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Liebhaber-Ausgaben
Künstler-Monographien
In Verbindung mit Andern herausgegeben
von
H. Knackfuß
XLV
Liebermann
Bielefeld und Leipzig
Verlag von Velhagen & Klasing
1900
Von
Hans Rosenhagen
Mit 115 Abbildungen nach Gemälden und Zeichnungen
Bielefeld und Leipzig
Verlag von Velhagen & Klasing
1900
Von diesem Werke ist für Liebhaber und Freunde besonders luxuriös ausgestatteter Bücher außer der vorliegenden Ausgabe
eine numerierte Ausgabe
veranstaltet, von der nur 50 Exemplare auf Extra-Kunstdruckpapier hergestellt sind. Jedes Exemplar ist in der Presse sorgfältig numeriert (von 1–50) und in einen reichen Ganzlederband gebunden. Der Preis eines solchen Exemplars beträgt 20 M. Ein Nachdruck der numerierten Ausgabe, auf welche jede Buchhandlung Bestellungen annimmt, wird nicht veranstaltet.
Die Verlagshandlung.
Druck von Fischer & Wittig in Leipzig.
Die aufregendsten Begebenheiten in der Kunstgeschichte der letzten dreißig Jahre, die widerspruchsvollsten Äußerungen der Zeitgenossen über Künstler und Kunstwerke und schließlich der entscheidende Sieg von Anschauungen, die der Kunst am Ende des neunzehnten Jahrhunderts die charakteristische Physiognomie gegeben, stehen im unmittelbarsten Zusammenhange mit dem Dasein von zwei Malern, an deren Bedeutung heute nur noch Übelwollende oder gegen alle Entwickelung sich Abschließende zweifeln können. Der eine dieser Maler ist Edouard Manet, der andere Max Liebermann. Beide haben der Kunst neue Ziele gesetzt, und wenn es auch bei Manet wahrscheinlich und bei Liebermann gewiß ist, daß Andere vor ihnen Gleiches gewollt und dafür gekämpft haben, so waren sie doch die ersten großen Künstler, die die latent gebliebenen Ideen in vollkommenen Kunstwerken zusammenfaßten und damit die Aufmerksamkeit der Mitwelt auf sie hinlenkten. Und darauf ist es in der Kunst immer angekommen. Unzweifelhaft ist Manet der Kühnere von beiden; aber darin begegnet er sich mit Liebermann, daß er nicht in der Darstellung der Dinge an sich, sondern in der Schilderung ihrer Zustände unter der Wirkung von Luft und Licht die zu lösende künstlerische Aufgabe sah und so wieder zur Malerei kam, woraus sich mit Notwendigkeit ein Zusammenhang zwischen ihm und der alten Kunst ergeben mußte. Und auch darin besteht eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Künstlern, daß sie alle Bitternisse des Verkanntseins in ihren Absichten, alle Beschimpfungen der Menge und die volle Verachtung der in ihrem Schlummer gestörten Ästhetik kosten mußten. Manet hat leider nicht mehr das Glück erlebt, die ungeheure Wirkung seines Beispieles zu sehen; aber Liebermann wandelt noch[S. 4] in ungebrochener Kraft unter uns und behauptet seine künstlerische Stellung mit einer Energie und einem Erfolge, die nur den heroischen Erscheinungen der Kunstgeschichte beschieden sind.
Fast alle diejenigen, die über Manet und Liebermann geschrieben, haben — der Eine mehr, der Andere weniger — ihren Äußerungen den Charakter von Verteidigungsschriften geben müssen, vor allem waren sie genötigt, ihre Helden gegen den Vorwurf, die Gefühle des Publikums durch die gewählten Stoffe verletzen zu wollen, in Schutz zu nehmen. Das ist bezeichnend genug für die Art des Widerspruches, mit dem die Allgemeinheit den Künstlern begegnete, die, wie jetzt feststeht, eine neue Schönheit aus der Natur herausgesehen. Allerdings war der Abstand von der neuen Schönheit, die jene beiden Künstler brachten, zu der, die alle Welt anerkannte, noch niemals so groß gewesen. Man empfand das Neue als eine Beleidigung und verhielt sich danach. Man sah das Wahre in den Bildern Manets und Liebermanns für ein bewußtes Herauskehren und Betonen des Häßlichen an, gegen das man sich wehren müsse um jeden Preis. Die schwersten Geschütze aus dem Arsenal der Ästhetik donnerten Vernichtung gegen die Frevler an den heiligsten Gütern der Menschheit. Und doch war im Grunde weiter nichts geschehen, als daß ein paar Maler das innerliche Bedürfnis gefühlt hatten, die Welt, wie sie war, zu sehen und darzustellen, also soweit als möglich, objektiv zu sein.
Es ist sehr fraglich, ob das Ach- und Wehgeschrei, das sich Ende der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts über die Verrohung der Künstler in Deutschland zu erheben begann, verstummt wäre, wenn man das Zeugnis Goethes dafür beigebracht hätte, daß dieser verachtete Naturalismus die Morgenröte einer vorschreitenden Epoche in der Kunst bedeute. Höchst wahrscheinlich würde man seinen von der allertiefsten Einsicht in das Wesen der Kunst zeugenden Ausspruch: „Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung. — Jedes tüchtige Bestreben wendet sich aus[S. 5] dem Inneren hinaus auf die Welt, wie man an allen großen Epochen sieht, die wirklich im Streben und Vorschreiten und alle objektiver Natur waren“ dahin ausgelegt haben, daß die Subjektivität auf seiten der frechen Neuerer, und in ihren Werken der Niedergang der Kunst offenbar sei. Aber es ist wohl überhaupt eine Schwäche der menschlichen Natur, Subjektives und Objektives miteinander zu verwechseln. Eins ist sicher: Niemals hat sensationslosere Kunst mehr Sensation gemacht als in den Bildern[S. 6] Manets und Liebermanns, und wenn man heute von diesem Sensationellen, das man einst den Werken dieser Künstler nachsagte, nichts mehr bemerkt, so liegt darin schon eine Anerkennung ihrer Bedeutung. Denn nicht sie haben sich geändert, sondern die ganze Kunst hat getrachtet, ihnen ähnlich zu werden, ist ihnen nachgewachsen, so daß kein äußerlicher Gegensatz mehr besteht.
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Um die kunstgeschichtliche Stellung eines Künstlers zu präzisieren und ihm zugleich als Persönlichkeit gerecht zu werden, ist zweierlei nötig: Nachzuweisen, was ihn mit der Vergangenheit verbindet und klarzulegen, durch welches Neue er sich von ihr unterscheidet. Ehe jedoch die künstlerische Thätigkeit Liebermanns eine Untersuchung in diesem Sinne erfährt, dürfte es, um durch Wiederholungen von Thatsachen nicht zu häufig aufgehalten zu werden, angebracht sein, über[S. 7] sein Leben und seine Thätigkeit kurz zu berichten.
Max Liebermann ist ein Berliner Kind. Er wurde am 20. Juli 1847[1] als Sohn eines wohlhabenden Fabrikanten geboren, verlebte in dem behaglichen Heim seiner Eltern eine glückliche Jugend und bezog nach auf einem Gymnasium absolvierter Schulzeit 1868 die Berliner Universität, wo er sich in die philosophische Fakultät inskribieren ließ; freilich ganz gegen seine Neigung und nur, um ein Zerwürfnis mit seinem Vater zu vermeiden, der von dem Wunsche des Sohnes, Maler zu werden, durchaus nichts hören wollte. Aber anstatt sich mit den Ideen Schellings und Hegels bekannt zu machen, zog es der junge Liebermann vor, heimlich die Akademie zu besuchen und sich von Karl Steffeck in der Kunst des Malens unterrichten zu lassen. Er malte und zeichnete in dessen Atelier Menschen, Pferde, Hunde und war nach einem Jahre[S. 8] so weit vorgeschritten, daß er an Steffecks großem Bilde „Sadowa“ mitmalen durfte. Aber obgleich sich der Lehrer von seinen Leistungen für befriedigt erklärte — Liebermann selbst fühlte die Unzulänglichkeit seiner Ausbildung zu lebhaft, als daß er Genüge an seinen Schülererfolgen gefunden hätte. Mit Einwilligung seines Vaters, der sich am Ende doch entschlossen hatte, der Neigung des Sohnes freien Lauf zu lassen, ging er nach anderthalbjährigem Studium bei Steffeck im Jahre 1869 nach Weimar. Es war nicht Sympathie für den dort noch vorhandenen Überrest von klassizistischer Kunst, die den jungen Künstler dorthin führte. Aber in der Stadt Goethes wirkte als Lehrer an der Kunstschule der Belgier Ferdinand Pauwels (geb. 1830), der als Schüler Wappers den glänzenden malerischen Stil und den Realismus der belgischen Historienmalerei mitgebracht hatte. Liebermann ging nun systematisch zu Werke; er zeichnete bei Thumann fleißig nach Gips und malte bei Pauwels; jedoch seine Versuche, Bilder in der Art seiner Lehrer zu malen, schlugen durchaus fehl. Da brachte ihn der Zufall auf einen Weg, der künftig sein Weg werden sollte. Nach einer glücklich überstandenen Krankheit spazierte er an einem Sommermorgen vor den Thoren Weimars. Auf einem Felde, an dem sein Weg vorüberführte, sah er einen Bauer mit seinen Leuten arbeiten, und wie er gern erzählt, ist ihm beim Anblick dieser fleißigen Menschen zuerst der Gedanke gekommen: Das mußt du malen,[S. 9] genau so, wie es ist. Wenn es nun auch nicht sofort dazu kam, so war sich der junge Maler doch darüber klar geworden, was ihn künstlerisch zu reizen vermochte. 1873 entstand Liebermanns erstes größeres Bild „Die Gänserupferinnen“, jetzt im Besitze der Berliner Nationalgalerie. Als Malerei, trotz dem von Munkaczy übernommenen schwärzlichen Kolorit, ziemlich akademisch, erregte es durch seinen Inhalt überall den heftigsten Anstoß. Man fand es unerhört, dem Publikum den Anblick eines so gewöhnlichen Schauspieles zu bieten: Alte häßliche Weiber in einer schwärzlichen Scheune bei einer zwar nützlichen, aber doch eigentlich gemeinen Arbeit. Indessen das Bild machte, wo es auch gezeigt wurde — in Weimar, Hamburg und Berlin — Aufsehen und fand schließlich, obwohl sich die gesamte Kritik gegen den „Rhyparographen“, den „Apostel der Häßlichkeit“ Liebermann aussprach, seinen Käufer. Das erhaltene Geld benutzte der ermutigte Künstler zu einer Reise nach Paris, wo er sich sogleich mit Munkaczy, den er in jener Zeit besonders lebhaft verehrte, in Verbindung setzte. Ein Abstecher nach Holland ließ ihn das Motiv zu den „Konservenmacherinnen“ finden, die er, nach dem kurzen Ausfluge nach Weimar zurückgekehrt, sofort in Angriff nahm.
[1] Diese Angabe entspricht allein der Wahrheit. Die in allen biographischen Mitteilungen über Liebermann zu findende Angabe, der 29. Juli 1849 sei der Geburtstag des Künstlers, erklärt sich daraus, daß der Künstler in dem ihm zur Durchsicht s. Z. übersandten Korrekturabzug des ihn betreffenden Artikels in Brockhaus’ Konversationslexikon die Änderung des falschen Datums und Geburtsjahres versäumt hat.
In Weimar wirkte seit 1872 neben Pauwels noch ein zweiter Belgier an der Kunstschule: der unter dem Einflusse Courbets stehende Charles Verlat. Seine fabelhafte Routine im Malen, seine frische Art, die Natur anzupacken, waren nicht ohne Eindruck auf Liebermann geblieben und übten schon in dem neuen Bilde ihre Wirkung aus. Verlat war es, der dem jungen Künstler den Rat gab, die „Konservenmacherinnen“ nicht in Deutschland auszustellen, sondern auf die in Antwerpen im Sommer 1873 stattfindende Ausstellung zu schicken. Ein neuer Erfolg! Das Bild wurde nicht allein verkauft, sondern mehrfach nachbestellt. Französische und belgische Kunsthändler machten dem Berliner Maler Anerbietungen, und[S. 10] der junge Künstler, dem das Ausland so viel mehr Verständnis und Sympathien entgegenbrachte als sein Vaterland, entschloß sich kurzer Hand, dauernden Aufenthalt in Frankreich zu nehmen. Im Dezember 1873 siedelte Liebermann nach Paris über.
Es gehörte damals einiger Mut dazu, sich als Deutscher nach Frankreich zu wagen. Der Chauvinismus stand in üppigster Blüte, jeder Deutsche wurde beargwöhnt. Liebermann jedoch blieb unangefochten. Munkaczy und sein Talent hatten ihn empfohlen. Außerdem arbeitete er fleißig. Die Werke der Troyon, Daubigny, Corot und vor allem die Bauernbilder Millets, die er in Paris kennen lernte, machten in ihm den Wunsch lebendig, auch selbst noch von den Vorteilen der Fontainebleau-Schule zu profitieren. Im Sommer 1874 zog er nach Barbizon, jenem kleinen, im Walde von Fontainebleau gelegenen Dörfchen, das durch Rousseau und Millet für die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts so wichtig geworden ist, wie Weimar für dessen Litteratur. Millet lebte allerdings dort noch unter den[S. 11] „Bäumen, die untereinander reden“; aber Liebermann gelang es nicht mehr, mit ihm persönlich in Berührung zu kommen, zumal Millet bald starb. Um so inniger schloß sich der junge Künstler geistig an den verehrten Meister an. Seine im Salon 1876 ausgestellten „Arbeiter im Rübenfelde“ zeugen besser als alle Worte dafür. Aber das von Millet in die Seele des Berliner Malers gesenkte Samenkorn sollte erst außerhalb Frankreichs wirklich aufgehen, in Holland.
Man führt die Hollandschwärmerei, die die Landschafter der ganzen Welt seit zwanzig Jahren befallen hat, gern auf ein litterarisches Ereignis, auf das 1876 erfolgte Erscheinen von Eugène Fromentins geistvollem Buche „Les maîtres d’autrefois“ zurück, in dem der berühmte Orientmaler über die während einer Reise in Holland empfangenen Eindrücke berichtet, und das wegen der feinen Analysen des technischen und geistigen Inhaltes bedeutsamer Meisterwerke in der Kunstlitteratur ganz einzig dasteht. Es ist deshalb nötig, festzustellen, daß Liebermann, der die Aufmerksamkeit der deutschen Maler auf Holland besonders gelenkt hat, seine Motive von dorther geholt, ehe Fromentin jenes Signal gab und die Prophezeiung aussprechen konnte, daß man „de la littéra[S. 12]ture à la nature, de la nature à la peinture“ kommen werde. Die „Konservenmacherinnen“, die „Invaliden im Lotsenhause“ und allerlei Studien waren gemalt, ehe Fromentin seine Reise nach Holland antrat. Aber jenes Land, in dem so vielen Malern die Augen für malerische Schönheit geöffnet wurden, ist noch in anderer Beziehung für Liebermann von Bedeutung geworden: er erfuhr von Franz Hals und Rembrandt, was große Kunst sei, und begann im Freien zu malen. Paris verlor nach diesen holländischen Studienreisen für Liebermann mehr und mehr an Interesse, und als im Jahre 1878 die Eltern seine Rückkehr verlangten, setzte er ihren Wünschen keinen Widerstand entgegen. Kaum wieder daheim, hatte er das Unglück, auf der dunklen Treppe zu seinem Atelier auszugleiten und das Bein zu brechen. Die Heilung nahm mehrere Monate in Anspruch, und schließlich schickte man den Künstler zur gänzlichen Wiederherstellung nach Gastein. Die guten Wirkungen des Bades blieben nicht aus, und mit einer Reise durch Tirol nach Venedig suchte sich der Künstler für die ausgestandenen Schmerzen zu entschädigen. Zwei Monate lang ließ er den Zauber Venedigs und seiner Kunst auf sich wirken. Malte er nicht, so weilte er mit Vorliebe in den Sälen der Akademie, die die figuren- und wahrheitsreichen Bildercyklen von Gentile Bellini und Carpaccio enthalten. In Venedig lernte Liebermann mehrere Münchener Künstler, darunter auch Lenbach, kennen, die ihm die Vorteile, die München einem Maler von seiner fortschrittlichen Richtung böte, so lebhaft zu schildern wußten, daß er sich kurzer Hand entschloß, gar nicht erst wieder nach Berlin zurückzukehren, sondern gleich nach München zu gehen. Im Dezember 1878 langte er in Bayerns Hauptstadt an und machte sich sogleich an ein großes Bild, mit dem er die Jahresausstellung von 1879 zu beschicken gedachte. Das Bild wurde vollendet, von der Jury der Ausstellung mit Ausdrücken der Bewunderung entgegengenommen; aber die Wirkung, die es im Glaspalast ausübte, äußerte sich doch in sehr viel anderer Form, als der Künstler erwartet hatte. Das Bild stellte „Jesus unter den Schriftgelehrten“ dar, in einer den bayerischen Klerus zu hellen Zornausbrüchen veranlassenden realistischen Auf[S. 13]fassung. Sogar im bayerischen Landtage kam das Bild zur Besprechung, und statt Ehren und Ruhm erntete der Maler nur Ärger und Verdruß mit seiner Schöpfung. Obgleich namhafte Künstler, wie Lenbach, Gedon und Wagmüller, auf das Wärmste für Liebermann Partei nahmen und die außerordentlichen künstlerischen Eigenschaften, die der junge Berliner darin gezeigt, nicht genug zu rühmen wußten — die öffentliche Meinung ließ sich nicht besänftigen. Liebermann hat nie wieder ein religiöses Bild gemalt.
Während der Kampf um jenen „Jesus unter den Schriftgelehrten“ noch tobte, weilte der Künstler schon wieder in Holland, um Stoffe zu neuen Werken zu sammeln. München hatte zwar den Ruhm, einem bedeutenden jungen deutschen Maler als Aufenthaltsort zu dienen; aber dieser zog es nach den gemachten Erfahrungen doch vor, seine Bilder vorerst nach Paris zu schicken, wo man künstlerische Empfindungen nicht mit anderen zusammenwarf. Trotz alledem leugnet Liebermann nicht, daß der Aufenthalt in München, die Anregungen, die sich aus dem Verkehr mit gleichstrebenden Künstlern dort ergaben, sein Schaffen in günstigster Weise beeinflußt hätten. Verließen doch in den sechs Jahren, die er in München weilte, jene Werke sein Atelier, die seinen Ruhm begründet und zur Verjüngung der deutschen Kunst das Meiste beigetragen haben. Indessen ist weder München, noch Paris, noch Berlin als Wiege der charaktervollen Kunst Liebermanns anzusehen, sondern allein Holland.
In Holland fand Liebermann sowohl in der Natur, wie bei den Bewohnern der Küste das als gegebenen Zustand vor, was ihm bei Millet so bewunderungswürdig erschienen war: die Einfachheit. Er gehört unter die Ersten, die ihren Reiz ganz lebhaft empfunden und ihr in der Kunst das Wort geredet haben. Und weil Liebermann die einfache Natur geben wollte, die die meisten Menschen zu uninteressant finden, um sie anzuschauen, mußte er suchen, sie künstlerisch zu verklären. Er that es nicht,[S. 14] indem er sie in ihrem Wesen veränderte, sondern indem er sie mit der Schönheit des Lebens umgab, die Luft und Licht um die ärmlichsten Erscheinungen weben. Nichts war schön auf Liebermanns Bildern als das Zuständliche. Im Jahre 1879 also malte Liebermann während eines dreimonatlichen Aufenthaltes in Holland „Die Kleinkinderschule in Amsterdam“, die er zusammen mit einer abgeänderten und in der Farbe aufgehellten Wiederholung der „Konservenmacherinnen“ in die Pariser Salonausstellung von 1880 schickte. Im folgenden Jahre entstand das köstliche „Altmännerhaus in Amsterdam“, das ihm in Paris eine Medaille eintrug, die erste Auszeichnung, die einem Deutschen nach dem Kriege in Frankreich zu teil wurde, und die „Alte Frau am Fenster“. 1881 ist das Geburtsjahr der in der Berliner Nationalgalerie befindlichen „Schusterwerkstatt“ und des auf dem Umwege über Paris und Berlin 1900 in die Galerie des Städelschen Instituts zu Frankfurt gelangten „Hofes des Waisenhauses in Amsterdam“. Das Jahr 1883 brachte „Die Bleiche“ und 1884 ein Bild, zu dem er die Anregung in Bayerns Metropole erhalten hatte: das „Münchener Bierkonzert“. Inzwischen war Liebermann in Paris Mitglied der vornehmsten der dortigen Künstlervereinigungen, des „Cercle des XV“, geworden, dem Künstler wie Stevens und Bastien-Lepage angehörten, und stellte seitdem alljährlich im Salon Petit aus. Der Aufenthalt in München nahm 1884 ein Ende. Der Künstler verheiratete sich in Berlin, wo er seitdem seinen ständigen Wohnsitz hat; aber Holland blieb seine Schatzkammer bis auf diesen Tag. Die „Flachsscheuer in Laren“ (in der Nationalgalerie), „Die Frau mit den Ziegen“ (Neue Pinakothek, München), „Die Netzeflickerin[S. 15]nen“ (Kunsthalle zu Hamburg), „Holländische Dorfstraße“, „Spitalgarten in Leyden“, „In den Dünen“ (Leipziger Museum), „Dünenarbeiter“ (Königsberger Galerie), „Badende Jungen“, „Sonntag in Laren“, „Schulgang“ und viele andere seiner vorzüglichsten Bilder entstammen dieser Unerschöpflichen. Nur zuweilen einige Motive von wo andersher, wie etwa bei der „Gedächtnisfeier für Kaiser Friedrich in Kösen“, dem „Kinderspielplatz im Tiergarten“ oder dem „Biergarten in Brannenburg“. Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich Liebermann auch der Bildnismalerei zugewendet. Seine Porträts gehören nicht nur zu den eigenartigsten, sondern auch zu den künstlerisch stärksten, die in Deutschland am Ende des Jahrhunderts entstanden sind. Bildnisse, wie das des Bürgermeisters Petersen (Hamburg), das von Virchow, Gerhart Hauptmann sind Proben eines Porträtstils, über den in der ganzen Welt nur ein einziger Künstler — Liebermann — verfügt. Auch als Radierer ist der Künstler von Bedeutung. Unter seinen Kalte-Nadel-Arbeiten sind einige, die den Vergleich mit Blättern Rembrandts nicht zu scheuen brauchen; in anderen tiefgeätzten Platten hat er Wirkungen erreicht, die es an malerischer Haltung mit seinen Bildern aufnehmen.
