Title: | Die Uhr |
Aufzeichnungen eines Hagestolzen |
Aufzeichnungen eines Hagestolzen
Von
Karl Frenzel
Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Übersetzungsrecht vorbehalten
Wie wenig gehört doch dazu, das Leben eines Menschen, sein Dichten und Trachten aus der Bahn, die er Jahre lang, sei es im Schneckengang, sei es im Eillauf, verfolgt hat, zu lenken! Das Kleinste genügt, eine Wandlung in seinem Herzen hervorzurufen, ein plötzlicher Eindruck entscheidet über sein Geschick. Weder Alter noch Welterfahrung schützen ihn davor, der Leidenschaftliche steht ebenso unter der Herrschaft einer dunklen Macht wie der Gelassene. Und so könnte ich in diesem belehrsamen Ton, mit dem ich mich nur selbst zur Ruhe zwingen will, noch lange fortfahren und mit ähnlichen Gemeinplätzen viele Seiten anfüllen, auch Beispiele aus der alten und neuen Geschichte reichlich anführen: Leben und Welt blieben, wie sie sind, unberechenbar, verworren, trotz ihrer ewigen Wiederholungen und ihrer eingeborenen Nichtigkeit, für den, der gerade lebt und die Welt anschaut, ein wundersames Räthsel. Nicht umsonst bin ich fünfzig Jahre geworden – ich weiß, daß mir nichts geschehen ist, was nicht Tausenden vor mir auch geschehen, und als Arzt bin ich obendrein noch in der Lage, mir neun Zehntel aller Vorgänge im menschlichen Körper und damit auch in seiner Seele besser erklären zu können als die Mehrzahl meiner Mitgeschöpfe: aber einmal sitzen wir Alle auf einer Sandbank fest.
Wenn man in einer großen Hauptstadt ein Jahrzehnt in derselben Wohnung, ungestört und unbelästigt, weilt, ist man in meinen Augen ein vom Glück besonders begünstigter Sterblicher. Ich war ein solcher Glücklicher. Aber nicht ganz ohne eigenes Verdienst, setze ich hinzu. Mein Hauswirth war ein seltener Charakter: er haßte Hunde, Klaviere und kleine Kinder. Unbarmherzig schloß er Alle, die mit diesen drei Dingen belastet waren, von seinem Paradiese aus. Selbstverständlich wußte auch er unter Umständen ein Auge und ein Ohr zuzudrücken. Allein in der Hauptsache hörte man hier doch nie einen Hund ungebührlich bellen, nie Kinder schreien und nie um Mitternacht Klaviergeklimper. Gleichheit der Gesinnungen hatte uns zusammengeführt: ich war ein Fanatiker der Stille wie er. Ein Hagestolz, ohne Kind und Kegel, ohne Pianino und Pudel, aber wohlhabend, ein in der Stadt leidlich bekannter Mann, war ich ihm als Miether willkommen. Unser Verhältniß wuchs zu einem innigen aus: er im ersten, ich im zweiten Stock, wetteiferten wir, Einer den Andern an Stille zu übertreffen. Meine Stiefel pflegten öfters zu knarren, und mein Diener, der jähzornigen Gemüths ist, hatte die üble Gewohnheit, wenn er im Unrecht war, die Thüren krachend ins Schloß zu werfen. Gewiß unleidliche Störungen – zum Glück indeß hielt mir mein Freund und Wirth das Gleichgewicht. Er war ein großer Politiker und Vereinsmann, natürlich Fortschrittspartei, mit stark und ingrimmig betonter Abneigung gegen die Socialdemokraten, und wenn er in jeder Woche zweimal in der zwölften Stunde aus dem Wirthshause heimkehrte, entluden sich entweder die Wolken, die sich dort auf seiner Jupiterstirn zusammengezogen, in einem Gewitter wider seine Gattin, oder der heitere Sonnenglanz des politischen Himmels, den er heimbrachte, ergoß sich in Anekdoten und homerischem Gelächter über die Seinen. So wurden wir in dieser Beziehung gegenseitig quitt. Außerdem gab ich ihm bei den Wahlen zum Landtag stets meine Stimme zum Wahlmann in der ersten Klasse und nahm in jedem dritten Jahre eine Steigerung meiner Miethe schweigend hin. Was ist der Mensch! Um nicht aus seiner Behaglichkeit gestört zu werden, vor dem Gespenst der Wohnungsnoth verleugnet er seine conservativen Grundsätze und stimmt für einen Bourgeois-Fortschrittsmann.
Also ich saß in Frieden in meinem stillen Heim. Und ich kann sagen, jeden Abend kehrte ich mit Vergnügen dahin zurück, aus dem Kampf mit der Krankheit und dem Tode, wie aus der Gesellschaft. Hier hatte ich Ruhe und unter meinen Büchern, Kupferstichen und Photographien auch keine Langeweile. Jetzt, nach dem Eintritt in mein fünfzigstes Jahr, war mir die erste doppelt erwünscht und der zweiten glaubte ich für lange den Abschied gegeben zu haben. Mit großen Hoffnungen hatte ich das Studium der Medicin begonnen; ich wollte auf diesem Gebiet ein Bahnbrecher, ein Entdecker werden. Das Geheimniß des Lebens zu ergründen, in die dunkle Tiefe des Werdens und Vergehens hinabzusteigen, reizte mich. Aber mein Lebensgang wurde ein ganz anderer, als ich erwartet. Unglücksfälle raubten mir mein väterliches Vermögen, arm stand ich da, nur reich an Sorgen, da mehrere jüngere Geschwister von mir Unterhalt und Erziehung erwarteten. Statt mich in die Studirstube, in das Laboratorium zurückziehen zu können, mußte ich mich auf den Markt stürzen. Die wilde Jagd eines armen Arztes nach Patienten ... nun, über mein Verdienst ist sie mir geglückt. In fünfundzwanzig Jahren war ich in der Hauptstadt ein gesuchter Arzt geworden. Die Kranken rühmten mir Ruhe und Festigkeit nach, meine Collegen nannten mich eine Autorität in allen Herzleiden. Aus dem armen Manne war ich ein reicher geworden. Ich ehrte und liebte das Geld, nachdem ich einmal in schmerzlichster Weise erfahren, was arm sein heißt. Meine Praxis, daneben auch mein fester Wille, ein Vermögen zu erwerben, hatten alle meine wissenschaftlichen Pläne wie mit einem scharfen Messer zerschnitten. Der Jüngling, der sich vermessen hatte, in die erlauchte Gesellschaft des Hippokrates und des Galenus, Harvey's und Boerhave's einzutreten, und der Mann, der Tag und Nacht mit seinen Kranken beschäftigt war, hatten sehr verschiedene Gesichter. Nur in einem Punkte glichen sie sich; auch der Mann hing noch in seltenen Augenblicken den ehrgeizigen Träumen der Jugend nach. Je sicherer meine Stellung wurde, je mehr mein Vermögen wuchs, desto lebendiger kehrte der Traum zurück. Vielleicht vollendete der Greis, was der Jüngling geahnt. Möglich, daß mir unbewußt Abspannung, Ermüdung und körperliche Leiden, die sich einstellten, zu meinem Entschlusse beitrugen und gleichsam das feste aber unscheinbare Gewebe bildeten, das dann die Eitelkeit und der Hochmuth mit bunten Fäden durchzogen, genug: ich gab meine Praxis, mit geringen Ausnahmen, an meinem fünfzigsten Geburtstag auf und begann an das eigentliche Werk meines Lebens zu gehen. Ich wollte sehen, wie nahe man durch unablässige Forschung, durch Erfahrungen und Versuche dem Geheimniß des menschlichen Daseins kommen kann.
Wie weit ich kam ...
