurückblättern, bevor man den seltsamen Rapport findet. Am 26. Jänner 1861 steht zu lesen:
„Die Maskenbälle im Neustädter Theater wurden heuer nicht mit demselben Erfolge eröffnet, wie im vorigen Jahre. Der Besuch war bedeutend schwächer, die Logen blieben fast ganz leer und die Galerien waren nur spärlich besetzt. Etwas Hervorragendes machte sich unter den Masken nicht bemerklich. Da sah man außer den unvermeidlichen Dominos die alljährlich wiederkehrenden altdeutschen Krieger, Griechinnen, Türken, Bäuerinnen, Pierrots, Polinnen, Harlekins, Matrosen etc. Das täte jedoch der Redoute keinen Eintrag. Wenn nur die Masken gesprächiger gewesen wären. In dieser Beziehung zeigten sie jedoch mit einzelnen Ausnahmen eine sehr scheue Zurückhaltung.“
Am Abend des Tages, an dem ich dieses alte Referat entdeckt hatte, war ich auf einem Maskenball. Nein, war das lustig! Auf was für Ideen doch die jungen Leute kommen, man würde es gar nicht für möglich halten! Man sah Dominos, Bäuerinnen und Pierretten, und einige besonders Erfindungsreiche hatten sich als Jockeys und Zigeunerinnen verkleidet. Und weil doch Schweigen Gold ist, so waren die Masken wahrhaft goldige Leute, und wenn eine doch den Mund zu einer scherzhaften Bemerkung auftat, so hätte man wünschen mögen, daß sie es nicht getan hätten: Sie waren nämlich so raffiniert, sich nicht durch geistreiche und witzige Bemerkungen zu verraten, sondern benützten die Maskenfreiheit kluger Weise dazu, die Angesprochenen durch die ärgsten Gemeinplätze und dümmsten Dummheiten famos zu verspotten.
Oben im Saale, ganz nahe an der Musikkapelle, während die absolvierten Petschauer und Preßnitzer Musikschüler mit Todesverachtung die Tschinellen aneinander schlugen und in die Flöten bliesen, schrieb ich den Ballbericht. Ich ließ mich durch den Ton des Referates von 1861 nicht beeinflussen und lobte das Fest über den grünen Klee. „Es war ein wahrhaft herrliches Repräsentationsfest des Prinzen Karneval ...“
Als ich meinen Artikel in die Redaktion geschickt hatte, trat ich wieder in den Saal hinab, um dort zu gähnen. Das veranlaßte eine vorübergehende Maske in spanischem Kostüm zu der Äußerung: „Na Kleiner, du langweilst dich wohl?“ Diese geistsprühende Anrede, die Geistesgegenwart und die scharfe Logik, die sich darin kundtat, daß sie aus meinem Gähnen darauf geschlossen hatte, daß ich mich langweile, imponierten mir. Ich schmiß mich der Spanierin an, wir kamen bald ins Gespräch, ich erzählte ihr von dem tadelnden Ballberichte und war begeistert über die Summe richtiger Folgerungen, die sie daran schloß:
„Was würde der gestrenge Ballkritiker von damals heute alles zu tadeln haben,“ meinte sie. „Damals gab es gewiß noch nicht in den Bällen die Unsitte, während eines Walzers eine tanzende Dame zur Fortsetzung des Tanzes aufzufordern, sie dem Anderen förmlich aus der Hand zu reißen, bevor noch dieser zu tanzen oder zu sprechen begonnen hat. Andererseits konnte damals gewiß keine Dame am Arme eines Herrn den ganzen Abend kleben bleiben oder gar als Mauerblümchen mit schmerzerfülltem Herzen und von höhnischen Blicken gemustert, vor der Mama den ganzen Ballabend stehen bleiben, für den sie so viel Geld an die Schneiderin, für Wagen und Ballentree bezahlt hat. Damals forderte man eine Dame zum Tanze auf und durfte mit ihr einen ganzen Walzer, aber nur einen Walzer tanzen. Dann stellte man sie wieder zur Gardedame.“
Ich nickte Bestätigung. Die Spanierin aber fuhr fort: „Und die Herren! Ist es nicht ein Skandal, daß sie kein Entree bezahlen, die Kosten des Festes von den Damen bestreiten lassen und womöglich noch, wenn sie im Komitee sind, den unverdienten Reingewinn dazu verwenden, Kavaliere zu spielen? Dabei tanzen sie aber gar nicht. Blasiert und mit verschränkten Armen stehen sie in der Herreninsel und machen hämische Bemerkungen über den Ruf der armen, wehrlosen Mädchen. Nur wenn sie die bevorstehende Veranstaltung eines Hausballes mit „famosem Fraß“ wittern — da sind sie mit Feuereifer beim Tanz. Hab ich nicht recht?“
Ich erklärte, daß sie sogar sehr recht habe. Darauf begann sie über den Vortanz zu schimpfen. „Vortanz — so ein Blödsinn. Die paar Mädel, deren Väter Geld haben oder so tun, als wenn sie welches besäßen, und die jungen Topfgucker in ihren Fracks schreiten da mit komischer Grandezza die Stiegen hinab und tanzen dann mit möglichst verschrobener Figur den Straußschen Walzer „An der schönen blauen Donau“. Die anderen Herren aber, die Sterblichen, die werden inzwischen wie ein Stück Weideviehs mit einem Stricke umbunden und dürfen aus dieser Umpferchung nicht hinaus. Die Mädchen aber, die nicht des Vortanzes wert befunden wurden, die dürfen bewundernd dem Göttertanze zuschauen.“
Ich bemerkte, daß das in der Tat lächerlich sei. Meine Dame aber fuhr fort: „Noch ärger ist es mit den Damentoiletten.“
Ich erwiderte, daß ich diese nicht besichtigt habe. „Nein, nein,“ rief sie entsetzt aus, „ich meine ja die Damenkleider. Früher ist ein Mädchen in einem einfachen Kattunkleidchen zum Tanze gegangen und hat sich fürstlich unterhalten. Jetzt aber muß sie ein Kleid um mindestens hundertsechzig Kronen haben, damit die anderen Damen nicht die Nase rümpfen. Denn den Herren ist doch das Kleid ganz egal, wenn nur die Dame hübsch ist.“
Wir hatten inzwischen in einem lauschigen Winkel des Saales Platz genommen und der eisige „Moët-Chandon“ erwärmte unsere Herzen. Ich rückte näher an die Spanierin heran und begann zärtlich mit ihrer Hand zu spielen. Sie aber fuhr in ihrem tadelnden Ballberichte fort: „Dazu noch die Tänze von heutzutage. Immer nur Walzer, wieder Walzer und wieder Walzer. Und wenn die Musik ausnahmsweise irgend ein Promenadenstück spielt, so tanzt man — Walzer. Vor fünfzig Jahren, da hat es wohl noch Quadrillen und Mazurka gegeben, aber heute — wer kann heute bei diesen wilden Tänzen noch Grandezza und Liebreiz zeigen?“
„Du, meine schöne Maske! Du mußt mir deinen Liebreiz zeigen, du mußt dich demaskieren,“ mit diesen ungestümen Worten machte ich meiner verhaltenen Leidenschaft und Begeisterung Luft. So fein beobachtend, so klug war sie, meine kleine Partnerin, so seltsam stach sie von den übrigen jungen Mädchen ab, die im Glanze der Ballsaallichter, im Banne des Ballfiebers, am Arme des Tänzers und im Zauber der Musik an alle die kleinen Unzukömmlichkeiten, an den freien Eintritt der Herren, an den Vortanz und das abwechslungsarme Repertoire von Tänzen gar nicht denken, gar nicht denken wollen. Aber die spanische Tänzerin an meiner Seite, die konnte ihr Beobachtungstalent, ihre kritische Begabung, ihren Sinn für Vergleiche, ihr Taktgefühl auch im Maskentohuwabohu nicht verleugnen — ein ideales, ein einziges Weib.
„Du mußt dich endlich demaskieren,“ flehte ich dringender, da sie sich noch immer weigerte dies zu tun, „du mußt, du mußt.“
Da tat sie mir denn schließlich den Willen: Sie nahm die Maske ab und ich konnte konstatieren, daß diese Spanierin wahrscheinlich an dem Feste von 1861 teilgenommen hatte.
Es wäre vielleicht eine belehrende Illustration zu manchen Vorträgen an der Juristenfakultät und an der Handelsakademie, wenn die Hörer veranlaßt werden würden, Exkursionen in die dunkelsten Gebiete des volkswirtschaftlichen Lebens zu unternehmen, die Tätigkeit jener Gewerbsleute und Händler zu betrachten, die weder konzessioniert noch protokolliert sind, die auch zum großen Teile keine Steuern bezahlen. Man könnte da manche Lücken in den Gesetzen entdecken, manchen Geschäftskniff bestaunen, man könnte da vielleicht konstatieren, daß manche Finanzoperationen, über deren nationalökonomischen Wert und über deren Zulässigkeit an den Börsen und Hochschulen Amerikas gestritten wird, hier im kleinen, ganz kleinen Maßstabe als selbstverständlich praktiziert werden. Und wer weiß, ob die Trusts und die Kartelle der armen Prager Trödler und Hausierer nicht besser organisiert sind als jene der amerikanischen Multimillionäre?
Man kann die Gegenseitigkeitsgeschäfte dieser kleinen Leute, die sich in einem beispiellos erbitterten Kampfe um den kleinsten Gewinst aufreiben und die trotz ihrer Geschäftsschlauheit und ihrer raffinierten Organisation im allgemeinen auf keinen grünen Zweig kommen, leicht beobachten. Man kann unter irgend einem Vorwande in die Partiewarengeschäfte und Trödlerläden, in die Handelcafés in der Zeltnergasse und auf dem Ziegenplatz kommen, man kann aber auch den öffentlichen Feilbietungen in der gerichtlichen Auktionshalle im Landesgerichtsgebäude, den Pfänderversteigerungen im „K. k. Pfand- und Leihamt“ in der Leihamtsgasse und in den zahlreichen privaten Pfandleihanstalten beiwohnen und dort diese Börsenspekulanten in Partiewaren in sinnfälliger Massenwirkung bei der Arbeit sehen.
Ein Kaffeehaus, hart an der Grenze der Alt- und Josefstadt. Die Operationsbasis für die Geschäfte der Tandler und der „Šalváří“, der Spezialisten in echten und falschen Juwelen. Es ist früh. Ein Gast kommt herein:
„Adalbert, bring’ mir ein Schmalzbrot,“ ruft er dem Kellner zu.
„Schmalz ist nicht, aber harte Grieben kannst du haben,“ sagt der Kellner. Die Brücke, die vom Gast zum Kellner führt, führt auch vom Kellner zum Gast: Sie duzen einander.
„Also bring’ mir die Grieben, und das „Amtsblatt“ möchte ich haben.“
„Da liegt es doch,“ ruft der Kellner unwillig, und deutet auf die Zeitung, die wirklich auf dem Sessel neben dem Neuangekommenen liegt.
Der aber ist neugierig, zu erfahren, wer schon früher das Amtsblatt studiert hat. Und der Kellner erwidert, daß Karl Neuhof gerade weggegangen ist.
„Und wohin?“ forscht der Gast mit einer durch die Konkurrenz begründeten Neugier weiter.
„Nach Žižkow zu irgend einer Feilbietung,“ verrät der Garçon.
Da wendet sich der Gast mit Grausen. Er spuckt aus: „Die Werkstätteneinrichtung von Nechvátal! Schöne Sachen, was da zu kriegen sind! Dort wird Neuhof kein Rothschild werden.“
Inzwischen hat sich Adalbert entfernt, und der Gast nimmt das „Amtsblatt zur Prager Zeitung“ zur Hand, dieses zweisprachig gedruckte Blatt, in dem der Amtsschimmel alltäglich die hohe Schule reitet. Aber unser Freund interessiert sich weder für den Humor der Tatsache, daß der seit „hundertsechzig Jahren abgängige Mathias Struck“ aufgefordert wird, sich binnen sechs Wochen zu melden, widrigenfalls er todeserklärt wird, er interessiert sich nicht für den Aufruf an die Erben „des mit Hinterlassung eines Vermögens von 23⅓ Hellern ohne Hinterlassung einer letztwilligen Anordnung verstorbenen konzessionierten Drehorgelspielers Josef Horčička“, er beachtet auch die Rubriken „Erledigungen“, „Konkursausschreibungen“, „Kundmachungen“, „Proklamierung alter Satzposten“, „Anlegung neuer Grundbücher“, „Amortisationen“, „Kuratelsverhängungen“ und „Erkenntnisse“ nicht, sein Blick bleibt an der Rubrik „Feilbietungen“ haften, in der am Schluß nach den langatmigen Ankündigungen der freihändigen Verkäufe von Realitäten, Liegenschaften, Häusern, Mühlen und Fabriken, die Nachricht über „Feilbietungsedikte“ stehen. Die liest er eifrig und schreibt in sein Notizbuch mit den schwarzen Wichsleinwanddeckeln von Zeit zu Zeit etwas ein. Nicht alles. Die Feilbietungen, die in der öffentlichen Auktionshalle im Landesgericht abgehalten werden, braucht er nicht zu vermerken, dort ist er ohnedies an jedem Freitag. Ebenso weiß er genau, daß fast immer am Freitag nach dem Zehnten jedes Monates die Versteigerung der verfallenden Pfänder des staatlichen Leihhauses stattfindet. Was ihn aber interessiert, ist das Datum der Auktionen in den acht privaten Pfandleihanstalten und Datum, Hausnummer und Warengattung der Geschäfte und Wohnungen, in denen exekutive Feilbietungen vorgenommen werden.
Während in dem Notizbuche Ziffern und Adressen verzeichnet werden, kommt ein neuer Gast in das Café und setzt sich mit stummen Gruß zum ersten. Der Angekommene zieht einen Karton mit Goldinuhren aus der Tasche — Fabriksware, die wegen kleiner oder wegen großer Fehler nicht mit der Firmamarke versehen und nur an Ramscher abgegeben wird. Der neue Gast will die Uhren hier nicht verkaufen, er weist sie seinem Kollegen nur zur Begutachtung vor.
„Sechs Kronen per Stück,“ schätzt der.
„Fünf,“ lächelt der andere, zufrieden darüber, daß sein Branchegenosse die Uhren überschätzt hat, und ermutigt, zieht er nach und nach sein ganzes Warenlager hervor: Ein Paar Brillantohrgehänge aus der Westentasche, einen Similiring vom Finger, eine Damenuhr mit Rauten aus der Hosentasche.
Inzwischen ist es neun Uhr geworden. Die beiden brechen auf.
„Wohin gehst du?“, fragt der zuerst Angekommene den andern.
„Ich geh’ ins Geschäft. Und du?“
„Ich geh’ zum General.“
So trennen sie sich. Der eine also geht „ins Geschäft“, was aber durchaus nicht soviel bedeutet wie „ins Geschäftslokal“. Ein solches hat er nicht. Er geht nur zu seinen Kundschaften, zu Tandlern, Privatpersonen und Gästen der kleinen Kaffeehäuser, denen er seine Schmucksachen aufschwatzt.
Der andere geht „zum General“, d. h. in das Landesgerichtsgebäude an der Ecke des Obstmarktes und der Zeltnergasse, das so heißt, weil es früher das Generalkommando von Prag war und als solches traurige Berühmtheit erlangte, als am 12. Juni 1848 ein Schuß durch das Fenster die Gemahlin des Feldmarschalls Alfred Fürsten Windischgraetz, Fürstin Maria Eleonore Windischgraetz-Schwarzenberg (die Großmutter des jetzigen Herrenhauspräsidenten Fürsten Alfred Windischgraetz), tötete. In den ebenerdigen Räumen des alten Generalkommandogebäudes, die ehedem als Wachzimmer und Stallungen verwendet wurden, ist heute außer dem Depositenamt, seit dem Jahre 1900 auch die gerichtliche Auktionshalle untergebracht. Die ist das Ziel des Kaffeehausbesuchers, der „zum General“ geht.
Die Fachleute in Partiewaren und Gelegenheitskäufen behaupten, daß hier nichts besonderes zu holen sei. Sie begründen es mit der Tatsache, daß sich die in Geldnot befindlichen Leute absichtlich die für sie wertlosen oder unbrauchbaren Mobilien pfänden lassen, um sie in der Auktionshalle zu besseren Preisen loszuwerden. Wird bei der Lizitation nicht der Preis geboten, den der Eigentümer den gepfändeten Sachen beimißt, so hat er — vorausgesetzt, daß er pfiffig ist — noch immer Mittelchen genug, den Preis in die Höhe zu lizitieren oder die Sachen selbst zu erstehen.
Um dieser und anderer Mittelchen willen, und weil dort hie und da doch etwas Preiswertes zur Versteigerung gelangen könnte, sind doch zahlreiche Fachmänner da. Vor allem die Mitglieder des „Chabrus“. Diese Körperschaft wird man vergeblich in den Registern der Vereinspolizei suchen und auch im Staatswörterbuche findet man diesen Namen nicht. Das Wort „Chabrus“ ist eine Verstümmelung des hebräischen Ausdruckes „Chawroßo“, d. i. Freundschaft. Und ursprünglich ist auch der „Chabrus“ eine geheime jüdische Einkaufsgenossenschaft und gleichzeitig eine Art Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit gewesen, dem die Althändler und Trödler des Ghettos angehörten. Als sich aber die Tore des Ghettos öffneten, da wurde die Idee des Chabrus eine interkonfessionelle, und mit der politischen Geschichte dieses Landes ist der Chabrus verknüpft, den — — die ältesten Adelsgeschlechter Böhmens im Jahre 1872 gegründet hatten. Das war nach dem Sturze des Ministeriums Hohenwart. Der Landtag war aufgelöst worden, und zwischen den beiden Gruppen des Großgrundbesitzes, die damals noch kein Wahlkompromiß hatten, entspann sich ein heftiger Wahlkampf, der zugleich ein Kampf um die Majorität im Landtag war. Da wurden denn Banken gegründet, um zur Wahl berechtigende landtäfliche Güter zu kaufen, da traten die Besitzer zweier oder mehr solcher Güter eines an dritte Personen ab, da gab es Güterkäufe und Güterteilungen in Masse, beide Gruppen überboten einander, bis schließlich die Verfassungstreuen den Sieg über die Konservativen davontrugen. Aber manche Gesetzesbestimmung über die Wahlen in den österreichischen Landtag wurde nach den Lehren geändert, die man aus dem „Chabrus“ der Ära Auersperg gezogen hatte.
So nobel ist der Chabrus der Prager Kleinhändler freilich nicht. Er war wohl ursprünglich eine Schutzorganisation für die eigenen Mitglieder, die falliert hatten und deren Lager versteigert wurde. Ein anderer der Genossenschaft erstand einfach die lizitierten Waren zum Mindestanbot, der etwa nur ein Drittel des Schätzungswertes ausmachte, ohne daß er von den anderen gesteigert worden wäre. Kam aber ein Unbeteiligter zur Lizitation und beteiligte sich an dieser, so wurde er so in die Höhe lizitiert, daß er entweder einen ganz famosen Preis für die Waren des falliten Chabrus-Bruders zahlen mußte, oder die Lust an weiterer Beteiligung verlor. Außerdem erschienen die Chabruser oft in so großen Massen in den kleinen Geschäftslokalen, in denen die Lizitationen stattfanden, daß ein „Unberufener“ gar nicht hinein konnte — ein Manöver, das durch Errichtung der gerichtlichen Auktionshalle eine wesentliche Einschränkung erfahren hat.
Im Laufe der Jahre erstreckte der Chabrus sein Tätigkeitsgebiet auch auf Auktionen von Lagern, die nicht seinen Mitgliedern gehörten. Die Waren wurden von der Kassa gekauft und dann im Kreise der Mitgliedschaft weiter versteigert. Nutzen und Schaden trug die gemeinsame Kassa. Der Chabrus verlor seine feste Struktur, er teilte sich nach den Branchen in verschiedene Teile und büßte schließlich ganz den Charakter einer einheitlichen Organisation ein. Heutzutage wird gewöhnlich nur ad hoc im Lizitationslokale ein Chabrus gegründet und nur bei den Pretiosenversteigerungen im k. k. Leihamte sind die beiden Konkurrenz-Chabruse des Herrn Franz und des Herrn Široky der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht.
In der gerichtlichen Feilbietungshalle sind auch die räumlichen Verhältnisse schlecht. Der Lizitationsleiter steht nicht in der Mitte der Längsseite, sondern der Breitseite des Saales. Also können sich nur wenig Leute herandrängen, und die Mehrzahl sieht von der lizitierten Ware nichts, trotzdem der Saal leicht ansteigend gebaut ist. Nur durch das Gäßchen, das von Barrieren eingesäumt wird, und deren Eingang ein Wachmann streng bewacht, kann man hie und da einen Blick nach den Schätzen auf dem Auktionstische werfen.
Die Halle ist niedrig und der Geruch von Karbol und anderen Substanzen, mit denen die gepfändeten Gegenstände desinfiziert worden sind, erfüllt die Luft.
Da ist die Auktionshalle im staatlichen Versatzamte in der Leihamtsgasse viel moderner und eleganter. Ein glasgedeckter Lichthof von kolossaler Breite. Also kann sich alles in die Nähe des Lizitationsleiters drängen, alles kann die zu versteigernden Sachen aus nächster Nähe betrachten, alles kann sich mit absichtlich gewählten oder zufälligen Nachbarn über die Umwertung aller Werte, die hier feilgeboten werden, unterhalten, alles kann mitsteigern, mitstreiten, mitschreien ...