Liebermann hat sich die Anerkennung seiner Künstlerschaft Schritt für Schritt erobern müssen, wenigstens in Deutschland, und am allerlängsten hat man in Berlin gezögert, seinem Talent die gebührende Würdigung zu teil werden zu lassen. In Paris verstand und bewunderte ihn alle Welt, in München wenigstens die Künstler, in seiner Vaterstadt hat man ihn so lange übersehen, als es nur irgend anging; und noch heute sind gewisse Kreise vorhanden, die nicht zu fassen vermögen, warum Liebermann, dessen Schöpfungen ihrer Meinung nach so gar nichts Ideales haben, der von der Schönheit, wie sie sie verstehen, nichts zu wissen scheint und nichts wissen will, ein großer Künstler sein soll. Es war wohl immer so in Berlin, daß man in[S. 16] Sachen des Kunstgeschmackes nicht auf der Höhe, sondern recht eigentlich altmodisch war und nur das als künstlerisch schön gelten lassen mochte, was außerhalb der jedem erreichbaren Sphäre lag. Und ferner verbindet man in Berlin den Begriff von Schönheit gern mit der Vorstellung einer höheren Bildung, die der gemeinen Wirklichkeit mit Vorsicht aus dem Wege geht. Gegen die Schönheit, deren Wesen Wahrheit ist, hat man in der Stadt der Intelligenz immer eine Abneigung gehabt; und wenn Menzel nicht Gelegenheit gefunden hätte, der Wahrheit, die er geben wollte, ein historisches Mäntelchen umzuhängen, und nicht zugleich ein witziger Kopf gewesen wäre — die Berliner würden vielleicht auch heute noch im Zweifel sein, ob er ein wirklicher Künstler oder nur eine Modegröße ist.
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Kein Meister fällt vom Himmel, am allerwenigsten in der Kunst, obschon in dieser nicht selten Ereignisse zu bemerken sind, die unvermittelt wirken. Beim näheren Zusehen aber findet man auch bei diesen in der Regel den beruhigenden Zusammenhang mit vorhanden gewesenen Ursachen. Sogar die großen Eroberer, von denen die Kunstgeschichte zu erzählen weiß, sind nur Schritt für Schritt vorwärts gedrungen, haben Vorbilder gehabt und benutzt, bis sie in sich so weit fertig waren, um Eigenes bieten zu können. Es gibt keinen großen Künstler, der zu Beginn seiner Thätigkeit nicht in die Fußstapfen seines Lehrers oder eines frei gewählten Vorbildes getreten wäre. Mag man an Raffael oder Rembrandt, an Dürer oder Tizian, an Franz Hals oder Velasquez denken. Sie gingen von einem Vorhandenen aus, und daran mißt man ihre Größe, wie weit sie über dieses hinausgelangt sind. Selbst Menzel, den man so leicht geneigt ist, als ein künstlerisches Phänomen zu betrachten, ist nicht als fertiger Künstler auf der Bildfläche erschienen, sondern hat sich das Seinige mühsam zusammengesucht. Nur darin ist er[S. 18] ein Phänomen, daß er sich außerhalb der Zeitströmung hielt, das Schöne nicht da suchte, wo es Andere schon längst vorher entdeckt, sondern dort, wo es die Anderen nicht vermutet hatten. Auch Liebermann hat sich, als er anfing, sein künstlerisches Rüstzeug von Anderen geliehen. Er besaß schon, als er bei Steffeck arbeitete, eine gründliche Abneigung gegen den von Cogniet und Couture abstammenden Berliner Kolorismus. Er empfand das Unwahre, Hohle, Gemachte dieser Art zu malen zu lebhaft, als daß sie ihm irgendwie erstrebenswert erschienen wäre. Auch die Malerei von Pauwels sagte ihm nicht besonders zu; er fand auch sie noch zu pompös für die Darstellung der Wirklichkeit, um die es ihm nun einmal ging. In München hatten auf der internationalen Kunstausstellung von 1869 zum erstenmal Courbet und Munkaczy die Aufmerksamkeit der jungen Künstler Deutschlands auf sich gelenkt. Die gemauerten, derben Farben des Franzosen, die vornehm wirkende schwärzliche Untermalung des Ungarn stellten den deutschen Kolorismus bedenklich in den Schatten. Die sparsame Verwendung der warmen Töne bei dem Einen, die Vermeidung aller ausgleichenden Lasuren bei dem Anderen imponierten dem jüngeren Geschlecht. Die handfeste Manier Courbets stand so vorzüglich in Übereinstimmung mit seinen Wirklichkeitsbildern, und Munkaczys Düsterheit stimmte ausgezeichnet mit den romantischen Typen, die er zu zeigen liebte. Courbet und Munkaczy waren es, an deren Bildern Liebermann beim Malen seiner „Gänserupferinnen“ gedacht. Jener hatte ihm Mut gemacht, anstatt des für Anfänger üblichen Historienbildes ein völlig antiakademisches Motiv zu wählen; dieser ermöglichte es ihm, eine malerische Ausdrucksweise zu zeigen, die von der allgemein üblichen damals auffallend abwich. Man hat heute keine Empfindung[S. 19] mehr für das Aufrührerische in der Tendenz des Liebermannschen Bildes; aber vor dreißig Jahren wirkte es und sogar auf einen so vorgeschrittenen Künstler wie Menzel. Er erkundigte sich bei dem Kunsthändler Lepke, bei dem damals die „Gänserupferinnen“ (Abb. 2) zu sehen waren, nach dem Maler des Bildes und drückte den Wunsch aus, ihn kennen zu lernen. Liebermann, ungeheuer stolz auf das Interesse, das der von ihm bewunderte Künstler an seinem Bilde nimmt, geht sofort nach seiner Rückkehr von Paris zu Menzel und wird mit folgenden Worten empfangen: „Also Sie sind der Liebermann, der das Bild gemalt hat. Wissen Sie was? Das Bild sollte man Ihnen um die Ohren schlagen — es ist ausgezeichnet; aber so etwas macht man erst mit fünfzig.“ Liebermann hat erst lange nachher die Bemerkung des berühmten Künstlers richtig verstanden, nämlich, daß er viel zu jung sei, um sich eine derartige Auflehnung gegen die Tradition erlauben zu dürfen, daß eine Freiheit der Mache in dem Bilde wäre, die sich für einen Anfänger nicht schicke. Der beglückte junge[S. 20] Maler hörte in jener Zeit nur das Lob. Und was hätte ihn mehr darin bestärken können, auf seinem Wege fortzuschreiten, als es von dieser Seite zu empfangen! Es ist in der That etwas Altmeisterliches in dem Bilde. Der schwärzliche Gesamtton hält die paar Farben in den Kleidern und Schürzen der alten Weiber gut zusammen, und wenn er dem Künstler bei der Berliner Kritik damals auch den Namen „Sohn der Finsternis“ eintrug — es gab in jener Zeit wenige Bilder, die „malerischer“ gewirkt hätten. Aber in einem wich das Bild noch viel weiter von dem Üblichen ab: im Inhalt. Nach damaliger Gewohnheit war es als „Genrebild“ registriert worden, wie unendlich fern jedoch stand es dem eigentlichen Genre! Es erzählte nichts und unterhielt nicht, der Künstler hatte in keiner Richtung den Versuch gemacht, an das Gemüt oder den Verstand der Beschauer zu appellieren, auch nicht die Spur einer Absicht gezeigt, sich deren Wohlwollen durch Wiedergabe von Schönheit und Anmut zu erwerben. Das Bild war ein Bericht darüber, wie es aussieht, wenn alte Weiber in einer dunklen Scheune sitzen und Gänsen die feinen Federn ausrupfen, die für die Betten gebraucht werden. Der Gegenstand erschien weder würdig im Sinne der alten Ästhetik, noch spürte man jene von allen gemeinen Zufälligkeiten gereinigte Natürlichkeit, die für erlaubt galt. Für den malerischen Reiz des Bildes, die amüsante Wirkung der Lichtquelle im Hintergrunde hatte man kein Gefühl. Man sah nur die Sache und fand sie scheußlich, weil man nicht daran gewöhnt war, Kunst anders als mit dem Verstande zu betrachten, und auch dieser nur auf das Unterhaltende und Belehrende, nicht auf das Wirkliche und Richtige dressiert war.
Der ein Jahr früher entstandene „Atelierwinkel“ (Abb. 1), in dem ein alter Mann in Mappen herumkramt, war auch nicht malerisch im Sinne der Zeit. Dazu hätten historische Kostüme, glänzende Waffen, der ganze prunkende Apparat einer auch äußerlich auf Unterscheidung von der Mitwelt bedachten Künstlerexistenz gehört. Liebermann gab die an sich nüchterne Wand eines Arbeitsraumes mit ein paar darauf hängen[S. 21]den, nicht erkennbaren Studien, ein Regal mit Farbentöpfen und eben jenen alten Mann, der eine Zeichnung mit Aufmerksamkeit betrachtet. Das Malerische daran war nicht die Sache selbst, sondern das sanfte Licht, das in der bräunlichen Dämmerung leise über die Wand, das Regal und das weiße Haupt des Alten floß, dort eine Farbe, hier einen Reflex, da eine Form sichtbar werden ließ. Der junge Künstler läßt in diesem Werke schon deutlich erkennen, daß er sich des Unterschiedes zwischen pittoresk und malerisch wohl bewußt ist.
In den „Konservenmacherinnen“ und in den „Invaliden im Lotsenhaus“ beginnt sich der schwärzliche Ton der Liebermannschen Bilder schon aufzulichten. Statt Beinschwarz verwendet der Künstler Asphalt, auf dessen durchsichtigem Braun die Farben anfänglich warm und leuchtend stehen, um allerdings später durch die zersetzende Kraft des Bitumens stumpfer zu werden. Nach der psychologischen Seite ist ein außerordentlicher Fortschritt zu konstatieren. Die „Konservenmacherinnen“ (Abb. 3) — derbe, kräftige Weiber, abgerackerte Arbeitsfrauen und wunschlos gewordene alte Mütterchen — sitzen auf hölzernen Bänken und Fässern in einem dunklen, niedrigen Arbeitsraume an einem improvisierten Tische und putzen mit kurzen Messern die verschiedenartigsten Gemüse. Kein Blick aus all’ den Augen fällt auf den Beschauer. Keine der Arbeiterinnen hat eine Empfindung davon, daß eines Malers Auge auf ihr geruht. Die unendliche Natürlichkeit in dem still vor sich Hinbrüten der Einen, die bewegliche Geschäftigkeit der Anderen, der unbewußte Ausdruck der zwölf oder dreizehn Gesichter gibt der Darstellung den wunderbarsten Reiz. Unwillkürlich gerät man in Versuchung, Charakterstudien zu[S. 22] machen, und ist erstaunt, welche Fülle von Individualitäten der Künstler in diesem einen Bilde gibt. Freilich muß man lesen können in Menschengesichtern, wird dann aber von diesem Bilde die Überzeugung mitnehmen, daß sein Urheber den Menschen, die er dargestellt, bis ins Herz gesehen hat. Dieselbe vollendete Natürlichkeit zeigen die „Invaliden im Lotsenhause“ (Abb. 5). Dieses ruhige Herumsitzen in dem hohen verräucherten Raume um den qualmenden Kamin, halb nachdenklich, halb gedankenlos, entspricht auf das Vollkommenste dem Wesen der Männer, die gewohnt sind, wortlos ihre Pflicht zu thun. Auch hier wieder wirkliche Menschen, nicht bloße Typen, und das Rot in den Hemden der bedächtig ihre Thonpfeife rauchenden Seeleute mit ihren sonderbaren hohen Hüten von feinster malerischer Wirkung zwischen Schwarz und Braun.
Liebermanns Thätigkeit in Paris und Barbizon gipfelt in dem bald als „Arbeiter im Rübenfelde“, bald als „Im Runkelpark“ bezeichneten großen Bilde (Abb. 7), das als eines seiner Hauptwerke gilt. Der geistige Vater dieses Bildes ist ja wohl ohne Zweifel Millet, aber doch nur insoweit, als der junge Berliner durch diesen großen Künstler auf die wirksame Verbindung und den geistigen Zusammenhang von Mensch und Landschaft hingewiesen wurde. Die Anekdote, von der bis zum Erscheinen Millets das Bauernbild seine Daseinsberechtigung hergenommen, war für Liebermann von vornherein ein überwundener Standpunkt, und ehe er Bilder Millets gesehen, war die Darstellung arbeitender Menschen das, was ihn künstlerisch gereizt hatte. Nun gewann der Mensch als Erscheinung in der Natur für ihn eine tiefere Bedeutung. Sein Gefühl für das Verhältnis der Erscheinung zu ihrer Umgebung erfuhr durch das Beispiel des bewunderten Meisters die erwünschte Bekräftigung. Auch das in Barbizon entstandene Bild ist noch sehr dunkel, von einer schweren, mehr an Courbet als an Millet erinnernden Farbe; aber in der Landschaft und in der Beleuchtung kündigt sich schon ein Neues an. Ungehindert schweift der Blick an ein paar Bäumen vorbei über weite Felder bis zu der hoch gelegenen, von den Gestalten der im Vordergrunde thätigen Arbeiter nicht überschnittenen Horizontlinie. Sechs Weiber[S. 23] und drei Männer schaufeln, jäten und graben auf dem Acker. Zwei der Weiber ruhen, auf ihre Hacken gestützt, aus. In den Figuren ist jede Art von Bewegung dargestellt, die die Feldarbeit erfordert, so daß die mit Ausnahme eines weiter vorgerückten Weibes in einer Reihe Arbeitenden für die Betrachtung reiche Abwechselung bieten. Vielleicht aber ist dieses Werk das einzige Liebermanns, bei dem man einen gewissen Mangel an Frische und Unmittelbarkeit nachweisen könnte. Es zeigt des Malers ganzes großes Können, aber es hat weniger Natürlichkeit als seine sonstigen Bilder. Die Figuren sind zu nahe bei einander, und einige posieren, was bei Liebermann sonst nie vorkommt. Das Programmatische stört. Unter der Wirkung von Millet stehen auch zwei größere Skizzen, die je einen Mann und eine Frau in einem Kartoffelacker arbeitend zeigen. Hinter beiden Figuren sieht man dieselbe braunbewachsene Böschung, über beiden den gleichen grauen Oktoberhimmel. Die außerordentliche Einfachheit des Motives, die wenigen Farben bringen diese Studien ähnlichen Schöpfungen des Meisters von Barbizon ganz nahe. Aber schon in den „Geschwistern“ (Abb. 8) ist Liebermann wieder frei von allen Erinnerungen und ganz er selbst. Wie ausgezeichnet ist die Haltung und Bewegung des halbwüchsigen Mädchens gesehen, dem die Last des kleinen Bruders zu schwer geworden, und das sich das Gewicht zu erleichtern sucht, indem es das linke Knie hochzieht und damit das Kind stützt! Ein Lichtstrahl, der den Kopf des Mädchens streift und das Gesicht des Kindes voll beleuchtet, gibt Modellierung und farbige Gegensätze. Die Annäherung an Franz Hals spürt man bei den Schöpfungen dieser Zeit wohl am lebhaftesten bei dem Bilde „Mutter und Kind“ (Abb. 10), das schon ins Monumentale gesteigerte Intimität ver[S. 24]rät und mit einer geradezu verblüffenden Kraft und Breite hingestrichen ist.
Es spricht für die außerordentliche Beweglichkeit des Künstlers, daß er nach dieser großzügigen Leistung sich einem Motiv zuwendet, das ganz andere Ansprüche an ihn stellt und Fröhlichkeit und Liebenswürdigkeit verlangt, um zu wirken; aber das Gebiet der Kinderdarstellung war schon in den beiden letzten Bildern beschritten, und die Schilderung einer „Kleinkinderschule in Amsterdam“ bot dem Künstler eine sehr dankbare Aufgabe. Wer hätte dem Naturalisten Liebermann dieses offene Auge für Kinderschönheit und Anmut zugetraut? Gegen diese hübschen, frischen, naiven Mädchen und Bübchen, die sich mit der ganzen Unbefangenheit wirklicher Kinder belustigen, hier miteinander plaudern, dort mit großgeöffneten Augen der Erzählung einer Größeren lauschen, da Schreib- und Malversuche machen oder zusehen, wie ein kleiner Hungriger gelabt wird, wirken die meisten von Knaus gemalten Kinder geziert und konventionell. Das Heitere und Bezaubernde der unschuldsvollen Menschenblüten wird noch gehoben durch einen Gegensatz, durch die Anwesenheit der alten und runzligen Herrscherin in diesem Reich, die neben dem Kinderschulbänkchen auf einem erhöhten Sitz vor ihrem Nähtisch sitzt und gedankenlos, das Geschwätz der Kleinen im Ohr, einen Strumpf strickt. Und lustig wie die Kinder und hell wie der Tag, der ins Zimmer hineinscheint, sind die Farben des Bildes, Weiß und Rosa, Himmelblau und Rot. Der Maler sorgengefurchter Gesichter, zerarbeiteter Hände, gebeugter Rücken und des hoffnungslosen Alters weiß auch den Sonnenschein des Lebens, lachende Augen und blonde Kinderköpfe darzustellen.
Zwischen diesen Bildern des Lebens kann der „Jesus unter den Schriftgelehrten“ (Abb. 11) nur als ein Intermezzo angesehen[S. 26] werden, als ein Versuch des Künstlers, nachzuprüfen, ob sich seine Art mit einem außerhalb der Malerei als solcher liegenden Gedanken verbinden lasse. Auch als „Rückfall in die Menzelperiode“ hat man diesen Jesus Liebermanns bezeichnet; aber mit der denselben Stoff behandelnden Lithographie Menzels verbindet ihn nur die rationalistische Auffassung, nicht die künstlerische. Menzel hätte nie gewagt, unwissenschaftlich zu sein, um wahrer zu wirken. Während Menzels Jesus als ein geistreich blickender Judenknabe mit der traditionellen Aureole unter stattlichen, in reiche Gewänder gehüllten jüdischen Gelehrten in einer Tempelhalle steht und seine Mutter in der Idealkleidung der Marien herbeieilt, ist Liebermanns Jesus ein flinker, kleiner, schlecht gewachsener, wie ein Händler mit den Händen gestikulierender Judenjunge, die Gelehrten gleichen ehrbaren, polnischen Juden im Gebetsmantel und Ort der Handlung ist irgend eine kleinstädtische Synagoge. Man kann ohne weiteres zugeben, daß für den Christusknaben sich leicht ein sympathischeres jüdisches Modell hätte finden lassen; aber Liebermann hat wohl kaum die Absicht gehabt, einen neuen Typus des jugendlichen Christus in die Welt zu setzen, ihm lag wohl mehr daran, das Dramatische des Vorganges zum Ausdruck zu bringen. Wie der Junge lebhaft und eindringlich und klug redet und die Männer zuhören und über das Gehörte nachdenken und staunen, ist niemals überzeugender, der Vorgang selbst niemals konzentrierter geschildert worden. Menzel brauchte für seinen Jesus die Aureole, weil er sonst unter den stattlichen Gestalten der Schriftgelehrten verschwunden wäre; bei Liebermann ist der kleine unscheinbare Junge der natürliche Mittelpunkt alles Geschehens auf dem Bilde, und als Malerei kann es dieses Werk wohl mit fast allen Bildern aufnehmen, die dasselbe Thema behandeln. Liebermanns „Jesus“ gehört heute Fritz von Uhde, der in seinen Christusbildern Ähnliches[S. 27] gewollt, viel mehr Rücksicht auf die Empfindungen der Allgemeinheit genommen, aber dafür auch niemals die steile künstlerische Höhe erreicht hat, die der Berliner Maler in dieser vielgeschmähten Schöpfung zeigt.
Vor sich selbst und seinen Freunden glich Liebermann diesen Mißerfolg bei dem großen Publikum mit einem Bilde aus, das zu seinen kostbarsten Schöpfungen gehört, mit nichts auf der Welt, als mit sich selbst, verglichen werden kann und den jungen Künstler im Auslande als den bedeutendsten Vertreter der deutschen Kunst erscheinen ließ, mit dem „Altmännerhaus in Amsterdam“ (Abb. 14). Mag auch das Prinzip Millets: „Mettre l’homme vrai dans son milieu vrai“ bei der Wahl des Stoffes mitbestimmend gewirkt haben — Millet hätte dieses Bild schwerlich gemalt, schwerlich malen können, und ebensowenig würde Menzel imstande gewesen sein, eine an sich so wenig äußerliches Interesse bietende Wirklichkeit künstlerisch so interessant zu gestalten. In dem „Altmännerhaus“ künden sich ferner neue luminaristische Bestrebungen an, die für Liebermanns künftiges Schaffen von besonderer Bedeutung werden. Man sieht in den hinten von einem Laubengange abgeschlossenen Garten des „Oude Mannenhuis“. In einer schattigen Allee sind zu beiden Seiten Bänke aufgestellt, auf denen sitzend die Insassen des Hauses den schönen Tag genießen. Alte würdige Herren, denen die schwarze Kleidung und die weiße Binde den Anschein des Wohlgestelltseins gibt. Die Anstaltsmütze auf den greisen Köpfen sitzen sie bei einander, brüten vor sich hin, rauchen mit Behagen ihre langen Pfeifen, reden mit dem Nachbar, lesen Zeitung oder lassen sich von der Sonne bescheinen. Ein paar von ihnen stehen, andere schreiten in dem Laubengange auf und nieder. Über den Platanen und Kastanien des Gartens steht leuchtend die warme Sonne und sendet ihre goldenen Strahlen durch das grüne Laubdach. Lustig hüpfen sie über die alten Gesichter, die welken Hände, die schwarzen Röcke der Männer, über den sauberen Kiesweg zu ihren Füßen. Wie eine Stätte des Friedens, wohin der Lärm des Lebens, seine Sorgen und Enttäuschungen nicht mehr dringen, liegt der Garten da. Die auf den Bänken haben abgeschlossen mit dem Dasein; aber der milde Sommertag thut ihnen wohl, und seine goldene Sonne zaubert den Schein des Glückes um ihre greisen Häupter. Ein prächtiges, versöhnliches Bild. Von ähnlicher innerlicher und äußerlicher Schönheit ist die „Alte Frau am Fenster“ (Abb. 16),[S. 28] die so ganz in das Stopfen ihrer Strümpfe vertieft ist, daß sie den hellen sonnigen Frühlingstag vor dem kleinen Fenster ihres armseligen Zimmerchens nicht sieht. Sanft gleitet das Tageslicht über ihre große weiße Haube, das von tausend Fältchen durchzogene Gesicht und die alten steifen Hände. Man bemerkt schon, daß sie eine arme Frau ist, aber Niemand wird verleitet, sie für besonders bedauernswert zu halten. Sie ist weder mit den Augen eines Mitleidigen, noch mit denen eines Spötters gesehen. Das ist das Leben, das Schwerste und das Selbstverständlichste in einer Erscheinung. Anstatt unser Gefühl für die bedürftige Armut anzurufen, läßt Liebermann sie arbeiten und zeigt, wie selbst in der traurigsten Hütte die Natur für den, der sehen kann, tausend Schönheiten ausbreitet. Seit Pieter de Hooch ist ein holländisches Interieur nicht feiner gemalt worden, wenigstens nicht mit mehr Empfindung für den Zauber des Lichtes im Raume. Ohne einem alten Meister nachzugehen, erreicht Liebermann hier dasselbe, wie jener, durch die sorgfältige Beobachtung der Natur, und was wichtiger ist, ihrer malerischen Zustände. Nichts von Übernommenem in diesem Bilde, jeder Pinselstrich die Niederschrift eines Erlebnisses vor der Natur.