Eines Abends, unter einem schweren trüben Octoberhimmel, kehrte ich aus unserem medicinischen Verein nach Hause zurück. Es war nichts Wichtiges verhandelt, nichts Lustiges oder Trauriges erzählt worden. Man kann nicht gleichmüthiger, als ich es that, die Hausthür öffnen, die Treppe zu seiner Wohnung hinaufsteigen. Drinnen war Alles in gewohnter Ordnung. Die Lampen brannten, eine behagliche Wärme in allen Gemächern, kein unangenehmer Brief war eingelaufen. Wie immer stand mein Nachttrunk bereit, daneben lagen die Abendzeitungen, zwei oder drei medicinische Zeitschriften. Ich hatte mich in meinen Stuhl gesetzt und ein Zeitungsblatt in die Hand genommen. Aber was ist das? ich vermag nicht zu lesen. Ein scharfes anhaltendes Geräusch unterbricht und belästigt mich. Ich blicke auf – mir gegenüber still und starr, von der Ampel hell beleuchtet, hängt eine marmorne Nachbildung der bekannten rondaninischen Meduse; ich horche hin: dahinter ist die Ursache des Geräusches: eine Uhr, die tick, tack, in ununterbrochener Gleichmäßigkeit ihren Pendel bewegt. Wer wird sich von einer Uhr stören lassen – und ich versuche von neuem meine Zeitungslektüre. Aber es geht nicht, dieser Pendelschlag hat etwas so Unbarmherziges, Dröhnendes – und nun, wie es nicht anders sein kann, ist es nicht mehr einzig das Geräusch, was mich hemmt. Meine Gedanken sind zerstreut. Die Wand ist dünn, die mich hier von meinen Nachbarn trennt. Bis zu diesem Abend ist es mir nie aufgefallen, da Alle, die bisher neben mir gewohnt haben, gerade dies Zimmer wenig zu benutzen pflegten: es war bei ihnen Allen die sogenannte gute Stube gewesen, die sich nur selten zu irgend einem Familienfeste öffnete. Tick, tack – tick, tack: geht es nebenan weiter. Es ist mir, als erhielte ich von einer unsichtbaren Hand eben so viele leise Schläge, unter denen meine Nerven zusammenzucken, wie der Pendel Schwingungen macht. Darüber fällt mir ein, daß ich neue Nachbarn – oder besser eine neue Nachbarin bekommen habe ... Den Namen habe ich vergessen, ich entsinne mich nur, daß es eine Schauspielerin bei einem der zweiten Theater unserer Stadt sein soll ... Meinetwegen, eine große oder eine kleine Künstlerin, hübsch oder häßlich, tugendhaft oder brüchig, eine Magdalene oder eine Messalina, wenn sie nur ihrer verwünschten Uhr einen anderen Platz gegeben hätte! Das unerträgliche Geräusch verwirrt und verstimmt mich mehr und mehr. Solche Damen, die so gar keine Bürgschaft der Stille und des bürgerlichen Wohlanstandes bieten, in ein ruhiges Haus aufzunehmen! Es ist unverantwortlich von dem Wirthe. Freilich, ich hätte bei Zeiten Einspruch gegen die neue Mietherin erheben sollen ... und so, ärgerlich gegen die Uhr, gegen die Nachbarin, empört über die Rücksichtslosigkeit des Wirthes, unzufrieden mit mir selbst, suche ich mein Lager. Meine Schlafstube liegt nach dem Garten hinaus, weit ab von dem Unglückszimmer, aber dennoch tönte mir das scharfe Ticktack noch lange im Ohre.
Am nächsten Morgen zog ich Erkundigungen ein. Die Dame heißt Elsa Themar und soll, wie mein Diener versichert, jung, blond und schön sein. Sie spielt in dem Stadttheater, das am Ostende unserer Stadt liegt, in den französischen Komödien, die dort an der Tagesordnung sind, die jugendlichen Liebhaberinnen. Mein Wirth, der mir gegenüber gern den gebildeten Mann hervorkehrt, lächelte ein wenig spöttisch, als ich ihm erklärte, daß ich weder den Namen dieser berühmten Künstlerin noch je etwas von ihren Talenten gehört. So sind nun diese Gelehrten, schien sein verzogener Mundwinkel zu sagen; steif, verknöchert, geistlos – sie gehen nicht in das Theater, sie wissen nichts von Sardou's »Fernande« und Dumas' »Monsieur Alphonse«. Ich wußte in der That nichts davon und erfuhr erst von ihm, daß in diesen Stücken Fräulein Elsa Themar ganz vortrefflich spiele – viel besser, als die Damen am Hoftheater. Im Grunde war mir dies Alles außerordentlich gleichgiltig, mich beschäftigte weder das Fräulein noch ihre Kunst, sondern einzig und allein ihre Uhr. Aber um zu dieser zu kommen, mußte ich leider erst die Besitzerin kennen lernen. Hunde und Klaviere waren im Kontrakt vorgesehen – eine Uhr jedoch hat Jeder, und es ist lächerlich, sich über das Geräusch einer Uhr beschweren zu wollen. Doppelt lächerlich von Seiten eines Arztes – oder sollte ich verrathen, daß mir dies Geräusch einen unheimlichen Eindruck machte? Ich mußte mich also zunächst zum Dulden entschließen. Die verschiedensten Pläne indeß, mich von diesem Feinde zu befreien, durchkreuzten mein Gehirn. Denn es war, als sei mit diesem Ticktack eine mir feindliche Macht in mein Leben eingedrungen. Ich konnte von den Gemächern meiner Wohnung ein anderes zum Arbeitszimmer wählen: aber eine zehnjährige Gewohnheit aufgeben, mitten im Herbst eine solche Umgestaltung vornehmen! Ich konnte an die Dame schreiben und sie bitten, ihre Uhr an die andere Wand oder in einen andern Raum zu stellen, aber einer spöttischen, leichtlebigen Komödiantin einen solchen Anlaß zu bieten, sich über die Nervosität eines alten Herrn lustig zu machen! Wenn ich ihr unter irgend einem Vorwande einen Kauf der Uhr vorschlagen ließe? Das Einfachste von Allem, was zugleich der natürlichen Trägheit am meisten zusagte, war der Versuch, sich an jenes störende Geräusch zu gewöhnen. Man erträgt das Rauschen der Wellen, das Klappern einer Mühle, man lernt Schmerzen ertragen in so hohem Grad, daß uns etwas zu fehlen scheint, wenn sie plötzlich nachlassen, warum nicht den Pendelschlag einer Stutzuhr?
Zuweilen gelang es mir; das Geräusch, das von der Straße heraufscholl, übertönte den Schlag der Uhr; in meine Studien vertieft, achtete ich eine Weile nicht darauf. Bald genug aber machte sich das Geräusch wieder vernehmbar. Mit der Störung ermunterte sich mein Verdruß, er schwoll zu einem ingrimmigen Haß gegen das unschuldige Ding an, das dieselbe verursachte. Von dem Gegenstand übertrug ich meine Feindschaft auf die Besitzerin. Obwol ich sie noch immer nicht gesehen, in keinem ernsthaften Punkte über sie Klage führen konnte, haßte ich diese Elsa und spähte nach einer Gelegenheit aus, ihr das Böse zu vergelten, das sie mir mit ihrer Uhr angethan.
Sie lebte still und eingezogen. Die Besuche, die sie empfing, machten keinen Lärm; zuweilen kam sie spät in der Nacht nach Hause, wenn ich noch wachend bei meinen Arbeiten saß, aber immer war sie allein. Ihre Rollen studirte sie in einem Hinterzimmer ein, so daß ich mich nicht einmal über ihre Deklamationen beschweren konnte. Dabei hatte es der Zufall so gefügt, daß wir uns noch nie auf der Treppe oder auf der Vorflur begegnet waren. Nur unsere Namen starrten sich gegenseitig auf Messingschildern an den Klingelthüren an. Elsa Themar – Gotthold Werben. Plötzlich, wie es sich erhoben, war eines Tages das Geräusch verstummt. Ich traute meinen Ohren nicht, allein die Uhr stand still. Diesen Tag rührte sie ihren Pendel nicht, den folgenden, den dritten nicht. Es war indessen, wie ich bald darauf von meinem Diener hörte, ohne Zauberei zugegangen. Die Dienerin des Fräuleins hatte bei dem Klopfen der Teppiche seine Hilfe in Anspruch genommen und er die Gelegenheit benutzt, ihr meinen Verdruß und Aerger über die Stutzuhr mitzutheilen. Das hatte gewirkt, Fräulein Elsa Themar als gebildete junge Dame, welche die wissenschaftlichen Studien eines Gelehrten zu schätzen und seine Launen zu ertragen wußte, hatte ihrer Uhr einen Platz im Nebenzimmer angewiesen – wir, hatte ihr Mädchen meinem Diener gesagt, verstehen uns auf das Studiren und halten gern gute Nachbarschaft.