Der Schätzer wirft ein Paket auf den Tisch und der Ausrufer schreit tschechisch in den Saal:
„Ein Havelock, vier Messer und eine Decke: 13 Kronen.“
„Zehn,“ ruft jemand aus dem Publikum.
„13 Kronen 10 Heller,“ registriert der Ausrufer, aber die Rufe „zehn“, „zehn“ überhasten einander, so daß er den Stand der Anbote nicht laut konstatieren kann. Und trotzdem die affischierte Lizitationsordnung vorschreibt, daß er jedes Anbot in beiden Landessprachen wiederholen soll, hat ihn wohl noch nie jemand ein deutsches Wort sprechen gehört.
„Zehn, zehn,“ tönt es von rechts nach links.
„Ich nehme ...“ ruft ein hier Einheimischer dazwischen. Die Worte „ich nehme“ sind ein von der Lizitationsleitung anerkanntes Synonym für das Wörtchen „zehn“.
Eine Frau hat es besonders auf dieses Paket abgesehen. Mit rasant wachsender Schnelligkeit kreischt sie die Rufe „deset“, „deset“ (zehn) dem Lizitationsleiter zu, niemand lizitiert mehr mit, und sie steigert sich fortwährend selbst. Nur die Endsilbe „..set“ ist hörbar.
„Wieviel set (Hunderte) wollen Sie denn bezahlen?“ ruft ein Witzbold dazwischen. Lachen. Da hält die Frau inne. Sie erwacht aus ihrem Paroxysmus und merkt, daß sie zu teuer gekauft hat oder wenigstens mehr bezahlen muß, als sie anfangs wollte. Bei ähnlichen Gefühlen ertappt man sich vielleicht im Kasino von Monte Carlo.
Der Ausrufer erklärt: „Achtzehn Kronen und zwanzig Heller zum ersten, zum zweiten und dritten Male“. Der Lizitationsleiter drückt auf die Glocke. Der Diener legt das Paket mit Havelock, Messern und Decke auf den Pult, vor die Frau, die es gekauft. Der Kassier füllt einen Zettel mit dem erzielten Betrag und das Pare des Lizitationsprotokolls aus. Der Schätzer reicht ihn der Frau. Diese bezahlt das Geld. Dann keift sie:
„Wo ist die Ware?“
„Hier liegt sie doch!“ antwortet der Schätzer. „Nehmen Sie Ihren Zwicker ab, dann werden Sie sehen.“
Die Frau hat natürlich keinen Zwicker, und die Leute lachen. Stimmung: Lustig. Sie flaut nicht einmal dann ab, als ein brauner Flanellstoff zur Versteigerung ausgerufen wird, der von schäbiger Farbe ist:
„Den trägt man in Pankratz,“ lacht einer vom Auditorium, „nicht wahr, Karl?“
Karl bleibt die Antwort nicht schuldig: „Ganz richtig. Du kannst ihn ruhig kaufen.“
Das nächste Stück, das der Ausrufer in die Höhe hebt, erweckt scheues, ehrfurchtsvolles Murmeln. Ein Beamtenmantel ist es, mit bordeauxroten Passepoils. Selbst der Schätzer muß Hochachtung vor diesem Sinnbild der Staatsgewalt empfunden haben, als es versetzt wurde. Er hat nicht weniger als achtundzwanzig Kronen darauf geliehen, denn 28 K 40 h (geliehenes Kapital + Interessen + Lizitationskosten) sind heute der Ausrufspreis.
„Das ist ein Mantel von der Polizei,“ flüstert jemand einem andern zu.
Aber der andere weiß es besser, denn er steht sozusagen bei sich selbst als agent provocateur in Diensten. Bei den Bummelkrawallen hat er Polizisten gegen Exzedenten und Exzedenten gegen Deutsche gehetzt, und stand einmal als Angeklagter, einmal als Kläger vor der Barre des Strafgerichtes. Er ist Nationalsozialist und Sozialdemokrat, Stammgast der Meetings und im Schwurgerichtssaal und niemals fehlt er bei Auktionen. Er schreit mit, wenn sich zwei Personen darüber streiten, wer von ihnen das Meistangebot getan hat, wem von ihnen das abschließende Glockenzeichen galt. Er schreit empört, wenn sich jemand in das Gäßchen stellt, das den Zugang zum Auktionsleiter bildet und freizubleiben hat. Er schreit und hetzt — aber sonst beteiligt er sich an den Geschäften nicht. Er braucht nur den Nervenkitzel. Doch kehren wir zu dem Gespräch zurück:
„Der Mantel muß nicht von der Polizei sein,“ sagt der Amateur-Lockspitzel, „der kann auch einem Statthaltereibeamten gehören.“
Der andere, ein kleiner tschechischer Trödler aus der Fabriksvorstadt will das nicht glauben. „Alle Polizeibeamte haben doch solche dunkelrote Aufschläge! Und zwei Behörden können doch nicht gleiche Farben haben. Und es ist ein sehr feiner Mantel, der ist sicher von der Polizei!“
„Sie, Gescheiter!“, lacht der Fachmann. „Die Statthalterei ist doch mehr wie die Polizei, das ist doch die höhere Instanz.“
Aber der kleine Trödler murrt nur ungläubig und unwillig: „Jo, jo, sagen sie vielleicht auch noch, daß die Verzehrungssteuer mehr ist als die Polizei!“ Dann dreht er sich um. Für ihn ist eben die Polizei das höchste auf Erden. Nichts kann diesen frommen Glauben erschüttern, nicht die Erklärung des Fachmannes, und nicht einmal die Tatsache, daß der Mantel eines Polizeibeamten in der Leihanstalt versetzt wurde und verfiel.
Rings um die Lizitationskommission führt ein langes Pult, an dem die Kauflustigsten stehen. Sie sind entweder schon so früh gekommen, daß sie einen Platz an der Brüstung erhaschten, oder haben sie sich durch Energie und Beharrlichkeit vorgedrängt. Auf diesen Pult breitet der Schätzer die Schätze. Fachmännisch wird alles untersucht und gegen das Licht gehalten, damit man das Vorhandensein von Motten konstatieren könne. Links vor der Quality street, die zum Auktionsleiter führt und die ein Polizist bewacht, stehen zwei Chabrusgruppen. Jedes Pfandobjekt, das ihnen vorgelegt wird, wird durchberaten, und die beiden Chabrusmacher (an dem hinters Ohr gesteckten Bleistift und dem aufgeschlagenen Notizbuche sind sie kenntlich) vermerken zunächst in ihrer Gruppe die Kauflustigen und erkunden, bis zu welchem Betrage Kauflust vorherrschen würde. Dann unterhandeln die beiden feindlichen Chabrusgenerale, und erzielen nach langem Feilschen die Vereinbarung, daß bei diesem Pfandobjekt nur die eine Chabrusgruppe, bei dem nächsten nur die andere mitlizitieren wird. Wenn das Objekt erstanden ist, dann wird — mitten im Saal — innerhalb der Chabrusgruppe leise weiterlizitiert. Bei dieser Privatversteigerung sind bloß 5 Heller das geringste Mehranbot. Von dem Betrag, um der bei dieser leisen Auktion mehr erzielt wird, als bei der offiziellen, fallen zehn Prozent der Kassa zu, und der ganze Nutzen bleibt innerhalb des Kreises.
Auch rückwärts im Saal gibt es verzeichnenswerte Gruppen. Ein armseliger Kleiderhändler in Břewnow hat eben einen Riesenballen aus dem Kommissionsraum geholt und breitet dessen Inhalt neugierig, ja fieberhaft gespannt, auf einen Sessel. Zahlreiche Gaffer begutachten gleichfalls die farblosen, formlosen Damenkostüme, die der biedere Břewnower in zitternder Erregung einzeln aus dem Ballen nimmt und auf die Sessellehne legt. Ein feister Konfektionär — Pelzkragen und Goldzwicker zeichnen ihn aus — lächelt ironisch über den Schund. Dann tritt er auf den Besitzer zu:
„Wieviel haben Sie dafür gegeben?“
„41 Kronen 10,“ sagt der andere kleinlaut und forscht ängstlich in dem Gesichte des Fragestellers nach dessen Ansicht. „Es war ein Dutzend.“
„Für ein Dutzend? Das ist wirklich sehr billig, halb umsonst.“ Der mit dem Pelzkragen sagt das ganz ernst. Aber als sich der Břewnower Spekulant erleichtert nach den anderen Stücken des Ballens bückt, um die weiteren Schönheiten des eben erstandenen Lagers auszubreiten, zuckt über das Gesicht des behäbigen Fachmannes ein Lachen zu den Zuschauern hinüber. Die nehmen es verständnisvoll, mit Kichern auf. Der dicke Herr befühlt die Ware:
„Höchst moderne Fasson. Sehr feiner Stoff,“ frozzelt er im Tone höchster Anerkennung, und das Publikum lacht. Lacht immer stärker.
Links vom Eingang, dicht am Ofen steht eine Arbeitersfrau mit einem Säugling am Arm. Sie will in dem Lärm ihr Kind einwiegen. Zuhause kann es vor Frost nicht schlafen. Das Leihamt, das die ganze Habe der Frau verschlungen, muß ihr jetzt ein bißchen Wärme geben.
Man schreibt mir, ich möge wieder eine journalistische Erinnerung zum besten geben. Also gut.
Die Geschichte, die davon handelt, wie es einst vier Polizisten gelang, mich durch ihr strategisches Talent zu verhaften, habe ich bislang aus zwei Gründen nicht erzählt:
1. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, daß der Journalist nichts von den Geheimnissen seiner Technik ausplaudern soll. So soll, zum Exempel, kein Leser davon erfahren, daß die Nachrichten über Todesfälle besonderer Männer von der Zeitung meist mit großen Schwierigkeiten rechtzeitig in Erfahrung gebracht werden. Die meisten Portiers der Prager Palais, der Ämter und öffentlichen Institute sind von den Redaktionen nachdrücklich verständigt, eventuelle Todesfälle unverzüglich zu deren Kenntnis zu bringen, und wenn irgend eine besondere Persönlichkeit schwer krank ist, dann wird das Haus noch überdies bewacht, damit der Leser schon am nächsten Morgen die traurige Neuheit erfahre.
2. Es wäre taktlos gewesen, einen Vorfall, der sich an eine solche Überwachung knüpft, zu berichten, so lange der damals Überwachte noch am Leben war.
Aber jetzt kann ich die Geschichte erzählen. An ungeschriebene Gesetze halte ich mich ebensowenig, wie an geschriebene, und verrate daher ganz offen das Geheimnis des Todesnachrichten-Dienstes; und auf die Gefahr hin, daß manchen angesehenen Leser ein Gruseln überfällt, verrate ich hiemit, daß schon mancher Mann derart überwacht wurde, der glücklicherweise noch heute frisch und gesund in sein Amt spaziert.
Es ist schon etwelche Jahre her. Ich war erst vor kurzem zur Zeitung gekommen und zu meinen wichtigsten Obliegenheiten gehörte es, mich im Sicherheitsdepartement der Polizeidirektion danach zu erkundigen, ob nicht irgendwer irgendwo wegen irgendeiner ungesetzlichen Tat in Haft genommen worden sei. Da erfuhr ich denn von Bierröhrendiebstählen, Heiratsschwindeleien und Betrugsaffären und wenn jemand jemanden ermordet hatte, dann war’s ein schönes Leben, denn da hatte ich viel zu schreiben. So ging ich zweimal täglich in das Sicherheitsbureau, vor dem immer ein Polizist Wache steht. Die Wachleute kannten mich daher und viele wußten auch bald, aus welchen Gründen ich die gefürchteten Räume der Kriminalpolizei betrete. Aber die Polizisten, welche schon nach kurzer Zeit von der Altstädter Wachstube auf andere Kommissariate versetzt wurden, wußten das nicht.
Um jene Zeit war Direktor Angelo Neumann, kurz nach seiner Operation bei Prof. Israel in Berlin, in Prag schwer erkrankt. Der damalige Theatersekretär, der vor einigen Jahren in Wien verstorbene Karl Rosenheim, hatte meinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem gleichfalls seither dahingeschiedenen Redakteur Hermann Katz mitgeteilt, daß es schlecht um Angelo Neumann stehe. So erhielt ich denn den Auftrag noch in der Nacht, unmittelbar vor Redaktionsschluß nach Angelo Neumanns Wohnhaus zu sehen.
Um vier Uhr nachts ging ich hin. Innerhalb der Parterrefenster im Eckhause der Bredauergasse und des Stadtparkes, wo Angelo Neumann seine Wohnung innehatte, war es dunkel — es war also nichts Absonderliches geschehen. Ich wandte mich, den Weg zurückzukehren, den ich gekommen war. Da hörte ich hinter mir schwere, eilende Schritte. Ich schaute mich um: Es waren zwei Polizisten, denen der nächtliche Passant, der in der menschenleeren Gegend unmittelbar vor ihnen umgekehrt war, sehr verdächtig schien. Anfangs machten sie Miene, mir nachzueilen, aber sie erkannten bald, daß ich ihnen leicht entwischen könnte und änderten daher ihre Taktik. Der eine Polizist begab sich auf das linke, der andere auf das rechte Trottoir und nun nahmen sie, auf gleicher Höhe eilend, die Verfolgung auf. Ich beschleunigte meinen Gang, da ich kalkulierte: Wenn ich verhaftet werde, so kann ich morgen auf Grund des Polizeirapportes wunderbar nachweisen, daß ich wirklich um vier Uhr nachts meinen Auftrag vollführt habe. So eilte das nächtliche Dreieck vorwärts: Ich in der Mitte der Fahrbahn voran, rechts hinter mir ein uniformierter Verfolger, links von mir ein zweiter.
Die Distanz verringerte sich nicht. Die Wachleute strengten sich nicht mehr an als ich und riefen mir kein Halt zu. Sie schienen einen Plan zu haben. Nur dort, wo von der Bredauergasse die Olivagasse abzweigt, vergrößerte der rechte Mann seine Eile, damit ich ihm nicht durch die Seitengasse entwische. Aber ich ging den geraden Weg. Und bald verstand ich den Plan: Knapp vor der Einmündung in die Heinrichsgasse ließen meine Verfolger ihre Polizeipfeife ertönen. Und aus dem Dunkel der Nacht tauchte jetzt auch vor mir ein Doppelposten auf. (Es war jener Posten, der bei Nacht vor dem Hauptpostgebäude zu stehen hat und bloß einmal nicht dort stand: Als Wasinski an dieser Stelle seinen Mord verübte.) Ich war umzingelt und konnte nicht mehr entwischen. Wie triumphierend ertönte hinter mir der tschechische Ruf: „Halt“.
Ich blieb stehen und die Polizisten näherten sich mir. „Was haben Sie hier gemacht?“ fragte der eine.
„Ich bin spazieren gegangen,“ versetzte ich so kleinlaut, als ich konnte. Die Wahrheit war ja Redaktionsgeheimnis und kümmerte die Wachleute nichts.
„Schau, schau! Spazieren sind Sie gegangen,“ wunderte sich einer der Polizisten. „Um vier Uhr nachts geht man spazieren?“
„Ja, ich komme aus der Arbeit und da bin ich noch etwas frische Luft schöpfen gegangen,“ entschuldigte ich mich weitschweifig.
„Was sind Sie denn?“ fragte man mich weiter.
„Ich bin bei der Firma Haase angestellt,“ antwortete ich wahrheitsgemäß, wenn auch nicht prägnant.
Der Fragesteller lachte siegreich auf: „Wie können Sie also jetzt aus der Arbeit kommen! Bei Haase wird doch nachts nicht gearbeitet!“
Schon wollte ich etwas entgegnen, als zwei Augen des Gesetzes, die mich bisher scharf angesehen hatten, noch näher an mich heranrückten. „Sie,“ so begann ihr Inhaber, „Sie, mir scheint, wir kennen einander schon.“ Und ohne meine Antwort, daß ich nicht die Ehre habe, abzuwarten, fuhr er fort: „Waren Sie noch nie im Sicherheitsdepartement?“
„O ja,“ sagte ich, „ich war schon oft im Vierer.“
Das Wort „Vierer“ hatte eine tiefe Wirkung, denn nur den Eingeweihten, hauptsächlich den Polizisten und den Verbrechern ist dieser Ausdruck für das Sicherheitsbureau (das vierte Departement der Polizei) geläufig. Der eine Polizist steckte eine Miene des Jubels auf, der zweite nickte langsam mit dem Kopfe und der dritte verlieh geistesgegenwärtig der allgemeinen Verblüffung beredten Ausdruck. Er führte aus:
„Ei, ei.“
Der vierte aber, der Besitzer jenes Augenpaares, das mich erkannt und entlarvt hatte, wollte nunmehr auch beweisen, daß meine Agnoszierung keine zufällige und seine Personalkenntnis des Sicherheitsbureaus wirklich eine tiefgründige sei:
„Da kennen Sie wohl den Herrn Olič?“
„Freilich kenne ich den Herrn Regierungsrat,“ war meine Antwort. (Olič, der vor drei Jahren als Hofrat in Pension ging, war damals Departementschef.) Das Frage- und Antwortspiel ging weiter:
„Und Herrn Protiwenski?“
„Ja, den Herrn Oberkommissär kenne ich auch. Und den Herrn Oberkommissär Lichtenstern und die Herren Kommissäre Knotek, Drašner, Vanásek und Kubiček kenne ich ebenfalls.“
Ich glaubte mit dieser summarischen Aufzählung aller damaligen Sicherheitsbeamten weiteren Fragen meines Peinigers die Spitze abgebrochen zu haben, aber dieser war gründlicher als ich glaubte. Er setzte das Verhör fort:
„Kennen Sie vielleicht den Herrn Wejřik?“
„Jawohl, auch den Herrn Arresthausverwalter kenne ich. Sehr gut sogar.“
„Das glaub’ ich,“ erscholl es jetzt — mein Schicksal schien besiegelt. „Kommen Sie,“ sagte der eine Polizist zu mir und wandte sich nach der Richtung, in der das Kommissariat Heuwagsplatz liegt.
Aber um unsere Gruppe hatte sich, trotz der späten Nachtstunde, eine ganz beträchtliche Menschenansammlung gebildet. Es waren größtenteils die Stammgäste des alten Einkehrhauses „u Rajtknechtu“, das an der Stelle des heutigen Palace-Hotels stand. Die allnächtliche Blütezeit dieses Gasthauses begann erst um zwei Uhr nachts, wenn die Setzer der nahen Zeitungsunternehmungen mit ihrer Arbeit zu Ende waren und das offizielle Eingangstor der Schenke gesperrt werden mußte. Diese Stammgäste hatten nun davon gehört, daß draußen vier Polizisten mit der Festnahme eines Verbrechers beschäftigt seien, waren hinausgeeilt und hatten mit wachsendem Staunen meiner Einvernahme gelauscht. Als ich aber abgeführt werden sollte, traten zwei Setzer, die mich kannten, den Polizisten in den Weg:
„Herr Redakteur, sollen wir Sie vielleicht legitimieren?“
Aber das war nicht mehr nötig. Die Anrede machte die Polizisten stutzig und langsam dämmerte ihnen der Zusammenhang zwischen den Begriffen Nachtarbeit, Haase und Polizeikenntnis auf. Und gleichzeitig fiel ihnen ein, daß ich sie als Bekannter der ihnen vorgesetzten Polizeibeamten vor diesen schön blamieren könnte, wenn ich die Geschichte erzählte. Einer der Wachleute starrte mich wütend an, kehrte mir dann verächtlich den Rücken und ging von dannen. Ein zweiter aber verduftete blick- und wortlos. Der dritte salutierte mit kleinlautender, entschuldigender Miene. Der vierte aber brummte im schönsten Prager Deutsch:
„Da haben wir uns gegeben.“
Für jene Leser, welche den Titel dieses Feuilletons nicht verstehen sollten, sei gleich vorweg bemerkt, daß „Drehorgel“ auf Pragerisch „Flaschinett“ heißt. Für jene Leser aber, die deshalb die Frage stellen würden, warum ich also nicht den allgemein verständlichen Ausdruck als Titel gewählt habe, sei gleich vorweg bemerkt, daß sich Fremdwörter immer sehr vornehm ausnehmen. Außerdem würde man eine Beschreibung des in Rede stehenden Instruments im Lexikonbande 6 („Erdeessen bis Franzèn“) weder unter dem Schlagworte „Flaschinett“ noch unter „Folterwerkzeuge“ vorfinden. Man muß vielmehr den Band 5 („Differenzgeschäfte bis Erde“) hernehmen und in diesem nicht die Rubriken „Duldsamkeit“ oder „Darlehenschwindel“ nachschlagen, sondern das Kennwort „Drehorgel“ suchen. Gleich nach „Drehkrankheit“ kommt es.