Aber es reizte den Künstler, dieselben Probleme in schwierigeren Fällen zu lösen. Der „Hof des Waisenhauses in Amsterdam“ (Abb. 22) bedeutet schon in der Farbe einen Fortschritt gegen das „Altmännerhaus“. Hier erscheint zum erstenmal das wunder[S. 29]bare Liebermannsche Rot, ein Rot von einer Nuance, die außer Liebermann Niemand hat, und das im Ensemble seiner Farben geradezu berückend wirkt. Man hat rechts im Bilde die Hinterfront des Waisenhauses mit den Backsteinpfeilern, zwischen denen Bänke stehen, mit den hellgestrichenen Fensterumrahmungen, den vergitterten Fenstern und dem Blumenschmuck davor. Ein langer Gang, den links grüne Bäume einfassen, führt an dem Hause vorüber. An seinem Ende eine Pforte in einem Quergebäude, aus der die Waisenmädchen in den Hof gelangen. Ein schöner warmer Sommertag hat die Kinder herausgelockt, und nun führen sie ihre halb schwarzen, halb roten Kleider, ihre weißen Schürzen und Häubchen im Sonnenschein spazieren. Die Kleineren spielen, die Älteren wandeln langsam unter den grünen Bäumen dahin, und die ganz Gesetzten haben ihr Nähzeug zur Hand genommen und sitzen, an großen Stücken Linnen arbeitend, auf den Bänken am Hause. Keins der Mädchen sieht aus, als wäre es gemalt worden. Die vollendetste Natürlichkeit in jeder Bewegung, im Gesichtsausdruck. Durch ein Wunder scheinen sie da auf die Leinwand gebracht zu sein. Wie köstlich ist die Perspektive des Bildes! Man meint, den Sommerwind in den Bäumen rauschen zu hören und die Sonnenstrahlen auf dem Wege tanzen zu sehen. Als das Bild 1882 im Salon erschien, schrieb der Pariser Kunstkritiker Hochedé: „Herr Liebermann hat der Sonne einige von ihren Strahlen gestohlen und bedient sich ihrer wie Phöbus selbst.“ Auf alle Fälle ein Bild, wie es noch nie gemalt worden war. Dasselbe kann man von dem zweiten, im selben Salon ausgestellten, jetzt in der Nationalgalerie befindlichen Bilde „Die Schusterwerkstatt“ (Abb. 20) sagen, das Hochedé mit den für den deutschen Künstler höchst schmeichelhaften Worten begrüßte: „Wenn Sie die Geheimnisse des Freilichts gefunden haben, mein lieber Manet, Herr Liebermann versteht das Licht im Raume zu belauschen. Um sein kleines Bild zu besitzen, würde ich gern 500 qm Malerei im Salon hingeben.“ Aber nicht nur die Wirkung des grauen Tageslichtes im Raume ist in unübertrefflicher Weise geschildert, auch die Darstellung der Menschen — des Schusters und seines Lehrjungen — ist ausgezeichnet. Jede Bewegung erscheint der Wirklichkeit abgesehen. So faßt der Schuster die Zange, so hebt er den Arm, wenn er den Absatz rund machen will. Und über die fleißigen Ar[S. 30]beiter fort blickt man durch ein großes Fenster in die grüne Natur. Kein Schwarz, keine Dunkelheit mehr im Bilde. Das Licht hat Alles besiegt. Liebermanns Bild gab den Anstoß zu einer Bewegung in Deutschland, die man bis jetzt noch spürt. Ungefähr in dieser Zeit — die Bilder sind 1881 gemalt — lernte der Künstler Josef Israels, den größten Vertreter einer ähnlichen Richtung in Holland, kennen. Man pflegt der damals beginnenden Freundschaft der beiden bedeutenden Maler einen großen Einfluß auf die Entwickelung Liebermanns zuzuschreiben; aber wohl kaum mit Recht. In Liebermanns Entwickelung gibt es keine Brüche. Seit dem „Altmännerhaus“ ist er auf einem selbstgefundenen Wege geblieben. Wohl möglich aber, daß Israels ihn dazu ermuntert hat, sich mit den Problemen zu beschäftigen, die die holländische Küste dem Landschafts- und Figurenmaler bieten. Nur einmal hat Liebermann in einem Bilde ein Motiv behandelt, das Israels vor ihm gemalt, im „Tischgebet“ (Abb. 32). Die Kunst des Holländers besitzt viel mehr Traditionelles als die des Berliner Künstlers. In ihr steckt noch ein gutes Teil von der malerischen Kultur, deren Vater Rembrandt ist. Ohne Zweifel indessen hat Israels den jüngeren Künstler darin bestärkt, den beschrittenen Weg weiterzugehen. Liebermann jedoch ist ein zu starkes Temperament, um überhaupt im Fahrwasser eines Anderen segeln zu können.
Nachdem der Künstler sich einmal der Freilichtmalerei zugewendet, haben ihn deren Probleme dauernd beschäftigt. In der 1882 entstandenen „Bleiche“ (Abb. 24) läßt er das Licht des Tages durch die dichtbelaubten Äste eines Birnbaumes über grünen Rasen und weiße Leinwand rieseln. Aber auch den Lichtwirkungen im Raume geht er noch weiter nach. Vor der „Schusterwerkstatt“ waren 1880 „Die Spinnerinnen“ (Abb. 17) entstanden, die zu dreien mit ihren Rädern um einen mit Kaffeeschälchen besetzten Tisch sitzen, während eine vierte am Herde im Winkel hantiert. Neben dem Herde ist links ein Fenster, durch das man in ein Gärtchen sieht. Das graue Tageslicht[S. 32] läßt die weißen Hauben der Alten aufleuchten und wird von einer hellen Wand reflektiert. Zu den feinsten seiner Bilder in dieser Art gehört jedoch „Der Weber“ (Abb. 27). Die Lichtquelle bilden zwei Fenster im Hintergrunde des engen Gemaches. Der Weber sitzt in seinem Stuhle und will eben einen neuen Faden einsetzen. Im Vordergrunde, auf einem Schemel, eine der reizendsten Gestalten, die Liebermann geschaffen, ein Mädchen, das mit einem großen Rade den Faden auf die Spule dreht. Es ist nun wunderschön zu sehen, wie das Licht über das Gewebe im Stuhl läuft, die verarbeiteten Züge des Webers beleuchtet, um schließlich auf dem Häubchen des Mädchens, dem verschlissenen Rot ihrer Taille, ihrem wohlgeformten Arm und dem sausenden Rade auszuruhen. Man muß schon Terborch citieren, um eine Vorstellung von der malerischen Schönheit der Kurbeldreherin anzuregen.
Wenn man von einer Menzelperiode Liebermanns sprechen will, so kann man[S. 33] es nur mit Hinsicht auf ein paar Bilder thun, in denen der Künstler es versucht hat, in der Art Menzels eine Vielheit von Erscheinungen in einem Bilde zu vereinigen. Das wichtigste dieser Bilder ist das 1883 gemalte „Münchener Bierkonzert“ (Abb. 28), dem 1878 ein weniger bekannt gewordenes, von einem englischen Kunsthändler falsch getauftes ähnliches kleines Werk „In den Champs-Elysées“ — es zeigt ein paar Kinderfrauen mit ihren Schützlingen auf einer Bank im Münchener Hofgarten — voraufgegangen ist. An Menzel erinnert vor allem die zeichnerische Durchbildung des Ganzen. Jedes der vielen Gesichter wirkt wie ein Porträt. Selbst den Posaunenbläser in dem Musikpavillon im Hintergrunde sieht man noch ganz scharf. Liebermann bewährt sich in dem Bilde, das bei Menzel vielleicht ein Gegenstück in dessen „Sonntag im Tuileriengarten“ hat, sowohl als Beobachter, wie als Psycholog; aber in mehr als einer Hinsicht bedeutet diese Leistung einen Schritt über Menzel hinaus. Vor allem ist das „Bierkonzert“ malerischer als das Menzelsche Bild, und die Pointen sind nicht unterstrichen. Liebermann hat nicht den Versuch gemacht, den Menzel nie unterlassen haben würde, den Beschauer mit einigen Gestalten in Verbindung zu setzen. Bei dem älteren Künstler wäre man sofort darüber im klaren: Mit dem Manne[S. 34] hat der Maler einen Dichter, mit jenem einen Lebemann, einen Künstler oder sonst einen in der allgemeinen Vorstellung gültigen Typus darstellen wollen. Diese billige Art, die Leute zu interessieren, hat Liebermann durchaus verschmäht. Eine Gruppe von so entzückender Natürlichkeit, wie die Kinderfrau mit dem kleinen Mädchen, das sie aus einem Glase trinken läßt, konnte nur Liebermann geben, und ein so kindliches Kind, wie den kleinen im Sande spielenden Blondkopf, hat Menzel in all’ seinen Bildern nicht aufzuweisen. Es ist ungemein viel Leben in dem Bilde, und es wird erhöht durch die überall umherhüpfenden Sonnenstrahlen. Vielleicht läßt noch die „Gedächtnisfeier für Kaiser Friedrich in Kösen“, 1888 gemalt (Abb. 50), an Menzel denken, an dessen „Gottesdienst in Kösen“; aber doch nur für einen oberflächlichen Beschauer. Liebermann gibt eine feierliche Impression von hohen grünen Bäumen, fröhlichem Sonnenschein und schwarzgekleideten Menschen, Menzel eine ausführliche Schilderung mit allerlei amüsanten Nebensächlichkeiten. Bei Liebermann ist die Natur die Hauptsache, bei Menzel die Gesellschaft, die den Gottesdienst im Freien in einem beliebten Badeort besucht.
1884 beschäftigen den Künstler noch einmal „Waisenmädchen“ (Abb. 36), jetzt in der Hamburger Kunsthalle, 1885 malt er die „Holländische Dorfstraße“ (Abb. 37). Wieder Holland, wieder Freilicht. Auf der von einem heftigen Sommerregen nassen Dorfstraße begegnen sich zwei frische, junge Dirnen; die eine hat auf dem Felde Gras geschnitten, die andere will ihre Kuh auf die Weide führen. Die mit der Kuh bleibt stehen, die mit der Karre hält an, und es werden ein paar Worte gewechselt. Jede Bewegung ist ausgezeichnet beobachtet: Wie das Mädchen den Strick hält, an den die Kuh gefesselt ist; wie diese das Gras an der Straße abrupft, wie die zweite die Karre gefaßt hält, wie ein Mann in Holzschuhen über die Straße geht, ein Junge eine Kuh treibt, ein Ackerwagen dahinfährt, ein anderer Junge über einen Zaun steigt. Und alles wird von einem weichen, grauen Licht und feuchter Luft umspült. Die Pfützen auf der Straße spiegeln den Glanz des sich auflichtenden Himmels wieder, und die nassen grünen Blätter der Linden an der Straße schütteln sich über einem roten Häuschen.
Mit der „Flachsscheuer in Laren“ von 1887 (Abb. 44), einem der wertvollsten Bilder der Berliner Nationalgalerie, tritt Liebermann in die Periode seines Schaffens, die man die epische nennen möchte, wo er eine Höhe, Macht und Vollendung der Anschauung und des künstlerischen Ausdruckes erreicht hat, wie kein anderer zeitgenössischer Künstler. Millet und Courbet haben zuerst gezeigt, daß der arbeitende Mensch künstlerisch dargestellt werden könne, Courbet mit seiner massiven Brutalität, Millet in zarter lyrischer Empfindung. Liebermann war es vorbehalten, ihre Absichten ins Erhabene zu übertragen, das gewaltige Schlußwort zu sprechen. Das Thema erscheint durch ihn vollkommen erledigt, und Liebermann selbst hat sich, wohl aus Erkenntnis, daß er Werke wie die „Flachsscheuer“ und die „Netzeflickerinnen“ in ihrer Art nicht übertreffen könne, anderen Stoffgebieten zugewendet. Gegen seine „Flachs[S. 36]scheuer“ wirkt Menzels vielbewundertes „Eisenwalzwerk“ kleinlich und komponiert. Man sieht auf Liebermanns Bild in einen niedrigen, aus Holz gebauten Arbeitssaal, den links vier, hinten ein Fenster beleuchten. Unter den Fenstern links sitzen auf kleinen Bänken Burschen und Mädchen und drehen große Holzräder, die Spulen in Bewegung setzen. In der Mitte des Raumes stehen, mit Flachsbündeln unter dem Arm, aus denen sie die Fäden drehen, die jene aufspulen, fünf Spinnerinnen, prachtvolle Gestalten von der Grenze des Kindesalters bis zum reifen Weibe. Vor dem Fenster im Hintergrunde noch mehrere ähnliche Erscheinungen, rechts ein paar Mädchen, die frischen Arbeitsstoff bringen, und noch einige Spinnerinnen. Die Räder sausen, die Spulen fliegen, und windschnell rühren die Mädchen die Hände, damit die Fäden, die von ihnen aus bis zu den Spulen an den Fenstern gehen, nicht reißen. Helles Licht strömt von links und von hinten durch den Raum über die Köpfe der Raddreher fort und umspielt mit fröhlichem Glanz die Gestalten der Spinnerinnen, ihre weißen Hauben und die frischen Gesichter darunter, die blauen Schürzen, die dunklen Röcke, die fleißigen Hände und den gelben Flachs. Es gleitet über die grauen, mit Flocken bedeckten Dielen, die gelben Holzschuhe der Mädchen und ruhet nimmer. Das Bild ist lebendig, wie die Wirklichkeit selbst: Man denkt überhaupt gar nicht daran, daß es gemalt ist, und es ist doch ganz anders gemalt, als die früheren Bilder des Künstlers, breiter, wuchtiger, mit wenig Rücksicht auf Einzelheiten. Aber gerade diese Art, wo eine Farbe einmal aus dem Ensemble stärker hervortritt,[S. 37] weil das Licht sie voll trifft, andere Farben zurücktreten, weil sie kein direktes Licht empfangen, gibt eine unvergleichliche Frische und Wahrheit der Erscheinung. Die Impression gibt Impressionen. Das Auge schafft da weiter, wo der Maler nur andeutet. Und wieder das Wunderbarste: die Natürlichkeit. Keine Figur steht Modell, wie so viele auf Menzels Bild. Alles ist wie die Wirklichkeit selbst, als habe der Maler die Menschen heimlich durch einen Spalt in der Holzwand beobachtet.
Das landschaftliche Gegenstück zu diesem Prachtbilde sind die „Netzeflickerinnen“ (Abb. 47) der Hamburger Kunsthalle, des gigantischen Naturgefühles Liebermanns gewaltigste Offenbarung. Das ist jenes Bild, vor dem man mit Leichtigkeit nachweisen könnte, daß Liebermann ein kompletter Idealist ist. Jedenfalls hat niemand vor ihm aus einem scheinbar so ärmlichen Gegenstande einen so reichen Schatz erhabenster Poesie herausziehen und künstlerisch gestalten können. Dabei ist weder der Natur oder, was dasselbe sagt, der Wahrheit die geringste Gewalt geschehen. Man blickt über eine weite graugrüne, öde Ebene, wie sie oft zwischen den Dünen und Deichen der Nordsee zu finden ist. Auf dieser unendlichen, melancholischen Fläche sind Frauen und Töchter der Fischer beschäftigt, die beim letzten Fange benutzten Netze wieder in Ordnung zu bringen. Sie breiten sie auf den Boden aus, um die beschädigten Stellen zu finden, ziehen die verzogenen Maschen zurecht, ergänzen die zerrissenen mit der Filetnadel, knüpfen und stopfen. Ganz in der Ferne fährt ein mit Körben beladener Fischerkarren. Fast am Rande des Bildes sieht man vorn eine Gestalt in das Bild hineinschreiten, eine junge Fischerstochter, groß, blond und kräftig, mühsam ein schweres Netz schleppend. Und nicht allein mit diesem hat sie zu thun, sondern auch mit dem heftigen Seewind, der ihr im Rücken sitzt, sich in ihren Kleidern fängt und ihre blonden Haare, die sie unter dem weißen Häubchen geborgen hatte, flattern macht. Ein Sinnbild des im Kampfe mit den Elementen erstarkten Volkes steht sie da, eine der charaktervollsten Erscheinungen, die Liebermann geschaffen. Aber sie wäre bedeutungslos, wenn der sie nicht in diese herbe, entsagungsvolle Natur hineingesetzt hätte, in dieses Stück Erde, um das sich Sturm und Meerflut streiten, unter diesen[S. 38] grauen, von zerrissenen Wolken bedeckten Himmel, inmitten dieser Menschen, die hart um ihr Dasein ringen müssen. In innigerer Verbindung sind Mensch und Landschaft kaum dargestellt worden, der auf seine Kraft angewiesene, auf sich selbst gestellte Mensch und die rauhe Natur.
Unter den Schöpfungen der folgenden Jahre erscheint noch einmal ein Werk von fast gleich starker Wirkung: „Die Frau mit den Ziegen“ (Abb. 52), die der Münchener Pinakothek gehört. Auch hier wieder die unlösbare Zusammengehörigkeit von Mensch und Scholle und wieder eine ungemein[S. 40] charaktervolle Erscheinung, deren kräftige Silhouette gegen die graugrüne Düne und den trostlos grauen Himmel man, einmal gesehen, ebensowenig vergißt, wie die kühne jener blonden Fischerstochter. Wie eine Personifikation der weltentrückten Einsamkeit zieht die Alte mit ihren beiden Ziegen über die sandige Düne.
Mit dem „Spitalgarten in Leyden“ von 1890 kehrt Liebermann zu dem Stoffkreis zurück, den er bereits in dem „Altmännerhaus“ mit so viel Erfolg erschlossen hatte; aber in seiner Kunst ist schon mehr Freiheit, sein Blick mehr auf das große Ganze als auf die Einzelheiten gerichtet. Zogen in jenem Bilde die ernsten Gestalten der von dem Schauplatz des Lebens abgetretenen Männer sogleich den Blick des Beschauers auf sich, so sieht man hier zunächst den Spitalgarten mit seinen buntblühenden Beeten und erst dann die alten Mütterchen auf den Bänken am Hause, die der warme Sonnenschein hinausgelockt hat, wie sie, den Strickstrumpf zwischen den welken, steifen Händen, die müden, alten Glieder wärmen. Gibt er in diesem Werke eine Schilderung des vegetativen Daseins, so zeigt er in dem Bilde „Die Seiler“ (Abb. 45) das Glück des stillen Dahinarbeitens. Die ihre Taue drehenden Männer schreiten, unbekümmert um jeden Zuschauer, ihre Bahnen unter dem grünen, sonnendurchleuchteten Baumdach auf und nieder. Sie thun nichts, um den Zuschauer zu amüsieren; sie arbeiten nur, und der Sonnenschein verklärt ihr Thun.
Der „Karren in den Dünen“ (Studie dazu Abb. 68) berührt noch einmal das in der „Frau mit den Ziegen“ gelöste Motiv, ohne doch, obschon an sich wieder eine durch ihre Selbstverständlichkeit imponierende Leistung, die Wirkung jenes Bildes zu erreichen.
Im Jahre 1890 malt Liebermann das Bildnis des Hamburger Bürgermeisters Petersen (Abb. 58) und stellt sich damit sogleich in die Reihe der ersten Porträtmaler der Zeit. Die Verehrung des Künstlers für Franz Hals wird in eine That umgesetzt, die die Bewunderung aller Kenner findet, nur leider nicht die der Familie des Dargestellten, und die darum bedauerlicherweise der Öffentlichkeit vorenthalten wird,[S. 41] der sie von Rechts wegen gehört. Das Bildnis verdankt seine Entstehung einer Anregung des um die Belebung des Hamburger Kunstlebens so hoch verdienten Alfred Lichtwark, der es für die unter seiner Leitung stehende Kunsthalle gewünscht hatte. Es stellt den etwas gebrechlichen, alten Herrn in seiner schwarzen altholländischen Amtstracht mit dem weißen Mühlsteinkragen, den spitzen spanischen Hut im Arm, vor einem grauen Grunde stehend, dar. Auf den kräftig modellierten, von einem kurzen Bart und starkem, weißem Haar umrahmten Kopf fällt volles Licht. Der Darstellung fehlt jede Pose, wie der Künstler auch nichts gethan hat, um die Runzeln und Falten des Alters auszulöschen. Man wird nicht leicht ein geistreicher gemaltes Porträt finden und noch weniger leicht eins, das trotz der altertümlichen Tracht keinen Zweifel darüber läßt, daß der Dargestellte ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts ist. Um so unbegreiflicher erscheint der Wunsch der Familie, daß das Bild in der Kunsthalle nicht aufgehängt werde. Das später von dem Berliner Maler Hugo Vogel gemalte und in der Kunsthalle zu sehende Bildnis desselben, inzwischen verstorbenen Bürgermeisters ist die lobendste Kritik für Liebermanns Schöpfung. Wie das Bildnis des Doktor Petersen nicht die erste Leistung des Künstlers auf diesem Gebiete war, so blieb es, trotz der ungünstigen Meinung der Familie des Porträtierten, nicht seine letzte.
Als Geschenk zu deren goldener Hochzeit schuf er 1892 das Doppelbildnis seiner Eltern. Die Malerei ziemlich sachlich, die Charakterschilderung sehr fein. Noch früher war das Bildnis Wilhelm Bodes, des ausgezeichneten Direktors der Berliner Galerie, entstanden, eine Kreidezeichnung für Schorers Familienblatt (Abb. 55). Die Ähnlichkeit war schlagend, die Haltung des Gelehrten, der Ausdruck, mit dem er die kleine Renaissancebronze in seinen Händen kritisch prüft, von vollendeter Wahrheit. Nicht weniger hervorragend als Persönlichkeitsschilderung war das Bildnis Fritz von Uhdes. Die Porträts des Grafen Kayserlinck, des Professors Bernstein, ein Damenbildnis, folgten. Besonders gelungen erscheint das Bildnis Gerhart Hauptmanns (Abb. 63). Der feste Blick der sinnenden Augen unter der geistreichen Stirn, der willensstarke Mund des Dichters der „Weber“ sind unglaublich gut beobachtet. Man hat[S. 42] sofort das Gefühl, einer geistigen Gewalt gegenüber zu stehen. Das Bildnis Virchows (Abb. 71) war bemerkenswert wegen der Sicherheit, mit der Liebermann den durchdringenden Geist des Forschers mit der Zweifelsucht des Gelehrten in dem Antlitz des berühmten Physiologen zu vereinigen gewußt hatte. Eine überraschend farbenfrohe Leistung war das Porträt der Gattin des Künstlers (Abb. 64), die en plein air auf einer Terrasse oder einem Balkon sitzt. Die rosa Bluse der in einem Schaukelstuhl Ruhenden, der orangefarbene Umschlag einer Zeitschrift, in der sie liest, die helle sonnige Luft geben dem Bilde eine farbige Heiterkeit, die bei Liebermann nicht gerade häufig erscheint. Eine der allerreizvollsten Leistungen auf diesem Gebiete war das Bildnis der kleinen Käthe, der Tochter des Künstlers, die in ihrem hellen Kleidchen vor einer dunkelbraunen Renaissancetruhe steht und eifrig in einem Schälchen auf ihrem Puppenherde rührt. In der auch lithographierten Zeichnung, die Liebermann von Theodor Fontane gemacht hat (Abb. 81), sind sowohl die Neigung für Humor, die der Dichter besaß, als auch sein liebenswürdiges Poetentum und der vornehme, gute Mensch aufs glücklichste vereint zu finden. Auch das Bildnis des belgischen Bildhauers Constantin Meunier (Abb. 88) gibt die Art des merkwürdigen Mannes vorzüglich wieder. Aus der letzten Zeit wären als besonders lebens- und geistvolle Schöpfungen des Künstlers die Porträts des Dichters Eduard Grisebach (Abb. 75), des durch seine Forschungsreisen in Persien bekannt gewordenen Kunsthistorikers Dr. Sarre, des Kunstfreundes und Augenarztes Dr. Max Linde in Lübeck und eines italienischen Herrn zu erwähnen.