Ich gestehe, daß mich dieser Zug von gutherziger Freundlichkeit überraschte und meine Gesinnungen gegen die Dame umstimmte. An dem Abend fuhr ich nach dem Stadttheater hinaus, sie und ihr Spiel mir anzusehen. In einer französischen Komödie hatte sie die Rolle einer jungen, schuldigen, sehr liebenswürdigen und sehr reuevollen Frau darzustellen. Nach der Meinung des Publikums machte sie ihre Sache vortrefflich, denn sie wurde wiederholt mit Beifall überschüttet. Ich konnte mich nur ein und ein anderes Mal zum Klatschen entschließen, mir erschien ihr Spiel zu flüchtig und zu übertrieben. Es fehlten alle feineren Uebergänge, die Farben waren grell aufgetragen. In den erregteren Scenen jedoch brach eine starke natürliche Leidenschaft durch das Künstliche und Conventionelle der ganzen Leistung, die, verbunden mit dem wohlklingenden Organ und der schönen Erscheinung der Dame, bei ihrer Jugend Besseres für die Zukunft versprach. Bei ihrer Jugend – sie mochte etwa fünfundzwanzig Jahre zählen, eine schlanke Gestalt mit lebhaften Augen, reichen blonden Haaren, ein starkes, groß und edel geschnittenes Gesicht, wie für das Theater und das Lampenlicht geschaffen, stand sie offenbar erst am Anfang ihrer Laufbahn. Gewisse kleine Verstöße ließen mich sogar vermuthen, daß sie jählings ohne gründliche Vorbereitung auf die Bühne gegangen sei, aus anderen Lebensbedingungen und glücklicheren Verhältnissen heraus. Ich spann mir während des Stücks und noch lebhafter, als ich wieder daheim an meinem Kamin saß, wo mich kein Pendelschlag störte, einen ganzen Roman über Fräulein Themar aus, um mich selbst zuletzt mit dem Worte: »Dummheiten!« zur Ordnung zu rufen.
Nicht umsonst bin ich gewohnt, mir über alle starken Eindrücke, ob sie mich nun plötzlich oder langsam ergreifen, Rechenschaft abzulegen und sie bis zu ihren ersten Ursachen zu verfolgen. So grübelte ich auch dem Eindruck nach, den das junge Mädchen auf mich gemacht, der Theilnahme, die ich für sie empfand. Ihr Spiel war es sicher nicht, denn es berührte mich unbehaglich oder ließ mich kalt, die Schönheit mochte jungen Männern den Kopf verdrehen, dem meinen that sie nichts. Die Stimme ist es, sagte ich mir endlich, diese weiche und doch kräftige, wohllautende Stimme, die mich berückt. Aus dieser Stimme heraus erfinde ich mir eine Geschichte – habe ich sie doch schon einmal im Leben gehört und nun wirrt und dichtet mir unbewußt die Phantasie Vergangenes und Gegenwärtiges in einander. So fest hat sich mir das Abbild jener Begebenheit eingeprägt, daß sie mir jetzt, bei einem so leisen und flüchtigen Anstoß, wieder wie ein eben Erlebtes vor Augen tritt. Und doch liegen Jahre, wichtige, entscheidende Jahre und Ereignisse zwischen jenen Tagen und der heutigen Stunde. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß die kleine Schauspielerin niemals mit den Kreisen in Berührung gekommen ist, wohin mich meine Erinnerung führt. Weil ich den Klang dieser Stimme schon einmal vernommen, aus dem Munde einer Frau, die im Ueberfluß und in einer angesehenen Stellung lebte, erfinde ich mir eine Geschichte, wie – lächerlich! wie man Schauspielerin wird. Aber ich kann wenigstens wieder an meinem eigenen Beispiel das Entstehen und Wachsen abergläubischer Vorstellungen und Meinungen erproben. Ein unbedeutender Sinnenreiz, der Pendelschlag einer Uhr, erregt ein körperliches Unbehagen, das sich bis zur Furcht steigert. Dieser Schlag, sage ich mir wider meinen Willen und mein besseres Wissen, wird dir verhängnißvoll werden, und als ob diese unbewußte Regung ein bestimmtes Vorgefühl zukünftiger Ereignisse gewesen, schließt sich nun eine Reihe von Zufällen an diesen ersten Eindruck, die meine Gedanken in der einmal eingeschlagenen Richtung festhalten, die ersten losen Fäden des Gewebes verstärken und mich immer mehr in den Kreis eines fremden Daseins ziehen.
Durch die stille, schweigende Straße rollte ein Wagen; er hielt vor unserem Hause. Bis zu mir herauf tönte fröhliches Gelächter, das Abschiednehmen, dann wurde die Hausthür aufgeschlossen, während der Wagen sich wieder entfernte, stieg meine Nachbarin leichten Schrittes die Treppe hinan. Sie mußte in der glücklichsten Stimmung sein, denn ich hörte sie im Nebenzimmer eine lustige Arie singen. Nur ein paar Takte, die Hausordnung mochte ihr einfallen oder der Nachbar, den sie in seinen gelehrten Studien nicht stören wollte. Sie verstummte, aber ich hörte das Rascheln ihres Seidenkleides, das Hin und Her einer Frau, die sich zur Nachtruhe anschickt. Wie thöricht war ich doch! Während ich mir eine tragische Geschichte von zerrütteten Lebensverhältnissen, von einer unglücklichen Theaterlaufbahn ausgesonnen, hatte die Heldin meiner romantischen Dichtung mit guten Freunden soupirt und das Champagnerglas geleert. Ihr war offenbar nie der Gedanke gekommen, daß sie eine sehr mittelmäßige Schauspielerin sei und vor strengeren Augen gar nicht auf der Bühne bestehen könne. Sie war mit sich und ihrem Loose zufrieden, und wenn sie jetzt träumte, so träumte sie nur von Rosen und Lorbeeren, vielleicht gar vom Goldregen der Danae. Da schrie es im Nebenzimmer auf: ein Schrei der höchsten Angst, der uns entfährt, wenn wir unerwartet einem Abgrunde zu nahe getreten sind oder plötzlich ein Schreckniß sich vor uns aufrichtet. Ich war aufgesprungen und machte unwillkürlich ein paar Schritte nach der Thür hin, von Mitleid und Sorge ergriffen, in dem instinctiven Gefühl des Arztes, einem Leidenden zu helfen. Aber meine Bewegung mußte von meiner Nachbarin gehört worden sein. Im nächsten Augenblick war Alles bei ihr still und lautlos. Ich legte mein Ohr an die dünne Wand, ich horchte – umsonst, sie mochte sich in ein anderes Gemach zurückgezogen haben, wo sie vor jedem Lauscher sicher war. Ich konnte nach Laune mir den Kopf über den Schrei einer Komödiantin zerbrechen und meine grauen Haare daran setzen, das Geheimniß einer schönen Seele zu ergründen. Darüber regte sich in mir das Schamgefühl, und ich griff wieder zu meinem Häckel und bemühte mich nach Kräften, seinen Urkeim und Protoplasma durch alle Wandlungen bis zum Menschen zu folgen. Merkwürdig genug äffte mich beständig dabei das Gesicht meiner Nachbarin: bald ein lachendes, übermüthiges, bald ein thränenüberströmtes, entsetztes Gesicht. Aber es war keine Hexerei dabei, ich hatte beide Gesichter an ihr in der Komödie gesehen.
Am nächsten Tage bat sie mich durch einen Brief zu ihr hinüber zu kommen; sie nahm die Freundlichkeit des Nachbars und die Hilfe des Arztes in Anspruch. Es wäre hart gewesen, eine Bitte abzuschlagen, die mit so vielem Recht Gewährung erwarten durfte. Dennoch habe ich selten einen Schritt mit größerem Widerstreben gethan, als den von meiner Thür zu der ihrigen. In mir war etwas, das mich warnte, den kurzen Raum zu überschreiten, der unsere Wohnungen von einander trennte. Ob in ihrem Betragen etwas Absonderliches, Schauspielerisches war, als sie mich empfing, vermag ich nicht zu sagen, da ich bisher nie mit Komödianten oder Komödiantinnen zu thun gehabt hatte. Sie sah wie eine Dame aus, in einem einfachen, bescheidenen Anzuge, ihre Sprache wie ihre Bewegungen waren, mit denen verglichen, die sie gestern Abend auf der Bühne gezeigt, nicht nur natürlicher, sondern auch angenehmer und gehaltener. Wie gestern, bannte mich auch jetzt wieder der Zauber ihrer Stimme. Nur viel mächtiger; unter den schweren und starken Drückern einer pathetischen Deklamation war von der Bühne her das leis Verschleierte der Stimme ganz verloren gegangen. Aber wenn ich auch den Wohlklang dieser Stimme schon gehört: in keinem Zuge erinnerte das Gesicht des Fräuleins an jenes mir unvergeßliche Antlitz, an jene Frau, deren Stimme mir einst wie die ihrige geklungen. Noch einmal bat sie um Entschuldigung, wenn sie mich gestört, aber sie wäre sehr leidend und hätte zu dem Theaterarzt kein Vertrauen. Sie glaubte an einem Herzfehler zu leiden und wollte von allen Seiten gehört haben, daß ich der beste Arzt für die Krankheiten des Herzens sei. Zunächst stand mir nur so viel fest, daß sie an allzuheftigem Herzschlage litt, den eine starke Aufregung in bedenklicher Weise gesteigert. Ruhe war nach einer schlaflosen Nacht das erste Bedürfniß für sie. Da sie an diesem Tage nicht zu spielen brauchte, konnte sie ganz sich selbst leben. Ich verschrieb ihr ein leichtes Schlafmittel und suchte ihr nach Kräften die Grille, daß sie einen Herzkrampf bekommen würde, auszureden. Es gehörte kein Scharfblick dazu, hinter dem physischen Unbehagen eine psychische Ursache zu ahnen. Mir fiel der Schrei ein, den sie in der Nacht ausgestoßen. Aber ich hütete mich, in der Sorge, ihre Aufregung noch zu vermehren, auch nur mit einem Worte darauf anzuspielen. Die Rücksicht gegen mich selbst mag mit hineingespielt haben. Das wäre eine schöne Geschichte, sagte das Unbewußte in mir, wenn du mit deinen fünfzig Jahren hier den Seelenarzt spielen wolltest.