Das Wort „Flaschinett“ findet sich aber auch unter Chiffre „Drehorgel“ weder im Brockhaus noch im Meyer. Diesen Ausdruck muß man wieder im Bande 6 sub „Flageolett“ nachsuchen, wo mitgeteilt wird, daß das Flageolett oder Flaschenett — man beachte die falsche Orthographie der Herren Brockhaus und Meyer — ein kleines Blasinstrument, der letzte Sprosse der Familie der Schnabelflöten ist, und nur in Frankreich und Belgien noch in Gebrauch steht. Nun wird mich jener am Anfang dieses Feuilletons hinreichend charakterisierte Leser wieder mit der Frage belästigen, wo da die Logik sei, wenn man in Prag ein Musikwerk mit dem Namen einer im Aussterben begriffenen Seitenlinie der Schnabelflöten bezeichnet. Kruzeihimmelfix, wozu braucht man denn bei einem Flaschinett eine Logik! Dem Fragesteller aber wünsche ich, daß ihm während seines heutigen Nachmittagsschläfchens ein Drehorgelspieler solange ein Ständchen bringt, bis beide Plagegeister auf alle weiteren Chikanen Verzicht leisten.
In Prag ist die Ansicht verbreitet, daß es ungefähr zwei- bis dreitausend Drehorgelspieler gebe. Dem ist aber nicht so. Erwähnter Irrtum dürfte darauf zurückzuführen sein, daß gewöhnlich zwei Drehorgelspieler gleichzeitig in derselben Gasse konzertieren, was eine Art zweihändigen Vierhändigspielens darstellt und die harmonischen Wirkungen dieses Instrumentes erheblich erhöht. Besonders prächtig sind diese musikalischen Effekte, wenn aus einem Leierkasten die Töne des „Donna è mobile“ entquellen, während aus dem anderen beharrlich das klassische Lied „O Emane“ — Heimatkunst! — hervorgekurbelt wird. Dieses multiplizierte Auftreten von Drehorgelspielern in derselben Gasse ist aber kein Beweis von deren großer Zahl, sondern es ist nur ein ehrendes Dokument für das Vertrauen, das die Hofmusiker in die Freigebigkeit der Bewohner dieser Gasse setzen.
Im Bureau III. a. der Prager Polizeidirektion, dem Departement für öffentliche Belustigungen, welches ein sehr richtiger Wortwitz als „Departement für öffentliche Belästigungen“ bezeichnet, erfährt man zum atemlosen Staunen, daß es in Prag nur zweiundzwanzig Drehorgelspieler gibt. Wenn man naiv ist, gibt man sich mit dieser Erklärung zufrieden, und geht nach Hause, in der Meinung eine zufriedenstellende Auskunft erhalten zu haben, da ja diesem Departement für öffentliche Belustigungen natürlich auch die Konzessionserteilung und die Handhabung der Vorschriften für Drehorgelspieler untersteht. Wenn man aber nicht naiv ist, so begibt man sich in ein Departement, das mit der Konzessionserteilung an Leierkastenmänner nichts zu tun hat, das Departement, dem die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und daher auch das Drehorgelspielen untersteht. Allerdings nur insoweit, als es unbefugt ausgeübt wird. Da erfährt man ganz andere Ziffern: Die Zahl der nichtkonzessionierten Werkelmänner ist etwa dreimal so groß, wie die behördlich autorisierten.
Und was für Exemplare sind darunter. Da sind zum Beispiel zwei Brüder, welche ich hier Chwatal nennen will. Ihre Aktenfaszikel sind so groß, daß zwei Zivilwachleute ausgesandt werden müssen, um sie aus der Registratur zu holen. Der eine der Brüder hat allein vierhundertdreißig Akten. Aus denen kann man die ganze Biographie Wenzel Chwatals herauslesen. Als Kind hatte er einen sehr ernsten Beruf. Er sang an jedem sechsten Jännertage, mit einer papiernen Goldkrone angetan, vor den Wohnungstüren das Lied von den heiligen drei Königen. Den Rest des Jahres scheint er sich über die Freigebigkeit der Wohnungsinhaber orientiert zu haben, um sich dann als König nicht ein Refus zu holen. Bei diesen Orientierungsgängen ist er, wie Wenzel Chwatals Akten künden, wiederholt verhaftet worden und residierte dann für kurze Zeit im Polizeiarrest. Als unser Wenzel herangewachsen war, entsagte er seinem königlichen Berufe, aber der Musik blieb er treu. Er gründete mit einem gleichgesinnten Manne, dem das Schicksal keine Füße beschert hatte, ein Kompaniegeschäft. Sie liehen sich einen Leierkasten aus, den Chwatal auf seinem rüstigen Leibe trug und dem er durch liebevolles Drehen der Kurbel die herrlichsten Weisen entlockte, die im Busen eines Flaschinetts schlummern. Der fußlose Kompagnon ging einsammeln. Später verdroß es den unternehmungslustigen Chwatal, das sauer verdiente Spielhonorar zu teilen, er engagierte ein billiges Bürschchen und besorgte das Inkasso selbst. Das Geschäft florierte, und Wenzel Chwatal, dessen einziger Schmuck bislang eine sorgsam gepflegte Stirnlocke gewesen war, konnte sich eine Samtjacke kaufen. So, jetzt war er ein Künstler. Aber die Wachleute haben eben kein Verständnis für wahre Kunst. Die Banausen schreckten selbst vor der schönen Samtjacke nicht zurück und fragten, durch die magischen Klänge herangelockt, den Spieler, ob er eine Konzession habe. Das war eine herzlich alberne Frage, denn die Bewilligung zum Spielen wird nur alten, vollkommen erwerbsunfähigen Leuten erteilt. Und Chwatal war doch ein fescher Kerl, nicht? So verneinte er des Wachmanns Frage, und folgte diesem zur Polizei. Dort wurde nach seiner Einlieferung eine „Anhaltungs- und Verhaftungsanzeige“ ausgefüllt, die fast jedesmal gleiche Worte trägt: „Wenzel Chwatal, geboren in Prag am 7. November 1872, wurde wegen unbefugten Drehorgelspielens angehalten und dem Polizeikommissariate eingeliefert. — Corpus delicti: Eine Drehorgel. — Eigene Effekten: Lederner Schutzriemen, Leibriemen, Spiegel, Kamm, Anhängetasche, drei Zigaretten und 64 Heller Bargeld.“ Dann wurde Chwatal abgestraft und diese Strafe auf einem zweiten Akt, dem sogenannten „Strafregisterblatt“ gebucht, auf den stereotyp geschrieben wurde: „Wenzel Chwatal wird der Übertretung des Erlasses der k. k. Statthalterei für das Königreich Böhmen vom 21. Juni 1889 schuldig erkannt und wird nach der kaiserlichen Verordnung vom 20. April 1854, Z. 96 RGBl., zu einer Haft von 24 Stunden verurteilt. Gegen diese Erkenntnis kann bei der Statthalterei oder der k. k. Polizeidirektion binnen drei Tagen Berufung eingelegt werden.“ Aber dem Wenzel Chwatal fällt es gar nicht ein, Berufung einzulegen. Auch das breite Rubrum, in welchem für „die Rechtfertigung oder das Geständnis der Beschuldigten“ weitester Platz gelassen wird, füllt Chwatal nur lakonisch aus: „Doznávám“ — „Ich bekenne mich schuldig.“ Auch Sokrates verschmähte die Verteidigung.
So steht es in den meisten Akten, und nur wenige lauten anders. So z. B. die Beschwerde eines konzessionierten Harmonikaspielers, der sich durch Chwatals Konkurrenz geschädigt fühlte. In dieser Beschwerde wird ausgeführt, daß Chwatal bettle, aber gleichzeitig vier Liebschaften unterhalte und allen vier Damen Wohnung, Kleidung und Nahrung bezahle. Ob diese Erfordernisse für Chwatals Harem besonders große sind, steht nicht in der Beschwerde des empörten Harmonikaspielers, und es ist anzunehmen, daß der schöne Chwatal seine vier Verhältnisse eher unter Einnahmen als unter Ausgaben buchen könnte. Wie dem auch sei: Chwatal ist ein Lebemann. Das geht auch aus einer anderen Anzeige hervor: Eine Frau — um den Ruf der Dame zu schonen, sei sie hier mit dem Decknamen „Veronika Potvora“ bezeichnet — macht der Polizei davon Mitteilung, daß Wenzel Chwatal ihre Tochter Philomena Potvora entführt habe. Dieser Familienzwist scheint bald beigelegt worden zu sein, denn acht Tage später meldet eine Note des Kommissariates Prag-Josefstadt, daß der Drehorgelspieler und Vagant Wenzel Chwatal mit seiner Geliebten Philomene Potvora aus seiner bisherigen Wohnung ausgezogen und zu Frau Veronika Potvora, der Mutter seiner Geliebten, übersiedelt sei. Andere Akten berichten davon, daß Chwatal sich seiner Verhaftung widersetzt, bei seiner Arretierung gelacht habe. Und unter jedem Akte steht immer: „Doznávám — Ich gestehe.“ So übte er weiter sein Handwerk aus und da man ihm den Leierkasten nicht pfänden kann, weil dieser nicht sein Eigentum ist, so wird man wohl noch viele Scherereien mit ihm haben. Chwatal steht ja im schönsten Mannesalter. Einmal hat er um die Konzession zum Drehen der Leierkastenkurbel angesucht, aber er bekam sie nicht. „Mir ist es Wurscht,“ meinte er überlegen.
Die Konzessionen für das Drehorgelspiel sind schwer zu erlangen. Früher bekamen ausgediente, im Kriege blessierte Soldaten außer der Kriegsmedaille auch die Bewilligung, Werkelmänner zu werden. Aber seit dem letzten Kriege, den Österreich geführt hat, sind schon Jahrzehnte verstrichen und die alten Invaliden aus Kriegsläuften sind meist längst begraben. Ein wahres Glück, daß vor zwei Jahren die drohende Kriegsgefahr glücklich abgewendet worden ist. Die schrecklichste Folge des Krieges wäre wohl gewesen, daß neue Werkelmänner dekretiert worden wären!
Die Blütezeit des Leierkastenspieles in Prag ist vorbei. Früher hat es in Prag noch Savoyardenknaben gegeben, welche mit ihren Miniatur-Drehorgeln, ihrer verschnürten Tracht und ihren gebräunten Gesichtern Aufsehen und Mitleid wachriefen. Früher durften die Werkelmänner ihr Instrument in der Mitte der Straße aufstellen, heute sind nur die Höfe der Häuser ihr Rayon und in den neuen Häusern gibt es gar keine Höfe. Früher durften die Drehorgelspieler von früh bis abend werkeln und kamen oft in die Geschäfte betteln, bevor diese noch einen Kreuzer verdient hatten; heute dürfen sie an Wochentagen nur von zwölf Uhr mittags an, an Sonntagen bloß von vier Uhr nachmittags an bis zum Einbruch der Dämmerung spielen. Immerhin scheint das Werkeln noch ein lukratives Geschäft zu sein, wie voriges Jahr die Geschichte des Raubmordes an dem Drehorgelspieler Janeček gelehrt hat, und wie die zahllosen Gesuche um Konzessionsbewilligung beweisen, die im Departement des Oberpolizeirates Peschka einlaufen. Ja, es kommen sogar Gesuche von begüterten Gemeinden, man möge diesem oder jenem ihrer Ortsarmen die Bewilligung zum Leierkastenspiel — in Prag gewähren.
Aber die Statthalterei hat nun verboten, daß für Prag neue Konzessionen ausgestellt werden und auch die Bewilligungen für die zum Polizeirayon gehörenden Vorstädte werden jetzt nur in den seltensten Fällen erteilt. Und mögen es die Dienstmädchen, welche ihren letzten Kreuzer in den Hof hinunterwerfen, um das Lied von der „Unglückseligen Armut“ da capo zu hören, und mögen es die Vorstadtkinder, welche so gerne zu den verstümmelten Klängen des Walzers aus der „Lustigen Witwe“ umherhopsen, noch so bitter empfinden — die Drehorgel ist auf den Aussterbeetat gesetzt. Das Flaschinett wird verschwinden wie jenes Blasinstrument, dessen Namen es entlehnt hatte, es wird verschwinden, so wie es gelebt: Sang- und klanglos.
Dorthin, in die Teile Prags, die sich südlich von der Krankenhausgasse und der Katharinagasse bis gegen Slup und Nusle hinunterziehen, kommen die Prager selten. Es ist eine Stadt der Kranken, die sich hier breitet. Die Institute der medizinischen Fakultät, Kranken- und Irrenhäuser halten mit ihren Gärten den ganzen Komplex besetzt. Nur dort, wo die Weinberggasse in die Apollinargasse mündet, scheint die Stadt der Kranken aufzuhören, scheint ein Dorf zu beginnen. Ein freier Platz, der nicht gepflastert ist, und auf dem große Kastanienbäume wachsen. In den Ecken des Platzes wuchert üppiges Gras. Ein steinerner Heiliger, der heilige Adalbert, blickt vom Piedestal seiner Säule friedlich auf die Kinder hinab, die zu seinen Füßen mit Kugeln spielen. Da kommt eine Schar von Mädchen, Hand in Hand, ohne Hut, mit weißen Schürzen des Weges. Wer nicht weiß, daß es Wärterinnen sind, müßte glauben, sorglose Dorfmädchen vor sich zu haben. Alte Männer sitzen vor den Häusern und schmauchen behaglich ihre Pfeife. Und die Häuser sind einstöckig.
Das letzte Häuschen, das von der Adalbertssäule sichtbar ist, das Häuschen, das an das Dorfkirchlein grenzt, ist das Dorfwirtshaus, wie man aus der roten Aufschrift erkennt. Eigentlich sieht diese Hütte selbst für ein Dorfeinkehrhaus zu schäbig, zu verwahrlost aus. Aber was kann man auch für Ansprüche an das Gasthaus eines so gottverlassenen Dörfchens stellen?
Mit der Illusion, in einem Dorf zu sein, ist es freilich aus, wenn man sich in den Wirtsgarten setzt, hart an die niedrige Grenzmauer, und in das Tal schaut, das sich unten in weitem Boden streckt. Nichts weniger als ein ländliches Idyll. Dort oben starren hinter den Pankratzer Feldern die trotzigen Mauern der Strafanstalt herüber, halbrechts recken sich zu den Felsenhöhen des Wyschehrad die riesigen Festungswälle mit den Kasematten hinauf, die Ferdinand von Saars schönster Novelle Schauplatz sind. Oben auf der Höhe des Wyschehrad die Basilika mit dem Kirchhof, auf dem die Tschechen alle die begraben, die sie für groß halten. Unten im Sluper Tal die großen Institute der Fakultäten, dann zwei Hotels, dann Zinskasernen, auf deren Hinterfronten mit riesigen Lettern Firmenreklamen stehen. Überall rauchen Fabriksschlote. Und um das Idyll vollends vergessen zu machen, wird der Blick durch ein markerschütterndes Geschrei in den angrenzenden Garten gelenkt, wo Wärterinnen eine Irre in eine Zwangsjacke zu pressen versuchen ...
Es ist die Kehrseite Prags, die man hier vom Gasthausgarten sieht. Das Wirtshaus, das diesen Ausblick gewährt, heißt die „Gifthütte“. Wohl nicht deshalb, weil es das andere Prag zeigt. Auch wegen des Bieres führt es wohl seinen Namen nicht. Denn die Bezeichnung stammt schon von altersher und das Bier wurde hier durchaus nicht in Dosen vertilgt, wie sie bei Giftgenuß in Anwendung zu kommen pflegen. Vielleicht hieß es so, weil hier besonders die Mediziner verkehrten, die mit Giften hantierten. Ich weiß es nicht und auch die Chronik der Stadt Prag vermag über die Herkunft dieses Namens keinen Aufschluß zu geben. Die Chronik der Stadt Prag weiß über das Haus Numero Conscriptionis 446—II. überhaupt nichts zu sagen, obwohl es doch im Wechsel der Zeiten so Sonderbares erlebt und so mannigfache Gäste beherbergt hat, wie kaum ein zweites.
In vergilbten Auflagen des Lahrer Kommersbuches findet sich auch ein Prager Studentenlied. Ein Doctor medicinae Keim hat es an einem Maiabend des Jahres 1853, also zu einer Zeit ersonnen, da Deutschlands Musensöhne zu Hunderten nach Prag zogen, wo auf der medizinischen Fakultät zum ersten Male die Kunst gelehrt wurde, die Lungenentzündung ohne Aderlaß zu behandeln. Die in diesem Liede ausgesprochene Sehnsucht
hat noch in späteren Studentengenerationen wiedergeklungen und allabendlich „eiligten“ sie den steilen Windberg hinauf, um hier beim „Jodoform-Kränzchen“ nicht zu fehlen,
„Wo zum Tanz die hezká holka
Nach dem Klang der munter’n Polka
Den Primär am Bändchen führt.“
Das mit dem „Primär“ stimmte. Fast alle Primärärzte der Irrenanstalt und die Assistenten der Kliniken tanzten hier unbekümmert um ihre ärztliche Würde bis längst die Sonne das Nusler Tal vergoldete. Und wenn ein Patient oder eine Patientin in einem der nahen medizinischen Institute der ärztlichen Hilfe dringend bedurfte, dann war sie rasch zur Hand. Brauchte man ja nur hinunter zum Gifthüttenball zu schicken. Von den Tänzern der Jodoformkränzchen sind heute viele Hofräte, zwei sogar wirken als Geheime Medizinalräte an Deutschlands hohen Schulen.
Was den Ausdruck „hezká holka“ anbelangt, so ist er im allgemeinen als dichterischer Euphemismus aufzufassen. Die Damen rekrutierten sich aus drei Gesellschaftsschichten: I. Den dienstfreien Wärterinnen der medizinischen Institute; II. den Dienstmädchen der in den Instituten wohnenden Professoren der philosophischen und der medizinischen Fakultät und III. den Hörerinnen der Hebammenkurse, die alle vier Monate abwechselnd in deutscher und tschechischer Sprache im nahen Gebärhause abgehalten wurden. Die Ballgespräche waren medizinischen Geistes voll. Die Wärterinnen berichteten ihren Vorgesetzten und Tänzern über irgendein interessantes Symptom im Krankheitsverlauf eines Patienten der Klinik, und den Professorenköchinnen flüsterte manchmal in vorgerückter Stunde ein Tänzer die verschämte Bitte ins Ohr: „Fräulein, kochen Sie morgen dem Professor ein feines Essen. Ich mache nachmittags Examen.“
Eine Spezialität der Jodoform-Kränzchen war die sechste Tour der Quadrille. Sie zog sich bis tief in den Garten hinaus ...
Der Gründlichkeit halber sei auch erwähnt, daß außer den drei erwähnten Damengattungen auch einmal eine vierte am Gifthüttenball vertreten war. Das war so: Einige übermütige Mediziner hatten einem eben nach Prag gekommenen Ordinarius erzählt, daß sich allabendlich ein großer Teil der Medizinerschaft in einem nahen „Gifthütte“ benamsten Gasthause zum Tanze versammle. Es sei zwar eine ganz ungezwungene Gesellschaft, aber wenn der Herr Professor mit seinen Töchtern den Studenten die Ehre erweisen wolle ... Der Herr Professor erwies den Studenten wirklich die Ehre und kam am Abend mit seinen beiden Töchtern hin. Sprachlos blieb er in der Tür stehen. So ungezwungen hatte er sich die Sache doch nicht gedacht: die Herren in Hemdärmeln, die Damen in Schürzen und das Lokal, das einer Verbrecherkneipe viel ähnlicher sah als einem Ballsaal! Aber als die Herren Mediziner auf die beiden Professorentöchterlein zutraten und höflich um ein Tänzchen baten, machten sie und der Herr Papa gute Miene zum bösen Spiel und tanzten. Als später einmal eine der beiden Professorentöchter als Professorsgattin nach Prag kam, hat sie ihr Balldebüt in der „Gifthütte“ zum Besten gegeben und hinzugefügt, daß sie sich seither bei keinem Ball so gut unterhalten habe, wie damals bei diesem seltsamen „Medizinerkränzchen“. Wo sie doch die sechste Quadrilletour gar nicht getanzt hatte!
Nicht so günstig wie das Professorentöchterlein hat über die Jodoform-Kränzchen der 70er Jahre der damalige Pfarrer von Sankt-Apollinar — diese Kirche ist nur durch die Kegelbahn vom „Gifthütten“-Garten getrennt — gedacht. Der Pfarrer richtete an den Regierungsrat Professor Weber von Ebenhof, den Bruder des damaligen Statthalters, eine Zuschrift, die eine Philippika gegen die Bälle war und in der Professor von Weber ersucht wurde, er möge den Hebammen den Ballbesuch verbieten. Aber Regierungsrat Weber, der selbst in der „Gifthütte“ im Hörerkreis seinen täglichen Frühschoppen trank, legte den Ballbericht ad acta und erließ keinen Boykottbefehl.
Die alten Mediziner wissen allerhand solcher Scherze zu erzählen. Von der Krönung der Gifthütten-Könige, von den Plakaten, die der König affichieren ließ, von Wurstfesten und von Kegelabenden, von medizinischen Dauersitzungen, die so lange währten, bis Frau Schuh nichts mehr ankreiden wollte und von dem Beduinenknaben, den der berühmte Afrikaforscher Dr. Glaser seinem in der „Gifthütte“ wohnenden Bruder zur Pflege übergeben hatte und der bald der Liebling der Apollinargasse war. Sie wissen auch davon zu erzählen, daß in der „Gifthütte“ in der Zeit, da die Universität noch ungeteilt war, tschechische Studenten mit deutschen Burschenschaftern und Corpsiers manches feuchte Quodlibet gelöffelt haben. Aber dann begann sich das Gift nationalen Hasses in die „Gifthütte“ zu verpflanzen, die deutschen Mediziner blieben aus und die tschechischen, die sich nun untereinander streiten mußten, bald auch. Dem Medizinerbeisel fehlten die Mediziner und bloß das Beisel war geblieben. Der Wirt veranstaltete Schrammelkonzerte, aber die lockten keine Katze in das Haus. Wiederholt kam das Gasthaus unter den Hammer und wechselte seinen Besitzer. Heute tanzen am Abend keine Professorentöchter mehr hier, sondern bloß die Dämchen, die auf der nahen Walstatt den schweren Nachtkampf ums Dasein führen müssen. In den neuen Kommersbüchern steht das Prager Lied nicht mehr. Die letzten deutschen Stammgäste scheinen die „schweren Jungens“ aus Berlin gewesen zu sein, die von hier aus den Plan zur Befreiung ihres in der Irrenanstalt befindlichen Komplizen ausführen wollten und in der „Gifthütte“ festgenommen wurden.