Eine Sommerreise in die bayerischen Vorberge und nach Tirol 1893 lenkt die Aufmerksamkeit Liebermanns auf ein Problem, das ihn schon in dem „Altmännerhaus“ beschäftigt hatte: die Darstellung von Luft und Sonne unter dem Grün der Bäume. Der Künstler hatte bemerkt, daß die Bewegung der Blätter dem Sonnenlicht etwas Flimmeriges gibt, und daß dieses Flimmern das Auge verhindert, einen Gegenstand in festen, bestimmten Formen zu sehen. Um also einen der Wirklichkeit ähnlichen Eindruck hervorzurufen, mußte auf etwas verzichtet werden, was bisher als ein wichtiges Erfordernis in der Malerei galt, auf ein ausführliches Betonen der Form. Der Künstler sah häufig unter der Wirkung des zerstreuten Sonnenlichts nur einen aufleuchtenden Farbenfleck, wo bei stetigem Licht unbedingt auch die Form vollkommen zur Geltung gekommen wäre. Die Illusion des unter einem Blätterdache gefangenen Sonnenlichtes ließ sich nur erreichen, wenn die aufdringliche Sachlichkeit beseitigt wurde. Liebermann malte jene bekannten „Alleen in Rosenheim“, wo die Sonne über dichten grünen Buchenkronen steht und ihre Strahlen über den Waldboden tanzen läßt, immer und immer wieder, bis er die Schwierigkeiten so weit überwunden zu haben glaubte, um auch eine kompliziertere Aufgabe dieser Art bewältigen zu können. Sie bot sich ihm in dem hübschen Städtchen Brannenburg, nicht weit von Kufstein gelegen, wo es einen berühmten Biergarten mit schönen hohen, alten Bäumen gibt. Diesen „Biergarten in Brannenburg“ (Abb. 67) hat Liebermann an einem schönen Sonntag, wenn von nah und fern Gäste herbeiströmen, um sich an dem guten Biere des Wirtes im Schatten der Bäume gütlich zu thun, gemalt. Die langen Bänke neben den langen Tischen sind von Eingeborenen, Sommergästen und Fremden dicht[S. 44] besetzt. Aus dem alten Wirtshaus links werden die Maßkrüge getragen. Man ist lustig und guter Dinge; denn das Bier ist gut, und der Aufenthalt unter den schattigen Bäumen angenehm. Man sieht sie alle dasitzen, die braven Leute in der grünen Dämmerung, aber der vorwitzige Sonnenschein blendet. Man bemerkt schon, daß da eine Bäuerin mit weißen Hemdsärmeln, dort ein reicher Viehhändler, hier ein Stadtherr sitzt, aber man erkennt die Menschen mehr an ihrer charakteristischen Haltung, an einem besonderen Hut, an der aufleuchtenden Farbe des Gewandes als an ihren Gesichtern. Die Illusion jedoch, daß man in einen wohlgefüllten Gasthofsgarten voll schöner Buchenbäume blickt, in dem die Sonnenstrahlen neckisch über den saubergekehrten Gang, über Tisch und Bänke und die Köpfe der Leute hüpfen, ist vollkommen erreicht. Das Liebermannsche Bild, eins der frischesten und heitersten, die er gemalt, hängt jetzt im Luxembourg-Museum in Paris, für das es vom französischen Staate erworben wurde. Ein noch komplizierteres Thema behandelt der Künstler in dem „Schweinemarkt in Amsterdam“ von 1895, wo ein Durcheinander von hin- und hergehenden Menschen, von Sonne, Luft und Farben zu einem Bilde wechselvollster Lebensbethätigung gesammelt erscheint.
Der sichere Blick Liebermanns für charaktervolle Typen, den man an unzähligen Studien des Künstlers, die Männer und Frauen, Mädchen und Kinder in allen möglichen Thätigkeiten darstellen, zu bewundern Gelegenheit hat, ließ zwei sehr eigenartige Bilder entstehen, die wie wenige andere von ihm dafür zeugen, daß in seinem Schaffen ein Zug ins Monumentale vorherrscht. Es sind das die lebensgroßen Darstellungen eines holländischen Käskopers, der einmal als „Schreitender Bauer“ (Abb. 69) (in der Königsberger Galerie), das andere Mal sitzend ausruhend „In den Dünen“ (Abb. 74) (Leipziger Museum) von dem Künstler gemalt wurde. Es gehört schon etwas dazu, aus einer solchen Er[S. 46]scheinung, der die meisten Menschen im Leben nichts absehen würden, ein Bild zu machen, ein lebensgroßes, anspruchsvolles Bild; aber Liebermann fand keine Schwierigkeit darin, den Alten in braunroter Jacke und geflickten Hosen, dessen Gesicht tausend Fältchen durchziehen, in das volle Licht des hellen Tages hinzustellen und zu malen. Und wie lebt dieser Kerl im Bilde, der seine Kiepe auf dem Rücken, den derben Stock in der Hand, mit plumpen Stiefeln zwischen den mit dürftigem grauen Hafer bewachsenen Dünen daherstapft! Nichts Pathetisches in diesem wetterharten Gesellen, der, von dem schimmernden Dünensande geblendet, die Augen zusammenkneift, nur Größe und Wahrheit. Der sitzende Käskoper hat vor dem ein Jahr früher (1894) entstandenen schreitenden vielleicht eine flottere malerische Behandlung voraus, aber in der feinen Beobachtung der Wirklichkeit, besonders auch in der schwierigen Wiedergabe der allseitigen Belichtung gibt keins der Bilder dem anderen etwas nach.
Immer lebhafter fühlt sich der Künstler von solchen schwierigen Lichtproblemen angezogen. Es reizt ihn, den Glanz der Sonne auf unbekleideten Menschenkörpern zu malen, Reflexe wiederzugeben, die von lichtgetroffenem Wasser und blitzendem Dünensande herrühren, und er nimmt nach einem Aquarell, das badende Jungen an[S. 47] einem Landsee zeigt, — auch als Radierung vorhanden (Abb. 84) — das große Bild „Badende Jungen in Zantvoort“ (Abb. 86) in Angriff. Liebermanns Farben sind nie die hellsten gewesen, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß seine „Badenden Jungen“ etwa neben der bekannten „Badenden“ von Anders Zorn trübe und grau wirken würden; aber an sich ist das Liebermannsche Bild so hell, so voll von Sonne, daß man förmlich geblendet ist, wenn man längere Zeit auf diese von strahlendem Licht überschütteten Knabenkörper, die glänzendweißen Hemden, den blinkenden Dünensand, das funkelnde Wasser geschaut hat. Und welche Lichtwogen wirft erst der halbbedeckte Himmel dem Beschauer ins Auge! Dabei ist nicht eine harte Farbe, kein einziger starker Kontrast in dem Bilde. Milde und weich umflutet die feuchte Luft alles: Land, Wasser und Menschen. Zugleich bietet das Bild eine Fülle von Bewegungsmotiven. Alle Stadien des Anziehens und des Abtrocknens. Diesen „Badenden Jungen“, die allerdings bereits gebadet haben, von 1896 hat Liebermann 1899 eine wirkliche Badescene entgegengesetzt, die die Jungen im Wasser zeigt, unter leicht bedecktem Himmel, noch überzeugender und bei aller Helligkeit wunderbar stark in der Farbe (Abb. 112). Ein Meisterwerk!
Neben jenem Zantvoorter Bilde hat Liebermann dann noch einmal „Weber“ gemalt, keine Wiederholung des köstlichen Arbeitsidylls von 1882, sondern einen vergrößerten Betrieb mit vielen Personen und Maschinen, auch nicht mit so viel Intimität in den Einzelheiten, aber mit erhöhten Beleuchtungsschwierigkeiten.
Das Jahr 1898 findet den Künstler wieder bei der Gestaltung von Vorwürfen, die sich um die Darstellung von Menschen unter grünen Bäumen, im Schein der Sonne drehen. Eins der liebenswürdigsten dieser Bilder ist der „Sonntagnachmittag in Laren“ (Abb. 103) mit den blitzsauberen fünf Mejsjes, die in ihrem Feststaat, mit blauen und roten Schürzen und weißen Häubchen, Arm in Arm, lachend und scherzend, die von[S. 48] Bäumen eingefaßte Dorfstraße entlangspazieren. Der „Schulgang“ (Studien Abb. 94, 107, 108), der eine Fülle gutgesehener Kindergestalten in farbigen Kleidern, dem vielfenstrigen Schulhause zueilend, enthält, zeichnete sich durch Frische in der Darstellung von Bewegungen laufender kleiner Mädchen, der „Kirchgang“ (Studie Abb. 93) mit einer alten Bäuerin im Vordergrunde durch eine in ihrer Bescheidenheit schöne, von warmer Sommersonne durchflutete Landschaft aus. Dasselbe Jahr brachte dem Künstler die erste monumentale Aufgabe, den Auftrag, den Festsaal eines in Mecklenburg gelegenen Schlosses mit Fresken zu schmücken. Liebermann wählte eine Darstellung der Jahreszeiten Sommer, Herbst und Winter (Abb. 101, 102) und gab darin gleichzeitig einen Extrakt aus seinen Werken, wenigstens einige besonders charakteristische Gestalten daraus, zugleich aber auch einige für ihn neue Figuren, worunter der Pflüger hinter seinen[S. 49] Pferden eine der vorzüglichsten ist, die er überhaupt geschaffen. Bei diesen Arbeiten empfand man recht deutlich das Großzügige von Liebermanns Kunst, seinen Geschmack, sein Gefühl für Raumwirkung und die unendliche Vornehmheit seines farbigen Ausdruckes.
Im Jahre 1899 sammelte der Künstler Eindrücke für neue Arbeiten in Scheveningen. Vor allem interessierte ihn das Leben am Strande. Er, der bisher bestrebt war, die natürlichen Schönheiten der Nordseeküste, das eigenartige Volk der Küstenbewohner und Fischer, den Menschen in harter Arbeit, im mühseligen Ringen mit den Elementen, für die Kunst zu gewinnen, findet Vergnügen daran, die internationale Gesellschaft in einem Weltbade zu beobachten, den Reitern und Reiterinnen am Strande nachzusehen, ein Auge auf glänzende Frauentoiletten zu werfen, sich um die Haltung der Lawn-Tennis-Spieler zu kümmern, die Spiele der Kinder zu inspizieren — kurz alles einzufangen, was ihm malerisch dünkt. Sein Blick, der sich sonst an den reizvollen Dunkelheiten verräucherter Fischerstuben, dem malerischen grauen Dunst der Dünen geweidet hatte, fliegt durch die sonnendurchglänzte Luft über wohlgepflegte Strandpromenaden, der Maler der Armen und Ärmsten achtet auf das lustige Wehen weißer Strandkostüme, begeistert sich für Eleganz und läßt diesen neuen Geist in glänzenden, freudigen, hellen Farben und höchst amüsanten Kompositionen wiederklingen. Eine neue Jugend scheint über ihn gekommen. Oder steht er vor neuen Zielen? Denn das ist das Wunderbare an diesem Künstler, daß er immer vorwärts strebt, immer nach neuen Wegen sucht, auf denen er der Natur entgegentreten, sie fassen kann mit seinen starken Armen. Das erhebt ihn weit über diejenigen, mit denen er einst in einer Reihe zu stehen schien. Er ist niemals fertig in dem Sinne, daß er glaubt, auf dem erreichten Punkte stehen bleiben zu können. Das Ziel der Meisten ist, in Behagen das gewonnene Ansehen zu genießen, das Liebermanns ist, Kunst zu machen, die Grenzen seiner Anschauung und seines Könnens zu erweitern. Mag man’s Ehrgeiz nennen, wie man es auch heißen möchte — es bleibt künstlerischer Sinn, und aus dem allein werden die großen Werke und der Ruhm geboren, der die Jahrhunderte überdauert.
Liebermanns Thätigkeit ist im vorstehenden aber nur zum kleinsten Teil geschildert worden. Weit größer als die Zahl seiner abgeschlossenen Werke ist diejenige der[S. 50] der Meinung des großen Publikums nach unfertigen, die man Skizzen oder Studien nennen mag. Es verlohnte nicht, diese Arbeiten zu erwähnen, wenn in ihnen nicht ein großer Teil von Liebermanns feinsten künstlerischen Offenbarungen steckte, und wenn es möglich wäre, ein Bild von seiner eminenten Künstlerschaft zu geben, ohne seine Leistungen auf dieser Seite einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. Es gibt kaum einen zweiten Künstler in der Welt, in dessen Studien und Skizzen sich der angeborene künstlerische Sinn so auffällig bemerkbar machte, wie bei Liebermann. Wo andere ringen und sorgen, das Richtige zu treffen, oder stümpern, folgt er ruhig seinem Gefühl, und dieses ist bei ihm von einer solchen Zuverlässigkeit, daß es ihn das Rechte sofort finden läßt. Das wunderbar wahre Wort Goethes: „Das Werk eines großen Künstlers ist in jedem Zustande fertig“ paßt prachtvoll zu Liebermanns Thätigkeit in dieser Richtung. Was heißt denn das „Fertig“, von dem so viel gesprochen wird, wenn man neue Kunst zu alter in Gegensatz bringen will? Gibt es überhaupt im letzten Sinne „fertige“ Kunstwerke? Ganz gewiß nicht. Kunst besteht auch gar nicht darin, etwas so fertig zu machen, so weit zu bringen, daß es mit der Wirklichkeit verwechselt werden könnte, sonst wären die Figuren in den Wachsfigurenkabinetten, die, wie gewöhnliche Menschen gekleidet, herumstehen oder sitzen und vom Publikum ob ihrer Menschenähnlichkeit angesprochen werden, die allerbewunderungswürdigsten Kunstwerke. Die Kunst kann nie Wirklichkeit geben, nur den Schein derselben, und dieser Schein soll Vorstellungen auslösen. Geschieht das nicht, so taugt entweder die Kunst nichts oder der Beschauer hat kein oder nur ein verkümmertes Vorstellungsvermögen. Die Kunst vermag Vorstellungen allgemeiner Natur und solche[S. 52] besonderer Natur hervorzurufen. Allgemeine sind die dimensionalen von Höhe, Breite und Tiefe, die aufs innigste verbunden sind mit den Vorstellungen von Raum und Form. Allgemeine Vorstellungen sind auch noch Mensch, Tier, Baum, Gebäude u. s. w.; sie werden aber sofort zu besonderen, wenn dafür gesetzt wird: Kind, Hund, Nadelbaum, Kirche. Je nach seiner Absicht oder je nach Bedürfnis kann der Künstler allgemeine oder besondere Vorstellungen erregen. Bis zu einem gewissen Grade vermag er z. B. die Vorstellung von einem Menschen dadurch zu erzeugen, daß er ganz oberflächlich die Verhältnisse einer menschlichen Gestalt, sei es mit dem Zeichenstift, sei es mit Farbe auf einer Fläche richtig angibt. Für bestimmte Zwecke genügt dieser angedeutete Mensch vollkommen, ist für solch ein allgemeines Stadium fertig und kann sogar künstlerisch gut sein. Die allgemeine Vorstellung von einem Menschen zu einer besonderen und bestimmten zu machen, ist nur insoweit eine Aufgabe für den Künstler, als es darauf ankommt, allgemeinen Vorstellungen eine bestimmte Richtung zu geben. Soll die Vorstellung einer sich bückenden Frau angeregt werden, wobei es nötig ist, daß man eine Frau sieht, die diese und keine andere Bewegung macht, so ist es zunächst durchaus nebensächlich, ob diese Frau näher zu erkennen ist oder nicht. Nur eins ist bei den verschiedenen Stadien zur Erreichung bestimmterer Vorstellungen unbedingt erforderlich: Daß das für das einzelne Stadium Charakteristische herausgebracht ist. Man darf nicht in Zweifel sein, ob die sich bückende Frau eine Verneigung macht, ob sie etwas aufhebt oder eine Wurzel aus der Erde reißt. Und je einfacher die Mittel sind, mit denen eine solche je nach Bedarf bestimmte oder unbestimmte, für den einzelnen Fall aber charakteristische Vorstellung erzeugt wird, um so größer die Kunst. Von hier aus wird man ausgehen müssen, um den Begriff des Fertigen bei Kunstwerken festzustellen. Unfertig ist ein Kunstwerk, im gegebenen Falle ein Bild dann, wenn es dem Künstler nicht gelungen[S. 54] ist, die von ihm beabsichtigte Vorstellung beim Betrachtenden zu erzeugen. Wenn Velasquez bei einigen seiner Porträts die Vorstellung eines Mundes mit einem einzigen Pinselstrich gibt, so mag dieser Mund sehr vielen Menschen auch unfertig erscheinen, weil ihnen diese Art, einen Mund zu malen, zu einfach dünkt. Nun ist aber die Art von Velasquez unzweifelhaft Kunst, während die Art, die jenen Menschen als Kunst erscheint, der mühselig gemalte Mund mit den deutlich sichtbaren Lippen und dem Glanzlicht auf deren Wölbungen, meist nicht Kunst ist, sondern nur der allgemein üblichen Vorstellung von einem Munde mehr entspricht. Der ganze Streit um „fertig“ und „unfertig“ dreht sich also wohl darum, daß die Allgemeinheit unter fertigen Kunstwerken solche versteht, bei denen die Ausführung der Nebensächlichkeiten den konventionellen Vorstellungen von diesen entspricht, unfertig dagegen jene nennt, bei denen das Wesentliche auf Kosten der Nebensächlichkeiten charakteristisch und individuell gestaltet wurde. Bei Beurteilung künstlerischer Leistungen kommt es aber nur darauf an, ob es der Künstler vermocht hat, das, worauf es ankommt, das Wesentliche, bestehe es nun in der Darstellung eines Charakters, einer Erscheinung, eines Vorgangs, einer Bewegung, in der Wiedergabe eines Licht- oder Farbenphänomens, einer Stimmung u. s. w. charakteristisch und überzeugend zum Ausdruck zu bringen. Alle die Bilder, auf denen die Nebensächlichkeiten die Hauptsache sind, kommen als Kunstwerke gewöhnlich selten in Betracht; denn es widerspricht dem Wesen der Kunst, der Natur in ihren tausend Einzelerscheinungen zu folgen; sie muß generalisieren, muß ganze Erscheinungskomplexe zusammenfassen, um bestimmte Eindrücke zu erzeugen.
Von diesem Standpunkt aus muß man, um das richtige Verhältnis zu ihnen zu gewinnen, den Studien, Skizzen und Zeichnungen Liebermanns gegenüber treten. Sie sind niemals fertig in dem gewöhnlichen Sinne, fast immer aber fertig in jenem höheren, und darum nicht selten ganz hervorragende Kunstwerke. In Liebermanns Kunst drängt alles ungestüm nach Charakter. Für ihn gewinnen jedoch viele Erscheinungen erst Charakter durch Bewegung, und er hat eine unglaubliche Gewandtheit darin erlangt, Bewegungen zu beobachten und wiederzugeben. Von seinem „Mann mit der Kuh“ (Abb. 85) sieht man eben nicht mehr, als den Rücken; aber auch wenn dieser nicht gebeugt wäre, würde man aus der Art, wie der Mann geht, den Schluß ziehen müssen, daß er alt ist. Die Kuh schnuppert nicht nur am Grase, sie frißt; man kann gar nicht daran zweifeln. Wie ausgezeichnet beobachtet ist die Bewegung des Jungen, von dessen[S. 55] Ziegen die eine vor-, die andere rückwärts will (Abb. 54)! Die Studien zu den „Spitzenklöpplerinnen“ (Abb. 19) und den „Netzeflickerinnen“ (Abb. 48), zum „Schulgang“ (Abb. 94), zu dem seine Sense dengelnden Bauer (Abb. 60), zum „Schuster“ (Abb. 21) und viele andere sind daraufhin anzusehen. Liebermann hat viele neue Bewegungsmotive in die Kunst gebracht. Aber neben seiner außerordentlichen Fähigkeit, mit einem Nichts von Mitteln zahlreiche Vorstellungen anzuregen, wofür in besonderem Maße u. a. seine kleinen Landschaftszeichnungen zeugen, treten noch zwei andere Eigenschaften bei seinen Studien und Zeichnungen hervor, die ihn zu einer eigenartigen Erscheinung machen: die malerische Empfindung und das sichere Gefühl für Raumwirkung. Sollte man nicht glauben, daß einige der hier fast in Originalgröße wiedergegebenen Blätter aus Liebermanns kleinem Taschenskizzenbuch, wie „Kanal in Leyden“ (Abb. 105), „Kirmes in Laren“ (Abb. 109), „Schulgang“ (Abb. 94) Reproduktionen nach farbigen Originalen wären? Vermißt man Farbe bei der Kohlenskizze der sich die Hände wärmenden Frau (Abb. 42), bei der Kreidezeichnung „Nach Hause“ (Abb. 110), bei der Federzeichnung „In den Dünen“ (Abb. 106)? Alle diese Blätter geben, obwohl sie nur Zeichnungen, also schwarz und weiß sind, doch ganz vollkommene Vorstellungen von den Farbenwerten (valeurs), die der Künstler in der Natur fand. Natürlich kann man, wo es sich nicht um ein für allemal feststehende Thatsachen, wie, daß Bäume grün, ein bewölkter Himmel grau, ein Kornfeld gelb sind, handelt, über eine einzelne Farbe im Unklaren sein, aber man ist niemals im Zweifel über das Verhältnis der Farben zu einander, die Liebermann vor Augen hatte. Und das ist es, worauf es ankommt. Zur Erreichung malerischer[S. 56] Wirkungen gehört aber noch ein anderes: die Berücksichtigung der Lichtverhältnisse, im Grunde also auch eine Darstellung von Bewegungen, aber nicht am Individuum, sondern am Größeren, an der Natur. Hierin ist Liebermann ein Meister ersten Ranges, und nur wenn es sich um Spezialbeobachtungen handelt, wie etwa bei den Studienzeichnungen zum „Altmännerhaus“ (Abb. 15) oder zu den „Konservenmacherinnen“ (Abb. 12) sieht er von einer Wiedergabe luminaristischer Zustände ab. Welche bedeutsame Rolle spielt das Licht bei dem schon erwähnten „Schulgang“ (Abb. 94), dem „Mann mit der Kuh“, dem „Lesenden Mädchen“ (Abb. 66), bei dem Blatt „In der Sommerfrische“ (Abb. 98), bei der „Porträtstudie“ (Abb. 90), bei der Zeichnung des Kindes in der Wiege (Abb. 57)! —
Nun zu dem Raumgefühl Liebermanns. Was heißt Raumgefühl? Zunächst Empfindung für das Verhältnis der von einem Raum umschlossenen Erscheinungen zu diesem, alsdann Empfindung für die wirkungsvollste und richtige Verteilung der Erscheinungen im Raum und schließlich für die Begrenzung des Raums selbst mit Rücksicht auf die von ihm umschlossenen Erscheinungen und des mit diesen beabsichtigten Eindrucks. Auf den Akademien sucht man den jungen Leuten eine Ahnung von Raumgefühl in der Kompositionslehre beizubringen und kann doch höchstens denjenigen damit einen Dienst erweisen, denen der Sinn für räumliche Wirkung von Natur[S. 57] verliehen ist. Wäre Raumgefühl eine bei der Mehrzahl der Künstler anzutreffende Eigenschaft, so würde man keinen Grund haben, sie bei Liebermann zu rühmen. Raumgefühl spricht sich darin aus, daß eine bildliche Darstellung, handele es sich um ein Porträt, ein Figurenbild oder eine Landschaft, so beschaffen ist, daß weder die Größe des dargestellten Gegenstandes zu der Fläche, auf der er erscheint, noch der Ort, wo er auf dieser erscheint, noch die Fläche selbst in ihrer Ausdehnung geändert werden können, ohne eine empfindliche Schädigung der Gesamtwirkung herbeizuführen. Man sehe daraufhin einmal Liebermanns Kohlenstudie „Kartoffelernte“ (Abb. 62) an. Wäre es möglich, das Blatt nur um Fingersbreite irgendwo zu beschneiden, ohne es des glücklichen und künstlerischen Verhältnisses der Figur zur Scholle, der Scholle zur Luft zu berauben? Ganz gewiß nicht. Die ganze Komposition müßte geändert werden, wenn auf der Zeichnung „Junge mit Ziegen“ (Abb. 54) der Junge kleiner wirken sollte. An den Verhältnissen des sitzenden „Käskopers“ in der Studie zum „Mann in den Dünen“ (Abb. 73) kann auch nicht das Geringste geändert werden, ohne das Beste an der Sache zu zerstören. Alles muß notwendig so sein, wie es ist. Bei dem Bilde selbst hat Liebermann die Komposition geändert, um das Abschließende der Dünen stärker zu betonen, als ihre Öde. Der Kopf des Bauern ragt nicht mehr über die Horizontlinie hinaus, sondern steht gegen das Graugrün der Düne. Um der Erscheinung des Bauern mehr Masse zu geben, hat er ihn auf seinem Sitz mehr vorgerückt, und die Kiepe auf dem Rücken spricht stärker mit, indem man sie unverkürzt sieht. Man könnte die Aufstellung solcher Beispiele für das feine Raumgefühl Liebermanns ins Unendliche fortsetzen. Nur auf seine Bildnisse sei noch hingewiesen, wo es sich ebenfalls auf das glücklichste offenbart. Aber das Lob, das man dem Künstler in dieser Richtung spendet, würde übertrieben gescholten werden können, wenn man nicht gleichzeitig betonte, daß Liebermanns Raumgefühl eine natürliche Gabe ist, nicht das[S. 58] Produkt einer Überlegung. Es läßt sich manches durch Herumprobieren finden, bei Liebermann ist die Entscheidung für das Richtige, Wirksame sofort da. In dieser Selbstverständlichkeit liegt ein großer Teil des Reizes, den des Künstlers flüchtige Studienblättchen ausüben.