»Ich soll mich niederlegen, Herr Doctor?« fing sie plötzlich an, mit einem gewissen zögernden Ton, als ich schon im Begriff stand, mich zu entfernen, »aber ich wage es nicht. Die Unruhe, die Angst wird mich wieder überfallen.«
»Seien Sie versichert, das Mittel wird seine Wirkung thun. Sie regen sich unnöthig auf. Es wird keine Träume und keine Gespenster für Sie geben.« Mir war das Wort mit einem Lächeln entfahren, ohne daß ich mir etwas Sonderliches dabei gedacht. Um so überraschter war ich, als sie es mit leidenschaftlicher Hast aufgriff. »O, Sie wissen nicht, was ich leide,« rief sie und faßte meine Hand, gleich als ob sie mich festhalten wollte, »gerade von den unsichtbaren Mächten leide. Schreckbilder drängen sich zu mir heran – der Schlag der Uhr« ...
Richtig, nebenan ging es ticktack, jenes Geräusch, das mir in den ersten Tagen nach dem Einzug des Fräuleins in diese Räume so unheimlich geworden war. Der Fall wurde mir immer merkwürdiger; waren wir beide wenigstens in Hinsicht auf diese abscheuliche Uhr wahlverwandt?
Sie hatte meinen erstaunten Blick nicht bemerkt und fuhr, ausschließlich mit ihren Gedanken und Erfahrungen beschäftigt, in nervöser Heftigkeit fort: »Die Stunde schlägt, wo eine verhaßte Gestalt sich mir nähert, drohend, ihr Recht fordernd. Zuweilen weiß ich nicht, ob nur das Spiel meiner aufgeregten Phantasie sie herbeibeschwört, ob es Wirklichkeit ist. Was ist überhaupt Wirklichkeit? Eine Weile lassen mich die schrecklichen Bilder in Ruhe, aber es ist ein trügerischer Friede, unerwartet stehen sie wieder vor mir da.«
War es nun die sichtliche Angst des schönen Mädchens, die rührende Bitte um Hilfe, die eben so beredt aus ihren Augen wie aus dem Tone ihrer Stimme sprach, oder das immerhin merkwürdige Problem, unter welchen Bedingungen Traumbilder, Phantasie-Vorstellungen eine scheinbare Realität und Körperlichkeit unsern Sinnen gegenüber erhalten können, was mich fesselte – genug, ich blieb und fing an zu fragen, halb als Arzt, halb als Beichtiger. So weit war in wenigen Minuten mein Wille vom Zufall umgestimmt worden.
»Allein dies Unerwartete,« sagte ich auf ihre letzte Aeußerung, »kann sich doch nicht ohne einen äußeren Anstoß ereignen. Ihre Phantasie muß eine Anregung, einen Eindruck von außen her empfangen, der jene halb entschwundene Reihe von Vorstellungen wieder in den Vordergrund treten läßt und dem Einzelnen wieder feste Formen und helle Farben giebt. Erinnern Sie sich nur genau, was Ihnen gestern Abend geschehen ist. Ich will Ihrem Gedächtniß zu Hilfe kommen. Da wir Nachbarn sind und einzig eine dünne Wand uns trennt, hörte ich Sie in der Nacht in heiterer Stimmung Ihr Zimmer betreten.«
»O mein Gott!« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Was hab' ich da gemacht? Sie waren noch wach, Sie haben gehört – ich muß einen Schrei ausgestoßen haben« ...
»Ja – und ich möchte Sie als Arzt fragen, was die Ursache Ihres Schreckens war« ...
»Ein Brief, der mir eine Ankunft ankündigte« –
»Eines ehemaligen Liebhabers?« fuhr es mir heraus. Ich fühlte mich wieder ernüchtert und erkannte die Sphäre, in der ich mich befand – ein abenteuerliches, phantastisch aufgeputztes Komödiantenthum.
»Warum nicht?« fragte sie zurück. »Glauben Sie nicht, daß man sich vor der Liebe fürchten kann?«
»Ich bin so fest davon überzeugt wie Sie, nur meine ich« – und ich deutete auf meine grauen Haare – »daß für mich kein Platz in dieser Geschichte sein dürfte. Was der Arzt Ihnen sagen konnte, hab' ich Ihnen gesagt. Ihr Körper bedarf der Ruhe, des Schlummers – das Uebrige, was allerdings das Wichtigere ist, liegt außerhalb des Bereiches meiner Wissenschaft. Unruhige Seelen zu beruhigen, giebt es in der Apotheke kein Mittel.«
»Sie wollen mich in Unmuth verlassen, als ob das Opfer einer tollen Leidenschaft Ihres Rathes und Ihrer Hilfe weniger würdig wäre, als jede andere Kranke« ...
Sie kam nicht weiter; draußen wurde ungestüm an der Klingel gerissen und zugleich hob im Nebenzimmer die Uhr zum Stundenschlage aus – zwölf Schläge. Der hellste Mittagssonnenschein eines freundlichen Herbsttages schaute, so weit es ihm die niedergelassenen weißen Fenstervorhänge gestatteten, in das Gemach. Mit dem Schrei: »Er ist es!« war die Schauspielerin bewußtlos rücklings niedergesunken. Wenn dies schon Komödie war, so wurde sie zum mindesten gut gespielt. Um die Ohnmächtige beschäftigt, achtete ich des heftigen Gezänkes nicht, das sich auf der Vorflur zwischen der Dienerin und dem ungeberdigen Besucher entspann. Gerade als ihr die Besinnung zurückkehrte, stürzten die Zankenden ins Zimmer, voran der Fremde, hinter ihm die Dienerin, die ihn zurückzuhalten suchte. Aergerlich drehte ich mich um und richtete mich dem Störenfried gegenüber in meiner ganzen ärztlichen Würde auf.
»Wer erlaubt Ihnen hier einzudringen? Bei einer Kranken! Wenn man Ihnen den Eintritt weigert« ...
»Und wer sind Sie?« fuhr er grimmig heraus, »der« ...
»Das möcht' ich Sie fragen. Ich bin der Arzt und im Augenblick der Herr hier.«
Ich stand zwischen ihm und dem Mädchen, auf der Schwelle der Thür, den Arm abweisend erhoben. Offenbar hatte ihn diese unerwartete Begegnung außer Fassung gebracht; er maß mich mit einem halb geringschätzenden, halb mißtrauischen Blicke, aber diese Prüfung mochte insofern zu meinen Gunsten ausfallen, da er nichts von einem Liebhaber an mir entdeckte. Zögernd that er einen Schritt rückwärts. »Ich bitte um Entschuldigung,« sagte er, mit den Zähnen seine Unterlippe beißend.
Da klang es wie das Zuschieben eines Riegels hinter mir. Ich drehte mich um, das Gemach war leer. Man ist nicht unbetrogen bei einer Schauspielerin. Während meiner Verhandlung mit dem ungebetenen Gaste hatte das Fräulein die günstige Gelegenheit ergriffen, sich mit ihrer Zofe in ein anderes Zimmer zu retten. Um den Mund des Fremden flog ein boshaftes Lächeln, das eben so gut der schönen Entflohenen wie mir gelten konnte.