Der Prozeß hätte nicht kommen sollen. Zwar hat uns die moralische Verurteilung Karl Mays heute nicht mehr so arg getroffen, da wir ja jetzt seine Werke nicht mehr so heißhungrig verschlingen, aber unser Bedauern ist ein reflexives: Wir malen uns aus, wie uns zur Zeit, da wir noch in der Sekunda saßen, die Enthüllungen des Prozesses aus allen Himmeln gerissen hätten. Wie wären wir entsetzt gewesen, wenn wir damals aus den Gerichtssaalberichten ersehen hätten, daß er „Emmeh“ schnöde verlassen habe, „Emmeh“, sein geliebtes Weib, dem er in den Wigwams der Apachen und in den Zelten der Hammadil-Beduinen treu gewesen war und von dessen Güte und Schönheit er den Mormonen und Mohammedanern mit imponierender Liebe erzählte. Wie wären wir mißtrauisch geworden, wenn wir erfahren hätten, daß der gute Idealist „Carpio“, mit dem sich unser Lieblingsautor in den Wäldern des Erzgebirges harmlos und dichtend herumgetrieben haben wollte, niemand anderer war, als ein fahnenflüchtiger Soldat und Einbrecher, mit dem zusammen Karl May räuberische Überfälle auf Marktweiber unternommen hatte.
Nein, nein, der Prozeß hätte nicht kommen sollen. Aber besser ist es, daß er jetzt kam, als wenn er damals stattgefunden hätte. Nicht etwa deshalb, weil er uns eine Illusion, eine Leidenschaft unserer Jugendzeit geraubt hätte. Das hätten zehn solcher Gerichtsverhandlungen nicht vermocht. Niemals hätten wir ihn preisgegeben. Im Gegenteil! Im Bannkreis unserer Gymnasiasten-Romantik hätten wir es noch überwältigender gefunden, wenn der Autor der Abenteuer wirklich ein Abenteurer gewesen wäre. Wir hätten wahrscheinlich seine damaligen Kämpfe gegen Gesetz und Recht als vielversprechenden Beginn zur Karriere des Westmannes angesehen. Und wer weiß, ob nicht ein moralisch schwacher Phantast unter uns hingegangen wäre und ein gleiches getan hätte.
Und was hätte es für Kämpfe mit unseren Eltern gekostet, wenn die aus den Zeitungen erfahren hätten, daß unser Autor ein Dieb, ein korrupter Mensch sei! Hatten sie ihn doch ohnedies mit scheelen Blicken angesehen und uns seine Werke weggesperrt, wenn aus der Lehrerkonferenz ein Tadelzettel unfrankiert nach Hause gesandt worden war. Sie hatten gar wohl gewußt, daß unser mangelnder Fortschritt in der Schule vor allem dem Umstande zuzuschreiben sei, daß wir Tag und Nacht mit unserem ganzen Sinnen und Trachten den Spuren Old Shatterhands folgten, daß wir in sehnenden Gedanken mit ihm vom wilden Westen Nordamerikas in den wilden Osten Südeuropas reisten. Auf der Strecke von Bagdad nach Stambul waren wir besser zu Hause, als in den Gebirgsketten der Alpen, deren Kenntnis der Geographieprofessor von uns verlangte. In den Cordilleren, in Ägypten, am Rio de la Plata, im Lande des Mahdi, im wilden Kurdistan, im Reiche des silbernen Löwen kannten wir uns unvergleichlich vortrefflicher aus, als in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern. Die Biographien Sam Hawkens, Old Wabbles, Old Deaths, Old Surehands, Old Firehands, des „blau-roten Methusalem“, Hadschi Halef Omars Ben Hadschi Abbas Ibn, des „roten Gentleman“ Winnetou, Ikwehtsi’pas, des Utah-Häuptlings Tusahga-Saritsch kannten wir viel detaillierter, als jene Schillers, Grillparzers, Lenaus. Mit der Naturgeschichte der Prairie und der Sahara waren wir vertrauter, als mit jener Pokornys, und die nur für den echten Araber aussprechbare und deshalb als nationales Erkennungszeichen angewandte „Sure des Todes“ konnten wir fließender auswendig hersagen, als die „im Kanon der für den Lehrplan der II. Mittelschulklasse vorgeschriebenen Gedichte“.
Das war fürwahr kein Wunder. Denn während der Unterrichtsstunden hatten wir einen der Fehsenfeldschen May-Bände unter der Bank aufgeschlagen, die Zehn Uhr-Pause opferten wir der Fortsetzung der Lektüre und der Weg von der Schule nach Hause wurde im Schnellschritt zurückgelegt, weil man daheim in dem Buche weiterlesen konnte. Allerdings mußte man dieses mit den Deckeln des Putzkerschen Historischen Schulatlas maskieren, um bei den Eltern den beruhigenden Glauben zu erwecken, daß man über ein Lehrbuch gebeugt sei.
Praktisch wurde natürlich Karl May noch gründlicher geübt. Das Belvedere-Plateau war damals noch nicht planiert und zur Seite der Straße war ein etwa 4 Meter tiefer, breiter Straßengraben, dessen Hänge von ausladenden Büschen bewachsen waren. So waren wir nach unten vor den Blicken der Spaziergänger geschützt und konnten ungestört unseren Kriegsrat abhalten, wobei wir aus irgend einer alten Tabakspfeife, die wir mit Gras stopften, das Calumet rauchten — die Friedenspfeife. Wir hatten jeder unseren Prärienamen, nur „Old Shatterhand“ durfte keiner heißen: Das wäre Profanation, zu viel Ehre für den einen gewesen. Die Namen der übrigen „Scouts“ waren aber durchwegs vertreten, auch waren wir in Apachen und Commanchen eingeteilt. Da gab es heftige Kämpfe. Manchmal siegten auch die Commanchen. Das war eigentlich nicht ganz im Geiste unseres Autors, denn bei dem mußten immer seine Feinde unterliegen. Er war ja — so beschrieb er sich selbst — unbesiegbar, er allein hatte tausendmal Hunderte von Feinden im Schach gehalten. Daß er doch nicht auch mit seinem Prozeßgegner fertig zu werden vermochte!
Im Oktober des Jahres 1898 war Karl May in Prag. Er führte gegen einen tschechischen Verleger einen Stritt, weil ihm das angebotene Zeilenhonorar für die tschechische Übersetzung seiner Bücher zu gering war. Schließlich kam ein Vergleich zustande. Wir verschlangen alles, was wir hierüber in der „Bohemia“ finden konnten, mit wahrem Heißhunger. Denn, wenn es auch mit der kritiklosen Bewunderung längst vorbei war — das Interesse für den Autor unserer Jugend war noch nicht erstorben. Wir wollten diesen einmal von Angesicht zu Angesicht sehen. Wir ließen im Hotel de Saxe, in dem er logierte, nachfragen, ob wir mit ihm sprechen dürften. Er ließ uns vor und machte geheimnisvolle Andeutungen über ein entsetzliches Ende, das Hadschi Halef genommen hatte, über eine Goldgrube, die er im Llano Estacado entdeckt habe, aber deren Ausbeutung sehr gefahrdrohend sei. Und dergleichen. Mir als dem Sprecher der Schüler, hat er zum Andenken den dritten Band „Old Shurehands“ geschenkt, in dem sich sein Bild mit der Silberbüchse, dem Trapperhut, den Ledermokasins und Henrys Revolver vorfindet. Auf die erste Seite schrieb er einen Spruch und setzte seinen Namen darunter. Der Spruch ist wirklich überaus schön. Er stammt von — Goethe.
Verwittert, zerfallen, von Balken gestützt, hat bis zum Vorjahr der Turm im Hofe des Polizeigebäudes auf die Gestalten herabgeschaut, die — ihm ähnlich — auf ihren Krücken allmittäglich aus dem Arresthause in den städtischen Schubwagen humpelten. Trotz der Stützbalken schien es, daß der greise Turm jeden Augenblick zusammenstürzen könne. Man wollte ihn daher demolieren, aber Rücksichten auf die Erhaltung dieses Denkmals historischer Zeiten, in denen noch ein Wall die innere Stadt umgab, haben die Ausführung dieser Absicht verwehrt. So mußte man den Turm renovieren und heute steht der alte Bau freundlich und wohnlich da.
Hierher ist jetzt das von Oberkommissär Protivenski aus dem Nichts geschaffene Polizeimuseum übersiedelt. „Polizei-Museum.“ Das klingt wie ein Oxymoron. Die Musen, die neun Beschützerinnen der schönen Künste, haben doch mit dem Handwerkszeug der Verbrechergilde nicht das Geringste zu schaffen! Wohl. Aber die Tätigkeit, die im Dienste der Kultur und Wissenschaft erfolgreich die Spuren der Verbrecher zu ermitteln strebt, ist eine Kunst wie bald keine zweite. Das kann man nirgends so gut erfahren, wie hier im Polizeimuseum, wo man atemlos darüber staunt, mit welch genialem Raffinement, mit welchem Aufgebot von manueller und geistiger Geschicklichkeit die Welt der Verbrecher jede neue Errungenschaft menschlichen Schaffens ihren eigenen Zwecken dienstbar macht.
Vor dem Eingang merkt man noch nichts davon, welche Instrumente der Verbrecherwelt das Polizeimuseum birgt, denn über der Tür zum ersten Museumsraum sind Studentensäbel und Korbschläger in so dekorativer Weise angeordnet, daß man vermeinen würde, in eine Studentenbude zu treten, wenn man nicht wüßte, daß es sich um polizeilich konfiszierte Waffen handle. Immerhin eine freundliche Einführung für einen Raum, der vorwiegend der Tätigkeit der Einbrecher gewidmet ist.
Hier ist Papacostas Handwerkzeug untergebracht — der langjährige Clou des Prager Polizeimuseums. Denn Papacosta und seine Komplizen Afendakis, Maceo Stein und Perikles Slalio waren die ersten internationalen Einbrecher, die mit „allem Komfort der Neuzeit ausgestattet“ Geldschränke knackten und nur in Prag wurde man ihres ganzen Instrumentariums habhaft. Allerdings durch den Racheakt eines benachteiligten Mitgliedes der Bande. Vom 6. April 1894 an, an welchem Tage sie sich durch einen Einbruch in das an das Polizeikommissariat Heuwagsplatz angrenzende Etablissement Franz Valenta ihre elektrischen Bedarfsartikel verschafften, hatten sie ein halbes Jahr lang in kurzen Intervallen große Einbruchdiebstähle in Prag unternommen, ohne daß man eine Spur der Täter entdeckt hätte. Am 17. Dezember 1894 fand die Inhaberin des Bankgeschäftes Ig. S. Weiner, als sie am Morgen in das Geschäft kam, nicht nur zu ihrem Entsetzen Ladentüre und Kassen fast ganz aufgesprengt vor, sondern es waren auch unzählige Einbruchsgeräte auf dem Ladenpulte ausgebreitet: Die seither berühmte „Papacostasche Maulstange“, der große Zentralbohrer, die sinnreiche Blendlaterne, ein Ölfläschchen und etwa 40 Sperhaken — heute durchwegs Ausstellungsobjekte des Museums. Die Einbrecher hatten damals fluchtartig das Geschäft und auch am selben Tag Prag verlassen. Wie man einige Monate später vor Gericht erfuhr, hatte Stalio, der den Aufpasser vor der Ladentüre gemacht hatte, das Warnungssignal gegeben. Aus Rache, weil er sich bei der Verteilung der Beute übervorteilt glaubte.
Heute sind die damals angestaunten Utensilien der Papacosta-Bande nicht mehr die Glanzstücke des Polizeimuseums. Diese bilden nunmehr die Instrumente einer anderen auswärtigen Verbrecherorganisation, die in Prag ein blutiges Andenken hinterlassen hat, nämlich der Bande Wasinskis. Mit Staunen sieht man z. B. die vier Meter lange Maulstange. Man hat sie bei dem pockennarbigen Riesen Adamski gefunden, der in der Weihnachtsnacht unmittelbar nach dem Morde festgenommen worden war. Wie Adamski das vier Meter lange Instrument bei sich verbergen konnte? Nun, der lange Hebel der aus Birmingham-Stahl gefertigten Stange ist zusammenlegbar und so fest ineinanderfügbar, daß drei Männer mit aller Gewalt sich dagegen zu stemmen vermögen, wenn die Eisenplatte der „einbruchssicheren“ Kassen entzweigeschnitten werden soll. Natürlich kann die Riesenschere erst dann eingesetzt werden, wenn die elektrische Handbohrmaschine „Progreß“, deren Spannung 35 Volt beträgt, ihre Wirkung getan hat.
In allen Ehren kann neben den Internationalen aus Griechenland und Galizien auch ein heimischer Aussteller bestehen: Eduard Linhart, der an einem Wintersonntag des Jahres 1908 den Kellerplafond der Karolinentaler Vorschußkasse durchbrach und den Fußboden zerschnitt. Für diesen mißglückten Einbruchsversuch hat Linhart nicht weniger als 8 Jahre hinter den schwedischen Gardinen von Pankratz zuzubringen — eine harte Strafe, die wohl vor allem darauf zurückzuführen ist, daß die corpora delicti allzudeutlich von der Gefährlichkeit des Inkulpaten sprachen: Ein Zentralbohrer mit Schraube ohne Ende, mit Kraftübertragung durch Kurbeldrehung und einem Mundloch, den die „Goodel Pratt-Company“ hergestellt hat, eine feine „Fuchsschwanz“-Säge, ein Riesenhammer und allerhand ähnliches.
Durch elegante Form fällt das Reisenecessaire auf, in welchem die Kirchenräuber Kankovsky und Brünner ihre Einbruchswerkzeuge praktisch angeordnet hatten. Auch weniger bekannte Einbrecher haben dem Museum wertvolle Bereicherungen geliefert. Man sieht einen Gutaperchahandschuh, den ein Einbrecher angezogen hatte, um keine Fingerspuren zu hinterlassen und um an der elektrischen Leitung gefahrlos hantieren zu können. Man sieht Schlüssel mit auswechselbarem Bart, bei denen sogar jeder Bart auf zwei verschiedene Arten — normal und verkehrt — eingesteckt werden kann. Man sieht Schlüssel, deren Stiel aus lauter Schlüsselbärten besteht. Man sieht Hohlschlüssel für Patentschlösser. Man sieht abgesägte amerikanische Vorhängschlösser, sieht, wie Stecher-Schlösser einfach aus der Kassa herausgenommen werden, sieht Brustgriffe für Bohrinstrumente, sieht Pechpflaster mit den Resten der eingedrückten Fensterscheibe, an die sie angedrückt wurden, sieht Nagelstöcke zum Aufkratzen des Fensterkittes, sieht Strickleitern und stangenförmige hölzerne Kellerleitern mit Querleisten. Man sieht „Krähenaugen“, die Frucht von Paris quadrifolia, welche die Einbrecher den Wächterhunden vorwerfen, um diese zu vergiften. Auch eine photographische Darstellung des Einbruches, den die Kirchenräuber Wainar und Anton im Jahre 1904 in die Kapelle in Scharka unternahmen, ist hier ausgestellt, um zu zeigen, wie man damals mit Hilfe der Daktyloskopie bloß nach dem am Tatorte aufgefundenen Abdruck eines Handballens der Täter habhaft wurde.
Die Requisiten, welche bei Diebstählen in Anwendung kommen, sind gleichfalls in diesem Raum vorhanden. Sehr elegant ist ein Spazierstock, dem man es gar nicht ansieht, daß er zu einer Länge von drei Meter auseinandergezogen werden kann. Ein praktisches Mittel zum Stehlen von Gegenständen, die noch so weit vom offenen Fenster entfernt liegen mögen. Diese Stöcke heißen im Rotwelsch „Disputierer“, weil in den Gefängnissen die Häftlinge auf Latten, die sie irgendwo im Hofe gestohlen haben, einander die „Kassiber“, die Verständigungsbriefe zustecken, also mittels eines ähnlichen Instrumentes „disputieren“.
Das System, auf dem die Erfindung der „Betthaken“ beruht, ist ein analoges. Das sind winzige Angelhaken, deren drei scharfe Zacken ankerförmig angeordnet sind. Diese Haken werden an einer langen Schnur befestigt, deren Ende der Dieb in der Hand behält. An dem Haken wird ein Bleistück befestigt und nun das Instrument durch ein offenes Fenster in einen Stall oder in eine Wohnung geschleudert. Die Zacken bohren sich fest in eine Pferdedecke, ein Federbett, ein Kleidungsstück oder einen Sack ein und dieses Objekt wird nun mit Hilfe der Schnur aus dem Fenster auf die Straße gezogen. Fast bei jedem Zigeuner, der von der Gendarmerie oder der Polizei festgenommen wird, findet man dieses Diebswerkzeug.
Auf Schiffsverladeplätzen, in den Güterwaggons und in Magazinen wird der „Kaffeeläufer“ häufig verwendet: Ein einfaches Eisenrohr, das gut zugespitzt ist. Der Dieb stößt es scharf in einen mit Ware gefüllten Sack und der Reis, die Kaffeebohnen, das Mehl fließen aus diesem durch das Rohr in den Schnappsack des Diebes, ohne daß die Plombe des bestohlenen Sackes beschädigt würde.
Zu unauffälligem Fortschaffen der Diebsbeute ist der breite Schmugglergürtel sehr zu empfehlen, in dessen Taschen die Beute gleichmäßig verteilt werden kann, und an dessen Haken kompaktere Gegenstände befestigt werden können. Natürlich arbeiten auch diese Diebe, so wie ihre Kollegen vom Einbruchsfach, mit Glacéhandschuhen, die zur Vermeidung von Fingerspuren dienen, mit Strickleitern u. dgl.
Bomben und andere Explosivkörper mannigfaltiger Art füllen in diesem Museumsraum zwei ganze Vitrinen. Ein respektables Exemplar ist die Bombe, die in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Flur der ehemaligen St. Wenzelsvorschußkasse in der Karlsgasse gefunden wurde und die damals fast so viel Aufsehen erregte, wie ein Jahrzehnt später die Enthüllungen über die Geschäftsgebarung in diesem Hause. Die Bombe bestand aus einer mit Pulver gefüllten Kugelflasche, die mit einem Gipsmantel umkleidet war. In dieser Gipshülle waren Eisennägel als Sprengstoffe eingeschmolzen, die ganze Bombe war mit Eisendraht und Fetzen umspannt.
Ferner befindet sich hier eine Höllenmaschine mit einem Wecker. Die Höllenmaschine war mit Pulver und Halbblei gefüllt. Von furchtbarer Wirkung wäre im Falle der Explosion ein oben und unten verkeiltes Gasrohr gewesen, das mit Pulver gefüllt war, und oben ein Zündloch und die Zündpfanne trug.
Eine Reminiszenz aus Prager Demonstrationstagen bildet der sogenannte „Kanonenschuß“, ein Ledersäckchen, das mit Pulver gefüllt und mit geleimtem Spagat zusammengebunden ist. Diese Apparate pflegen mit einem geradezu ungeheuren Krach zu explodieren, ohne aber besonders gefährlich zu sein. Zur Belehrung der Sicherheitswache sind hier Dynamitpatronen und Dynamitballen in Originalpackung ausgestellt. Auch gestohlene Militärsprengstoffe, Bomben in Tafelform, und „Frösche“, wie man sie in Prager bewegten Tagen den Pferden der berittenen Wachmannschaft unter die Füße zu werfen pflegt, fehlen in der Sammlung nicht.
Das Turmgemach im zweiten Stockwerke strotzt von Waffen. Am unauffälligsten nehmen sich unter diesen wohl die Schießwaffen aus, die zum Wilddiebstahl gedient haben. Wirklich kann mit diesen Gewehren jeder Wilderer ruhig das forschende Auge des Hegers passieren. Da ist z. B. ein Spazierstock einfachster Form, dem man gar nicht ansieht, daß er sich flugs in ein Zündnadelgewehr verwandeln läßt, dem nicht einmal der Kolben fehlt. Leimruten, Schlageisen für Rehe, Drahtschlingen für Rotwild, Strickschlingen für Hasen, Leimruten für Singvögel, Fangnetze für Rebhühner, die man teils in Jagdrevieren abgenommen, teils bei Wilddieben vorgefunden hat, befinden sich gleichfalls im Polizeimuseum.