Eine gleich bedeutsame Begabung zeigen seine Ölstudien nach der Seite der Farbengebung. Man möchte die Menschen bedauern, die nur Klecksereien in einigen von diesen flüchtigen Farbennotizen sehen; denn sie entbehren den großen Genuß, etwas unendlich Geschmackvolles bewundern zu können. Es gibt für an großen malerischen Kunstwerken erzogene Augen kaum einen angenehmeren Genuß, als gemalte Studien Liebermanns anzusehen. Die Harmonie seiner wenigen Farben ist zuweilen von hinreißender Schönheit, zeugt aber in den meisten Fällen mindestens von einem ganz selten feinem Geschmack. Er verwendet niemals reine, sondern fast immer gebrochene Farben, ohne daß diese jedoch flau oder schwächlich wirkten — im Gegenteil! Das Ensemble seiner Farben ist stets kräftig und sogar ausgesprochen herb. Der Künstler haßt in der Farbe nur jede Brutalität, das Schreien und das Effektvolle, was so vielen als das eigentlich Malerische gilt. Wenn die Bezeichnung nicht den Beigeschmack von etwas Nachgemachtem, Akademischem hätte, möchte man sagen, seine Farbengebung sei von altmeisterlicher Schönheit. Der Künstler begegnet sich mit den alten Meistern jedoch nur in jenem höheren Sinne, in dem alle große Kunst sich ähnlich sieht. Liebermanns Kolorit ist viel zu individuell, als daß es von irgendwoher übernommen sein könnte, aber es ist so fein, daß seine Bilder oder auch nur seine gemalten Studien in eine Galerie alter Meister aufgehängt, neben den Bildern der Alten ebensowenig verlieren würden, wie sie neben einem japanischen Holzschnitt verlieren. Wer für das sprühende Temperament,[S. 59] den Reiz der Handschrift in Liebermanns hingehauenen Studien kein Verständnis besitzt, sollte wenigstens die außerordentliche Kultur bewundern können, die in Liebermanns Farben steckt.
Was an den Handzeichnungen des Künstlers zu rühmen war, gilt natürlich auch für seine Radierungen. Es ist klar, daß jemand, der so malerische Zeichnungen produziert, auch in seinen Nadelarbeiten nach ähnlichen Wirkungen strebt. Zu den Tugenden von Liebermanns Handzeichnungen treten nun noch die Zufälligkeitsreize der Radierung. Zu leichte oder zu starke Ätzung der Platte, Verletzungen des Ätzgrundes, Entgleisungen der Nadel, stehengebliebener Grat u. s. w. Vor einem Teil seiner Radierungen muß man fast an Kohlenzeichnungen denken, so derb und rauh und breit ist die Nadel über die Kupferplatte gefahren. Eine Zeit lang hat er die Technik des vernis mou sehr bevorzugt;[S. 60] denn diese Art, wo die Zeichnung auf einem über den erweichten Ätzgrund gelegten dünnen Papier gemacht wird, gewährte ihm die Möglichkeit, etwas herauszubringen, was seinen Handzeichnungen ähnlich sah und gelegentlich noch malerischer wirkte. In der letzten Zeit findet er Vergnügen daran, mit der kalten Nadel zu arbeiten. Die äußerst feinen Linien, die die Schneidenadel in das Kupfer gräbt, sind sehr geeignet, die Farblosigkeit von Dünenlandschaften, die weiche verschleiernde Luft der Küste und duftig in der Ferne auftauchende Kirchtürme und Maste wiederzugeben (Abb. 80). Und gerade diese Blätter sind es, vor denen die Erinnerung an Rembrandt wach wird, an die sich weithin dehnenden Ebenen und freien, hohen und weichen Lüfte seiner radierten Landschaften.
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Wenn die neuere Kunstbetrachtung auch den Grundsatz hat, die Bewertung von Kunstwerken nicht mehr in Abhängigkeit zu bringen von dem Gegenständlichen, wenn sie auch überzeugt ist, daß ein gutgemalter Kürbis ein größeres Kunstwerk ist, als eine schlechtgemalte Hochzeit zu Cana, so steht sie doch nicht an, innerhalb der guten Malerei auch dem Stoffgebiet eine bestimmende Stellung einzuräumen; denn sie kann sich der Einsicht nicht verschließen, daß ein größerer Aufwand von künstlerischer Intelligenz und Konzentration dazu gehört, eine Summe von Lebenserscheinungen zusammenzufassen, als die Zustände eines einzelnen leblosen Objekts darzustellen. Es ist einfach undenkbar, daß Liebermann die Stellung als Künstler einnehmen würde, die man ihm zuerkennt, wenn er nur Stilleben gemalt hätte, und ebensowenig wäre man geneigt, das Genie Menzels besonders hoch einzuschätzen, würde er sich darin erschöpft haben, die Reliquien des Rokoko künstlerisch zu verherrlichen. Neben dem Künstlerischen hat auch der Stoff in der Kunst seine Bedeutung. „Alles Talent ist verschwendet, wenn der Gegenstand nichts taugt.“ Ein schöner Teil von Liebermanns Erfolgen beruht unzweifelhaft auf dem Gegenstande seiner Kunst, und deshalb verdient auch dieser eine nähere Betrachtung.
Es liegt eine gewisse Ungerechtigkeit darin, Liebermann immer als den Nachfolger, wenn nicht gar Nachahmer Millets hinzustellen, auch hinsichtlich seines Stoffgebietes. Wenn er nicht über Millet hinausgekommen wäre, so würde man ebensowenig von ihm sprechen, wie man von Fritz Werner spricht, der sich bemühte, die Wege Menzels[S. 62] zu gehen. Man unterschätzt Liebermanns künstlerische Gesinnung und die neue Schönheit, die er in die Kunst gebracht hat, wenn man ihren Ursprung außer ihm sucht und zu finden meint. Niemand wird leugnen, daß er derjenige war, der in Deutschland den Blick auf die Wandlungen gelenkt hat, die in der französischen Kunst seit 1860 vor sich gegangen waren, und so gleichsam ein Apostel neuer künstlerischer Lehren geworden ist; wäre aber nicht zugleich ein starker Strom persönlicher künstlerischer Macht von ihm ausgegangen, so würde man sich in Deutschland vielleicht heute noch nicht viel um Millet und seine künstlerischen Grundsätze bekümmern. Millet hat Barbizon entdeckt, mit seinen stillen, wehmütigen Bauern, die, als verrichteten sie feierliche Handlungen, das Feld bestellen, Bäume fällen, Strümpfe stricken und Ähren sammeln. Liebermann zog für die Mitwelt den Schleier fort, hinter dem eine vergessene Welt lag, voll Eigenart und Schönheit; er that die Thüren auf zu den Schatzkammern, aus denen die feinsten Maler des siebzehnten Jahrhunderts geschöpft, er fand Holland wieder, das malerischste Land der Welt. Die Rousseau, Troyon, Daubigny, Dupré, die Ehrwürdigen von Fontainebleau hatten die Prinzipien der holländischen Landschafter des siebzehnten Jahrhunderts für die Gegenwart lebendig gemacht. Liebermann ging zu den Quellen. Er hatte den Mut, sich nicht darum zu kümmern, was und wo die anderen gemalt; er sah selbst zu, was es zu malen gab. Diese Selbständigkeit im Ermitteln von malerischen Motiven kündigt sich freilich in seinem ersten Bilde, den „Gänserupferinnen“, noch nicht an. Die Idee zu solchen Bildern lag in der Luft. Paul Meyerheim hatte 1871 eine „Schafschur“ gemalt. Es sei ferner an Hirth du Frênes’ „Hopfenernte“ erinnert, auf der sich sogar auch der dem Ostade, Jan Steen oder irgend einem anderen der holländischen Sittenmaler abgesehene Lichteffekt mit dem Fenster im Hintergrunde und den darunter in schummeriger Beleuchtung stehenden Personen vorfindet. Nur daß Rudolf Hirth noch nicht so völlig darauf verzichtet hatte, dem Publikum etwas zu erzählen und inmitten der in ihre Arbeit vertieften Weiber[S. 63] ein Liebespaar setzt. Auch Liebermanns erste „Konservenmacherinnen“ — die Abb. 3 gibt die zweite Wiederholung; das im Leipziger Museum befindliche 1878 gemalte Bild hat damit weder in Farbe noch Komposition Ähnlichkeit — zeigen noch keine veränderte künstlerische Anschauung. Das Licht- und Schattenspiel rechts im Hintergrunde ist beibehalten. Aber schon in den „Invaliden“ von 1874 kündigt sich die Gabe Liebermanns, eigenartige neue Motive aus der Wirklichkeit herauszusehen, an, und auch die künstlerische Idee gelangt fester und stärker zum Ausdruck. War auf den ersten Bildern die Lichtquelle im Hintergrunde nur Episode, um dessen nächtliche Schwärze aufzulichten, so ist sie hier eben schon hauptsächliche künstlerische Idee, mit Verständnis, aber noch nicht eigentlich in einem neuen Sinne durchgeführt. Auch der „Bauernhof“ von 1875 (Abb. 6) zeigt ein damals noch ungewöhnliches Motiv, zugleich aber schon ein bemerkenswert sicheres Gefühl für die Verteilung der hellen und dunklen Flecken im Bilde.
Den „Arbeitern im Rübenfelde“ glaubt man anzusehen, wie sich der Künstler bemüht hat, dem Bannkreise Millets fern zu bleiben. Während Millets Gestalten dessen Landschaften leicht beherrschen, läßt Liebermann die Landschaft das große Wort führen. Die Figuren der Arbeiter gehen fast darin auf. Daher erscheinen sie weniger bedeutend, als die Millets, obgleich ihnen der Künstler einen gewissen starken Ausdruck hat geben wollen. Von nun an läßt den Künstler die Empfindung, daß es ein Mittel geben müsse, die Einzelerscheinungen zu Gunsten[S. 64] einer größeren Gesamtwirkung zurücktreten zu lassen, nicht mehr los. Daß es der bloße „Ton“, den es nur in Bildern und nicht in der Natur gibt, nicht sein könne, wird ihm immer klarer, und er versucht zunächst, das Sonnenlicht als Medium zu benutzen. Das kleine Bild „In den Champs Elysées“ steht am Anfang der Versuche; es folgt das „Altmännerhaus“ und als brillantes Schlußstück der „Waisenhaushof“. Alle drei Bilder lassen wieder den fabelhaft sicheren Blick für wirksame Motive bemerken. Dergleichen war noch nie gemalt worden. Hatte das Sonnenlicht, das die Wärterinnen mit den Kindern auf der Bank im Grünen umfloß, den Zweck, das Anmutige des Vorganges zu erhöhen, so diente es auf den beiden anderen Bildern dazu, das Mitgefühl des Beschauers mit den dargestellten Personen zu dämpfen, das an und für sich Traurige der Situation der alten Hospitaliten und der elternlosen Kinder zu verdecken. Dabei war kein Angriff auf die Wahrheit gemacht. Man konnte das gegebene Objekt nicht leicht natürlicher in den Dienst einer künstlerischen Absicht stellen. Heute, wo man die Entwickelung Liebermanns ganz oder doch zum größten Teil überschauen kann, bewundert man freilich weniger die Durchführung der künstlerischen Absicht, als die ungeheure Energie, mit der der Künstler sich die Sache selbst erobert hat. Es ist alles gesagt, kein ungelöster Rest geblieben, eine Fülle von individuell schönen Erscheinungen, schönen Bewegungen und schönen Farben gegeben. Nirgends eine Spur von Koketterie, sei es mit technischen Fertigkeiten oder mit den Neigungen des Publikums. Die „Kleinkinderschule“, die „Frau am Fenster“ und die „Schuster“ zeigen die Anwendung der gleichen künstlerischen Idee auf Innenräume, zum Teil schon in meisterhafter Weise. Die vereinfachten Motive in den beiden letzten Bildern erlauben dem Künstler der Beobachtung der Zustände eine größere Aufmerksamkeit zu[S. 65]zuwenden, die künstlerische Absicht konzentrierter zu geben. Bei der „Frau am Fenster“ und noch auffallender bei den „Schustern“ beherrscht das Licht alles, so daß das Sachliche eigentlich nur noch als dessen Träger erscheint. Hier ist der Anschluß an die alten Meister bereits vollkommen erreicht, ohne daß er durch historische Kostüme oder den sogenannten Galerieton markiert wäre, lediglich durch das Bestreben in ihrer Art zu arbeiten, die im fortwährenden Befragen der Natur bestand.
Es ist hier vielleicht die beste Gelegenheit, darzulegen, warum das eine That war, und warum die „Schuster“ Liebermanns ein größeres Kunstwerk sind, als etwa Pilotys „Seni an Wallensteins Leiche“.
Eigentlich wäre die Sache schon erledigt, wenn man darauf hinwiese, daß Pilotys Bild eine Theaterscene sei, die „Schuster“ aber ein Stück Wirklichkeit vorstellten. Nun könnte jedoch gesagt werden, daß der selige Piloty sicherlich nicht ohne Modell gearbeitet, also auch Wirklichkeit vor sich gehabt habe, genau wie Liebermann.[S. 67] Das läßt sich nicht leugnen; es kommt nur darauf an, ob man der Wirklichkeit die üblichen oder die feineren Schönheiten absieht. Auf Pilotys Bild wird das Licht des grauenden Morgens von seidenen Stoffen und Vorhängen zurückgeworfen, ein Durcheinander von prächtigen Farben glänzt auf. Das Auge wird durch eine Fülle schöner, wohlklingender Töne geblendet. Ein starker Effekt. Liebermann bedarf keiner glänzenden Farben, um die Suggestion des Lichtes zu erzeugen, er wendet keines der Mittel an, die man schon hundertmal gesehen, malt nicht Rezeptlicht, sondern jenes Licht, das man nirgendwo anders sehen konnte, als in jener Werkstatt mit dem breiten Fenster. Er malte kein lebendes Bild, sondern das Leben, keine übernommene Anschauung, sondern eigene. Piloty konnte nur eine überlieferte Vorstellung von Licht geben; denn er schilderte kein persönliches künstlerisches Erlebnis, sondern ein geschichtliches Ereignis. Von der Seite des Stoffes betrachtet, sind Seni und der tote Wallenstein bedeutendere Erscheinungen, als der Schuster mit seinem Lehrling; aber künstlerischer angesehen und wiedergegeben sind diese, und sie stehen so hoch über jenen, wie das Leben über einem Schauspiel, wie individuelle Beobachtung über konventionellem Nachahmen steht.
In Liebermanns „Bleiche“ bemerkt man das Bestreben des Künstlers, die Einzelheiten zurücktreten zu lassen, bereits deutlicher. Ein ruhiges mildes Licht waltet im Bilde. Auch der „Weber“ ist schon einfacher gemalt, als der „Schuster“. Zwischen diesen Werken erscheinen immer wieder einige frühere Absichten noch einmal aufgenommen, wie bei der „Zimmermannswerkstatt“ von 1879 (Abb. 9) und jenen alten „Spinnerinnen“ (Abb. 17). Der „Münchener Biergarten“ ist eine Fortentwickelung und Vollendung der in den „Champs-Elysées“ angerührten Ideen. Die „Holländischen Waisenmädchen“ von 1884 (Kunsthalle in Hamburg) (Abb. 36) stehen in Zusammenhang mit den Waisenmädchen von 1881. Neben der reizend intimen „Dorfstraße“ (Abb. 37) erscheint 1885 ganz unvermittelt ein breit und keck gemaltes Bild der kleinen Tochter des Künstlers (Abb. 38) im weißen Kleidchen, die mit einer roten Puppe spielt. Man muß nun doch schon einen alten Meister zitieren, um den Eindruck dieses Bildes nach der künstlerischen Seite hin festzustellen: Franz Hals.
Die 1886 gemalte „Schweinefamilie“ (Abb. 43) ist ein kühner Griff in eine bisher für nicht darstellungswürdig gehaltene Sphäre. Das Publikum sah nur, daß sich jemand erkühnte, ihm empörende Dinge anzubieten. Der Gipfel des Naturalismus schien erreicht. Daß es Kunst war, die sich darin offenbarte, wie Liebermann das lustige Gewuhsel kleiner Ferkel am Futtertroge dargestellt, beachtete man nicht. Dann kam die „Flachsscheuer in Laren“, das erste Bild des Künstlers, wo die zeichnerische Durchbildung zurücktritt und die Form nur noch durch Farbe unter Wirkung des Lichtes herausgebracht wird. Nicht allein die Arbeitenden scheinen sich zu bewegen, man meint auch die Bewegung der Luft zu sehen, die von den sausenden Rädern und fliegenden Spulen erzeugt wird. Man hat nicht mehr den Eindruck von etwas Beobachtetem, sondern den von Wirklichkeit. Noch gewaltiger erscheinen die atmosphärischen Mächte in den „Netzeflickerinnen“. Der Sturm braust, der salzige Odem des Meeres umhüllt Menschen und Landschaft. Nichts von Zeichnung im gewöhnlichen Sinne, aber großartige Silhouetten und eine Charakteristik der Bewegungen, wie sie noch nicht in der Kunst existiert hat. Dann die „Frau mit den Ziegen“. Es wird immer bewundert werden, wie Liebermann darin die Suggestion von Licht hervorruft. Gar keine Gegensätze von Hell und Dunkel, sondern eine fast gleichmäßige, trübe Farbe; dabei aber eine Leuchtkraft, als ob man in die Natur sähe. Man müßte schließlich wieder alle Bilder des Künstlers einzeln durchnehmen, um zu zeigen, wie er nicht nur[S. 69] durch neue, noch von keinem Früheren entdeckte Stoffe, sondern auch durch eigenartige Behandlung derselben wirkt.
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Was ist nun aber das Wesentliche in Liebermanns Kunst, ihr Sinn, ihre Schönheit, und warum hat sie in so starkem Maße die Kunst am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts beeinflussen können? Die Frage ist ebenso leicht zu stellen, wie sie schwer zu beantworten ist. Liebermanns Vorliebe für die scheinbar gleichgültigsten Dinge, für wenige, schlichte Farben, für arbeitende Menschen, für Licht, seine Abneigung gegen alles sogenannte Ideale, gegen Pose und Pathos und gemeine Sensationen sind Charaktereigentümlichkeiten von ihm, aber das Wesen seiner Kunst wird damit noch nicht gekennzeichnet; denn Kunst ist, außer einer Summe von Fähigkeiten und Eigenschaften, auch das Ergebnis einer Weltanschauung, wenigstens kann man das von jeder großen Kunst behaupten. Weltanschauung! Wie schaut Liebermann die Welt an? Die Einen sagen mit den Augen eines unerbittlichen Naturalisten, die Anderen behaupten mit den Augen eines Mitleidigen. Vor allem sieht Liebermann aber die Welt wohl als Maler an. Er hat selbst einmal ausgesprochen, daß es ihm darum ginge, die Natur malerisch aufzufassen, daß er keineswegs das sogenannte Malerische wolle, sondern die Natur[S. 70] in ihrer Einfachheit und Größe. Sein Naturalismus bestand darin, daß er der Ansicht war, man merke in den vorhandenen Bildern zu deutlich, daß die Natur für den besonderen Zweck zurecht gemacht worden; und sein Mitleid ist auf die einfache Erkenntnis zurückzuführen, daß man Natürlichkeit dort suchen müsse, wo sie noch vorhanden sei, beim Volke. Liebermann fand ferner, daß Malerei ein Handwerk geworden war und aufgehört hatte, eine Kunst zu sein. Man bemühte sich nicht mehr, das in der Natur selbst Gesehene, sondern dafür durch Übereinkommen festgesetzte Hieroglyphen auf die Leinwand zu bringen. Er wagte es, dieses Übereinkommen für albern, für der Kunst schädlich und gegen ihre Weiterentwickelung gerichtet zu erklären. Er hat aber niemals behauptet und zu beweisen gesucht, daß die ganze Kunst darin bestände, die Natur nachzuahmen, und wenn man ihn für einen Naturalisten hält, so nimmt man Natürlichkeit für Natur. Kunst besteht niemals in Nachahmung, sondern in einem Übersetzen der Natur. Kunst setzt Empfindung und geistige Thätigkeit voraus, und das aufgewendete Maß beider bestimmt den Wert ihrer Erzeugnisse. Die Benutzung der Hieroglyphe aber drückt den Aufwand von geistiger künstlerischer Thätigkeit auf ein Minimum herab und beschränkt den Ausdruck der persönlichen Empfindung in hohem Grade. Der vielgescholtene Naturalismus Liebermanns besteht eigentlich nur darin, daß er darauf verzichtete, die Stoffe zu malen, die alle malten, und so zu malen, wie die Akademien lehrten, kurzum, daß er das Schema haßte und statt der bewährten alten Entdeckungen neue machen wollte. Liebermann schaut die Welt als Empiriker an, und weil er kein System dafür hat, wie er sich der Natur anders gegenüberstellen könnte, denn als Einer, der von ihr belehrt sein will, ist eine[S. 71] Naivetät in seiner Kunst, wie bei einem der Primitiven. Seine Kunst wird ferner dadurch gekennzeichnet, daß er nach Größe strebt und nach Einfachheit, in Formen und Linien sowohl, als in Farben, und endlich durch sein Nachdrucklegen auf das Charakteristische. Alle diese Neigungen erscheinen in seinen Schöpfungen vereint oder einzeln, ganz stark oder schwächer, je nachdem ihn der Gegenstand künstlerisch gereizt hat. Der Empiriker in Liebermann läßt diesen Künstler auch immer frisch erscheinen. Er erschrickt weder vor den Wandlungen des Geschmackes, noch vor neuen wissenschaftlichen Entdeckungen, die auf die Anschauungen der Künstler Einfluß gewinnen können. Er ist immer bereit, zu lernen, aber er verschmäht es, die empfangenen Belehrungen von sich zu geben, ehe sie mit seinen Erfahrungen zusammengewachsen sind. Darum hat seine Kunst niemals aufgehört, interessant zu sein, und darum scheint sie auch dem Wechsel der Kunstmode so wenig unterworfen. Man mag Liebermanns Bilder nicht alle gleich gut finden, niemals wird man sagen können, sie seien langweilig; man weiß immer, warum, aus welchem künstlerischen Grunde sie gemalt wurden, und wird stets das Vorhandensein einer künstlerischen Pointe bemerken.