»Ich werde mir ein anderes Mal erlauben, bei Fräulein Themar vorzusprechen, wenn sie allein ist,« sagte er und rückte an seinem Hute, wie einer, der sich entfernen will.
»Das werden Sie nicht, mein Herr, so lange sich das Fräulein in meiner Behandlung befindet. Es ist gleichgiltig, was Sie mit der Dame zu verhandeln haben – und wenn es das Wichtigste wäre, es muß vor der Sorge um ihre Gesundheit zurücktreten. Einem Gentleman brauche ich nichts mehr zu sagen.«
Während meiner Rede hatte ich ihn genauer ins Auge fassen können. Eine kräftige, gedrungene Gestalt mit einem ausdrucksvollen Kopfe, stechende Augen unter buschigen Brauen, eine Adlernase in dem breiten Gesicht, das von einem dichten röthlichen Vollbart umrahmt wurde – das Ganze herrisch und raubthierartig, aber nicht häßlich im gemeinen Sinne – der Mann, etwa im Ausgang der zwanziger Jahre, war ohne Zweifel Soldat gewesen, Offizier, Rittergutsbesitzer.
»Ich danke Ihnen für die Mittheilung,« entgegnete er. »Mein Geschäft kann in der That warten, meine Anwesenheit in der Stadt genügt. Zugleich freut es mich, gleich am Tage meiner Ankunft eine so interessante Bekanntschaft ... Ah, verzeihen Sie – ich bin der Freiherr Egon von Lüttow« –
»Und ich der Geheime Medicinalrath Gotthold Werben.«
»Noch einmal Entschuldigung und guten Morgen.«
Er trat in den dämmerigen Corridor zurück; die Außenthür stand noch halb offen; hinausgehend drückte er sie leise ins Schloß. Auf der Vorflur verweilte er einen Augenblick. Er mochte an der gegenüber liegenden Thür meinen Namen auf dem Messingschilde gelesen haben. Mir war es, als hörte ich sein unterdrücktes kaustisches Gelächter. Dann ging er schwer auftretend die Treppe hinunter. Unbeweglich verharrte ich in meiner Stellung, hinaushorchend – ich hatte eine Besorgniß, als könne er wieder umkehren und den peinlichen Auftritt von vorn beginnen. Erst als ich von seiner Entfernung überzeugt war, trat ich in das Zimmer zurück. Wenig hätte gefehlt, so wäre mir meine Schöne zu Füßen gefallen. Sie fand keine Worte, nur Thränen und Schluchzen, mir ihre Dankbarkeit zu betheuern. Aber ich hielt ihr nicht lange Stand, befahl ihrem Mädchen, sie zu Bett zu bringen, und ging in meine Wohnung hinüber. Das kommt von der Nachbarschaft, brummte ich verdrießlich in mich hinein. Die Dame hatte mir offenbar eine Scene vorgespielt, um mich als Blitzableiter zu verwenden gegen einen eifersüchtigen, einen abgedankten, einen betrogenen – ja, was wußte ich, zu welcher Art von Liebhabern der Rothbart gehörte! Nur das Eine schien mir gewiß, daß er mich für einen Gecken halten mußte, der sich zum Vertheidiger einer Schauspielerin aufwirft, der wohl gar darauf ausgeht, die Rolle des Seelenretters zu übernehmen. Besann ich mich dann auf das Einzelne zurück, was ich seit einer Stunde gethan und gesagt, konnte ich freilich nichts entdecken, was ich anders hätte machen, was unterlassen können, ohne gegen die Pflichten eines Arztes zu verstoßen. Das Fräulein war krank: dies mußte schließlich alle Einwendungen und Vorwürfe niederschlagen. Die Stellung eines Arztes ist eben so peinlich, eben so hundertfältigen Verdächtigungen, der Reue und der Selbstanklage ausgesetzt wie die eines Beichtigers. In der Welt, wie sie ist, büßen wir nicht nur unser Wesen, sondern auch die Zufälligkeiten unseres Standes, unseres Glücks oder Unglücks.
Es traten aber im Verlaufe dieses Tages so viele andere Angelegenheiten und Beschäftigungen an mich heran, daß ich nicht lange dem Abenteuer nachhängen oder mir wohl gar seine möglichen Folgen ausmalen konnte. Als ich am Abend bei meiner Nachbarin noch einmal vorsprach, fand ich ihren Zustand in der Besserung, ihre Aufregung im Sinken begriffen. Um ihr die Nachtruhe, so weit es bei mir lag, zu sichern, gelobte ich ihr, für die nächsten Tage ein achtsames Auge auf ihre Thür zu haben und alle ungelegenen Besuche von ihr fern zu halten. Sie dankte mir gerührt, noch mehr mit ihren schönen, schmachtenden Augen als mit ihren Worten. Ganz ohne Bestrafung für meine mitleidige Regung kam ich freilich nicht davon. Spät am Abend störte mich nämlich wieder die verwünschte Uhr, die Dienerin hatte sie aus dem Schlafzimmer der kranken Herrin an ihren früheren Platz zurück gestellt. Ich hatte mich ja so gutmüthig und menschenfreundlich bewiesen, daß man mir dies auch noch anthun konnte. Je rücksichtsvoller wir sind, desto mehr wird gegen uns gesündigt. Allein wenn der Dame die Uhr so lästig fiel, wie mir – wenn gerade der Glockenschlag dieser Uhr ihr eine unheimliche Erinnerung wieder erweckte, ein gespenstisches Gesicht heraufbeschwor, warum hatte sie sich derselben nicht längst entäußert? Ein Spukhaus sucht der Besitzer selbst mit Verlust zu verkaufen, und eine Uhr wird man leichter los als ein Haus. Wie sie nur aussehen mochte, diese abscheuliche Uhr! Ich war überzeugt, daß es ein Erbstück sein mußte, aus dem vorigen Jahrhundert; moderne Uhren, redete ich mir ein, hätten einen ganz anderen Schlag. Und was der phantastischen Tollheiten mehr waren. Der Gespenster- und Automaten-Hoffmann hätte an mir seine Freude gehabt. Welch höhnisches Koboldlachen würde er ausgestoßen haben, wenn er am nächsten Vormittag mein langes dummes Gesicht gesehen! Ich trete bei meiner Kranken ein – viel mehr mit der Uhr als mit ihr beschäftigt, in der gewissen Hoffnung, nun endlich einmal meinen unsichtbaren Gegner zu Angesicht zu bekommen. Ja, wer nicht da ist, das ist die Uhr. Sie hat wieder ihren Platz gewechselt, und ich getraue mich nicht nach ihr zu fragen. Wie ich erwartet, haben die Tropfen eine gute Wirkung geübt. Die Augen des Fräuleins haben einen hellern Glanz, ihre Wangen färbt ein leichtes, feines Roth. Sie ist nicht im klassischen Sinne schön, ihre Formen sind ein wenig zu voll, ihre Züge zu stark dafür, aber die Anmuth ihrer Bewegungen und die Bescheidenheit ihrer Haltung lassen diese Mängel dem Betrachter nicht zum rechten Bewußtsein kommen. Der Reiz des Gesammtbildes verführt, mögen die Einzelheiten sein, wie sie wollen. Um sie in guter Stimmung zu erhalten, lenkte ich das Gespräch von den gefährlichen Klippen ab, an die es gestern gestreift. Das Theater bot sich als der geeignetste Unterhaltungsgegenstand dar, zunächst die Rolle, in der ich sie gesehen.
»Nicht wahr, ich bin eine schlechte Schauspielerin?« unterbrach sie mich.
Mit schonendem Freimuth, ohne ein starkes Wort des Tadels gegen sie, setzte ich ihr meine Ansichten über die Rolle auseinander. Aufmerksam hörte sie mir zu, immer unverkennbarer sprachen sich Erstaunen und Theilnahme in ihren Zügen aus.
»Nie hätte ich von einem hochberühmten Arzt eine so feine Kenntniß der Schauspielkunst erwartet,« meinte sie, »wie viel könnte eine bessere Künstlerin als ich von Ihnen lernen!«
»Warum sollte ein Arzt nichts von der Kunst, Menschen auf der Bühne darzustellen, verstehen?« entgegnete ich. »Genauer als Andere kennt er – muß er die Gesetze unseres Organismus kennen; auch unsere Gefühle, die Bewegungen, durch die wir sie zum Ausdruck bringen, unterliegen unabänderlichen Gesetzen.«
Und so weiter. Das Thema war umfassend und anregend und bot nach keiner Richtung einen Anstoß. Ich erfuhr, daß sie erst seit drei Jahren der Bühne angehöre, nur eine kurze Lehrzeit durchgemacht habe und über ihr Verdienst vom Glück begünstigt worden sei.