Verbotene Waffen, wie Dolche, Stilets und Stockdegen füllen eine große Vitrine. Die übrigen Waffen, die hier zu sehen sind, stammen teils von Selbstmorden her, teils sind sie Reminiszenzen aus den Mordaffären der letzten Jahre. Von dem simpelsten Mordinstrument bis zum modernsten fehlt keines. Hier ist der große Pflasterstein, mit dem am Josefitage des Jahres 1896 Pravda und Outrata die Juwelierin Gollerstepper in deren Laden in der Husgasse ermordet haben. Hier ist das Beil, mit welchem 1895 der Schuster Franz Červenka seiner Frau die Schädeldecke zertrümmert hat. Große Blutflecken auf drei Steinen stammen aus der Nacht des 2. April 1902, in welcher die Trainsoldaten Čučko, Octovsky und Velek auf dem Belvedere den Franzensbader Hotelier Wolf getötet haben, eine plastische Karte veranschaulicht den Tatort. Ein Tuch war das Mordinstrument, mit dem der Musikant Ježek und sein Freund Merta in Točna den Prager Werkelmann Janeček erwürgten. Eine ganze Vitrine weist die Instrumente auf, mit denen das würdige Ehepaar Valeš zu Krtsch das Liebespaar Takasz-Hanzely im Schlafe umgebracht habe: Ein Jagdgewehr, ein Strick, ein Revolver, ein Beil. Ein Revolver, der an der Wand hängt, war das Mordinstrument des wahnsinnigen Stadtbediensteten Wurm, der an dem Stadtrat Parůžek furchtbare Rache für seine Entlassung nahm. Auch der Browning, die modernste der Schießwaffen, mußte in zwei Exemplaren Aufnahme im Prager Polizeimuseum finden: Mit einem Browning hat Wasinski den Gefängniswärter Kaucky am Weihnachtsabend 1907 erschossen, mit einem Browning tötete Boček am Karsamstag 1908 den Detektiv Pětiletý und verletzte die Detektivs Lukeš, Binder und Hladík.
An Bočeks Bluttat erinnert überdies die Totenmaske seines Opfers, eine andere ist von dem im Nusler Tal von unbekannten Einbrechern erschossenen Polizisten Bartoš abgenommen worden. Eine dritte Totenmaske ist die eines Anarchisten, der in Prag wegen Mordes justifiziert worden ist; in dem Gips ist die tiefe Strangulierungsfurche erkennbar. Die älteste Mord-Reminiszenz, die sich im Polizeimuseum befindet, ist ein vergilbter Steckbrief der Prager Stadthauptmannschaft vom 1. Mai 1828. Er ist gegen zwei Fuhrleute aus der Umgebung Prags gerichtet gewesen, die im Vogtlande die Familie eines Landmannes töteten und beraubten. Der älteste Band des „Polizeianzeigers“ — die amtliche Wochenschrift des Prager Sicherheitsdepartements — weist gleichfalls schon vergilbte Blätter auf; die Leute, deren Steckbriefe in diesem Buche gedruckt sind, haben wohl schon längst ihre Strafen gebüßt. „Königl. Preußische Polizeidirekzion in Prag.“ Diese seltsame Inschrift trägt eine Stampiglie, die aus der Prager Preußenzeit des Jahres 1866 stammt.
Verschiedenartig sind die Hilfsmittel der Betrüger. Wohl der genialste Schwindel, dessen Schauplatz Prag war, ist die lukrative Gründung des geheimen Telegraphenamtes durch Plocek und dessen Personal gewesen. Von Ploceks Hand stammen raffinierte Postanweisungsfälschungen. Nicht minder geschickt nachgeahmt sind Diplome, Totalisateur-Tickets und Dokumente, Stampiglien und Marken, Orden und Medaillen. Die ganze Einrichtung einer Münzfälscherwerkstätte und falsches Geld aller Sorten liegt zur Schau. An der Wand hängt ein Phantasiesäbel — der „amerikanische Oberstabsarzt Morocz“ hat ihn 1899 in Prag getragen, bevor er verhaftet, als der langgesuchte Heiratsschwindler Theophil Lawczinski erkannt und an die Schweiz zur Bestrafung ausgeliefert wurde. Plombierte und verschlossene Pakete „russischen Tees“, die Sägespähne enthalten, magnetische Ringe, elektrische Stühle und anderes aus dem Warenlager großindustrieller Quacksalber, die präparierten „Glücks“-Spiele der Bauernfänger, die Schmucksachen der Ringwerfer, die vor zwei Jahren in Prag reißend abgesetzten Kassetten der „Elektrischen Amalisations-Werke in Berlin SW“, welche einen Apparat zur Ersparung elektrischer Kraft enthalten sollten, aber in Wirklichkeit leer waren, und vielerlei ähnliches sieht man.
Das sind die Dinge, die der Museumsturm der Polizeidirektion einschließt. Aus seinen spitzen Fenstern kann man in das anthropometrische Kabinett im Hauptgebäude hinübersehen. Dort liegt man der Tätigkeit ob, die zur Ausmittlung der Verbrecher und zur Verhütung des Verbrechens dient, dort daktyloskopiert man und signalisiert man, dort werden die portraits parlé und die Photographien des Verbrecheralbums eingeordnet. Dort rüstet man, von dort aus kämpft man gegen den Feind, der das Eigentum, die Ordnung und das Leben der Menschen bedroht. Manches, was hier geleistet wird, entbehrt nicht des verblüffenden Erfolges. Aber gegenüber steht hoch, trotzig und fest der Turm, der Rüstzeug und Waffen des Feindes birgt.
Meine Tätigkeit als Statist wird von der Kritik in der hartnäckigsten Weise ignoriert. Da ich aber nicht Willens bin, mir gefallen zu lassen, daß meine Zugehörigkeit zur dramatischen Kunst in Böhmen und meine Teilnahme an ihrem Aufschwunge von gehässigen Federn totgeschwiegen wird, so will ich sie selbst hier für die Ewigkeit verzeichnen. Der Beginn meiner Bühnenlaufbahn fällt in das vorige Jahrhundert. Wir gingen als Mittelschüler oft statieren. Erstens war es interessant, das Bühnentreiben aus nächster Nähe zu betrachten, zweitens war es ein einträgliches Vergnügen, da wir das Geld, das wir von den Eltern zum Theaterbesuch bekamen, für uns behalten konnten und drittens gab es immer ein großes Gaudium. Bei der Aufführung der Oper „Die Rosenthalerin“ hatten wir balgende Buben im Jahrmarktsgetümmel zu mimen und prügelten einander dabei in erfreulicher Weise, bis wir Beulen an den Köpfen und wunde Schienbeine hatten. In den „Hugenotten“, in denen wir als Priester und Ministranten auftraten, zogen wir im dritten Akt auf offener Bühne statt in die Kirche in das Wirtshaus.
Mit der Zeit wuchs unsere Bühnenroutine und unsere Courage zu verschiedenen Streichen. Einer von diesen hat der Schlußwirkung eines Theaterstückes starken Eintrag getan. Das war bei der Uraufführung des Gottschallschen Bibeldramas „Rahab“ im Landestheater. Die Regie hatte Gustav Burchard inne, der in irgend einem reichsdeutschen Dialekte die Statisten zu beschimpfen pflegte, weshalb diese stets dazu bereit waren, ihm irgend einen Tort anzutun. Als Darsteller der übrigen Rollen waren Marie Immisch, Mizzi Bardi, Auguste Urfus und Emma Metz und die Herren John, Moissi, Stiewe und Steil tätig. Wir Statisten — Söldner waren wir — hatten während des Stückes nichts zu tun: Nur am Schlusse sollten wir im blutigen Scheine der an allen Ecken angezündeten Stadt die Mauern Jerichos besteigen und, unsere Schwerter und Hellebarden schwingend, dartun, daß jede Gegenwehr der Bürgerschaft vergeblich sei. Natürlich benützten wir die lange Zeit, die uns bis zum Schlusse des Dramas blieb, dazu, um uns in der Handhabung der Hellebarden, Schwerter und Schilde zu üben, bis Regisseur Burchard unseren Tournieren ein jähes Ende bereitete. Schimpfend befahl er uns, alle Waffen hinter einer Kulisse auf einem Haufen niederzulegen. Wir folgten, aber brüteten Rache. Die gelang uns auch. Im letzten Akte machten sich zwei von uns auf, trugen unbemerkt alle Lanzen und Schwerter von dannen und versteckten sie zwischen zwei Kisten in der Nähe des Maschinenraumes. Knapp vor unserem Auftreten rief uns Burchard zusammen und prägte uns ein: Wenn sich der Feuerschein verbreitet habe, mögen wir unsere Waffen holen, sie mächtig aneinanderschlagen, auf den Leitern die „Mauern“ erklimmen und oben unsere Waffen drohend erheben. Als aber die Bärlappsamen entzündet worden waren und wir unsere Waffen holen wollten, fanden wir sie nicht. Burchard fluchte, schimpfte, drohte, schrie, aber das half ihm nichts. Wir mußten wie Diebe auf die Mauern kriechen und stellten uns oben ganz friedlich auf. Das war der Schlußeffekt des Dramas, und die Kritik war am nächsten Tage einmütig in ihrem Urteil: die Bürgerschaft Jerichos hätte sich gegen eine derart schäbige Einnahme ihrer Stadt erfolgreich wehren können.
In der vorigen Woche habe ich nach längerer Pause meine „statistische“ Tätigkeit wieder aufgenommen. Ich debütierte in „Wallensteins Tod“. Auch Kollege Devrient wirkte mit. Wir Statisten hatten Wallensteinsche Soldaten zu spielen. Herr Kristoff, als Garderobier daran kenntlich, daß er in seinen beiden Rockaufschlägen einige hundert Stecknadeln eingesteckt hatte, (Sigmund Lautenburg hat einmal einen Garderobier cäsarisch grollend mit den Worten entlassen: „Geben Sie Ihre Nadeln ab!“) kommandierte, als wir in den Garderobensaal gekommen waren:
„Hosen, Stiefel und Röcke ausziehen, Westen anbehalten.“
Wir bekamen rot-gelb-blau gestreifte Strümpfe, gelbe Schuhe, braunrote Pumphosen mit blauen Bändern am Knie, ein helles Wams, einen Brustlatz aus Blech, einen Ledergürtel mit herabhängenden Patronen, einen Degen und einen grauen Schlapphut. Während wir uns ankleideten, teilte der kleine Herr Rosenzweig, dessen Geschlecht schon seit einem halben Jahrhundert die Komparseriebeistellung für das deutsche Theater besorgt, das Spielhonorar aus: Vierzig Heller per Person. Er selbst bekommt sechzig Heller, die restlichen zwanzig sind sein Gewinn. Ein Statist, der sich neben mir ankleidete, sagte auf Pragerisch zu mir:
„Nicht wahr, das ist nicht dasselbe Stück, wo der Löwe den Wallenstein gespielt hat?“
Ich belehrte meinen Nachbar, indem ich ihm auseinandersetzte, daß „Herbstmanöver“ und „Wallensteins Tod“ Kriegsdramen verschiedenen Charakters seien, und daß der General Wallenstein nicht den gleichen Chargengrad wie der Kadettoffizierstellvertreter Wallerstein bekleide.
Ein anderer Statist zog, bevor er sich auskleidete, einen Gummiknüttel und einen Revolver aus der Tasche und legte die Waffen neben sich auf die Bank.
„Wozu tragen Sie die Waffen mit sich?“, fragte ihn ein anderer.
„Die brauche ich zu meinem Beruf,“ sagt der Befragte.
„Was sind Sie denn?“
„Ich bin Detektiv der Polizeidirektion,“ wirft der Mann so gleichmütig hin, als ob er wirklich das wäre, als was er sich ausgibt. Der Garderobeinspektor des Theaters, Herr Fitzek, wendet sich interessiert an den „Detektiv“ mit der Frage, ob es nicht einen Detektiv Fitzek in Prag gebe. Der angebliche Polizeiagent verneint die Frage. Er habe keinen Kollegen dieses Namens. Herr Fitzek erzählt daraufhin, sein Vater habe ihm einmal in Wien gesagt, daß er in Prag einen Onkel bei der Geheimpolizei habe. Der angebliche Detektiv wiederholt apodiktisch, daß er in den fünf Jahren, in denen er Angestellter des k. k. Sicherheitsbureaus sei, nie einen Fitzek kennen gelernt habe. Und dann beginnt er — die Statisten haben sich um den Detektiv geschart — von dem hervorragenden Anteil zu erzählen, den er an der Ausforschung der Kriminalaffären der letzten fünf Jahre hatte. Er gehe oft statieren. Im tschechischen Nationaltheater habe er neulich den gefährlichen Dieb Burian dabei festgenommen, als er aus den Garderoben Portemonnaies stahl. Die Statisten reißen respektvoll die Augen auf, gar als er einen „Rapport“ aus der Tasche zieht, in dem er angibt, daß er gestern mit dem Detektiv Batlička (dies ist tatsächlich der Name eines Geheimpolizisten) eine Streifung unternommen habe. Alles bewundert den Meisterdetektiv, an dem nur die Phantasie bewundernswert ist. Ich kenne alle Geheimpolizisten. Er ist nicht darunter.
Inzwischen ist es sieben Uhr geworden und wir Statisten schleichen auf die Bühne. Wir hören, wie Seni-Mandé und Wallenstein-Devrient astrologische Weisheiten tauschen. Schließlich finden wir auch eine Lücke in der Dekoration, durch die wir auf die Szene schauen können. „Glückseliger Aspekt!“ Wallenstein hat diesen Ausruf getan und die Kulissenschieber nehmen ihn als Stichwort, um uns von unserem Ausguck zu vertreiben. Flüche, in denen sich Prager Bodenständigkeit mit gräßlichen Verwünschungen paart, schleudern sie mit verhaltener Stimme uns, „dem miserablen Komödiantengesindel“, „den verkleideten Affenpintschern“ ins Gesicht. Aber auch unter uns sind Männer von gewandter Rede und sie bleiben den „Wolkenschiebern“ und „Leinwandbaumeistern“ grobe Antwort nicht schuldig. Zwischen Bühnenarbeitern und Figuranten herrscht seit urdenklichen Zeiten Erbfeindschaft und in den ewigen Kämpfen bleiben die Arbeiter immer Sieger. Denn sie sind Angehörige des Theaters, die Komparsen nur Fremde. Und das technische Personale hat im Inspizienten und im Regisseur mächtige Verbündete. Die jagen uns fort. Ich habe aber von allen Komparseriekollegen die größte Sehnsucht, doch etwas von den Vorgängen auf und hinter der Szene zu erhaschen, ich schleiche mich von einer Kulisse zur anderen, von rechts, von der Zauberbude, in der der Oberbeleuchter mit Apparaten und Knöpfen hantiert, bis an die äußerste Linke, wo der Vorhangmeister das Steigen und Fallen des Vorhanges regelt, und komme mit dem Regisseur Seipp und sogar mit Heinrich Teweles, dann mit dem vorbeikommenden Theatersekretär Bertholdi und mit mehreren Schauspielern in unsanfte Berührung. Lauter gute Bekannte — keiner erkennt mich. Ein Schauspieler, mit dem ich in der vergangenen Nacht bis viertel 7 Uhr früh Kognaksorten geprobt habe, beschimpft mich, weil ich ihm im Wege stehe. Und eine Schauspielerin, die zwei Tage vorher mit einer öffentlichen Vorlesung meiner Werke Erfolg hatte, schiebt mich höchst unsanft beiseite. Nur Herr Reinhart, der den Buttler gibt und selbst nicht zu erkennen ist, hat mich erkannt:
„Herr Redakteur, wie kommen Sie her?“
Ich bitte ihn um Stillschweigen, er sagt es mir zu, aber ich kann die Folgen dieser Erkennungsszene nicht vermeiden. Ein kleiner Statist, der neben mir steht, hat die Anrede gehört und fragt mich:
„Sie sind ein Redakteur?“
„Ja.“
„Da haben Sie ganz recht, daß Sie sich keinen Sitz kaufen. Was brauchen Sie sich zu drängen! Und schade ums Geld ist es.“ Nach einer Weile fährt er aber fort: „Herr Redakteur, bitte schön, wie können Sie die Szenen kritisieren, die Sie nicht sehen?“
Da rücke ich denn mit der Wahrheit heraus: „Ich schreibe nicht über das Stück, ich schreibe nur über die Statisten.“
„Über die Statisten? Das ist großartig. Da müssen Sie hineinschreiben, daß ich eine prachtvolle Stimme habe. Wenn ich disponiert bin, singe ich elfmal hintereinander das hohe C. Nur habe ich einen Herzfehler und kann mich deshalb nicht zum Sänger ausbilden. Aber als Schauspieler bin ich einmal aufgetreten. In Hirschberg.“
„Was haben Sie da gegeben?“
„Den Okelly in „Maria Stuart“. Keine leichte Rolle. Ich sollte hinter einem Mauerstück auftauchen und den Mortimer warnen. Meinen Text kannte ich glänzend. Einen Souffleur hätte ich gar nicht gebraucht. Aber ich habe Pech gehabt. Der Garderobier hatte mir gesagt, ich brauche mich nur bis zum Gürtel zu kostümieren. Aber als ich mich über das Versatzstück beugte und mit voller Kraft schrie: „Flieht, Mortimer, flieht,“ kippte das Versatzstück um und ich fiel auf die Bühne. Das Publikum lachte wie wahnsinnig, denn ich hatte zu dem roten Wams meine graukarrierten Straßenhosen an und die Hosenträger hingen herunter. Der Direktor war wütend. Und bei der nächsten „Maria Stuart“ mußte ich wieder im Volk stehen und „Rhabarber“ murmeln. Seit der Zeit bin ich nicht mehr als Solist aufgetreten. Der Garderobier in Hirschberg ist schuld daran. Ich habe wirklich sehr viel Talent. Sie müssen schreiben, daß ich sehr viel Talent habe.“
Der kleine Statist mit dem großen Ehrgeiz weicht nicht mehr von meiner Seite. Schließlich werden wir beide — über Auftrag des Inspizienten — auf den Korridor geleitet und die Türe wird hinter uns geschlossen. Wir müssen durch die Katakomben, die von schwachen, mit Drahtnetzen umspannten Glühbirnen beleuchtet sind, wieder in die Garderobe hinab.
Während des dritten Aufzuges, kurz nach der Szene mit den Pappenheimern, die von Chorherren dargestellt wird, läutet in unserer Garderobe die elektrische Glocke: Man bedarf unser. Herr Kristoff wirft noch einen musternden Blick auf unsere Uniformen, bessert hier und dort an unserer Adjustierung und jagt uns dann hinauf in den Seitenraum der Bühne. Von der Szene tönt uns das Wortgefecht zwischen Max Piccolomini und Max Devrient entgegen. Wir stehen rechts von der Bühne und stellen die Truppen dar, die ungeduldig die Freigabe des jungen Piccolomini verlangen, den sie von Wallenstein gefangen glauben. Der Inspizient, Herr Körner steht auf einem Sessel und hebt von Zeit zu Zeit die Hand. Das ist ein Signal für uns: Jetzt ist’s Zeit zu lärmen!
Der einundzwanzigste Auftritt geht zu Ende, Wallenstein hat seine Absicht wahr gemacht:
„Ich zeige mich
Vom Altan dem Rebellenheer, und schnell
Bezähmt, gebt acht, kehrt der empörte Sinn
Ins alte Bette des Gehorsams wieder.“
Wallenstein kommt zu uns heraus, wischt sich (dem Publikum ist er nicht sichtbar) den Schweiß von der geschminkten Stirn, schneuzt sich gleichmütig und schenkt uns, dem Rebellenheere, keine Beachtung. Ist es dann ein Wunder, daß auch wir ihn mißachten und auf die freundliche Aufforderung des Herrn Inspizienten „Vivat Ferdinandus!“ schreien?! Das heißt: Alle schreien diese beiden Worte nicht. Vor mir z. B. steht ein Tscheche, der in den allgemeinen Lärm nur mit einer freien tschechischen Übersetzung des Wortes „Schmarren“ einstimmt.
„Um zwei Sechser werde ich doch nicht ganze Monologe aufsagen,“ bemerkt er zu seinem Nachbar.
Nach und nach stürmen alle Statistengruppen in den Saal, der sich — streng laut Regiebemerkung Schillers — unter Kriegsmusik allmählich mit Bewaffneten zu füllen hat. Schließlich stehen wir alle im Hintergrund der Szene. Einzelne von uns betrachten die Dekoration, andere mustern die Thekla, andere starren forschend in den Zuschauerraum, der in gähnender Dunkelheit vor uns daliegt und aus dem sich tausend unsichtbare Augen auf uns heften. Wieder andere von uns suchen ihren Blick abzuwenden, unerkannt zu bleiben. Jeder hat andere Wünsche. Max Piccolomini aber schreit uns an:
„Was wollt ihr? Kommt ihr, mich von hier hinweg
Zu reißen? — O treibt mich nicht zur Verzweiflung
Tut’s nicht! Ihr könntet es bereun.“
Wir würdigen den Mann gar keiner Antwort. Er aber glaubt, daß keine Antwort auch eine Antwort sei, und brüllt uns zu:
„Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,
Wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben.“
Dann rennt er ab, wir ihm im wilden Tumulte nach, nicht zu sterben, sondern in unsere Garderoben. Wir haben ausgespielt und entledigen uns unserer Rüstungen, in denen wir von halb 7 bis 10 Uhr abends bös transpiriert haben und kleiden uns an. Einzeln verlassen wir die Garderobe. Der „Meisterdetektiv“ mißt jeden von uns mit forschendem Blick, daß es den Gemusterten eiskalt überläuft.