Liebermanns Stoffkreis ist nur äußerlich charakteristisch für das Wesen seiner Kunst. Nicht menschliches Mitleid ließ ihn Gefallen finden an armen Arbeitern und Bauersleuten, sondern der Instinkt, daß bei ihnen und auf ihrer Scholle viel mehr für einen Künstler zu holen war, als zwischen den Mauern der Stadt. Weil er sie nicht mit den Augen eines sich klüger, gebildeter oder wohlhabender Dünkenden ansah, weil er sie nicht dem Gelächter preisgab, weil er sie in seinen Bildern weder Komödien, noch Tragödien aufführen ließ,[S. 72] mußte er sie durchaus aus Mitleid malen. Mit demselben Rechte könnte man behaupten, Menzel zeichne einen Pferdemaulkorb aus der Barockzeit aus Freude darüber, daß man den Tieren in unserer Zeit, auch wenn sie bissig wären, ein so schweres Martyrium nicht mehr zumute. Es ist bezeichnend genug, daß man nach menschlichen Vorwänden auch da forscht, wo künstlerische genügen könnten und sollten. Schließlich ist es doch eigentlich Holland, das Stück Erde, wo eine wassergesättigte Luft das Licht heller, die Umrisse weicher, die Farben harmonischer macht, was Liebermann dazu bringt, Fischer und Schäfer, Arbeiter und arme Leute zu malen. An Hollands Atmosphäre konnte er die Bewegungen des Lichtes, an seiner Bevölkerung Bewegungsmotive der menschlichen Gestalt besser beobachten, als irgendwo. Das war für ihn entscheidend und vielleicht dazu der Wunsch, den Leuten, die vom Künstler ideale Erscheinungen verlangen, zu zeigen, daß man dieser nicht bedürfe, um sich als Künstler zu legitimieren.
„Die Kunst soll für diejenigen Organe bilden, mit denen wir sie auffassen; thut sie das nicht, so verfehlt sie ihren Zweck und geht ohne die eigentliche Wirkung an uns vorüber.“ Darum verzichtet Liebermann darauf, seinen Bildern einen unterhaltenden Inhalt zu geben; denn er beabsichtigt nicht, sich an den Verstand der Beschauer seiner Bilder zu wenden, sondern er will ihre Augen erfreuen, indem er ihnen irgend etwas Schönes zeigt, was er mit seinen forschenden Künstleraugen in der Natur oder in einer armen Hütte gesehen. Und gerade weil er sich nicht darum kümmert, was das Publikum gemalt haben möchte, hat seine Kunst von Anfang an etwas Provozierendes für die Menge gehabt. Vielleicht nicht ganz ohne Schuld des Malers. Da er sah, wie gründlich man ihn mißverstand, wie wenig Eindruck sein ernsthaftes Ringen mit der Natur den Leuten machte, packte ihn wohl manchmal die Lust, dem Philister gehörig einzuheizen. Er ging dem Natürlich-Schönen gelegentlich nicht ohne Absichtlichkeit aus dem Wege, um recht sinnfällig zu zeigen, daß es nur ein Schönes[S. 73] gebe, das unantastbar sei, das Künstlerisch-Schöne. Jeder andere, als ein wirklich großer Künstler, hätte dabei den Kürzeren gezogen. Liebermann wuchs, je mehr Widerstände er zu überwinden hatte, seine Kunst wurde immer freier, der letzte Rest von übernommener Technik abgestoßen. Der Künstler scheint jetzt nur er selbst und keine Spur von Anschauungen, die andere vor ihm besessen, ist in seinen Bildern noch zu finden. Allerdings macht es manchmal den Eindruck, als fehle seinen letzten Schöpfungen die Vollendung, die frühere Arbeiten von ihm besitzen. Ein Irrtum! Wenn zwanzig Jahre vergangen sein werden, wird man finden, daß Liebermanns letzte Bilder genau das enthalten, was der Künstler zeigen wollte. Ist doch das Publikum hinter die Feinheiten des „Altmännerhauses“ und der „Waisenmädchen“, des „Schusters“ und der „Netzeflickerinnen“ erst gekommen, nachdem sie die Patina des Alters angesetzt hatten. Das Wesen der Liebermannschen Kunst ist Beweglichkeit, nicht in dem Sinne, daß der Maler heut diesen, morgen jenen Anschauungen nachgeht, sondern darin, daß er sich bemüht, alle künstlerischen Schönheiten, die in der Natur vorhanden sind, so weit es ihm sein Talent erlaubt, festzustellen, nicht sprungweise, vielmehr von Fall zu Fall. Seine Methode hat hierbei fast etwas von Wissenschaftlichkeit. Zunächst fühlt er das Vorhandensein irgend eines künstlerischen Reizes, er sucht ihm beizukommen, prüft ihn auf seinen Wert und stellt ihn dann, nachdem seine Verwendbarkeit erwiesen, in den Dienst größerer Absichten. Diese Methode hat dem Künstler mit Recht den Ehrentitel eines „Pfadfinders“ und „Bahnbrechers“ eingetragen.
Liebermanns Kunst hätte niemals be[S. 74]fruchtend wirken, niemals eine neue Kunst in Deutschland zeugen können, wenn sie nicht absolut männlich gewesen wäre vom ersten Augenblicke an. Darin liegt aber vielleicht auch eine Erklärung für ihre verspätete Anerkennung von seiten des Publikums. Wie Leibl, Menzel und Böcklin in Deutschland, Millet, Courbet und Manet in Frankreich, brachte Liebermann zeugungsfähige männliche Kunst zu einer Zeit hervor, wo eine weibliche Kunst mit ihrer Neigung für das Unterhaltsame und Launische, für die Abwechselung alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Nicht im Gefühl eigener Armut, sondern aus dem Bewußtsein heraus, daß es sein gutes Recht sei, das Gute seiner Vorgänger zu benutzen, um möglichst bald und sicher zu seinen Zielen zu gelangen, hat er Anschluß an Courbet und Millet gesucht. Er hat auch, als er in Deutschland zu wirken begann, nichts Entliehenes oder Fremdes weitergegeben, sondern Eigenes. Er ist kein Planet, der sein Licht von einer Sonne erhält, sondern ein Fixstern, der im eigenen Glanze am Himmel der Kunst leuchtet. Die herbe Männlichkeit in Liebermanns Schöpfungen verhindert die Meisten, sich mit seiner Kunst vertraut zu machen. Hat man sie aber einmal kennen und lieben gelernt, so wird man finden, daß sie trotz ihrer scheinbaren Rauheit unendlich fein ist und eine Fülle von zarten Schönheiten besitzt, wie kaum eine andere.
Der Empiriker Liebermann arbeitet mit dem Künstler Liebermann gemeinsam. Er ist immer geneigt, seine Entdeckungen den höheren Gesetzen der Kunst unterzuordnen, was leider von vielen anderen Malern vergessen wird, so daß ihre Bilder zuweilen eher wie physikalische Demonstrationsobjekte als wie Bilder wirken. Als man entdeckt hatte, daß das in seine prismatischen Bestandteile zerlegte Licht im Bilde viel heller und lebendiger wirke als der einfache helle[S. 75] Ton, nahm auch Liebermann diese Neuerung auf, aber in einer Weise, daß sie sich niemand aufdrängte. Keine Spur von der auffälligen Manier der Pointillisten und Neo-Impressionisten. Es ist einer der Grundsätze Liebermanns, daß Kunst nie aussehen dürfe wie Arbeit. Und während Andere Bilder malen, in denen neue Entdeckungen als Selbstzweck erscheinen, wird man kein Bild Liebermanns namhaft machen können, das diesen Eindruck hervorriefe; und doch war er selbst einer der glücklichsten Entdecker, der von keinem Anderen noch empfundene und entdeckte Stimmungsreize auf die Leinwand gebracht hat.
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Man kann von jeder starken Künstlerpersönlichkeit behaupten, daß sie Wirkung auf die Kunst ihrer Zeit ausübe; aber nur dem ist es beschieden, nachhaltigen Einfluß zu gewinnen, der die Grenzen der künstlerischen Anschauungen zu erweitern vermag, der einen neuen Geist, eine neue Gesinnung gegenüber dem Objekt der Kunst — der Natur zeigt. Wenn Liebermann der deutschen Kunst am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts eine veränderte Richtung gab, so hat daran das als wichtig erkannte Neue in seiner Gesinnung mindestens ebensoviel Anteil als das stofflich Neue in seinen Bildern. Die von ihm ausgehende Wirkung ist nicht damit gekennzeichnet, daß gesagt wird, er habe den Naturalismus oder Realismus nach Deutschland importiert. Das war gar nicht nötig, denn man hätte ja, wenn das Bedürfnis vorgelegen haben würde, sich mit dem Realismus bekannt zu machen, bei Menzel lange vor Liebermann Gelegenheit dazu gehabt. Nein, Liebermanns That bestand darin, daß er eine neue Art, die Wirklichkeit zu sehen, in die Kunst brachte, und zeigte, daß es nicht darauf ankäme, die Wirklichkeit wiederzugeben, sondern das, was dem Künstlerauge als Wirklichkeit erscheint. Schon darum ist der Künstler kein Naturalist, wofern das Wesen eines solchen darin besteht, daß er als Person gänzlich hinter seinem Werke verschwindet. Im Gegenteil, Liebermann hat die Kunst recht eigentlich vor der Gefahr bewahrt, im Naturalismus zu ersticken, indem er dahin drängte, die Natur nicht im Kleinen, sondern im Großen und persönlich zu sehen. An die Stelle der Beobachtung unwichtiger Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten setzte er die Beobachtung des Wesentlichen, der Gesamterscheinung, der farbigen Gegensätze, der sich aus diesen ergebenden Linien und Formen und das Verhalten derselben unter der Wirkung von Licht.
Liebermann war unter den deutschen Malern der erste, der die Entdeckungen der Landschafter in konsequenter Weise auf das[S. 77] Figurenbild übertrug, der den Übergang von der „Stimmung“ zum „Milieu“ fand. Seine Landschaften, in denen Menschen sich bewegen, sind ebenso gut Milieudarstellungen, wie seine Interieurs Stimmungsstücke. Diese Richtung des Blickes auf die Gesamterscheinung bedingt in seinen Bildern alles. Er gerät selten in Versuchung, zu ausführlich zu werden, weil er sich bewußt ist, daß Ausführlichkeit bei einer gewissen Grenze die Wahrheit im großen aufheben muß; und um einen Ersatz dafür zu bieten, strebt er nach Ausdruck, und zwar nach Ausdruck durch Charakterisierung. Es war schon bei Erwähnung seiner Studien darauf hingewiesen worden, mit welcher Unermüdlichkeit Liebermann Charakteristik sucht. In einer Landschaft, so resümiert er, sieht man in einiger Entfernung von dem einzelnen Menschen wenig mehr, als den Umriß der Gestalt, und sucht sich unwillkürlich durch Beobachtung von Haltung und Bewegungen über die Persönlichkeit klar zu werden; von einem Baum bemerkt man, wenn man nicht in nächster Nähe ist, auch nur die Form und die Farbe. Was das Auge nicht zu unterscheiden vermag, darf im Bilde nicht durchgebildet werden. Während die alten Maler ihre Bilder so malten, daß sie jeden Gegenstand auf denselben — einen Baum, einen Menschen, eine Wiese, eine Ziege — für sich darstellten und auf diese Weise den Eindruck hervorrufen, als verfügten sie zum Unterschiede vom normalen Menschen über mehr als einen Augenpunkt, sucht Liebermann, und mit ihm die ganze neuere Kunst, eine Landschaft oder einen Innenraum mit den von ihnen umschlossenen Erscheinungen, von einer ganz bestimmten Stelle aus, mit[S. 78] einem Augenpunkt gesehen, wiederzugeben. Daher die große Rolle, die die Farben oder vielmehr die durch das Licht nüancierten Tonmassen in seinen Bildern spielen. Allerdings noch nicht in seinen ersten, obwohl er sich auch schon in diesen zuweilen geneigt zeigt, die Lokalfarbe durch den Lokalton zu ersetzen.
Trotz dieses scheinbar Negativen in Liebermanns Bildern wohnt ihnen doch eine große suggestive Kraft bei. Das erreicht der Künstler durch Anwendung einer Reihe von Mitteln, die einer Betrachtung wohl wert sind.
Sein Hauptaugenmerk richtet Liebermann vor allem darauf, bei dem Beschauer das Gefühl des Räumlichen hervorzurufen. Bei seinen älteren Bildern hat er sich mit Vorliebe der nach dem Hintergrunde verlaufenden Linien hierzu bedient, später, wo er viel mit Horizontalen in der Komposition arbeitet, gibt er das Räumliche lediglich durch Luft und Farbenperspektive oder durch sinnvolle Lichtführung. Ein Meisterstück in dieser Hinsicht ist die „Frau mit den Ziegen“, in dem er die riesige Tiefe des Bildes durch eine fast unmerkliche Abtönung des Graugrüns der Düne in Verbindung mit der Bewegung der Alten hervorruft. Von ähnlicher Feinheit ist die Illusion des Räumlichen bei dem „Mann mit der Kuh“, dem „Schreitenden Bauer“. Bei anderen Gelegenheiten sind es Menschengestalten in äußerst wirksamen allmählichen Verkleinerungen, durch die er die Vorstellung von einer unendlichen Ausdehnung des Raumes erreicht, so besonders bei den „Netzeflickerinnen“, den „Badenden Jungen“, beim „Biergarten in Rosenheim“, bei der „Bleiche“, bei der „Gedächtnisfeier für Kaiser Friedrich“ und anderen Bildern.
Bei der Verfügung über das Räumliche seiner Bilder wird Liebermann von einem bewundernswerten Feingefühl für die glückliche Verteilung der Erscheinungen darin unterstützt. Es wird nie vorkommen, daß eine Figur, wo er sie auch hingestellt haben[S. 79] mag, in irgend einem Verhältnis zu groß oder zu klein wirkt oder die Meinung erweckt, sie würde an einer anderen Stelle im Bilde vorteilhafter erscheinen. Keine Gestalt in dem Bilde „Flachsscheuer in Laren“, die nicht an dem Platze wäre, wo sie dem Gesamteindruck am meisten nützt. Dieses Gefühl, daß alles genau so sein und bleiben müsse, wie es ist, gegenüber den Liebermannschen Bildern trägt nicht wenig zu ihrer starken Wirkung bei. Es grenzt an Naivetät, zu glauben, daß dieser Eindruck durch eine bloße Abschrift der Natur hervorgerufen werden könne. Wenn auch natürliche Begabung mitwirkt, es ist Kunst, die in diesem Falle als Natur erscheint. Von Komposition in dem üblichen Sinne ist in den Bildern Liebermanns nichts zu merken, aber man darf darum nicht meinen, sie fehle ganz. Wie sich der Künstler bemüht, den Eindruck zu vermeiden, als habe irgend eine der Figuren seiner Bilder Modell gestanden, ebenso ist er bestrebt, den Gedanken an eine Gesetzmäßigkeit in der Anordnung des Bildinhaltes nicht aufkommen zu lassen. Alles scheint Zufall und ist doch Absicht. Eine Erklärung findet dieser Eindruck darin, daß der Künstler der Natur gegenüber keine vorgefaßte Kompositionsidee im Kopfe hat. Er wendet das Gesetz nicht auf die Gelegenheit an, sondern sucht das Gegebene gesetzmäßig zu fassen, was viel mehr künstlerischen Geist verrät, als wenn aus den Gesetzen der Komposition Zwangsjacken für die Natur geschmiedet werden. Es ist kaum möglich, Liebermann auf diesem Gebiete zu fassen. Wenn man glaubt, sich an einem seiner Bilder klar gemacht zu haben, wie er komponiert hat, so läßt ein anderes Bild nur zu leicht das Thörichte dieser Annahme erkennen.
Weder in den „Gänserupferinnen“, noch in den „Konservenmacherinnen“ ist die Komposition sehr originell zu nennen, obschon sie zwanglos erscheint. Bei den „Arbeitern im Rübenfelde“ macht sich die Absicht, von der Schablone loszukommen, angenehmer bemerkbar als die Art, wie es geschieht. Es ist kein rechter Zusammenhang da. Die Unterordnung der Figuren unter die Landschaft gibt eine etwas gewaltsame Ge[S. 80]schlossenheit. Um so glücklicher ist die Abwendung von den Regeln der Schule im „Altmännerhaus“. Man kann wirklich nicht leicht ein paar Dutzend Menschen besser in einem Bilde verteilen, ohne sie einzeln wirken und dabei doch den Raum so außerordentlich stark mitsprechen zu lassen, wie es auf Liebermanns Bild der Fall ist. Die stark in Verkürzung gesehene Bank links mit den Männern daraus wird aufs unauffälligste durch den vor dem Zeitungsleser stehenden Alten, die hinten im Gange stehende Gruppe und den im Laubengang Promenierenden mit der Bank rechts und den darauf Sitzenden in Verbindung gebracht. Wie mächtig und schließlich doch wie unauffällig wirkt der fast die Hälfte des Bildes einnehmende Erdboden mit den leisen Sonnenflecken als Stimmungsfaktor! Er ist es, der den Eindruck der Abgeschiedenheit vom Leben, des einsamen Ausruhens, den die Gestalten der alten Männer mit ihren schwarzen Röcken und weißen Halsbinden erwecken, verstärkt. Der „Hof des Waisenmädchenhauses in[S. 81] Amsterdam“ hat scheinbar eine gewisse Ähnlichkeit in der Komposition mit jenem Bilde, besonders durch die mit Gestalten besetzte Diagonale, die die Fläche des Bildes von rechts unten nach links oben schneidet; aber im Grunde ist doch alles anders. Beim „Altmännerhaus“ schritt der Beschauer gewissermaßen auf die Bank links zu, hier würde er geradeswegs auf die Pforte im Hintergrunde stoßen. Das soll aber nicht sein, und so wird sein Blick gefangen genommen durch die Gruppe der jungen Näherinnen rechts im Vordergrunde. Um die Diagonale im Bilde zu unterbrechen und zu verdecken und zugleich, um die das Auge auf sich ziehende Masse des Weiß zu vermehren, sitzt das eine Mädchen mit seiner Näharbeit vor den übrigen an der Erde. Die Gruppe erscheint in kühler Beleuchtung und bildet dadurch einen wirksamen Gegensatz zu dem Sonnengeflimmer im übrigen Bilde, was aber wieder durch die reichliche Verwendung von Weiß unauffällig geschieht. Das Weiß von vorn klingt dann an den verschiedenen Gestalten des Mittelgrundes in Schürzen und Hauben aus und findet schließlich Abschluß in den sonnenbeglänzten Figuren im Hintergrunde.
Eins der Geheimnisse der Wirkung von Liebermanns Bildern besteht indessen ohne Zweifel darin, daß das Terrain als Stimmungsfaktor verwendet wird. Sei es graugelb wie bei der „Flachsscheuer“, graugrün wie bei der „Frau mit den Ziegen“, gelbgrün wie bei der „Kuhhirtin“, warmbraun, mit kühlgrünen Reflexen dazwischen, wie bei dem „Sonntag in Laren“ — immer ist dadurch der Ausdruck des Bildes bestimmt und ihm eine unerschütterliche Tonigkeit gegeben. Dazu dient es in besonderem Maße als Reflektor der Lichtmassen, die der Künstler vom grauen oder sonnigen Himmel oder durch Fenster über Landschaften oder Innenräume schüttet. Wenige Maler vor Liebermann — die Holländer des siebzehnten Jahrhunderts nicht in Betracht gezogen — haben durch Benutzung einer scheinbaren Nebensächlichkeit solche Wirkungen zu erreichen gesucht, keiner besaß die Kühnheit, den nackten Boden in diesem[S. 82] Sinne zu verwenden. Gras, Blumen, Wasser dürfen bei den Anderen nicht fehlen. Man fürchtet sonst, uninteressant zu sein. Liebermann hat gezeigt, daß es für einen wirklichen Maler nichts Uninteressantes gibt. Er ist von unzähligen Künstlern nachgeahmt worden. Man hat ihm von den weißen Mützen bis zu den Holzschuhen, von den Greisenspitälern bis zu den Fischerhäusern ganz Holland abgesehen; aber kaum Einer hat etwas von dem Wirksamen an Liebermanns Bildern in dessen Darstellung des Grundes gesucht, aus dem seine Bäume wachsen, auf dem seine Menschen sich bewegen. Und wenn man auch viele Bilder aufzählen könnte, bei denen die Horizontlinie bis nahe an den oberen Rand des Rahmens oder gar noch darüber hinaus liegt, wo also eigentlich alles Terrain ist — es sind ganz wenige, wo eine gleich starke und zugleich diskrete Wirkung mit so einfachen Mitteln erzielt wurde. Man stelle sich den „Schreitenden Bauer“ oder die „Dorfstraße“ ohne den Stimmungsreiz vor, der dort von der schmutziggrauen Düne, hier von der durchnäßten Straße kommt — die Bilder wären nicht annähernd das, was sie sind. Bei den „Badenden Jungen“ gibt der Licht und Wärme zurückstrahlende Strand erst die volle Illusion des glühenden, hellen Sommertages.
Um die Suggestion von „Luft“ im Bilde zu erzeugen, bedarf Liebermann nicht des blauen Himmels oder der Wolken, nur des Lichtes. Er nüanciert damit auf das feinste. Man vergleiche daraufhin nur den „Kinderspielplatz im Tiergarten“ (Abb. 26) mit dem „Schulgang“ (Abb. 94), den „Biergarten in Brannenburg“ (Abb. 67) mit der „Gedächtnisfeier für Kaiser Friedrich“ (Abb. 50), worauf überall nicht das gefunden wird, was bei Bildern „Luft“ heißt, aber man meint, in jedem Falle eine andere Art von Luft zu empfinden, die da unter den grünen Bäumen weht.