»Die Leute sagen, ich sei hübsch,« lachte sie, »und hat man dann nur einen starken Willen und eine laute Stimme, kann man es auf den Brettern weit bringen.«
»Sie lieben die Kunst?« wagte ich mich heraus: erst, als ich sie gethan, fiel mir die Dummheit der Frage ein. Konnte sie anders als mit einem Ja darauf antworten?
»Oh, Sie fragen mich mit so strengen Augen, als ginge es um Seele und Seligkeit. Ich liebe schon die Kunst und möchte gern eine berühmte Schauspielerin werden,« antwortete sie. »Aber ich will Ihnen nichts vorspiegeln. Die verzehrende Liebe, die Sie meinen, die Begeisterung und Hingabe, die Sie für Ihre Wissenschaft hegen – ich habe sie nie für die Bühne gehabt. In der Welt, wie sie ist, kann eine Frau trotz aller schönen Redensarten nur in der Kunst vorwärts kommen. Von Jugend auf war mein Sinn auf das Bunte und Glänzende gerichtet; ich darf mit Recht sagen, ich spiele mit Lust Komödie, ich liebe das Handwerk.«
Zum Mindesten, dachte ich bei mir, ist dies ein aufrichtiges Wort, sie will leben und genießen und wirft über den derben Realismus ihrer Wünsche keinen idealischen Mantel. So schieden wir als gute Freunde, und es war eben so herzlich wie natürlich, als sie mich zur Thüre geleitend plötzlich meine Hände faßte und sagte:
»Sie haben sich heute selbst verrathen und dürfen mir es nicht verargen, wenn ich künftig nicht nur den Arzt, sondern auch den Kunstkenner um Rath frage, noblesse oblige!«
»Hexe!« rief etwas in mir, und ich ging hinüber.
Am Abend dieses Tages saß ich im Kaffeehause in vergnüglichster Stimmung; ich hatte eben meinem alten Freunde und Collegen, dem Doctor Bastian – wenn es je einen Materialisten und Cyniker ohne Feigenblatt gegeben, war er es – eine Partie Domino abgewonnen und ließ ihn, meinen Kaffee schlürfend, noch einmal alle seine Spielfehler nachdenklich überlegen, als ein anderer Gast, der dem Ausgang zuschritt, meinen Sessel streifte. Ich sah auf.
»Guten Abend, Herr Medicinalrath,« sagte mein Rothbart. »Wie geht es Ihrer Kranken? Noch immer Clausur?«
Den Spott, der noch mehr in seiner Stimme als in seinen Worten lag, überhörte ich und erwiderte nur:
»Nicht für immer, Herr von Lüttow. Wenn Sie wollen, können Sie übermorgen Ihr Heil versuchen. Ich bin kein Argus.«
»Danke für die Mittheilung« – rückte am Hute und war in drei Schritten an der Thür. Wie er sie öffnete, schaute er sich noch einmal nach mir um. Wollte er mich mit seinen scharfen Blicken durchbohren oder sich lustig über mich machen? Zur Klarheit darüber konnte ich nicht kommen, denn Bastian, der es aufgegeben hatte, die Augen seiner Dominosteine zum dritten Male zu zählen, fragte mich mit einem merkwürdig gedehnten Ton:
»Kennen Sie den Herrn?«
»Seinen Namen und seinen Bart. Wir haben uns neulich in einem Krankenzimmer getroffen. Sie aber scheinen mehr von ihm zu wissen, Werthester?«
»Nichts als die Geschichte, die man in der Gesellschaft von ihm erzählt.«
»Männer- oder Frauenverleumdung?«
»Bewahre, eine Thatsache. Er hat einen seiner Freunde, die einen behaupten: seinen besten, im Zweikampf erschossen, seine Festungshaft abgesessen und treibt sich nun in der Hauptstadt herum.«
»Seit längerer Zeit?«
»Weiß ich nicht; hier im Saale habe ich ihn einige Male gesehen. Mir fiel auch nur auf, daß Sie mit ihm sprachen, Herr Collega.«
»Ist dabei etwas Verwunderliches?«
»Hm! Nichts für ungut, Bester; Sie sind ein Spiritualist, nicht frei vom Unsterblichkeitswahn – vermuthe sogar, daß Sie den Ahnungen, Träumen, der Seelenwanderung gewisse Rechte in Ihren Urtheilen und Vorstellungen einräumen, und erstaunte darum, daß Sie an jenem Manne nicht den Blutgeruch gewittert.«
»Er hat doch nicht gemordet,« unterbrach ich ihn. »Leider sind Zweikämpfe unter Offizieren« ...
»Blut ist Blut. An sich ist es freilich sehr gleichgiltig, ob es einen Menschen mehr oder weniger giebt, ob er durch einen Schuß vorn in die Brust oder durch einen Beilschlag auf den Kopf von hinten her getödtet wird, aber ich dachte, Ihrer sensitiven Seele müßte auch die oberflächlichste Berührung mit einem Todtschläger einen Schmerz bereiten und Ihre Herzmuskel sich dabei zusammenkrampfen.«
Das war deutlich, Bastian wollte sich für die verlorene Partie rächen und mich ärgern. Letzteres gelang ihm nun zwar nicht, allein nachdenklich hatte er mich doch gestimmt. Im Duell sollte dieser Mann einen Freund erschossen haben? Warum? Aus Eifersucht; wenn sich junge Männer zu einem solchen Kampfe gegenseitig reizen, pflegt immer ein Weib die Ursache zu sein. Und dies Weib wohnte neben mir, Thür an Thür. Hatte sie den Mörder oder den Ermordeten begünstigt? Aengstigte sie das Gespenst des Todten oder das Auftreten des Lebendigen? Es war thöricht, aber ich vermochte den Gedanken nicht abzuweisen, daß mich von Anfang an das Unbewußte, der Instinkt oder der Dämon, vor dieser Bekanntschaft gewarnt. Die Unruhe, in die mich der Schlag der Uhr gestürzt, war nur der Ausdruck dieser scheinbar grund- und gegenstandslosen Stimmung gewesen.
... Wozu dies gewaltsame Erwecken heftiger und schmerzlicher Gefühle, welche die Zeit allmählich in einen dumpfen Halbschlummer gewiegt hatte? Wem erzähle ich eine Geschichte, die vermuthlich nur mir bedeutsam und räthselhaft erscheint – mir selber! Als ob ich nicht genug daran hätte, sie erlebt und erlitten zu haben, sondern sie schwarz auf weiß mit mir herumtragen müßte, um sie nicht zu vergessen. Warum wühle ich in dem Staube des vergangenen Jahres, in dem Haufen welker Blätter? In der Hoffnung, doch noch eine Perle darin zu finden? Ich weiß wohl, welche Empfindung mir nach langem Zögern die Feder in die Hand drückte – ein seltsam verschlungenes Schicksal hatte sich auf meine Brust gewälzt und lastete darauf, als wäre ich der erste Schuldige; es trieb mich an, niederzuschreiben, wie Alles gekommen, meine Unschuld und die Verwickelungen des Zufalls vor mir selbst klar darzulegen. Allein zu diesem ersten Drange gesellte sich bald eine andere Regung. Ich fand eine eigene Freude daran, halberloschene Bilder in ihrem ursprünglichen Farbenton wiederherzustellen, mein Ich im Spiegel zu betrachten; zuweilen war es mir, als hätte ich sie noch nicht ganz verloren, wenn ich von ihr erzählen konnte, als schwebte etwas wie ein Schatten um mich, der dem Schatten ihrer Gestalt gliche, als würde durch meine Schreiberei die Verbindung zwischen uns, wenn auch nur durch den dünnsten Faden, erhalten – genug, die Lust überwog die Unlust. So verwandelt sich unmerklich die Gewohnheit des Elends in einen erträglichen Zustand. Ob der Bettler, der plötzlich seiner Noth entrückt wird, sich nicht manchmal nach seinem Betteln zurücksehnt? –
Als ich am andern Morgen meinen ärztlichen Besuch bei meiner Nachbarin machte, wurde ich schon wie der erwartete und gern gesehene Hausfreund empfangen. Die eigenthümlichen Umstände, unter denen wir einander näher getreten, hatten schnell eine Art Vertraulichkeit erzeugt, die im gewöhnlichen Verlauf des Verkehrs wahrscheinlich niemals oder nur in langer Zeit, nach mancherlei Erfahrungen und Prüfungen sich zwischen uns gebildet hätte. Mein Alter, mein Stand, die fest und streng geregelten Formen meines Lebens, die sie im Nebeneinanderwohnen leicht erkundet, flößten ihr Vertrauen ein und gaben ihr zugleich eine Sicherheit, deren sie einem jüngeren Manne gegenüber entbehrt haben würde. Was ihr körperliches Leiden betraf, so war es im Schwinden; sie fühlte sich stark genug, an einem der nächsten Tage wieder aufzutreten. Meine Einwände wies sie zurück: »Die Erregung von der Bühne her ist die stärkste, die es giebt,« behauptete sie, »das Lampenlicht, der Souffleurkasten, der Anblick der Zuschauermenge, die Furcht, ausgelacht und verhöhnt zu werden, bändigen alle anderen Leidenschaften; vor dem einen Gefühl, gut vor dem Publikum zu bestehen, treten Liebe und Eifersucht, Zorn und Haß zurück. Das ist Beelzebub, der die kleinen Teufel zum Schweigen bringt.«
»Vortrefflich,« sagte ich dagegen, »wenn nur nicht aus dem Zuschauerraume Gesichter blicken könnten –«
»Sein Gesicht, das unheimliche,« unterbrach sie mich. »Freilich, er ist im Stande, in einer Prosceniumsloge Platz zu nehmen und mich mit seinen Blicken unablässig zu verfolgen. Ich habe auch daran gedacht und hin und her gesonnen. Aber was hilft's? Einmal muß ich doch wieder auf der Bühne erscheinen und, wenn es mein Unstern will, wird von allen Gesichtern seines mir zuerst entgegenstarren, ob ich morgen oder nach vierzehn Tagen den Schritt wage. Wer draußen steht, Herr Doctor, malt sich die Sache auch ärger und gefährlicher aus, als sie ist.«
»Nun, vielleicht ist Herr von Lüttow auch so ritterlich, Ihnen die Aufregung eines solchen Wiedersehens zu ersparen.«
Mit einem unbeschreiblichen Blick betrachtete sie mich, so von der Seite, halb erstaunt, halb mitleidig über meine Harmlosigkeit. »Ist es denn wahr,« fragte sie lächelnd, »daß die Gelehrsamkeit vor der Raserei der Liebe schützt?«
Es war lächerlich, daß ich alter Narr darüber erröthete.