Der kleine Statist schärft mir noch beim Abschied ein:
„Vergessen Sie nicht hineinzuschreiben, daß ich eine prachtvolle Stimme habe!“
„Die Vagabunden“ von Karl von Holtei waren eines der Lieblingsbücher unserer Väter. Das Buch hatte Sympathien für die hungernd-fröhlichen Jünger der Kunst und deren Lebensweise entfacht, denen im gleichen Jahr Henri Murger den Namen Boheme gab, sie noch literarischer und noch romantischer, sie ersehnenswert und bewundernswert machte. Karl von Holtei war selbst ein Sprosse dieses in Frankreich von Murger geadelten Geschlechtes, und wohl ein echter. Das zeigt z. B. die Widmung, die auf der Titelseite des Vagabundenbuches steht: „Dem k. k. Hofrath und Polizeidirektor in Prag Anton Frhr. von Paümann.“ Die Widmung ist satirisch, ironisch und tendenziös. In ihr sagt der alte Holtei zu dem Polizeigewaltigen, mit dem ihn übrigens von Graz her ein persönliches Freundschaftsverhältnis verband: „Sie sind sonst immer hinter den Vagabunden her, d’rum müssen Sie sich’s gefallen lassen, daß hier die Vagabunden hinter Ihnen her sind.“ Doch konnte sich der Herr Baron Paümann durch diese Widmung seines Freundes auch derart angesprochen sehen: Du hetzest uns Vagabunden; sieh her, wie wenig wir’s verdienen, wie wir fühlen, wie wir denken, wie wir sind ... Es war gewiß nicht bloß ein Akt der Freundschaft von Holtei, wenn er einem Buch, das „Die Vagabunden“ hieß, den Namen eines Polizeichefs voranstellte, denn er hatte als Theaterdichter, Bühnenleiter, Theatersekretär, Schauspieler, Rezitator und — not least — als fahrender Bohemien zeitlebens genug von der Polizei zu leiden gehabt. Auch von der Prager.
Der im Jahre 1797 in Breslau als Sohn eines Husarenrittmeisters geborene Karl von Holtei wuchs vater- und mutterlos auf. Seine Gymnasialstudien, die schon ein verzehrender Drang zum Theater beherrschte, unterbrach er, um Landmann werden zu können. Er zog als freiwilliger Jäger gegen Napoleon zu Felde, bezog dann die Universität, wurde Burschenschafter und während all dem verließ ihn nie die Sehnsucht Schauspieler zu werden. Als „Mortimer“ betritt er in seiner Heimatstadt die Bretter. Bald gibt es Streit, als fahrender Sänger und Deklamator zieht er ins Weite. Heimgekehrt vermählt er sich mit der entzückenden Louise Rogée, die als Schauspielerin die Breslauer bezaubert. Er wird Theatersekretär. Neuer Streit und Kündigung. Das junge Künstlerpaar verläßt die Heimat und wendet sich (man schreibt 1823) zunächst nach — Prag.
„Ich erwählte mir Prag,“ schreibt Holtei in seiner Lebensgeschichte,[1] „und zwar deshalb, weil dies der einzige Ort war, von wo ich auf meine Anfrage (wegen Gastierens) keine Antwort empfangen ... Es war in der Abenddämmerung, als wir Prags Türme erblickten. Mich überkam dabei ein poetischer Schauer, und mit wehmütiger Begeisterung hub ich das Schenkendorfsche Lied auf Scharnhorsts Tod, in welchem er „die alte Stadt, wo Heil’ge von den Brücken sanken“ anredet, zu singen an. Wir gelangten in wahrhaft feierlicher Stimmung ans Tor, um durch einen verwünschten Zöllner in die niedrigste und ekelhafteste Prosa gezogen zu werden.“
Auch ein Fremder, der diese Stadt uneingeschränkt bewunderte und liebte, bevor er mit dem ersten Bewohner in Berührung kam, um „in die niedrigste und ekelhafteste Prosa gezogen zu werden!“
In Prag war damals Hans von Holbein Theaterdirektor. Wenn das Ständische Theater auf dem Obstmarkt unter seiner Führung auch nicht die Blüte wie unter Liebichs Leitung erreichte, stand es doch auf bedeutsamer Höhe, auf der es nur von wenigen Hoftheatern übertroffen wurde. Unter seinem Regime erhob sich die „böhmische Nachtigall“, Henriette Sontag, zu ihrem die Welt erobernden Fluge, und er war der erste, der Seydelmanns überragende Begabung anerkannte und wertete. Holbein empfing die fahrenden Thespisjünger nicht sehr wohlwollend.
„Er fertigte mich kurz und entschieden ab; vom Gastspiel war keine Rede, umsoweniger als eben der berühmte Bassist Fischer und der junge Sänger Eduard Devrient aus Berlin auftreten sollten. Da saßen wir nun in der großen wunderbaren Stadt, ohne Freund, ohne Rat, ohne Hoffnung — und wußten uns nicht zu helfen. Mitten in meiner Trübsal fiel mir ein, daß ein Mitarbeiter und Korrespondent der „Deutschen Blätter“,[2] W. A. Gerle, Professor am Konservatorium, hier weile. Diesen freundlichen Mann sucht’ ich auf, wurde durch ihn mit dem jungen, lebenslustigen Marsano, dem Verfasser hübscher Lustspiele, und durch diesen wieder mit all den fröhlichen Gesellen bekannt, die sich in der sogenannten Wolfsschlucht versammelten.“
Aber hatte Holtei auch keine Freunde und keine Hoffnung, so besaß er doch etwas, was schon damals wichtiger war, als alles andere: Protektion. Auf dem Paßbureau wies er sich, nachdem er kurz und entschieden nach Breslau zurückgewiesen werden sollte, mit zwei Briefen an den Oberstburggrafen von Böhmen, den Grafen Kolowrat, aus. Auf den Rat des Beamten gab er die Briefe in dessen Palast ab, von wo sie den Abwesenden nachgeschickt wurden. Nur wenige Tage des Wartens vergingen. Da kommt er eines Tages nach Hause und findet bei seiner Frau den — Theaterdirektor mit dem „Besetzungsbuche“. Frau von Holtei trat als Lieschen in „Alpenröslein“, sowie mit ihrem Manne, der hier wieder die Bühne betrat, in einigen seiner netten Singspiele auf und erntete allabendlich stürmischen Beifall.[3]
Holtei schreibt von seinem Prager Auftreten in bemerkenswerter Weise: „Ohne Gastrollen von Prag abreisen hieß gewissermaßen auch alle übrigen deutschen Bühnen Luisen verschließen.“ Und auch als er in dem Beutel, der ihm als Honorar überreicht wird, statt der vermeintlichen Goldstücke nur Kupfermünzen findet und entdeckt, daß seine Einnahme nur 3 fl. 56 kr. W. W. beträgt, vermag das seiner guten Laune nicht Einbuße zu tun: „Gleichviel! Wir hatten in Prag gespielt, die Bahn war gebrochen ...“
Nun durchwandert der Unstete Europa. Nahezu drei Jahrzehnte währen die Irrfahrten, und die Aufzählung der äußeren Erlebnisse würde Bände füllen. Von besonderem Interesse ist es, wie er durch einen Besuch bei Madame Czegka in Leipzig, eine Gesangslehrerin von Weltruf, welche am Prager Konservatorium Henriette Sontag zuerst unterrichtet hat, und durch diplomatische Kunststücke Henriette Sontag für Berlin engagiert, was anderen Theaterdirektoren und deren Abgesandten nicht gelang. In Weimar wird Holtei mit Goethe gut Freund, und kommt besonders mit dessen Sohn August in ein überaus herzliches Verhältnis. Mit Saphir kommt es wegen dessen Krieges gegen die Sontag zum Bruch. Holtei wird Zeitungsredakteur, schreibt eifrig und wird als erster Polensänger auch für die Nachwelt lebendig. Noch heute gedenkt man des „tapferen Lagienko“ und tönt das Mantellied „Schier dreißig Jahre bist du alt“. Er heiratet zum zweitenmale (Louise ist 1825 gestorben), der alte Schleiermacher traut ihn mit der Schauspielerin Julie Holzbecher. Er spielt in seinem „Lorbeerbaum und Bettelstab“ und wird sehr berühmt. Im Jahre 1850 wird er seßhaft. In Graz. Sein kundiger humorvoller Biograph[4] meldet: „Und er kaufte sich einen Schreibtisch.“ Er vollendet seine Selbstbiographie „Vierzig Jahre“, die als wichtige Quelle deutschen Theater- und Literaturlebens von unschätzbarem Werte ist. Er schreibt hier seine Landstreicherromane und Kriminalgeschichten, von denen manches Buch wie „Christian Lammfell“ oder gar „Die Vagabunden“ mit Unrecht vergessen ist.
Nach Prag ist Holtei wiederholt gekommen. Hatte er sich schon bei seiner ersten Anwesenheit manchen lieben Freund wie Gerle und Marsano erworben, hatte sich die wunderbare Stadt, die keinen unverzaubert aus ihrem Banne entläßt, tief ins Herz geprägt, so verdichteten sich diese Eindrücke zu einer poetischen Verherrlichung. Als dem Dichter nach dem Tode seiner zweiten Gattin sein Theaterdirektorposten und der Aufenthalt in Riga verleidet worden war, hatte Johann Hoffmann, ein Wiener Kind und ehemaliger Tenor in Petersburg, diesen übernommen. Dieser Hoffmann sollte nun im Jahre 1846 Nachfolger Stögers in Prag werden. Als er sich nun an Holtei um ein Eröffnungsfestspiel wandte, konnte dieser dem Freunde die Bitte nicht abschlagen, doch stellte er die Bedingung, vorher einen Besuch in Prag zu machen, „die dortigen Theaterzustände, die Stimmung des Publikums, den vorherrschenden Ton wieder kennen zu lernen ...“ Auf Hoffmanns Einladung verbrachte Holtei die Weihnachtsfeiertage in Prag. Fleißig ging er ins Theater und „wohnte auch den böhmischen Vorstellungen bei, die mich vorzüglich im Gebiete der Lokalposse interessierten“. Und dann ließ er den Zauber der Stadt auf sich wirken. „Jene Abende, wo das Schauspielhaus geschlossen blieb, namentlich den Weihnachts- und Silvesterabend brachte ich bis tief in die Nacht hinein in den hohen, Ehrfurcht gebietenden Kirchen zu, den katholischen Feierlichkeiten mit banger Aufmerksamkeit lauschend.“
Er lernt Frau Direktor Stöger, die Witwe des „genialen Direktors Liebich“ kennen, dessen Persönlichkeit er feiert: „... daß die Prager Bühne durch ihre einzelnen Talente, wie auch durch ihr geistig geleitetes Zusammenwirken unter Liebichs Direktion eine der ersten, wo nicht die erste in Deutschland war, ist allen Kennern unserer Theatergeschichte bekannt, und war es auch mir.“ Und Holtei hat etwas vom Theater verstanden. Mit Eindrücken wohl versehen, ging er nun an deren Verarbeitung. Aber es kam nicht zur Aufführung. Es paßte Hoffmann und den Prager Maßgebenden nicht. Vielmehr wurde das neueingerichtete Theater am Ostermontage mit dem Festspiel „Die Weihe der Kunst“ eröffnet; der heimische Poet Hickel hatte die Worte geliefert, der Konservatoriumsdirektor Kittl und Kapellmeister Skraup die Musik. Holtei aber hat sein wenigstens originelles Stückchen im siebenten Bande seiner Lebenserinnerungen abgedruckt.
Die Szene bildet das Theatergebäude. Thalia will den nordischen Fremden — den neuen Direktor — in die Hallen seiner Bestimmung einführen. Der alte Guardasoni, der erste ständische Impresario des Nostitz-Theaters, unter dem die Oper geschmückt mit dem Namen Mozarts blühte, wird von den Toten zitiert und gibt im welschen Deutsch dem neuen Mann sein Geleite. Der Kastellan allerdings, der ihn ins Haus einführt, spricht einen schwerer verständlichen Dialekt. Dieser Mischmasch sollte offenbar Prager Deutsch vorstellen — aber es war nichts. Ebensowenig ist ihm einmal der Versuch geglückt, in einem Gedichte „Der Böhme in Berlin“ das berüchtigte „Behmisch-daitsch“ Prags festzulegen. Man urteile selbst:
„Bei Prag ist große Bruck
Ale ist prächtig!
Steht heil’ger Nepomuk
Auf Bruck bedächtig.
Möcht’ ich Land meines sehn,
Möcht’ ich nach Böhmen gehn.
Böhmisch, böhmisch,
Böhmisch ist schön.“
Ebenso ist ihm in seinem Bühnenspiel die Einführung der kleinen böhmischen Muse völlig vorbeigelungen. Er vermochte die Muse der böhmischen Komödie nicht zu charakterisieren. Mit würdigen Worten erscheint aber Hoffmanns besondere Schätzerin Euterpe:
„Und vor jedem anderen Lande
Blieb ich diesem Lande nah
Schlang um dich die Blütenbande
Immerdar, Bohemia.“
Unter dem Musengeleite betritt der Fremdling die Säulenhalle. Im Kreise des gesamten Personales wendet er sich nun mit warmen Worten ans Publikum, Prag möge ihm nicht Huld und Geduld versagen. Und Thalia erwidert:
„Sie wird es nicht. Sie wird aufricht’gem Streben
Wie immer güt’ge Anerkennung geben.
Erblicke sie, die wunderschöne Stadt,
Die ihres Gleichen nicht auf Erden hat,
Erblicke sie, der du dich froh geweiht
Und stärke dich an ihrer Herrlichkeit.“
(Der Hintergrund teilt und Prags voller Anblick entfaltet sich.)
Im Herbste 1853 erschien Holtei wieder in Prag und las unter großem Beifall im Konviktsaale seinen Shakespeare. „Aber je gütiger ich behandelt wurde, desto erkenntlicher muß ich sein.“ Und den Dank hat er abgestattet. In Gutzkows Familienblatt „Unterhaltungen am häuslichen Herd“[5] des Jahrgangs 1856 erschien an leitender Stelle: „Das Kinderspital in Prag. Sendschreiben an den Herausgeber. Graz in Steiermark. Juli 1856.“ Darin hat nun Holtei seinen Dank in würdigster Weise abgetragen, indem er für diese Anstalt in ganz Deutschland Stimmung zu machen versucht und uns zum andern ein treffliches Bild der Prager Gesellschaft vor nun fünfundfünfzig Jahren gibt. In anschaulicher Weise schildert er uns die Segnungen und Aufgaben des „Franz Joseph-Kinderspitals“, das von Dr. Kratzmann im Jahre 1842 begründet wurde, und dann in Dr. Löschner, dem unvergeßlichen Menschenfreunde, seinen nimmermüden, zu jedem Opfer bereiten Leiter gefunden hat. Schon vorher hat Holtei den Reinertrag seiner letzten Vorlesung am 23. November — Schillers Demetrius, Goethes Egmont, Shakespeares Caesar — dem Kinderspitale zugewiesen.
Interessant sind die Bemerkungen, die der schlesische Poet über seine literarischen und gesellschaftlichen Beziehungen in Prag macht. Nächst seinem Bekannten von Graz, dem Polizeidirektor Baron Paümann, „waren es vor allem die Redaktoren der Zeitschrift „Bohemia“ und der unter dem Titel „Album“ weit verbreiteten Romanbibliothek, die deren beider liebevoll verhätschelter Mitarbeiter zu begrüßen Pflicht und Ehre hatten. Freund Klutschak saß mit seinen Kindern vor einem Tisch Kolatschen und Wuchteln — oh Himmel, wie priesen die Kleinen den heiligen Wenzel!“ Holtei war am Wenzelstage in Prag angekommen. Bald war er auch in eifriger literarischer Tätigkeit. „Daneben trat ich allwöchentlich einmal vor’s Publikum als Vorleser, war Abend für Abend in geselligen Kreisen, machte sogar verschiedene Ausflüge aufs Land in benachbarte Schlösser. Der jugendliche Album-Vater Kober ließ sich’s angelegen sein, mich dem Kreise der bei ihm häufig versammelten Schriftsteller und Journalisten näher zu bringen ...“ Mit begeisterten Worten rühmt er Prager Bildung und Geselligkeit. Besonders die Abende bei dem berühmten Arzte Dr. Pitha und seiner anmutigen Gemahlin sind ihm unvergeßlich. Den Gipfel seiner Begeisterung erreicht er aber bei den Namen: Erwein Nostitz und Schloß Mieschitz. „Welch eine Familie! Welch ein Hauswesen, welch ein Vorbild für Gastfreiheit im höchsten, reichsten Maßstabe! ... So denke ich mir den Landaufenthalt der besten, großen Familien in Alt-England.“ So preist er die vornehme Persönlichkeit und das kunstsinnige Wirken dieses kunstbegeisterten und kunstfördernden altböhmischen Kavaliers. (Graf Erwein Nostitz war der Großvater des gegenwärtigen Grafen dieses Namens.) Soviel Gastfreundschaft macht dem greisen Poeten, der doch auf seinen Fahrten viel gesehen und viel erlebt hat, die Moldaustadt unvergeßlich. „Vor dreiunddreißig Jahren hatte ich Prag zum ersten Male gesehen und in dieser Zwischenzeit jede Gelegenheit benützt, die wundersame, alte, für mich immer neue Stadt, sei’s auch nur als Durchreisender auf Stunden wieder zu besuchen.“ Und kommt er nicht selbst, so sendet er seinen Dichtergruß. Unter der langen Reihe der besten deutschen Namen, die die Prager Lese- und Redehalle der deutschen Studenten unter ihren Herolden nennen darf, fehlt auch der Holteis nicht. Zum Konzerte, das dieser Studentenverein im Jahre 1857 gab, sandte der „Alte vom Berge“, wie man diesen Nestor deutscher Poeten — er starb erst 1880 — später nannte, den Prolog, den Fräulein Rudloff sprach. Mit schönen Worten verteidigt er das gesprochene Wort, die Muse der Dichtung gegen die Musik. Er ruft die unsterblichen Genien der deutschen Sprache, denen auch dieser Verein diene, zu Bürgen und Zeugen, um dann den Wunsch zu sprechen:
„Glückauf, glückauf! Du Stadt der Städte, Prag!
Heil Böhmen dir, du schönes Land der Länder.
Der Tonkunst alte Heimat willst nicht minder
Du Heimat sein der Wissenschaft, der Dichtkunst!
Glückauf! Heil sei mit dir und deiner Jugend.“
[1] Vierzig Jahre. Berlin, 1844. S. 67 u. ff.
[2] Deutsche Blätter für Poesie, Literatur, Kunst und Theater, herausgegeben von Karl Schall und Karl v. Holtei. 1. Heft. 2. Januar 1823.
[3] Teuber, Geschichte des Prager Theaters. 1888. III. — 64.
[4] Karl von Holtei. Eine Biographie. II. Prämie zu Kobers Album. 1856. Prag und Leipzig. Der anonyme Verfasser ist Dr. O. Storch.
[5] Neue Folge. I. Band. Nr. 48, S. 753 u. ff.
Die Albrechtskaserne in Smichow besteht aus vier Gebäuden, von denen jedes auf der Hoffront mit großen Lettern eine der vier Aufschriften trägt: „Westkaserne“, „Südkaserne“, „Stabsgebäude“ und „Nordkaserne“.
Darauf läßt es sich zurückführen, daß ein Infanterist auf die Frage, welches die vier Weltgegenden seien, geantwortet hat:
„Nord, Süd, West und Stab.“
Das Stabsgebäude, das zu dieser falschen Antwort Anlaß gab, füllt nicht die ganze Ostseite des Kasernenkarrees aus: An der Ecke der Petřinergasse und der Königsstraße steht noch ein entzückendes, quadratisches Häuschen: „Arrestgebäude“ ist oberhalb des Tores zu lesen.
Die Fenster sind vergittert und auf den Stufen, die zum Eingang hinaufführen, steht oder sitzt ein Soldat mit grauen Aufschlägen, Tschako und Patrontasche. Der Avisoposten. Er steht da, um das Nahen des inspizierenden Offiziers schnell dem Gefreiten melden zu können, der Wachkommandant ist.
In diesem Hause habe ich einige Monate lang das Zimmer gehütet. Lang, lang ists her und vielleicht hat sich seither vieles geändert und es ist nicht mehr so arg, wie es damals war. Dann hat dieses Feuilleton nur den Charakter einer Reminiszenz, erzählt nur Gewesenes.
An dem kleinen Eckhause der Petřingasse und der Smichower Königsstraße gehe ich nie ohne leisen Schauer vorbei. Ich habe in einem meiner Bücher und in vielen Geschichten heiteres von meinen beim Militär verübten Streichen erzählt. Aber die Strafen habe ich immer nur mit kurzen Worten gestreift. Sonst wäre es schnell mit dem Humor vorbei gewesen. Meine „Festungstid“ war die böseste Zeit meines Lebens.
Am Anfang kam ich nur zu „verschärftem Arrest“ in das vergitterte Haus. Das heißt: Ich „durfte“ auf dem Sandberg mit den anderen Kameraden exerzieren, „durfte“ an dem Unterrichte der Taktik, des Waffenwesens, des Militärgeschäftsstils, des Heerwesens u. dgl. teilnehmen, aber wenn um fünf Uhr abends die anderen nach Hause schlafen gehen konnten, dann mußte ich ins Arrest. Später kam ich zur strengeren Strafe, zum „strengen Arrest“ in das Nordost-Häuschen. Da machte ich die Beschäftigung der anderen nicht mit und blieb von früh bis abends und von abends bis früh im dunklen Loch.