Und wie malt er Licht! Es gibt viele Maler, die ungleich heller malen als Liebermann, viele, deren Farben sehr viel weniger materiell sind als die seinen; aber von wenigen Bildern hat man so lebhaft die Empfindung, daß in ihnen das Wesen des Lichtes so vollkommen ausgedrückt wäre,[S. 83] als von jenen Liebermanns; denn er malt nicht Effekte, sondern Beobachtungen. Es liegt ihm gar nicht daran, zu verblüffen. Daß man das absolute Licht nicht malen kann, weiß jeder. Es muß also in seinen Wirkungen auf die Dinge dargestellt werden. Während andere diese Wirkungen dort suchen, wo sie am meisten auffallen, wo leuchtende Farben das Licht glänzend zurückwerfen und starke Gegensätze von Dunkel und Helle entstehen, hat Liebermann in den Bildern seiner mittleren Periode, die für die Beurteilung seiner Wirkung auf die deutsche Malerei einstweilen noch als die ausschlaggebende gilt, obwohl die letzte Periode vielleicht noch bedeutungsvoller werden kann, bewiesen, daß man dergleichen nicht bedarf, um lichtvolle Bilder zu malen. Die Farben in seiner „Flachsscheuer“, in den „Netzeflickerinnen“, der „Frau mit den Ziegen“ sind alles andere, nur nicht leuchtend; man kann sie eher trübe oder schmutzig nennen; aber wer je diese Bilder unter anderen, farbigeren in Ausstellungen gesehen hat, wird sich erinnern, wie luminös sie jenen gegenüber erschienen, wie die Sonnigkeit der anderen Bilder verblich gegen das milde Licht, das die Bilder Liebermanns ausströmten, auf denen es doch nur graue, dunkle Wolken und schwere Farben gab. Die Erklärung für diese Erscheinung ist wohl darin zu suchen, daß die Schatten in den Liebermannschen Bildern in einem weniger gegensätzlichen Verhältnis zu den Lichtpartien stehen als in anderen Bildern. Seine Bilder sind nicht hell, aber sie wirken so, und das gibt den Ausschlag.
Liebermann hat in diesen Werken durchaus das Prinzip der alten Meister zu dem seinen gemacht, und man kann ihre Wirkung kaum besser beschreiben, als mit den Worten, die ein feiner Kenner[2] gebraucht, um den Eindruck Rembrandtscher Bilder zu schildern: „Was bei dem ersten Blick an seinen Gemälden frappiert, ist die massenhafte Wirkung und harmonische Haltung. Man hänge eins seiner Bilder unter zwanzig andere, auf der Stelle wird man es daraus hervorstechen sehen durch die Fülle und Belebtheit des Kolorits, und mehr noch durch die mächtige Harmonie der Tonart. Hierin[S. 84] ist er wirklich originell und meisterhaft, und hiermit machte er zu seiner Zeit um so größeres Aufsehen, als man damals fleißiges gelecktes Auspinseln mit glänzenden Farben für koloriert hielt und vom Helldunkelen in weitläufigen Kompositionen, vom Zusammenhalten des Lichts und Schattens in bestimmten Massen, welche Gruppen bilden, keine wahre Vorstellung hatte.“
[2] Eduard Koloff, „Rembrandts Leben und Werke“, 1853.
In den Bildern seiner ersten Zeit, die für ihn als Maler weniger charakteristisch sind als die von Anfang der achtziger Jahre an entstandenen, erscheint Liebermann in gewissem Sinne fast konventionell. Er ist geschmackvoller als die Zeitgenossen, ihnen in geistiger Beziehung, vor allem in dem tiefen Ernst seiner Absichten und Anschauungen überlegen, aber seine malerischen Ausdrucksmittel stimmen im großen und ganzen doch mit denen der übrigen Künstler überein. Seine letzte Periode, deren Beginn noch in die erste Hälfte der neunziger Jahre fällt, zeigt den Künstler bei dem Bestreben, farbiger zu werden, sein Kolorit aufzulichten. Er löst zu diesem Zweck die Tonmassen auf, indem er nüanciert, viele Abstufungen sehen läßt. Dabei hat allerdings sein „Strich“ gelitten und die Technik scheinbar etwas Kleinliches erhalten, aber er ist der Natur wieder um einige Schritte[S. 85] näher gekommen, und seine letzten Bilder lassen erkennen, daß er sich auch in diesem neuen Sinne wieder einer Vollendung nähert. Trotz ihrer großen Helligkeit fehlt diesen Bildern nicht das Ambiante. Liebermann begegnet sich hier recht eigentlich mit Manet, mit dem Meister, dessen künstlerische Grundsätze mit den seinen die größte Ähnlichkeit haben. Das Verhältnis der beiden Künstler zu einander in ihrer Malerei ist — mit vielen Einschränkungen natürlich — ähnlich wie das von Rembrandt zu Velasquez.
Der Vergleich mit Rembrandt drängt sich aber noch in einer besonderen Beziehung auf. Es soll indessen damit Liebermann kein Relief gegeben werden. Es handelt sich vielmehr darum, die von den farblosen Reproduktionen seiner Bilder erzeugten Vorstellungen in einer bestimmten Richtung zu ergänzen. Wenn man nämlich von Liebermanns Farben sagt, sie seien wahr, so stellen sich vielleicht Viele diese Farben so reich und bunt vor, wie man sie in der Natur zu sehen gewohnt ist. Man würde genau denselben Irrtum begehen, wenn man Rembrandts Farben, die doch auch für wahr gelten, in diesem Sinne mit denen in der Natur vergleichen wollte. Die Wahrheit von Liebermanns Farben besteht, gerade wie bei jenem Göttlichen, nur in der Wahrheit ihres Verhältnisses zu einander. Wenn man zugibt, daß Rembrandts Weiß, das wie heller Bernstein aussieht oder perlgrau ist, Weiß sei, so stimmen auch alle übrigen Farben in ihrem vertieften Glanz dazu. Genau so ist es bei Liebermann. Sein Grün gleicht nicht dem in der Natur, aber neben der Hautfarbe seiner Menschen, dem dumpfen Ton ihrer Gewänder wirkt es so wie in der Natur. Die Logik des farbigen Ausdruckes gibt den Bildern des Künstlers jenen harmonischen Ton, der sie dem Auge so angenehm macht. Das ist ja überhaupt Malerei, daß das Verhältnis der Farben zu einander wahr und harmonisch, gesetzmäßig und zugleich schön wirkt. Insofern erscheint die Kunst Liebermanns nicht sowohl auf Beobachtung als auf Empfindung[S. 86] aufgebaut. Es steht nicht Wissenschaft, sondern Kultur dahinter. Das Thatsächliche in seinen Bildern macht immer den Eindruck, als habe es unter der Kontrolle eines besonders gut organisierten Geschmackes gestanden. Jene, die von Liebermanns Bildern behaupten, ihnen fehle die Schönheit, mögen doch einmal seine Farben auf sich wirken lassen. Gewiß, sie gleißen nicht und glänzen nicht, sie haben nichts Berauschendes und Pikantes, aber sie besitzen dafür eine unendlich feine Harmonie in sich. Wie er ein Weiß zu Grau und Blau, ein Grün zu Braun und dazwischen ein Rot setzt — das muß man sehen, um bemerken zu können, daß so etwas nicht alle Tage mit diesem Geschmack, mit diesem sicheren Gefühl für Schönheit im Verhältnis geschieht. „Unbekümmert um akademische Schulregeln und Satzungen, versenkte er sich in die unbetretenen Regionen des freien Naturwirkens und brachte von seinen Ausflügen das Geheimnis einer Malerei mit, die zu ihren Farben weniger Ocker und Asphalt als Herz und Seele verwendet.“
Daß solchen Vorzügen gewisse Mängel gegenüberstehen müssen, ist bei der Unzulänglichkeit der menschlichen Natur begreiflich. Liebermann macht wundervolle Zeichnungen, aber er ist nicht eigentlich, was man einen Zeichner nennt. Er sieht nicht Linien in der Natur, sondern Farben, nicht Formen, sondern Flecken. Man vermißt daher bei seinen letzten, malerischen Arbeiten jene Durchbildung, die eine Verschmelzung zeichnerischer und malerischer Anschauung vorstellen würde, und die das letzte Ziel der „Kunst in der Fläche“ bildet. Soll man ihm daraus einen Vorwurf machen? Heißt es nicht seine Verdienste schmälern, wenn man etwas von ihm verlangt, was außerhalb seiner Macht steht? Daß Liebermann zeichnen kann, auch mit dem Pinsel, beweisen seine ersten Bilder, die — es sei nur an das Bierkonzert erinnert — in der zeichnerischen Durchbildung mit denen Menzels wetteifern könnten. Unzweifelhaft sind diese ersten Bilder „fertiger“ als seine letzten; aber sind sie künstlerischer? Kunst besteht nicht in Ausführlichkeit, auch Schönheit nicht. Die künstlerischen Absichten Liebermanns haben seit diesen ersten Bil[S. 87]dern eine Wandlung erfahren. Zu dem, was er damals ausdrücken wollte, genügte jene, in ihren Mitteln wenig eigenartige Methode; für die Darstellung der Phänomene, die ihn jetzt anziehen, genügt sie nicht, ist dazu sogar ganz unbrauchbar. Das ist überhaupt der Punkt, wo die ältere Richtung in der Kunst der neueren völlig verständnislos gegenübersteht. Sie hält die impressionistische Art zu malen für ein Ziel, während sie doch nur ein Mittel ist, um auszudrücken, was in jener alten Art nicht ausgedrückt werden konnte. Sie ist von dieser so verschieden, wie Rembrandts Kunst von der der Eycks. Es wird immer nötig sein, einige Vorteile aufzugeben, um andere zu gewinnen; es darf nur nicht unbedacht geschehen. Gewisse Dinge sind allerdings vielleicht überhaupt unmöglich. Die klare Zeichnung Dürers wird nie mit dem Ambianten von Velasquez zu vereinigen sein. Wenn Liebermann sich beifallen ließe, seine letzten Bilder zeichnerisch so durchzubilden, wie seine ersten, so würden sie unzweifelhaft das verlieren, was er ihnen hauptsächlich geben wollte: Leben und Bewegung.
Leben und Bewegung darzustellen, das ist es, worin Liebermann die Aufgabe seiner Kunst sieht. Als er begann, war es die materiellste aller Bewegungen, die ihn anzog, die Arbeit. Er hat Gänserupferinnen, Konservenmacherinnen, Feldarbeiter, Weber, Seiler, Kartoffelgräber, Netzeflickerinnen, Schuster, Klöpplerinnen, Näherinnen u. s. w. gemalt. Dann kamen einfachere Bewegungen: Gehen, laufen, tragen, wiegen, spielen, Vieh hüten, reiten, fahren und endlich die immateriellen Bewegungen: das Wehen der Luft, das Eilen des Lichtes. Auf Liebermanns Bildern geschieht nichts, sie wollen nicht mit dem Verstande betrachtet, sie wollen gesehen sein. Was ist daran, wenn sieben junge und wenig hübsche Holländerinnen (Abb. 51) in weißen Hauben, dunklen Kleidern und blauen Schürzen vor dem Hause auf einer Bank sitzen und nähen, die eine an einem großen Stück Linnen, die anderen an Tüchern und dergleichen? Gar nichts, wenn nicht ein geschmackvolles Stück Malerei gezeigt würde, wenn man nicht die verschiedenen Arten, ein und dieselbe Arbeit zu verrichten, an ihnen beobachten könnte. Mag das Bild auch den allgemeinen Vorstellungen von „fertig“ nicht entsprechen, Eins ist bis ins Letzte vollkommen gegeben: die Bewegung des Arbeitens. Kein anderer Künstler hat sie intimer dargestellt. Ein anderer würde[S. 88] vielleicht Mühe darauf verwendet haben, die Gesichter mit den gesenkten Augen, die Hände mit den flinken Fingern recht ausführlich zu malen; Liebermann fand einer ganz genauen Darstellung nur wert, wie die Mädchen sich beim Arbeiten halten, welche Bewegungen ihre Arme machen. Er sah das Wesentliche, jener das Nebensächliche, Zufällige. Kunst ist Wahl, wie Whistler meint. Bei solchen Gelegenheiten wird man darüber klar, und in dem, was er wählt, erkennt man die Eigenart eines Künstlers. Der triviale Künstler sucht das Leichtdarstellbare, der bedeutende die Schwierigkeiten. Jener wiederholt und variiert bekannte und oft dargestellte Motive, dieser schaut sich nach neuen um. Daraus erklärt sich auch Liebermanns Vorliebe für Darstellungen aus der sogenannten niederen Sphäre des Volkes, hinter der von Einigen dekadente Neigungen vermutet werden. Was man dem in den behaglichsten Verhältnissen von der Welt lebenden Künstler als eine Marotte anrechnet, ist einfach ein konsequenter Vorgang in der Entwickelungsgeschichte der Kunst. Die Kunst müßte nicht Spiegel der Kultur sein, wenn die sozialen Bewegungen der Gegenwart ohne Wirkung auf sie geblieben wären.
Als die Religion die Gemüter beherrschte, als die Erlangung eines Platzes im himmlischen Jenseits Zweck und Ziel des Lebens schien, malte man die Gottheit und die Heiligen, zu denen man betend die Hände erhob; als sich dann die Augen vom goldglänzenden Himmel zur Erde wandten, sah man, wie schön diese war, wie voller Freuden. Und man malte, was man von dieser Schönheit und diesen Freuden nur erreichen konnte: die Macht des Fürsten und des Reichtums, die Anmut des Weibes und die Kraft des Mannes. Darauf wieder ein kurzes Besinnen auf den Himmel, auf die Macht der göttlichen Herrschaft, auf die Erlösungswerke des Heilandes und der Heiligen, dann beginnt die Betrachtung der Welt vom sozialen Standpunkt. Die Maler schildern nach einander den Glanz des Königstums, die Pracht der Höfe, die adlige Eleganz der Vornehmen, die stille Würde des Bürgertums. Ein Elementarereignis, die Revolution, tritt hier ein und hindert die Kunst am Weitergehen. Sie vermag sich in dem entstandenen Durcheinander von[S. 89] alten und neuen Anschauungen, von Recht und Gewalt nicht zurechtzufinden und macht Selbstbetrachtungen, sie flüchtet in die Vergangenheit und erlebt noch einmal ihr ganzes Dasein. Erst als sie an dem Punkt angelangt ist, wo sie von der Revolution gestört wurde, erwacht sie aus ihrem Traumleben und schaut wieder mit wachen Augen in die Welt. Dem Bürgertum vermag sie nicht mehr viel abzugewinnen, und nachdem sie sich eine kurze Zeit mit den Bauern amüsiert, beginnt sie den Stand zu betrachten, der ihr jetzt als der herrschende erscheint: den Stand der arbeitenden Menschen. Courbet schuf das Programm, Millet entfernte das Tendenziöse daraus, Liebermann verband den neuen Stoff mit neuen künstlerischen Ausdrucksmitteln.
Es ist nicht anzunehmen, daß der Künstler aus einem Bedürfnis nach Sensation sich seinen Stoffen zugewendet hat. Man würde dann irgendwo ein Außerhalbstehen spüren. Nein, die Idee lag in der Luft und bot der Kunst Aufgaben, die zur Lösung reizten, wenigstens einen Künstler reizen mußten, der erkannt hatte, daß alles übrige bereits gesagt war und die Malerei nicht weiter käme, wenn das Oftgesagte nur immer wiederholt würde. Liebermann suchte das Leben zu packen an einer Seite, an der man es in Deutschland noch nicht gepackt hatte. Es ist ziemlich gleichgültig für die Beurteilung des Wertes von Liebermanns Schaffen, ob man dem Künstler das als Instinkt oder als Überlegung, als ein richtiges Gefühl oder kluge Absicht auslegen will — die Art, wie er die Sache angriff und durchführte, erscheint zu unbefangen, wirkt zu unmittelbar und lebhaft, als daß man an Berechnung glauben dürfte.
Jan Veth, der holländische Zeichner und Maler, der neben dem ausgezeichneten Hermann Helferich, neben dem feinsinnigen Ludwig Kaemmerer, Woldemar von Seidlitz, Cornelius Gurlitt, neben Richard Muther und Richard Graul das Besondere von Liebermanns Kunst am feinsten erfaßt hat, bestätigt diese Annahme, indem er sich über ihn folgendermaßen äußert: „Ich möchte behaupten, der innere Wert seines künstlerischen Wesens liege in der Unbefangenheit, wie er zu sehen, nachzufühlen, wiederzugeben vermag. Ich als Holländer und meine Landsleute, wir können das besser als andere erkennen. Haben wir doch seit unserer Kindheit traulichen Verkehr mit allem dem, was wohl die besten Gemälde Liebermanns uns schildern. Jene Gestalten aus dem Altmännerhaus, jene Waisenmädchen, jene Flachsspinnerinnen, Wäscherinnen und Klöpplerinnen, jene Fischer und Netzeflickerinnen, jene Hirten, Schuster, Bauern und Weber, wir haben sie allesamt näher kennen gelernt, als es Liebermann selbst möglich gewesen ist. Er aber weiß an ihnen etwas Charakteristisches zu entdecken, etwas, das wir zu sehen verlernt haben[S. 90] und das vielleicht doch ihr wirkliches Wesen am nächsten berührt.“
Wenn Liebermann sich aus anderen als künstlerischen Gründen der Darstellung arbeitender Menschen und einer den Meisten reizlos erscheinenden Natur zugewendet hätte, würde dieses nicht mit der Andacht geschehen sein, die man seinen Schöpfungen anmerkt. Man wird ihn nie auf einer gedankenlosen Betrachtung und Wiedergabe der Natur ertappen, aber immer wird man finden, daß er den empfangenen Eindruck möglichst unmittelbar überliefern will. Daher die außerordentliche Frische in seinen Arbeiten, aber auch gelegentliche Unvollkommenheit. Mehr als bei anderen Malern ist bei Liebermann die Kunst Temperamentssache. Hat er irgend eine Erscheinung, eine Bewegung, die ihn anregte, erfaßt und, sei es mit dem Pinsel, sei es mit dem Stift, fixiert, so interessiert ihn leicht das übrige nicht weiter. Er vermag seine Begeisterung nicht immer genügend lange warm zu halten, und so erscheinen manche seiner Arbeiten nicht soweit gebracht, wie man wohl wünschen möchte. Seine künstlerische Konzentration ist mehr intensiver, als extensiver Art. Daher die im Verhältnis zu seinen wichtigeren Schöpfungen so ungeheure Masse von Studien und Skizzen. So wunderbar dieselben zum größten Teil sind, soviel echter künstlerischer Geist darin steckt und so reich, gesund und schöpferisch Liebermann in ihnen erscheint — es wird immer Bedauern erregen, daß diese kolossale Potenz ihre Mittel nicht rationeller verwendet hat. Wenn man auch von keinem Mangel an Wollen sprechen darf, die Thatsache, daß Liebermann als Künstler häufig nur dem Augenblicke gelebt hat, ist nicht zu leugnen. Indem man dieser Ansicht Worte gibt, fragt man sich bereits, ob die impulsive Art, sich der Natur zu nähern, nicht eigentlich das Große und Unbegreifliche in Liebermanns Kunst ist, ob in diesen Augenblicksarbeiten nicht eine Erhöhung der Persönlichkeit gefunden werden muß, die so beinahe hinreißender wirkt, als wenn sie sich offiziell in äußerlich imposanten Werken darstellte? Es ist nicht schwer, in einer umständlichen Beschreibung etwas zu schildern, aber es gehört Geist dazu, in[S. 91] einem kurzen Satze das Wesen der Sache erschöpfend zu kennzeichnen. Von solchem Geiste ist viel in Liebermann, in seinen Studien und Skizzen. Er findet es langweilig, eine Abhandlung zu liefern, wo es ein Aperçu auch thut. Und wenn man seine Frische rühmt, die Lebendigkeit seines künstlerischen Ausdruckes — denkt man da nicht fast mehr an seine mit schneller Hand auf die Leinwand gebrachten Impressionen, als an seine eigentlichen Bilder? Und Liebermanns Geschmack! Würde man ihn so hoch preisen dürfen, wenn er nicht von jedem Wisch leuchtete, den er als Künstler berührt hat? Wer außer Liebermann hat in Deutschland überhaupt Studien und Skizzen von einer so starken künstlerischen Haltung, so persönlich in allem aufzuweisen? Menzel! — nun ja, Menzel, aber bewundert man sie nicht eigentlich mehr mit dem Verstande, als mit den Sinnen? Es sind merkwürdige Arbeiten. Man ist erstaunt, welche Schwierigkeiten überwunden wurden, welche Kraft des Sehens, welche unglaubliche Handgeschicklichkeit der Künstler besitzt, aber es fehlt ihnen das eigentlich Hinreißende, Erwärmende. Vor den Studien Menzels erscheint die Kunst unendlich schwer, von denen Liebermanns möchte man glauben, sie seien zu machen ganz leicht. Man bewundert dort die außerordentliche Konzentration des Willens zum Sehen, hier Empfindung, spielende Kraft und Inspiration. In Menzels Studien ist alles gesagt, jeder Zweifel gelöst, aber auch jede mitschaffende Thätigkeit des Beschauers ausgeschlossen; sie haben die überzeugende Kraft des Positiven. Bei Liebermann dagegen ist alles Selbstverständliche verschwiegen, nur das gesagt, was den Vorstellungen des Beschauers ihren Weg vorschreibt. Er deutet nur an und nötigt dadurch den Betrachtenden, Mitkünstler zu werden. Liebermanns Kunst ist in hohem Grade suggestiv. Das ist der Grund, warum Menzel so Vielen, Liebermann so verhältnismäßig Wenigen verständlich ist. Jener kann vollständig vom Verstande begriffen werden, das Gefühl braucht ihm gegenüber kaum in Thätigkeit gesetzt zu werden; diesem kann man nur mit dem Gefühl und mit Aufwand eigener Phantasie näher kommen.
Alle diese Vergleiche könnten überflüssig erscheinen, wenn es möglich wäre, die Eigenart Liebermanns für sich darzustellen; aber er ist gerade in dem groß, worin er sich von anderen Großen, also auch von Menzel, unterscheidet, und man bekäme ein[S. 92] falsches Bild vom deutschen Realismus, würde nicht gezeigt, wie wenig ähnlich sich seine beiden bedeutendsten Vertreter sehen. Jedenfalls spielen die so lebhaft gefühlten und schließlich nicht vollendeten Bilder in Liebermanns Lebenswerk keine geringe Rolle. Die sich darin äußernde Unerschöpflichkeit von künstlerischer Kraft, der beständig darin vorhandene künstlerische Sinn sprechen lauter fast noch, als die abgeschlossenen Werke, dafür, daß Liebermann eine „Natur“ ist, ein Wesen, das das Maß seines Wertes in sich trägt. Und noch Eins kann man diesen Skizzen nachrühmen und dem Meister, der sie schuf: sie sind frei von aller Methode. Es ist unmöglich, Liebermanns Art, die Natur anzupacken, in Regeln zu spannen. Auf immer neuen Wegen naht er sich ihr und scheut nicht vor dem, was als nicht darstellbar gilt. Dieser Kühnheit und Unerschrockenheit verdankt er seine schönsten künstlerischen Erfolge und den Einfluß, den er auf die deutsche Kunst noch besitzt, obgleich die Bewegung scheinbar über ihn bereits fortgeschritten ist. Bei fast allen Künstlern in Liebermanns Alter ist man gewiß, daß sie nichts Neues mehr bieten werden; von ihm, der nicht aufgehört hat, sich zu rühren, kann man noch alles mögliche erwarten und erwartet es auch.