»Herr von Lüttow würde mich am liebsten erwürgen, wie Othello Desdemona. Ich weiß nicht, was an oder in mir es ihm angethan hat, aber mein Anblick hat ihn mit einer wilden und unbändigen Leidenschaft erfüllt. Er ist hinter mir her, wie der wilde Jäger hinter dem fliehenden Reh. Nichts hält ihn auf; meine Gleichgiltigkeit zuerst, dann meine Abneigung, die seine beständigen Nachstellungen, seine Anträge in mir hervorgerufen, der Widerspruch seiner Verwandten, denn er wollte mich heiraten – Alles bestärkt ihn in seiner Tollheit. Daß ich die Auftritte, die Sorgen, die Unruhe, die Thränen vergessen könnte, die er mich schon gekostet hat! Ich schöpfte Athem, als ihn eine unselige That –«
Sie hielt plötzlich inne und bedeckte ihr Antlitz mit den Händen.
»Ich habe davon gehört, daß er eines Zweikampfes wegen eine längere Festungshaft zu verbüßen hatte,« sagte ich, um uns Beiden über das peinliche Schweigen hinwegzuhelfen.
»Unschuldiges Blut hat er vergossen, seinen Freund getödtet, als gälte es ein Hinderniß aus dem Wege zu meinem Herzen zu räumen!« seufzte sie. »Es ist eine entsetzliche Erinnerung, denn mich nennt er die Ursache der Unthat, als hätte ich ihm und nicht seine Eifersucht die Pistole in die Hand gedrückt. Mich ängstigen die Träume, die ihm den Schlaf rauben sollten.«
Hier weiter vorzudringen, war nicht gut, ich wandte meine ganze Rednergabe auf, wieder aus diesen Untiefen auf festeren Boden zu gelangen. Ich schlug ihr vor, eine Ausfahrt zu machen – eben fuhr mein Wagen vor das Haus, und ich bat sie, denselben zu benutzen.
»Wenn ich Sie dadurch nicht in Ihren Geschäften störe –«
»Keineswegs, ich steige bei dem Hause des Grafen Waldheim aus, es liegt auf dem Wege nach dem Park.«
Wir saßen keine zehn Minuten lang neben einander im Wagen, und doch reichten sie hin, meine Gedanken in toller Jagd dahinstürmen zu lassen. Als hätte es sich um ein ganz besonderes Ereigniß gehandelt! Zum Glück forderte der Zustand des kranken Grafen meine ganze Kaltblütigkeit und meinen Scharfsinn heraus; noch war der Arzt stärker in mir als der Narr.
Wer am dritten Tage danach, als sie zum ersten Male wieder die Bühne betrat, nicht im Theater fehlte, war ich. Schon aus Pflicht hätte ich nicht wegbleiben dürfen. Irgend ein Zufall konnte ihr zustoßen, bei dem ihr meine Hilfe vielleicht von Nutzen und Werth war. Dicht an der Bühne, in einer der unteren Logen, hatte ich einen Sitz genommen. Weil mir all' diese Verhältnisse und Dinge so ungewohnt waren, lebte ich in der Erwartung eines tragischen Abenteuers. Darum ärgerte ich mich anfangs, als ich einen Bekannten in der Loge traf, mit seiner Frau, die gleich ein endloses Gespräch mit mir begann, während ich mich am liebsten in den dunkelsten Winkel zurückgezogen hätte, um ungestört beobachten zu können. Nachher aber erwies sich der Zufall doch als ein glücklicher. Der Vorhang war eben in die Höhe gegangen, da trat der unheimliche Mensch in die mir gegenüberliegende Loge des ersten Ranges; unsere Blicke, der seine von oben herab, der meine von unten herauf, begegneten sich durch die Operngläser. Nicht einmal, zehnmal sagte ich es mir, daß mein Urtheil über ihn durch Bastian's und Elsa's Mittheilungen eine Trübung erfahren, und daß ich ihn nur wie durch einen grauen Schleier sähe – es half nichts, er kam mir wie ein Mörder vor, wie einer, von dem man immer eine Gewaltthat zu befürchten hat, dem gegenüber man sich beständig in der Nothwehr befindet. Errieth er meine Gedanken? War es ihm unbehaglich, daß ich seine Vergangenheit kannte? Meine Anwesenheit im Theater, unser Gegenüber ärgerte ihn und schien ihn außer Fassung zu bringen. Wenigstens schenkte er der Bühne und dem Spiel der Schauspieler nur je zuweilen seine Aufmerksamkeit; kaum daß er sein Glas eine Minute lang auf Elsa richtete, als sie, von dem Beifall ihrer Verehrer begrüßt, aus der Coulisse trat. Und so verhielt er sich während des ganzen Abends still, gleichgiltig gegen Alles, was auf den Brettern vorging, nur unsere Loge ließ er nicht aus den Augen. Die Gattin meines Bekannten, neben der ich saß, ist eine schöne Frau, nicht mehr in der ersten Blüte, aber eine rechte Abendschönheit, die sich mit dem feinsten Geschmack zu kleiden versteht und, wo sie sich zeigt, bald der Gegenstand bewundernder Aufmerksamkeit wird. Natürlich entging ihr der eigenthümlich geschnittene Kopf nicht, dessen Augen unablässig hinüber starrten; sie – und wahrscheinlich Alle, die darauf achten mochten – legten sich dies Anschauen zu Gunsten ihrer Schönheit aus. – »Ein merkwürdiger Mensch da drüben,« sagte sie in einer Pause zu mir, »der dort mit dem rothen Bart und der Adlernase. Offenbar ein Fremder, ich sehe ihn zum ersten Male im Theater. Was er nur an uns findet?«
»Er hat etwas von einem Byron'schen Helden, Conrad der Corsar –«
»Oder wohl gar Montechristo! Liebster Doctor, das ist altmodisch. Mir kommt er wie einer unserer neuesten adeligen Gründer vor. Wenn er einen vornehmen Namen trägt, könnte er glänzende Geschäfte machen.«
»Im Ernst?«
»Sehen Sie ihn nur genauer an, der wird nicht allein den Frauen, sondern auch den Männern gefährlich.«
Im anderen Sinne, als sie es meinte, war die Bemerkung nur allzu richtig. Also hatte ich mich doch nicht ganz getäuscht, etwas Dämonisches oder Magnetisches war um diesen Herrn von Lüttow. Blutgeruch, würde mich Bastian unterbrochen haben, wenn er die dumpfe Sprache meines Innern hätte vernehmen können, gar keine Schwebelei und Mystik, sondern ein realer Todtschlag. Im Uebrigen ging die Vorstellung ohne jede Störung vorüber; ich glaube nicht einmal, daß Elsa ihren schrecklichen Liebhaber erblickte: in ihrem Spiel wurde weder eine Spur ihres Leidens noch irgend einer Angst oder Sorge sichtbar. Beruhigten Gemüths verließ ich das Theater; es war mir sogar nicht unangenehm, daß er mich draußen unter dem Portal erwartete. Ich hatte eine solche Begegnung vermuthet, und es dünkte mich das geringere Uebel, daß ich mit ihm zusammengerieth, als daß er Elsa aufs Neue erschreckte. Gerade unter einer Laterne standen wir uns gegenüber, unsere Gesichter hell beleuchtet.