In meiner Uniform konnte ich die Haft nicht antreten, denn die wäre schnell kaput gewesen. Ich mußte von meinem Putzer dessen ärgste Kommißuniform entlehnen, Kleider, die er aus Schamgefühl selbst zum Exerzieren oder zum „Ritt“, d. i. zur Reinigung der Kompagnieräume nicht angezogen hätte: Breite, schlotternde Hosen, eine farblose Bluse mit verschiedenartig blauen Flicken und eine unsagbar große Mütze, die — wie verlautete — auch als Ohrenschutz, als Kochgeschirr, als Waschschüssel und zu anderen Manipulationen verwendet werden konnte.
In diesem Aufzuge marschierte ich über den Hof, aus dem Bereiche der Freiwilligenschule in den Arrest. Drei Schritte hinter mir schritt der Tagskorporal, der mich im Arrest abzuliefern hatte.
Im Wachzimmer des Arrestgebäudes mußten wir Halt machen und auf den Stabsführer warten, der die Profoßendienste im Regiment versieht. Der wurde herbeigeholt. Leibesvisitation. Das Taschentuch wird mir abgenommen; ebenso muß ich mich der Schuhriemen entledigen. Der, der Bänder an den Unterhosen hat, muß sich gefallen lassen, daß sie ihm abgeschnitten werden. Alle diese Maßregeln haben prophylaktischen Charakter: das Erhängen soll dem Häftling erschwert werden. Derjenige, der nicht an Selbstmord dächte, könnte durch diese Vorkehrungen leicht auf solche Gedanken kommen.
Der Stabsführer entfernt sich, ich werde in eine Zelle geleitet und die zufallende Türe scheidet mich von der Welt. Das Rasseln des Schlüsselbundes verklingt langsam auf dem Korridor.
Ein Blick und ich bin mit meinem neuen Heim vertraut. Vier kahle Mauern und in der Ecke eine Holzpritsche. Sonst kein überflüssiger Komfort. Die offenen Rolladen des unerreichbar hohen Fensters sieben das Tageslicht zwölffach, bevor sie es zum Arrestanten lassen. Ein gräuliches Halbdunkel, nicht Tag noch Nacht.
Lesen kann ich nicht, denn ich habe kein Buch. Schreiben kann ich nicht, denn weder Feder noch Tinte, noch Bleistift, noch Papier wäre mir gelassen worden. Rauchen kann ich nicht, denn ich habe keine Zigaretten. Vom Sitzen auf der niedrigen Pritsche tun die hinaufgezogenen Füße weh, vom Liegen auf der harten Pritsche der Rücken. Ans Schlafen ist nicht zu denken. Kalt ist es auch.
So muß ich mir denn ein Surrogat suchen, zu dem man keiner Utensilien bedarf: Ich zähle. Ich zähle bis hundert, bis tausend, bis vierzigtausend. Ich bin gerade bei der Ziffer 40.015 angelangt, als mir brennender Durst zum Bewußtsein kommt. Ich schlage auf meine Tür. Der Posten, der draußen mit aufgepflanztem Bajonett auf und ab geht, kommt herbei und fragt mich nach meinem Begehr. „Ich will trinken,“ erkläre ich.
„Warte einen Augenblick,“ gibt mir der Infanterist zur Antwort.
Er drückt auf den Knopf der elektrischen Klingel, die zum Wachkommandanten hinunterführt.
Nach kurzer Zeit hört man schwere Schritte: Der Gefreite-Wachkommandant kommt die Treppe herauf, begleitet von einem Mann der Wache.
„Was wollen Sie?“ fragt er mich durch die verschlossene Türe.
„Ich will trinken,“ melde ich nochmals.
„Treten Sie zurück,“ befiehlt er mir und schaut durch das vergitterte Guckloch, ob ich diesen Befehl befolgt habe.
Dann öffnet er und ich kann hinaustreten. Die Mündungen dreier Gewehre sind auf mich gerichtet und bewegen sich in der Richtung eines jeden Schrittes, den ich mache. Der Wachkommandant und sein Begleiter, sowie der Korridorposten haben die linke Patronentasche offen, in der die scharfen Wachpatronen stecken. Am Ende des Ganges, am Fensterbrett steht ein großes Glas, wie man es gewöhnlich zum Einlegen von gedünstetem Obst verwendet. Aus dem Konservenglas trinken alle Arrestanten. Darunter steht eine Kanne, aus der ich mir eingieße. Während ich trinke, lassen mich die Gewehrmündungen nicht aus dem Auge.
Zum zweitenmale kommt der Wachkommandant herauf, wenn es neun Uhr abends ist und der Hornist vor dem Kasernentore die trüben Klänge der Retraite bläst: dann bringt er mir die dünne Kavalettdecke, in die ich mich einhülle und vergeblich zu schlafen versuche.
Dann bekomme ich gewöhnlich noch einen nächtlichen Besuch. Der Kaserninspektionsoffizier kommt inspizieren. Er schaut sich forschend um und schnuppert, ob in der Zelle kein Zigarettenrauch zu spüren ist. Dann geht auch er.
Manchmal ist der Gefreite, der die Wache kommandiert, einer meiner Bekannten und läßt mich, wenn der Kaserninspizierende das Arrestgebäude verlassen hat, zu sich ins Wachzimmer hinunter. Unten brennt wenigstens ein Lämpchen, die graphitfarbenen Wände des Ofens sind von ärarischer Kohle in Glut versetzt und es sind Menschen da: die Wachsoldaten, die Zigaretten hergeben, wenn man ihnen für den nächsten Tag zehnfache Revanche verspricht. Auch die Arrestanten aus den anderen Zellen haben sich — wenn der Wachkommandant kein Hasenfuß ist — hier ein Stelldichein gegeben und spielen Karten.
Hier bin ich mit Peter Worostschuk bekannt geworden, der zwar beim 73. Infanterieregiment in Karolinental diente, aber in den Arrest der Albrechtskaserne gebracht worden war, weil der sicherer ist. Nach Ablauf meiner Dienstzeit habe ich ihn noch zweimal getroffen: Einmal im Sicherheitsbureau der Polizeidirektion und bald darauf im Strafgerichte bei der Verhandlung, in der er wegen verursachten Meuchelmordes sieben Jahre schweren Kerkers erhielt. Auch Wladimir Zajiček, mit dem ich mich beim jeu im Arrestgebäude befreundet hatte, ist mir zweimal „im Zivil“ begegnet. Einmal traf ich ihn in der Strafanstalt Pankratz, ein zweites Mal vor drei Jahren bei den Bummelkrawallen auf dem Graben, wo er mich herzlich begrüßte. Seither haben sich die Verhältnisse beruhigt und der Beruf als „empörte Volksmenge“ nährt nicht mehr seinen Mann. Und vor einigen Monaten habe ich denn gelesen, daß mein Genosse Zajiček wieder für zehn Monate zu der ruhigen, sitzenden und beschaulichen Lebensweise zurückkehren wird, die ihm seit seinem seinerzeitigen Sejour im Smichower Arrestgebäude nichts fremdes mehr ist.
In Prag ist es mit den Studentenmensuren wesentlich anders als auswärts. Inmitten des nationalen Kampfes muß selbst dem krassesten Füchslein der Gedanke aufdämmern, daß das Waffenspiel doch mehr als ein Spiel, daß es Probe und Erziehungsmittel sein soll. Und trotzdem in Prag wohl keinem Studenten Kodex, Komment und Couleurpolitik zum Lebensinhalt werden kann, weil er sich vor ernstere Aufgaben gestellt sieht, wird hier seit Jahrzehnten eifrig gefochten. Dabei aber erschwert der erwachende und bald zur Herrschaft gelangte politische Haß die Zusammenkünfte der deutschen Studenten. Von einem dunklen Schlupfwinkel zum anderen mußten sie ziehen, von einem Ausflugsort zum andern, und wenn sich jemand der Mühe unterzöge, nach den Mensurbüchern der Prager Korporationen eine Liste der Paukböden zusammenzustellen, so würde dies nicht bloß ein vielsagender Beitrag zur Geschichte des Farbenstudententums, sondern auch eine bemerkenswerte Illustration zur politischen und kommunalen Geschichte dieser Stadt sein.
Auf der Bastei, der breiten Umwallung, die von der Karlshofer Kirche zum Korntor, von da zum Roßtor und weiter über das Pořitscher Tor hinaus bis zur Moldau führte, stand einmal das „Café Bohemia“. In der Hibernergasse, die freilich anders aussah, wie heute. Der Staatsbahnhof war dort, wo er heute ist, und stand doch nicht in der Mitte der Stadt, sondern an ihrer Peripherie. Um für seine Einrichtung Raum zu schaffen, hatte ein Stück der Basteimauern fallen müssen. Rings umher aber stand der Wall noch breit und hoch, und an schönen Frühlingstagen konnte man geputzte Bewohner Alt-Prags die Serpentine hinaufstolzieren sehen, die von der Hibernergasse aus auf die Bastei führte. Dort oben stand das „Café Bohemia“, wo man einen guten Kaffee schlürfen und altvorzeitisch große Kipfel dazu essen konnte, und einen endlos weiten Ausblick auf die Wiesen und Felder gegen die Wiener Reichsstraße, auf jenes Gebiet genoß, wo sich heute Žižkow und ein Teil von Weinberge breitet. Vom Kaffeehause aus konnte man dann auf der Steinbrücke über den Bahnhof hinweg längs der Florenzgasse bis zum Pořitscher Tore promenieren. Im ersten Stock des Cafés war ein großer Saal, der manches fröhlich-schlichte Kränzchen und manchen denkwürdigen Kommers sah, wie jenen, der im Feber 1863 den Staatsminister Schmerling in Prag begrüßte.
Hier focht man am Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die ersten Mensuren. Nach dem unglückseligen Ausgang des lombardischen Feldzuges versuchte man es in Österreich einmal statt des reaktionären Regimes, das sich so schlecht bewährt hatte, zaghaft mit etwas freiheitlicher Regierungskunst. Vielleicht wollte man die österreichische Bevölkerung, die durch die in Italien erlittenen Verluste und Mißerfolge verbittert war, einigermaßen entschädigen, indem man ihr mehr Bewegungsfreiheit gewährte. Die Studenten, deren Organisationsbestrebungen im Jahre 1849 hinter Kerkermauern begraben worden waren, nützten jetzt den günstigen Wind. Das im Sommer 1859 im Gasthause „Zum Hopfenstock“ an der Ecke der Wasser- und Hopfenstockgasse errichtete „Bierherzogtum Lichtenhain unter Thus I.“ war der Beginn fröhlicher studentischer Vereinigung; die schwarzen Seidenkappen, welche die „Tabularotundisten“ 1860 in ihrem Kneiplokale „Zum Kleeblatt“ (Ecke Teingasse und Fleischmarkt) und bald auch auf der Straße trugen, waren der Anbeginn des Farbentragens. Nicht lange darauf stellten sich die Anfänge des Mensurwesens ein. Bernhard Stall, ein junger frischer Westfale, der in Bonn aktiv gewesen war, wandelte die „Tabula rotunda“ in die Verbindung „Rugia“ um, und die schlug bald mit der „Franconia“ Partien. Kein Lied, kein Heldenbuch meldet die Namen der ersten Kämpen.
Die erste Mensur, über die noch Aufzeichnungen vorhanden sind, ist zwischen den Mitgliedern zweier heute noch bestehenden Burschenschaften am 6. Juni 1861 ausgetragen worden. Zwischen einem Mitglied der „Carolina“, die bislang in einem anderen Basteilokale, im Café Schubert zwischen Roßtor und Korntor (etwa dort, wo heute die Čelakovskyanlagen sind), mit stumpfen Klingen und in Körben gepaukt hatte, und einem Aktiven der „Albia“ auf deren Bude. Die Mensurbücher melden hierüber: „Paukanten: Bursche Artur Liberda (Carolinae) und Bursche Johann Tröger (Albiae); Sekundanten Ernst Hauer (Albiae) und Karl Rösch (Carolinae); Unparteiischer Julius Zuleger (Franko-Arminae). Mensur zweiten Grades. Liberda abgeführt; zwei Nadelstiche.“
Das Lokal, das der Schauplatz dieser Mensur und nachher ungezählter anderer war, war wohl das herrlichste und romantischeste, das man sich denken kann. Es war das in der Karlshofergasse stehende Lustschlößchen „Amerika“, dieses kleine Wunder Kilian Dienzenhoferschen Baukunst. In diesem Gebäude, über dessen Verwendung sich die Stadtgemeinde Prag jetzt den Kopf zerbrochen hat, war in den sechziger und noch in den siebziger Jahren eine freundliche Gastwirtschaft, und der Wirt hatte zwei entzückende Töchter, die ganz vortrefflich in den Rahmen des Lustschlößchens paßten. Hier hatte die „Albia“ ihre Bude, und hier wurde lange geschlagen. Man glaubte wirklich in einen Rittersaal zu festlichem Turnei gekommen zu sein. Und wenn’s einem der Paukanten etwas zaghaft zumute wurde, dann flößte ihm wohl der lächelnd ermunternde Blick der bunten Gestalten neuen Mut ein, die Johann Ferdinand Schors Meisterhand anderthalb Jahrhunderte vorher an die Wand gemalt hatte.
Die technischen Korps „Frankonia“ und „Suevia“ fochten inzwischen in dem Brettergasthaus „Smetanka“ auf den freien Gründen zwischen Žižkow und Weinberge, und die „Austria“ pflegte ihre Waffengänge im einstigen Gasthaus Eggenberg auszutragen, das hinter dem Aujezder Tor auf einer Anhöhe vor dem Kinskygarten stand.
Die Waffe, deren man sich bediente, war eine Prager Erfindung, die unter dem Namen „Prager Waffe“ — im Studentenjargon „Prager Plempe“ — an Deutschlands hohen Schulen als Eigentümlichkeit der Prager Studenten bekannt war. Sie war nicht Säbel, noch Schläger, sondern beides. Der alte ständische Fechtmeister in Prag, Maitre Le Gros, lehrte nämlich nur das Säbelfechten, und so mußte man eine Kombination des Säbels mit dem studentischen Schläger erfinden, und versah den Säbelgriff mit der geraden Schlägerklinge. Siebzehn Jahre focht man mit diesem Unikum. In dem alten Paukbuch des akademischen Korps „Austria“ (Seite 102 und 103) ist über die erste Schlägermensur in Prag folgende Aufzeichnung zu finden: „Anerkennungshatz des akademischen Korps „Moldavia“ (Prag) auf Korbschläger in den D. C.-Verband. Erste Mensuren nach dem Prager Paukkomment auf Korbschläger. — Mensur auf Korbschläger 15 Minuten gefochten am 8. Juni 1877 im Gasthause Eggenberg zwischen Herrn Phil. Kand. Josef Neuwirth, „Austriae“-Prag und „Saxoniae“-Wien (der jetzige Hofrat und Professor der technischen Hochschule in Wien) und Herrn Med. Stud. Rudolf Eckstein, „Moldaviae“-Prag. Als Sekundanten fungierten Jur. Ludwig Stümmer („Moldaviae“) und Med. Karl Renn („Austriae“), als Unparteiischer MUC. Alois Pessina („Austriae“) und als Paukarzt MUC. Karl Zoerkler („Austria“). Die Mensur endete unentschieden. Die erste burschenschaftliche Schlägermensur fand am 2. April 1880 in dem Gasthaus „Zur slawischen Linde“ in der Inselgasse (heute Smetanagasse) statt: Eduard Gerson von der „Alemannia“ focht sie mit dem Prager „Teutonen“ und Wiener „Alben“ Paul von Portheim, der jung verstorben ist und dessen posthume Gedichtsammlung „Silentium“ Bewunderung erweckte.“
Es gibt und gab wenige Gasthäuser im Weichbilde und in der Umgebung Prags, in denen nicht blitzende Schläger die mit Kolophoniumduft und Blutgeruch geschwängerte Luft sausend durchfahren hätten, in denen nicht schallende Eisenhiebe auf Klingen und Körbe gerasselt wären. Eine Zeitlang — so in der Zeit um die Kuchelbader Schlacht — gab es arge Persekutionen. Die Tschechen fanden Lust daran, die „Salamander“ — das war der damalige Ausdruck für das heutige „buršák“ — bei der Polizei zu vernadern, die Polizei witterte wieder in den geheimen Zusammenkünften der Studenten politische Konspirationen. So zogen die wehrhaften Mannen aus den Toren Prags „in die Wüste“ hinaus, und in den vergilbten Mensurbüchern stehen auswärtige Gasthausnamen zu lesen, so „Zum kleinen Prokop“ in Nusle, „Karl IV.“ in Wrschowitz, das „Mäuseloch“ in Straschnitz, „Bellevue“ in Nusle, „Georg von Podiebrad“ in Koschiř, der Pavillon im Paradiesgarten, die „Nusler Mühle“ u. dgl. Aber die Polizei fand alle diese Schlupfwinkel nach und nach heraus, und wenn auch mancher Polizeibeamte bei der Aushebung mit verräterischem Wohlgefallen und verdächtiger Fachkenntnis das Pfeifen der Mensurspeere probierte — was half das, er mußte doch die schönen Waffen konfiszieren. Der Chef des Sicherheitsdepartements hat die Türen des Polizeimuseums mit saisierten Schlägern und Säbeln sehr geschickt dekoriert ...
Von der Romantik des „Schipkapasses“, der als Sanatorium für Verwundete beliebt war und auf dem einmal eine Kuh bei einem Pistolenduell ritterlich verletzt wurde, und von den Schicksalen des Zimmermannschen Paukbodens „Vaclavbude“ hat Karl Hans Strobl in seinen Prager Romanen meisterliche Bilder gemalt. Es gibt gar viele einstige Prager Studenten, die ähnliche Erlebnisse und Reminiszenzen von anderen Prager Fechtlokalen aufzufrischen vermöchten. Zumindest hat jedem dieser Lokale die Veränderung der Stadt und ihrer Häuser eine Geschichte gegeben. Der Schreiber dieses hat u. a. selbst in einer längst der Assanation zum Opfer gefallenen Spelunke in der Zigeunergasse der alten Judenstadt gegen den Obmann des völkischen Lese- und Redevereins „Germania“, in einem noblen deutschen Hotel der Unteren Neustadt gegen einen Herrn, der heute im tschechisch-politischen Leben eine Rolle spielt, und gegen einen zionistischen Arzt — in einem verfallenen Klostertrakt gefochten. Ob heute noch Mensuren geschlagen werden, und wo — das möchten Sie gerne wissen, Herr Polizeirat!
„Schon wieder ist’s Tag geworden.“ Man registriert dieses Faktum, wenn man die Türe schließt und auf die Straße tritt. Da drinnen spielen die Zigeuner den Rakoszy-Marsch zum Abschied, aber die aufpeitschenden Zimbaltöne dringen nur gedämpft heraus und haben in der Morgenluft ihre faszinierende Wirkung eingebüßt. Man knöpft sich fröstelnd den Rock zu, entzündet die letzte „Prinzesas“ und ist der Sonne gram, die schon wieder einmal über dem Wysotschaner Firmament aufgestiegen ist, bevor man noch zu Hause im Bette liegt. Man flucht über das teuflische Raffinement der Nachtlokalbesitzer, die in den sonst so verschwenderisch ausgestatteten Räumen keine Uhr anbringen. Man flucht auf Wein, Gesang und Weib. Man verflucht sich selbst.
Beim „Spinka“ bleibt man stehen. Die ersten Elektrischen fahren auf, immer in einer Richtung von der Remise kommend, so schnell, daß man denken könnte, man wäre in Berlin oder sonst in einer Großstadt. Aber bekanntlich wird das Tempo immer langsamer und erst um Elfe abends, auf dem Wege zur Remise, erlangen die Waggons wieder Schnelligkeit. Vom oberen Wenzelsplatz kündigen große Staubwolken das Herannahen der Hygieia an, den stattlichen Zug Prager Straßenkehrer mit dem Zeichen ihrer Macht, dem Kehrbesen. Sonst ist der Platz menschenleer, auf den sich die Prager sonst so viel einbilden, weil er die einzige Stelle ist, auf der sich hie und da das Großstadtgetriebe ent- und abwickelt, und weil er einen Inselperron hat wie der Potsdamerplatz. Auch das Kandelaber-Grandcafé fehlt schon beim „Spinka“. Die Cafétiere ist Punkt 4 Uhr mit ihrem geräderten Teehaus zur städtischen Sparkassa übersiedelt, wo sie den Marktweibern, den Fuhrleuten, deren Helfershelfern und den mächtigen Marktpolizisten einen heißen Morgentrunk kredenzt. Auch der Standplatz der Droschken ist verwaist. Nur der Polizist steht Tag und Nacht da; mißmutig wartet er mit heißem Sehnen auf den Missetäter oder mit noch viel heißerem auf die Ablösung. Höflich salutierend legt er die Hand an seinen Chanteclerhut, aber mit dieser Höflichkeit kontrastiert ein unterdrücktes Lächeln, das zu sagen scheint: „Du unverbesserlicher Flamender! Unsereiner wäre glücklich, schlafen zu können und muß Nächte aufbleiben, der da könnte schlafen und will nicht.“ Ich muß ihm doch wenigstens zeigen, daß ich nüchtern bin.