Die Wirkung, die Liebermann auf die deutsche Kunst noch immer ausübt, beruht nicht zum wenigsten in der von ihm ausgehenden erzieherischen Kraft. Er brachte als erster eine gegenwärtige, nicht eine der Vergangenheit entnommene malerische Kultur nach Deutschland. Er zeigte, daß die Harmonie der Farben in einem Bilde durch das Verhältnis der Farben zu einander, nicht durch einen braunen, schwarzen[S. 93] oder grauen Ton erreicht werden müsse; er wies auf Licht und Luft als die großen Medien der Malerei hin, die Schönheit brächten und das Widerstrebende vereinten. Er zeigte, daß Schönheit Charakter sei, bestimmt und individuell ausgedrückt, daß es auf Beobachtung der Natur, nicht auf ihre Nachahmung ankäme. Er predigte, ohne zu reden, Rückkehr zur Natur, Einfachheit und Größe, erschütterte durch die Macht seines Beispiels das Ansehen der toten und von den Akademikern so hochgehaltenen Ideale und, was die Hauptsache ist: er brachte neue Ideale und half damit den Glauben zerstören an die Ewiggültigkeit der von der alten Kunst, besonders von der der Renaissance aufgestellten Ideale. Gerade hierin geht er über Menzel hinaus, der freilich auch nicht gewillt war, sich der Vergangenheit zu beugen, dessen Kunst aber die Großzügigkeit und Einfachheit fehlt, ohne die es nun einmal keine Ideale gibt. Und trotz alledem hat Liebermanns Kunst nichts Theoretisches. Er huldigt nur dem einen Grundsatz, der Künstler müsse sich von der Natur inspirieren lassen, von einem von ihr empfangenen Eindruck ausgehen und nicht mit einem fertigen Plane vor sie hintreten. Für sich selbst hat er die Richtigkeit dieses Grundsatzes jedenfalls schlagend bewiesen, und wenn sich Andere dazu bekennen, so ist es freilich sehr fraglich, ob sie zu denselben Resultaten gelangen werden, wie Liebermann, aber sie werden sicher viele der Irrtümer vermeiden, mit denen sich die idealistische Malerei um ihr einstiges Ansehen gebracht hat.
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Die Anerkennung, die gegenwärtig nach langem Zögern und Zureden und mit manchen Einschränkungen Liebermann entgegengebracht wird, macht leider Halt vor seinen jüngsten Werken, in denen er sich der Lösung luminaristischer Probleme widmet, und auch seinen Bildnissen steht die Allgemeinheit noch sehr skeptisch gegenüber. Dafür gibt es nur zwei Erklärungen: entweder hat sich die künstlerische Kraft Liebermanns verringert, oder aber er ist, wie schon einmal, seiner Zeit wieder weit voraus. Zu der ersten Annahme scheint man durch Beobachtungen, die man bei anderen Künstlern sehr oft machen kann, berechtigt, die Möglichkeit der anderen wird schon darum nicht gern zugestanden, weil sie geeignet ist, das Kunstgefühl des Urteilenden als unsicher zu kennzeichnen. Es bedarf indessen nur einigen Nachdenkens, um die Haltlosigkeit jener den Künstler verkleinernden Meinung klarzustellen. Fast alle die Künstler, bei denen man ein Nachlassen der künstlerischen Potenz bemerkt, haben dasselbe meist dadurch verschuldet, daß sie ihr künstlerisches Gewissen[S. 94] materiellen Vorteilen geopfert und, statt Kunst, Geld machen wollten. Nicht geübte Fähigkeiten gehen verloren, und eines schönen Tages bemerkt solch ein Künstler, daß es ihm einfach unmöglich ist, eine neue künstlerische Aufgabe zu lösen. Er malt ruhig nach seinem bewährten Rezept weiter; das Künstlerische in seinen Bildern wird immer konventioneller, und schließlich hört er überhaupt auf, Künstler zu sein. Nun hat Liebermann eher alles andere gethan, als aufgehört, seine Fähigkeiten in Atem zu halten. Er hat nie die geringste Neigung zur Bequemlichkeit gezeigt, und jedes neue künstlerische Problem entzündete noch immer seinen ganzen Ehrgeiz. Wenn seine letzten Arbeiten weniger wirksam erscheinen, als seine früheren, so wird man nie behaupten können, daß ihnen die Frische fehle, und indem man ihnen diese Eigenschaft zuerkennt, sagt man eigentlich schon, daß ein Überschuß von Kraft da ist. Bei Abnahme von Kraft aber gibt es keinen Überschuß mehr, und deshalb läßt sich die Behauptung von einem Nachlassen der künstlerischen Kraft Liebermanns nicht gut aufrecht erhalten. So bleibt schließlich nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß dem Beschauer die Fähigkeit mangele, die neuen Absichten des Künstlers zu erkennen, und daß daraus die Unterschätzung seiner Leistung resultierte. Und so ist es in der That. Man versteht diese neuen Bilder nicht, wenn man nicht vergißt, wie der Künstler ähnliche Aufgaben im „Altmännerhaus“ und im „Waisenhausgarten“ behandelt hat. Man versteht auch Liebermanns Bildnisse nicht, weil man all’ die glatten rasselosen Porträts im Kopfe hat, denen man überall in unseren Häusern und noch öfter in unseren Ausstellungen begegnet.
Der Künstler verfährt bei seinen Bildnissen ähnlich, wie bei seinen sonstigen Bildern. Er will Menschen darstellen und dabei auch den flüchtigsten Ausdruck des Lebens festhalten. Daher fehlt seinen Porträts das Feierliche, Zurechtgemachte, jede Art von Pose; zugleich aber vermeidet[S. 95] Liebermann sorgsam jede Überhöhung des Ausdruckes. Seine Menschen sind belebt, aber nicht aufgeregt. Sie sind gesehen in einem Moment geistiger Gegenwart, während dessen sie nicht daran dachten, einem Maler Modell zu sitzen oder zu stehen. Bei dem Bildnis von Liebermanns kleinem Töchterchen (Abb. 38) bemerkt man dieses Bestreben des Künstlers am deutlichsten, weil man zugleich die Ursache vor Augen hat. Blitzschnell hat der Vater den Ausdruck der Lust erfaßt, mit dem die Kleine die rote Puppe zwischen ihren Händchen anjauchzt. In diesem momentanen Ausdruck liegt das ganze Wesen des Kindes. Bei den Bildnissen der großen Menschen konnte er natürlich den äußeren Anlaß für die augenblickliche Stimmung nicht mitmalen, darum wird die Absicht des Künstlers von Vielen nicht verstanden. Natürlichkeit erscheint den meisten noch nicht als eine notwendige Art der Auffassung. Und doch: Wie weit entfernt sind Liebermanns Bildnisse von der Momentphotographie! Das Zufällige ist ihm ein Reiz, kein Endzweck. Knauf hielt es noch für nötig, Mommsens und Helmholtz’ Bedeutung für die Wissenschaft durch den Apparat des Studierzimmers klarzustellen. Er hätte auch Virchow wohl im anatomischen Museum oder mindestens mit dem Mikroskop beschäftigt vorgeführt. Liebermann bedurfte gar keiner äußerlichen Zuthat, um den Gelehrten als solchen zu charakterisieren. Ein Lichtstrahl thut’s auch, der über den feinen Schädel gleitet und die tausend charaktervollen Linien beleuchtet, die die Thätigkeit des Denkens und Forschens in das Antlitz des Gelehrten gezeichnet, und der halb müde, halb beobachtende Blick der Augen. Wie prachtvoll ist die nervöse Spannung im Gesicht des Dichters Grisebach als charakterisierendes Moment benutzt, und wie köstlich ist die Mischung von liebenswürdigem Selbstbewußtsein und freiem Menschentum in Fontanes Wesen getroffen! Man ist bei uns nicht gewöhnt, praktische Psychologie in Verbindung mit künstlerischen Absichten zu sehen und zweifelt an der geistigen Vertiefung von Liebermanns Porträts, weil man sich nicht vorstellen kann, daß der Künstler zwei Aufgaben gleichzeitig löst. So betrachten die einen seine Bildnisse nur von der Seite der Persönlichkeitsschilderung, die anderen nur von der Malerei. Dabei fühlen sich beide Parteien wenig befriedigt, denn Liebermann hat die[S. 96] geistige Auffassung von der künstlerischen nicht getrennt, so daß man dem Psychologen Liebermann nicht folgen kann, wenn man sich um den Maler nicht kümmert und umgekehrt. Auch hierin liegt ein Beweis für das Streben des Künstlers nach Einfachheit, obgleich zunächst der Anschein erweckt ist, als seien die Bildnisse Liebermanns komplizierte Leistungen. Er sucht den Gegenstand mit dem künstlerischen Ausdruck zu identifizieren, was entschieden eine Vereinfachung bedeutet. Und gerade beim Porträt erscheint das schwierig, weil es mit seinem geistigen Inhalt eine Unterordnung der künstlerischen Tendenz zu fordern scheint.
Je besser man Liebermann als Künstler kennen lernt, um so weniger ist man geneigt, ihn für einen Naturalisten oder auch nur für einen Realisten zu halten. Er ist vor allem Künstler, mithin mehr, als bloß der Vertreter einer Richtung. Der Gegenstand der Kunst ist doch nur teilweise bestimmend für die Wirkungen, die der Künstler erzielt. Man kann sagen, Liebermann malt nichts Poetisches, aber fehlt es darum seinen Bildern an Poesie? Wenn ein Maler die Stimmung eines Sonntagsnachmittags auf einer Dorfstraße dem Beschauer so zu übermitteln vermag, daß dieser das Behagliche der Stunde vollkommen mitfühlt, und diese Wirkung dadurch erzielt, daß er ein paar Mädchen zeigt, die am hellen Tage in sauberen Kleidern in einer Reihe auf der Straße daherschlendern, so kann man die Wirkung wohl poetisch nennen. Umgekehrt kann ein anderer Maler den Tanz der Horen malen und die poetische Wirkung doch ausbleiben. Man verwechselt einfach wieder Subjekt und Objekt. Die ideale oder reale Wirkung hat mit dem Objekt des Künstlers gar nichts zu thun, sondern hängt von ihm, von seiner Thätigkeit ab. Und wo man auch hinschaut in der Kunst — immer wirken jene Werke am meisten ideal, die sehr realistisch[S. 98] sind. Mag man an Homers Odyssee oder Michelangelos Moses, an Rembrandts Nachtwache oder Goethes Faust, an Romeo und Julia oder die Hilanderas des Velasquez denken. Wie an sich nichts gut oder böse ist, sondern erst das Urteil dazu kommen muß, um zu entscheiden, so hängt die Bestimmung von idealistisch und realistisch in der Kunst davon ab, ob der Künstler Empfindungen zu erregen vermag, die über das Beschränkte des von ihm gewählten Gegenstandes hinausgehen oder nicht. Je zwangloser und zugleich sicherer die Phantasie des Kunstgenießenden geleitet, und je stärker sie in Bewegung gebracht wird, um so idealer das Kunstwerk. Das sind die stumpfen Geister, die das Ideale in der Kunst in Handgreiflichkeiten suchen, die die Attribute idealer Erscheinungen schon für das Ideale halten, für die der Todesengel etwa eine höhere Vorstellung ist als der Tod. Für die wird Liebermann freilich immer der Realist bleiben, weil sie nur das Wahre in seiner Kunst sehen, nicht die wahre Empfindung, die unendlich viel mehr ist. Die Vorstellung von Liebermann als Künstler hängt ja natürlich aufs innigste mit dem Gegenstande seiner Kunst, mit weiten grauen Dünenlandschaften, mit Waisenmädchen, mit Fischern und Arbeitenden zusammen, aber das Wesentliche bleibt doch die Persönlichkeit Liebermanns, die Art, wie er sich zu diesem Gegenständlichen verhalten hat. Geht man dem auf den Grund, so wird man finden, daß sein Bestreben darauf gerichtet war, in dieser armen Wirklichkeit das Schöne zu suchen, ihre Mängel zu umkleiden mit dem Gewande der Kunst. Sein Verdienst ist aber um so höher zu veranschlagen, als die von ihm gewählten künstlerischen Mittel die allerfeinsten sind und die von ihm erreichten Wirkungen ihnen entsprechen.
Zu dem Begriff „realistische Kunst“ gehört ganz entschieden das Unterstreichen der Wirklichkeit. Realistisch ist Menzel, weil ihm der Fingernagel genau so wichtig ist, wie der ganze Mensch. Man denke sich ihn ohne militärische Uniformen, ohne die prickelnden Niedlichkeiten des Rokoko, kurz, ohne jene Einzelheiten, die seine Schöpfungen so gut gesehen, so vollkommen erscheinen lassen, und man wird entdecken, daß in ihnen, in all’ diesen kleinen Wirklichkeiten und Pikanterien das Wesentliche von Menzels Kunst steckt und ihre Wirkung ausmacht, während Liebermann nur die große Wirklichkeit gibt. Es ist auch ganz sicher, daß[S. 99] die meisten Menschen von Menzels Bildern die Empfindungen mitnehmen, sie seien treue Wiedergaben der Natur, und ebenso sicher, daß sie bemerken, Liebermanns Bilder seien oberflächliche, unvollkommene Wiedergaben der Natur. Ein Zeichen, daß sie keinen Sinn haben für die großen Schönheiten der Natur, und daß sie Natur nur dort sehen, wo es ins Einzelne geht, daß erst die unterstrichene, bemerkbar gemachte Wirklichkeit ihnen Wirklichkeit zu sein scheint. Hier sind aber die Grenzen zwischen realistischer und idealistischer Kunst. Menzel betont die Realität bis ins äußerste, Liebermann nur das Notwendige, ihre großen Formen: er scheidet sie in Wesentliches und Unwesentliches, er entwickelt Urteilskraft, Menzel mehr Sehkraft und Handgeschicklichkeit. Dieser geht der Natur mit Schrauben und Hebeln zu Leibe, Liebermann sucht ihr mit Gefühl nahe zu kommen. Ohne Menzels Bedeutung anzutasten, kann man doch sagen, daß seine Kunst ohne erzieherische Kraft war, nicht weil sie nicht Kunst gewesen wäre, sondern weil ihr das Befreiende fehlt. Liebermann aber, der so fein in der Natur wählt, der nicht an das Verblüffen durch Fertigkeiten denkt und, trotz manchmal trüber Farben, einen Farbengeschmack verrät, wie ihn nur die Besten besaßen, übte Wirkung auf die zeitgenössische Kunst aus. Und gerade das Idealistische bei Liebermann, sein Beispiel, wie die Wirklichkeit gepackt werden könne, ohne das Nebensächliche, sein inniges Verhältnis zu dem mächtigsten Idealisierer aller Wirklichkeit, zum Licht, läßt ihn so einzig erscheinen.
Realistisch ist Liebermanns Kunst nur[S. 100] soweit, als sie keinen idealistischen Inhalt besitzt und ihren Maßstab in der realen Wirklichkeit hat; ihre Absicht aber, die Natur in ihrer Einfachheit und Größe malerisch aufzufassen, ohne Atelier und Theaterkram und Hadern, ist die idealste von der Welt, und „nicht was wir meinen, sondern wie wir’s meinen“, darin liegt das Entscheidende. Man könnte ja auch behaupten, Liebermann sei ein temperamentsloser Künstler, denn in seinem ganzen Lebenswerk findet sich kein Bild, in dem es eine Darstellung von leidenschaftlichen Empfindungen gibt. Ruhig, ernst, ohne Lust und ohne Klage verrichten seine Menschen ihre Arbeit, selbst seine Kinder führen nicht eigentlich ausgelassene Spiele. Es wird aber niemand beifallen, diese Behauptung aufzustellen, denn die Art, wie der Künstler diese ruhigen Existenzen schildert, zeugt von einem so leidenschaftlichen Empfinden bei ihm, von einem so stürmischen und begehrlichen Werben um die Natur und von einer solchen innerlichen Begeisterung, daß die Bezeichnung „temperamentslos“ für Liebermann und seine Kunst ganz sinnlos wäre. Nur für die alleräußerlichste Betrachtung erscheint er uninteressiert. Aber noch Eins spricht für die idealistische Tendenz der Liebermannschen Kunst: daß sie nach einem Monumentalstil drängt.
Die ganze Anschauungsweise des Künstlers seit Mitte der achtziger Jahre ist fest auf den Stil gerichtet, auf die Art, wie er die Erscheinungen der Natur für das Auge als geschlossene Einheit, als Bild zusammenfaßt, wie er vermeidet, daß die von ihm dargestellten Bewegungen als Unruhe empfunden werden, wie er es erreicht, daß jede Einzelheit im Bilde als abhängig vom Ganzen, als Notwendigkeit empfunden wird. Wenn man das feine Raumgefühl Liebermanns rühmt, so lobt man eigentlich schon etwas, was zu seinem Stil gehört. Die Gliederung des Raumes ergibt sich natürlich auch bei ihm durch Linien, durch die beherrschende Macht der Vertikalen und Horizontalen und Verwendung von Gegensätzen, sowohl in Linien als in Proportionen. Je weniger Mittel, desto feiner die Wirkung. „Die Größe der Bildfläche hat auch hier keine Bedeutung. Die typische Größe der Form und Gestaltung, gleichviel ob farbig oder grau in grau, ist allein maßgebend.“ Liebermanns Handzeichnungen haben nicht weniger Stil als seine Bilder. Besonders fein ist, wie schon an anderer Stelle hervorgehoben, bei ihm die Empfindung für das Verhältnis, ohne die keine monumentale Wirkung denkbar ist. Die Hauptfigur in seinen „Netzeflickerinnen“ (Abb. 47) wirkt darum so mächtig, weil sie einen Gegensatz in der Kleinheit der anderen Gestalten hat. Ihre Bewegung, an sich nicht stark, erscheint so, weil sie sich in dem geschleiften Netz fortsetzt, weil die der anderen Gestalten viel weniger deutlich gemacht ist. Die Erscheinung der „Frau[S. 101] mit den Ziegen“ (Abb. 52) macht einen so ungeheuren Eindruck, weil sie in der Linie zusammenfließt mit der der Ziege, die die Frau am Seil sich nachzieht. Wie auffallend wird die Bewegung des Arbeitens der Mädchen in der „Flachsscheuer“ (Abb. 44) gemacht durch die unbewegten Linien des Gebälkes und der den Raum durchlaufenden Fäden. In diesem Bilde machen sich die Haltung gebenden Vertikalen und Horizontalen besonders stark bemerkbar und ebenso die Bevorzugung der Profilstellung, die an die Schöpfungen der Primitiven denken läßt. Die vielen Vertikalen und Horizontalen geben aber den Bildern Liebermanns nicht nur die Einfachheit und Größe, sondern auch den ernsten Ausdruck. Selbst die einfachsten seiner Schöpfungen, wie etwa die „Kuhhirtin“ (Abb. 99) oder der „Bauer mit der Kuh“ (Abb. 85) oder die „Schafhirtin“ (Abb. 59), die durch ihren Inhalt harmlos erscheinen könnten, erhalten durch die Darstellungsweise etwas Erhabenes, Monumentales.
Von den einfachen stillen Farben, die durch sinngemäße Verteilung und ruhige Fleckenwirkung soviel zu dem großzügigen Eindruck der Bilder beitragen, war bereits die Rede. Alles kommt zusammen, um eine Steigerung des Natürlichen ins Erhabene[S. 102] herbeizuführen und so den Schöpfungen Liebermanns Stil zu geben. Wie er den Weg gewiesen hat von dem bloß Malerischen zur wirklichen Malerei, so zeigt er auch, wie man zu einem Stil gelangen kann, ohne die Eselsbrücke des Stilisierens. Es ist ewig schade, daß man sich diese bedeutungsvolle Seite von Liebermanns Kunst theoretisch klar machen muß, daß dem Künstler keine Wandflächen zur Verfügung gestanden haben, wo er vor allem Volke hätte beweisen können, wie groß und schön und rein er eine Welt sieht und darzustellen weiß, die man bis zu seinem Erscheinen ohne diese Eigenschaften glaubte. Die Dekorationen für den Saal eines Mecklenburger Schlosses (Abb. 101 u. 102) sind leider der Öffentlichkeit entzogen. Wie bestätigen sie aber die Ansicht, daß Liebermanns Kunst alle Kennzeichen der Monumentalität trägt!
Es ist ein eigenes Schicksal, daß die einzigen drei Künstler des neunzehnten Jahrhunderts, die berufen waren, einer von der Malerei bisher noch nicht dargestellten Erscheinungswelt im Sinne großer Kunst den höchsten Ausdruck zu geben, die vermocht hatten, Wesen und Fühlen ihrer Zeit in neuer Weise zu fassen und zu gestalten, daß diese drei Künstler — der Franzose Millet, der Deutsche Liebermann und der Italiener Segantini — nicht Gelegenheit gefunden haben, der Nachwelt in auch äußerlich monumentalen Werken Spuren ihres Daseins zu hinterlassen. Um wieviel größer würden sie erscheinen! Aber trotzdem: Die Kunst der drei wird ewig leben, weil sie einen ewigen Typus für die Kunst lebendig gemacht hat, den des arbeitenden Menschen. Und gerade das Zeitlose seiner Erscheinung ist es, was ihn so mächtig aus den Werken der drei Künstler wirken läßt. —
Vielleicht erwartet man jetzt eine Klarlegung der Mängel von Liebermanns Kunst, und vielleicht wäre es nicht schwierig, sie zu bieten, aber die Gelegenheit erscheint schlecht gewählt; denn über Liebermann schreiben, heißt immer noch die Gründe darthun, um derentwillen er bewundert werden muß. Eine eingeschränkte Bewunderung aber macht niemandem warm. Jeder Künstler hat die Mängel seiner Tugenden, also auch Liebermann. Es gab und gibt Künstler, die Gewaltigeres vollbracht haben, die bezwingendere, erhebendere Werke schufen, aber es gibt wenige Künstler, die die Natur inniger, treuer erfaßt und natürlicher dargestellt haben. Er ist kein Virtuose. Das wäre ein Widerspruch zu seiner ganzen Art; aber er hat Naivetät und jene unbedingte Hingabe an seinen Gegenstand, ohne die große Kunstwerke nicht geschaffen werden. Es sieht zuweilen unbeholfen aus, was er macht, aber immer fühlt man, daß es ihm um die ganze, nicht um die halbe Wahrheit und Kunst geht. Er ist mehr als bloß ein Maler, er ist eine Persönlichkeit, eine feine,[S. 104] starke und im tiefsten Grunde ihres Wesens künstlerische Persönlichkeit. Das gibt seinem Schaffen die Bedeutung, seinen Werken die unvergängliche Lebenskraft und erklärt die Größe seiner Wirkung auf die Kunst seiner Zeit, aber es ergibt sich daraus auch die Schwierigkeit, das letzte Wort über ihn zu sagen. Das Beste von Liebermanns Kunst läßt sich nur fühlen, nicht durch die Sprache ausdrücken. „Es gibt in der Natur ein Zugängliches und ein Unzugängliches. Dieses unterscheide und bedenke man wohl und habe Respekt. Es ist uns schon geholfen, wenn wir es überall nur wissen, wiewohl es immer sehr schwer bleibt, zu sehen, wo das eine aufhört und das andere beginnt. — Wer es aber weiß und klug ist, wird sich am Zugänglichen halten, und indem er in dieser Region nach allen Seiten geht und sich befestigt, wird er sogar auf diesem Wege dem Unzugänglichen etwas abgewinnen können, wiewohl er hier doch zuletzt gestehen wird, daß manchen Dingen nur bis zu einem gewissen Grade beizukommen ist und die Natur immer etwas Problematisches hinter sich behalte, welches zu ergründen die menschlichen Fähigkeiten nicht hinreichen.“
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