„Na, was war los während der Nacht?“
„Nichts, Besonderes gar nichts. Am Leonhardiplatz haben’s einen beinahe erstochen. Wie er heißt, weiß ich nicht, 712 war dort. Dann war eine Rauferei beim „Silbernen Dreier“ und dann haben wir eine „Dame“ wegen schlechter Buchführung verhaftet.“
„Guten Morgen.“
Weiter geht der einsame Weg. Aus den Nachtlokalen tönt noch Musik, ersterbend. Mehreremale muß Halt gemacht werden, denn alle Leute, die man trifft, sind Bekannte. Da begrüßt einem der alte Fiala in seinem alten, abgetragenen Havelock, der nächtliche Wetterprophet. Um zwei Kreuzer prophezeit er den Gästen das schönste Wetter, um drei Kreuzer gibt er es sogar schriftlich; sein Stolz ist, daß er den Zusammenstoß des Halleyschen Kometen mit der Erde und ihren Untergang mit derselben Bestimmtheit vorausgesagt hatte, wie die Sternwarte der Harvard-Universität. Die alte Frau da mit der alten Seidenmantille, die wohl auch einstens bessere Tage gesehen, spielt den Gästen in einer Weinstube auf der oberen Neustadt bis früh zum Tanz auf; sie hat eine Familie zu ernähren und weiß nicht, ob der Erlös der Nacht ausreichen wird, aber sie darf sich ihre Besorgnis nicht anmerken lassen und muß das belebende Lied von den „Honey boys“ immer wieder mit Lust und Verve spielen, muß immer wieder ihre Zündhölzchenkunststücke zum Besten geben und muß immer wieder den Pommery trinken, den ihr splendide Gäste widmen. Dort kommt mir mit militärischer Pünktlichkeit im Laufschritt ein Einjährig-Freiwilliger entgegen. Vor drei Stunden da habe ich ihn noch tanzend in einem vornehmen Etablissement gesehen. Aber welch eine Metamorphose hat er durchgemacht! Mitten in all dem Glanz und Flitter da hatte er blitzende Lackschuhe, elegante hellblaue Kammgarnhosen mit Strupfen, einen tiefdunklen Waffenrock mit hohem Kragen und strahlenden Silbersternen und eine Mütze — die Vorschriftswidrigkeit selber. Jetzt aber ist der Glanz der Sterne verblichen, der der Schuhe verblaßt, der Kragen zusammengeschrumpft, die Mütze die Vorschrift selber, die Uniform hat ihre Buntheit eingebüßt und ist grau und fad wie der Morgennebel und wie der Staub, der in dichten Schwaden aus dem Besen der Straßenkehrer emporwächst. Und der Blick des Marsjüngers, der um zwei Uhr nachts so stolz und sieghaft war, ist jetzt müde und neidisch, wie eben der Blick eines Soldaten sein kann, der nach durchjubelter Nacht zum Exerzieren auf den Sandberg eilt und einen Zechkumpan trifft, der jetzt ruhig schlafen geht. Dort kommt ein anderer Bekannter. Ein alter Detektivinspektor, schon lange im Ruhestande. Aber er kann nicht schlafen. An vierzig Jahre hat er gefahndet und inspiziert — nun kann er das Nachtwachen nicht mehr lassen und geht die ganze Nacht spazieren. Ein Gummiradler kommt vorüber. Die Direktrice der „Roten Mühle“ fährt nach Hause. Gleich hinter dem Gummilutscher rollt ein schweres Gefährt durch die Gasse: Die Kanalräumer haben ihr nächtliches Tagewerk beendet.
Es ist die Stunde des Schichtwechsels. Ein Teil der Stadt geht schlafen, ein Teil der Stadt erwacht. Noch ist nicht Frühstückszeit und schon leiht die Sorge um den Mittagstisch den Gassen das Gepräge. Eine lange Kette von Landwagen — die Retterinnen des Kapitols sind ihre Passagiere —, Hundegespanne mit Gurkenladung, riesige Streifwagen mit Kohlköpfen und Salat, die weißen Wagen der Dampfmolkereien, Bauersleute mit gemüsebeladenen Schubkarren, alte Weiber mit Schwämmen, Erdbeeren und anderen Waldfrüchten eilen der Altstadt zu. Sie bringen dem „Bauche von Prag“ ihre Opfergaben. Die Weiber, die seit dem Abend unter den Lauben des Kohlmarktes auf dem Straßenpflaster zusammengekauert oder lang ausgestreckt geschlafen haben, stellen sich längs des Trottoirs hinter ihren Körben auf, in denen Obst und Pilze sind. Sie suchen die Ware in der Zeit von 4 Uhr bis 7 Uhr früh loszuwerden, da sie innerhalb dieses Zeitraumes noch keine Marktgebühr zu entrichten haben. Deshalb ist in diesen drei Stunden die Ware billiger und die armen Leute, die Gemüsegroßhändler und die Zwischenhändler decken schon jetzt ihren Bedarf.
Auf dem Altstädter Ring ist um diese Zeit Markt. Rings um die Marienstatue scheint die Wagenburg eines Hussitenlagers errichtet zu sein. An hundert Gemüsewagen stehen hier mit vorgespannten Pferden und lassen drei Straßen frei, in denen sich das Kaufgetriebe abspielt. Es sind fast durchwegs Gemüsehändler, die einkaufen. Nur an der letzten Wagenreihe, die der Teinkirche am nächsten ist, drängen sich auch Frauen. Hier werden Kartoffeln feilgeboten und die Frauen des Volkes müssen einkaufen, bevor in den Preis die Marktgebühr einbezogen wird. Punkt 7 Uhr rollen die letzten Wagen davon, der Platz wird gefegt und die Prager, die erst jetzt erwachen und über den Ring gehen, haben jahraus, jahrein keine Ahnung, daß hier vor kurzem Jahrmarktstreiben herrschte.
Um diese Zeit neigt sich auch das wogende Leben, das von 3 Uhr morgens ab in den Kaffeehäusern und Suppenstuben der Galligasse und der Rittergasse herrschte, seinem Ende zu. Hier sitzen die Damen der Halle im Lokale, in dessen Mitte, ganz wie im Orient, der Herd steht, und besprechen bei einer Tasse Kaffee, die 20 Heller kostet, und bei einer Buchte um 6 Heller die österreichische Agrarpolitik und ihre Einwirkung auf die Fleischteuerung. Vergleichsziffern aus alten, besseren Zeiten illustrieren diese politischen und wirtschaftlichen Enunziationen. Manchmal ißt man vielleicht auch eine „drštková polévka“ dazu, was laut Ranks Wörterbuch deutsch „Kuttelflecksuppe“ heißt. Na ja, Ranks Wörterbuch ist eben kein Kochbuch, und so kann darin nicht verzeichnet sein, welche Fülle geheimnisvoller Ingredienzien eine kommune Kuttelflecksuppe zu einer Prager „drštková“ stempelt. Die Schnapsbutiken sind voll von Leuten, die sich aus den zahllosen Fäßchen Arzneien gegen Mattigkeit und Nervosität kredenzen lassen. Die Gassen beleben sich immer mehr. Bäckerjungen, Fleischergehilfen, die auf dem Rade aus der Holleschowitzer Zentralschlachtbank in den Laden fahren, Nachtwächter, Plakatankleber und Zeitungsausträgerinnen sind die Passanten.
Schon wird der Posten eingezogen, der während der Nacht im „Alten Gericht“ die Kasse des Steueramtes bewacht hatte. Wenige Minuten später ziehe ich die Glocke meines Hauses. Während der Hausmeister herbeikommt, um sein letztes Sperrsechserl einzuheimsen und dann das Haustor schon offen zu lassen, zieht der in Phantasieuniform gekleidete Bedienstete der „Wach- und Schließ-Gesellschaft“ seine Uhr und richtet sie. Er weiß: Wenn ich nach Hause gehe, ist’s Punkt 6 Uhr. Und da gibt es noch Menschen, die behaupten, ich führe keinen regelmäßigen Lebenswandel!
Am Sonntag vor Weihnachten traf ich in der Kleinseitner Brückengasse den Detektiv Wünsch, einen der intelligentesten, aber auch der unglücklichsten Zivilwachleute der Polizeidirektion. Er war seinerzeit bei der Aufdeckung des Doppelmordes in Krtsch, als man die Leichen des Takacz und der Hansely im Keller ausgrub, mit einer Schaufel geritzt und von Leichengift infiziert worden; viele Monate hatte er zwischen Leben und Tod geschwebt. Und jetzt war er wieder krank. Er kam gerade aus der Apotheke. „Meine Lunge ist kaput,“ flüsterte er. Das Sprechen machte ihm Mühe. „Ich werde es nicht mehr lange machen ...“
Ich versuchte ihm das auszureden. „Sie werden noch erwarten können, bis Sie Inspektor werden,“ meinte ich lächelnd, „Sie werden doch dem Staat nicht die Inspektorspension schenken!“ Detektiv Wünsch machte eine abwehrende Handbewegung: „Lassen wir das Thema, ich weiß das besser.“ Dann sagte er:
„Herr Kisch, dieser Tage habe ich mich so an Sie erinnert. Wissen Sie, wohin Sie einmal gehen sollten? In die Wärmestube. Dort könnten Sie Studien machen. Dort haben Sie alle unsere Kerle ...“ Mit dem Ausdruck „unsere Kerle“ meinte er die im Sicherheitsbureau bekannten Falloten. Als ich mich für das Thema zu interessieren begann, fuhr Wünsch fort:
„Sie können sich bei mir umkleiden. Ich wohne in der Nähe, unter der Karlsbrücke, Lužickygasse 10. Dort werde ich Sie anziehen, daß Sie wie ein echter Verbrecher aussehen werden. Von meiner Wohnung aus brauchen Sie dann nur eine Minute in Ihren Fetzen zu gehen, und schon sind Sie in der Wärmestube.“
Ich versprach bald zu kommen und schon am Neujahrssonntag klopfte ich an seine Tür, um die Exkursion anzutreten. Mir öffnete eine Frau.
„Bitte, wohnt hier der Herr Wünsch?“ fragte ich.
„Herr Wünsch wohnt schon in Wolschan draußen,“ wurde mir zur Antwort. Ich glaubte, falsch verstanden zu haben. Aber man bestätigte mir die Nachricht, die mich — schon weil sie mir so unerwartet kam — bodenlos schmerzlich berührte: Herr Wünsch war während der Weihnachtsfeiertage gestorben.
Er konnte also nicht meine Equipierung mehr besorgen, mir keine besonderen Tips für die Stammgäste in der Wärmestube in seiner Nachbarschaft geben. Aber ich beherzigte seinen Rat. In der Filiale der Leichenbestattungsanstalt Fuchs auf der Kampa-Insel warf ich mich in full dress. Nicht in die Fetzen, die ich auf meiner Floßfahrt nach Magdeburg, bei meinem Besuch im Asyl für Obdachlose und bei ähnlichen Streifzügen getragen hatte. Diesmal kam ich nicht als Arbeiter, sondern als obdachloser Müßiggänger, als herabgekommenes Subjekt. Ich glich in meinem, einst ganz elegant gewesenen, aber jetzt schon ganz fadenscheinigen Überzieher, meinen zerfransten Nankinghosen, meinem verbogenen und beschmutzten Kragen — eine Krawatte hatte ich nicht — ungefähr dem Baron in Maxim Gorkis „Nachtasyl“, den hier in Prag Hans Waßmann gespielt hat.
Und nun, da ich mich des Schutzes gegen den Winter entledigt hatte, spürte ich, kaum daß ich auf der Straße war, was es heißt, der Gewalt des Frostes wehrlos preisgegeben zu sein. Von der Čertovka her, dem Moldauarm, der die Kampa umfließt, mischte sich schwere Feuchtigkeit in die eisigkalte Luft, und die dicken Schwaden, welche rings um den brennenden Gaslaternen sichtbar waren, erweckten den Anschein, als ob die frierende Luft sich an die Lichter herandränge, um sich zu wärmen.
Nach kurzem, aber kaltem Wege war ich in der Wärmestube. Sie ist in einem niedrigen Gebäude in der Belvederegasse untergebracht, das an den Landesschulrat anschließt. Rechts ist der Eingang in die Abteilung für Frauen, links in die für Männer. Durch diesen ging ich, durchschritt einen kurzen Korridor und war dann vor einer Glastüre. Ich öffne und bin in der Wärmestube. An dreißig Menschen wenden sich ruckartig gegen den Ankömmling, ich fühle mich von ebensovielen Augenpaaren scharf, durchdringend und verdächtigend gemustert. Ich tue als ob ich das nicht beachte und suche mir ein Plätzchen. Das ist nicht so einfach. Das Zimmer ist klein, und die dreißig Menschen sitzen dicht an einander geschmiegt auf den Bänken, welche an den beiden Längswänden und parallel zu diesen in der Saalmitte, sowie an einer Breitseite aufgestellt stehen. Die der Tür gegenüberliegende Breitwand des Raumes ist frei; hier ist der Eingang in die Küche und der Schalter, an dem man zu Mittag eine Suppe und Brot bekommt. Schließlich schaffe ich mir doch einen Sitzplatz: Zwischen zwei Schlafenden ist eine Handbreit der Bank freigeblieben, und ich, indem ich den einen Schläfer beiseite schiebe — er rückt mechanisch weiter — kann mich niedersetzen. Ich sinke, Apathie heuchelnd, in mich zusammen, und die Blicke der Leute rutschen wieder von mir ab, und die Gespräche, die während meiner Installation verstummt waren, werden wieder fortgesetzt.
Nun erst schaue ich mich um. Da sitzen sie, die wehrlosen Feinde des Frostes, da sitzen sie in ihrer einzigen Zufluchtstätte. Aber auch hier, wo sie der Gegner nicht fassen kann, legen sie ihre schwache Wehr nicht ab. Alle haben ihre zerschlissenen Winterröcke und ihre Hüte anbehalten, alle haben ihre Rockkragen aufgeschlagen, fast alle haben Tücher um ihre Ohren geschlungen. Der eine hat Pulswärmer an — zwei Tuchmuster oder Strumpfteile, die mit Spagat am Handgelenk festgebunden sind. Alle sitzen zusammengekauert und aneinandergeschmiegt da. Besonders dicht ist die Reihe in der Ecke, an dem Eisenofen. Die Zunächstsitzenden halten ihre Hände an den graphitartig glänzenden Ofen, als wollten sie in der kurzen Spanne Zeit ein möglichst großes Quantum Wärme in sich aufnehmen.
Armselige Gestalten! Es ist ein grau in grau gemaltes Bild, das man hier im Lichte der einen Gasflamme sieht. Aber nach und nach unterscheidet man die Grundfarben, erkennt, daß hier zwei Gruppen menschlichen Elends vertreten sind: Arbeitsnot und Verbrechen. Man erkennt das aus den Gesprächen, man sieht es den Menschen an. Einer hat seinen Stiefel ausgezogen und bindet mit schmerzverzerrter Miene einen schmutzigen Fußlappen um seinen über und über blutigen Fuß. Ein anderer, ein junger Bursch, der ein rotes Tuch nicht ohne Koketterie um den Hals gebunden trägt, legt einen Taschenspiegel auf sein Knie und kämmt seinen ohnedies bewunderungswürdig tadellosen Scheitel. Ein alter Mann blättert verzweifelt in seinem Arbeitsbuch — er sucht wahrscheinlich, ob er bei seiner Stellungssuche in Prag nicht einen einstigen Dienstgeber vergessen hat.
Alle fluchen dem Winter. Daß es heuer keinen Schnee in den Straßen zu schaufeln, kein Eis auf der Moldau zu hacken gibt. Die anderen — und es läßt sich nicht verschweigen, daß diese in der Mehrzahl sind — fluchen den Polizeibezirksleitern und Bezirksrichtern, die so streng sind, im Winter milde zu sein.
„Voriges Jahr hab’ ich im Sommer in Deutschbrod drei Wochen wegen Bettelei bekommen, und vorige Woche hat mir der Schuft nur vierundzwanzig Stunden gegeben,“ schimpft einer. Ein anderer lacht wieder:
„Mich hat vorgestern in Smichow der Kommissär gefragt, ob ich mir nicht Arbeit suchen wolle. Da hab’ ich gesagt, ich werde jetzt Hopfen pflücken gehen.“ Alle lachen. Dann wendet sich der Spaßvogel zu dem Burschen mit dem roten Schlips:
„Wer wird denn jetzt Fahnenträger bei den Ausflügen der Sträflinge sein, wenn du ihnen untreu geworden bist.“ Neuerliches Halloh. Aber der Verspottete frisiert sich ruhig weiter:
„Ich hab’s erledigt. Aber du wirst erst anfangen.“
Dann wird der Strafvollzug in den einzelnen Gerichten Böhmens und Mährens einer vergleichenden Erörterung unterzogen. Der eine lobt sich seine Salonzelle in Mährisch-Budwitz, der andere schimpft auf sein Gerichtsquartier in einer südböhmischen Stadt. Auch das Schubwesen und die Behandlung in den einzelnen Schubstationen werden fachlich besprochen, und es gibt keinen Mißstand, der nicht auf Grund reicher Erfahrungen vollkommen aufgedeckt worden wäre. Man sollte die Stammgäste der Wärmestuben bei Enquêten in Justizangelegenheiten heranziehen. Sie sind ja die Hauptbeteiligten, und wären zweifelsohne die bestinformierten Experten.
Einer, der das große Wort führt und viel von Weibern und Pferden erzählt — allerdings von solchen, die nicht edler Rasse sind — hat mich ins Auge gefaßt:
„Gehst du heut’ ins Asyl?“
Ich verneine. Erst am nächsten Donnerstag sei der Monat um, seitdem ich dort war, also könne ich erst nächste Woche wieder hingehen. Dann versinke ich wieder in Schweigen. Aber der Kerl gibt nicht locker.
„Du bist ein Schneider, nicht wahr?“ fragt er mich.
„Ich bin Handlungsgehilfe,“ ist meine Antwort.
„Du handelst wohl mit alten Hadern,“ sagt er und weist auf meinen derangierten Anzug. Ein lautes Lachen geht los.
„Nun ja, jeder kann nicht so elegant herumlaufen wie du,“ gebe ich ihm zurück und habe jetzt die Lacher auf meiner Seite. „Der hat dir einen flek (Trumpf) gegeben,“ ruft ein junger Bursch meinem Widersacher zu. Ich habe in Ehren bestanden.
Einige holen aus ihrer Tasche ein Stück des Brotes hervor, das ihnen zu Mittag verabreicht worden ist und beginnen zu kauen. Von Zeit zu Zeit steht ein Bursche auf und langt nach der Wasserkanne, die auf einer Konsole steht. Dann gießt er sich Wasser in einen Blechtopf, der mit einer Kette an die Wand befestigt ist. Mein Nachbar, der inzwischen erwacht ist, trinkt den Topf viermal leer. Dann wischt er sich den Mund ab und sagt: „Brr, wenn ich nur heute vier Kreuzer auftreiben könnte. So ein Gläschen Kornschnaps könnte nichts schaden.“
Der Bursch mit dem roten Scarf hat andere Gelüste. Er steckt sich eine halbe „Drama“ in den Mund und entfernt sich mit einem Schnalzen aus der Wärmestube: „Jetzt wird fein geraucht.“ Nach fünf Minuten ist er wieder da.
Um halb 6 Uhr vergattern sich die Leute, die in das Nachtasyl schlafen gehen und verlassen das Lokal. Für die Zurückbleibenden gibt es nur einen Gesprächsstoff: das Nachtquartier. Der Eine rühmt sich, daß ihm seine Geliebte heute Obdach gewähren werde, der Andere weiß sich eine feine Scheuer in der Nähe des Baumgartens, ein Dritter erzählt von einem angenehm warmen Ziegelofen in Koschiř.
„Du meinst die Ziegelei Kudela?“ wird er gefragt.
„Das weiß ich nicht. Ich schlafe schon seit vier Jahren im Winter dort, aber ich weiß gar nicht wie die Ziegelei heißt.“
Um sechs Uhr rasselt der kleine blonde Mann, der durch eine blaue Schürze, einen sauberen Anzug und ein Käppi als der Aufsichtsmann der Wärmestube kenntlich ist und der bislang ruhig an einer Ecke der Bank gesessen ist, ostentativ mit einem Schlüsselbund. Das ist die Mahnung zum Aufbruch. Alles steht auf, jeder geht noch zum Ofen, als ob er etwas Wärme als Wegzehrung mitnehmen wollte. Dann geht es hinaus. Hinter uns wird die Türe gesperrt. Der Schlafbursche der Ziegelei wendet sich auf dem Korridor an mich.
„Komm’ mit mir nach Koschiř schlafen.“
„Warum denn? Bist du dort allein?“
„Allein! Es sind gewöhnlich vierzig dort. Größtenteils Drahtbinder.“
„Also weshalb willst du, daß ich mitgehe?“
„Na, der Weg ist weit, und zu zweit geht sichs besser. Komm’ mit!“
„Ein andermal. Heute werde ich noch bei einem Freunde schlafen.“
Dann treten wir auf die Straße hinaus. Es ist schon dunkel, und jauchzend umpfeift der kalte Wind die zusammengeduckten Jammergestalten, die sich für eine knappe Zeitspanne vor ihm versteckt gehalten hatten, die ihm aber nun wieder willenlos preisgegeben sind, für eine lange Winternacht.
Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. 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