»Mein Herr Medicinalrath,« sagte er nach höflichem Gruß halblaut, zwischen Zischen und Knirschen, wie einer, der mit Spott und Wut kämpft, »nicht das Alter noch die Wissenschaft schützen vor gewissen Thorheiten, vielleicht thut es die Erkenntniß der Gefahr, die zuweilen mit Narrenstreichen verbunden ist. Nichts für ungut darum, wenn der jüngere Mann den älteren warnt. Verbrennen Sie sich nicht an diesem Feuer, es kostet mehr als die Finger.« Nun aber schäumte doch der Zorn über das Wehr scheinbar kühler Ironie: »Dies Weib gehört mir,« brach er mit bebender Stimme aus, die in ihrem Flüsterton noch unheimlicher klang, »mir allein, Niemand darf daran rühren! Bedenken Sie's wohl!«
Und fort war er, in dem Gedränge der Menschen, der heran- und hinwegfahrenden Wagen, in der Dunkelheit der Straße entschwunden – er mochte gefürchtet haben, bei meiner Antwort seiner selbst nicht mehr Herr zu bleiben, und hatte die Entfernung einem ärgerlichen Auftritte vorgezogen.
Ich hatte Muße vollauf, über den Vorfall während der Fahrt nach meiner Wohnung nachzudenken. Ein wunderlicher Kauz, wenn nicht gar ein wahnsinniger. Die Festungshaft hatte in keiner Weise seine Eifersucht abgekühlt. Neu war mir nur die Beobachtung, daß sich die Wut nicht gegen Elsa richtete. Wenn es sich um ein Liebesabenteuer handelte, konnte ich ihm schwerlich bei seiner Schönen hinderlich werden, selbst mit meinem besten Willen nicht, und wenn ihn die Schöne zurückwies, was half es ihm, daß er mich gewaltsam von ihr entfernte? Freilich, wer wird bei einem Verliebten nach Verstandesgründen suchen? Der Trieb stößt den Bewußtlosen vorwärts; ein Priester hat einmal in solcher Raserei alle Bewohner des Hauses getödtet, in dem sich die Person, die er liebte, aufhielt. Das ist keine angenehme Aussicht für die Arme, die eine solche Leidenschaft entzündet hat; sehr begreiflich, daß dieser Herr von Lüttow bei meiner Nachbarin mit seiner Werbung kein Glück gehabt hat. Um so mehr war es die Pflicht eines Mannes, eines Arztes, sie zu beschützen. Ihm gehörte sie? Nach welchem Rechte? Sie war doch weder seine Sklavin noch seine Frau. Und wie die Dinge lagen, konnte er nicht einmal die Gewalt des Stärkeren geltend machen. Ihm gehörte sie? Oder hatten die Worte einen verborgenen Sinn? Gleichviel – ihr Widerstand war hier das einzig Entscheidende, und ich that recht, sie darin zu bestärken und vor seinen Nachstellungen zu schirmen. So scharf ich auch Einblick in meine Empfindungen hielt, ich konnte keinen selbstsüchtigen Beweggrund meines Handelns entdecken; was mich bestimmte, war das Mitleid, höchstens empfing es von dem Zauber, den Elsa's Stimme auf mich ausübte, eine wärmere Färbung.
An jenem Abend und noch in den nächsten Tagen hätte ich für die ungetrübte Reinheit meines Gefühls einstehen wollen, es war kein unlauterer Zusatz darin. Aber wie lange kann die Empfindung des Mitleids einem schönen Mädchen gegenüber sich frei von Wünschen und Hoffnungen bewahren? Zuerst stellte sich das Verlangen ein, über die Freundschaft hinaus ein vollgiltiges, von Allen anerkanntes Recht zu Elsa's Schutze zu haben. Denn verhielt sich auch Lüttow, im Widerspruch zu seinem ersten Auftreten, ruhig, an vielen Zeichen war zu erkennen, daß er uns beobachtete. Nicht allein, daß er jeder Vorstellung Elsa's beiwohnte: auf der Promenade begegnete er ihr; fuhr sie aus, erschien er zu Pferde und ritt in gemessener Entfernung neben oder hinter ihrem Wagen einher. Er versagte es sich, sie anzureden, er grüßte nur: allein dieser Gruß war hinreichend, um die Arme zu beunruhigen. Was du auch thust, schien er zu sagen, ich weiß darum, ich bin da. Es giebt nichts Peinlicheres, als unter dem Zwang einer geheimen Aufsicht zu stehen, die man kennt, von der man sich nicht zu befreien vermag, und über deren Dasein man immer von neuem erschrickt. Der einmal nervös erregten Elsa schien Lüttow allgegenwärtig zu sein; wenig half es, daß ich ihr vorstellte, wie alle diese Begegnungen zufälliger Art sein könnten, daß vielleicht in dem Zusammenhang der Dinge gerade ihre Furcht, mit ihm zusammenzutreffen, ihn herbeiriefe. Die Ahnung der Unfreiheit peinigte sie mehr, als irgend eine Besorgniß vor einer gewaltthätigen Handlung des seltsamen Menschen. Auf den Brettern, in der Bewegung und Hast des Spieles, inmitten ihrer Kameraden war sie unbekümmerter und gelassener; »bin ich aber allein in meinem Zimmer, mit meinen Gedanken, ergreift mich die Angst,« gestand sie mir. »Plötzlich, wenn ich lese oder eine Rolle lerne, glaube ich die Thür sich öffnen, die Vorhänge sich auseinanderschieben zu hören – eine Weile wage ich nicht aufzublicken, der Schrei des Schreckens bleibt mir in der Kehle stecken, bis der Schauer vorüber ist.«
Es war an einem ihrer freien Abende, und sie hatte mich bitten lassen, eine Tasse Thee bei ihr zu trinken. Sie ging selten in Gesellschaften, sei es, weil sie eifrig studierte oder ihre angegriffene Gesundheit schonen wollte; Wenige kamen zu ihr – die Collegen, ein und ein anderer junger Poet, einige Damen. Bei ihrer Jugend mußte ihr da wohl zuweilen die Einsamkeit lästig fallen und auf ihre Phantasie einen nicht günstigen Einfluß ausüben. Nichts war darum natürlicher, als daß sie bei mir Unterhaltung und Zerstreuung suchte. Ich war eine neue Bekanntschaft, aus einem anderen Lebenskreise, überdies eine ungefährliche. – Also wir saßen zusammen, das Zimmer war hell erleuchtet, sie liebte viel Licht; draußen fegte der Herbstwind durch die stille Straße und trieb den Regen in bestimmten Zeiträumen klatschend gegen die Fensterscheiben.
»Aber wie hat sich nur diese unglückselige Verbindung angeknüpft?« fragte ich im Laufe des Gespräches. »Nicht, daß ich mich in Ihr Leben eindrängen will, aber man löst den Knoten leichter, wenn man weiß, wie er sich schürzte.«
»Warum sollten Sie es nicht wissen, mein verehrter Freund,« entgegnete sie. »Giebt es doch nichts, was ich zu verbergen hätte. Ohne den Charakter des Herrn von Lüttow wäre es die einfachste Geschichte, die jeder Schauspielerin passirt. Vor zwei Jahren spielte ich in Königsberg. Ich gefiel meinem Direktor und einem Teil des Publikums, aber es gab auch eine starke Partei, die mir nicht wohl wollte. Ich, die Anfängerin, hatte die Kühnheit, eine erfahrene Künstlerin aus ihrem Rollenfache zu verdrängen – einzig, weil ich jünger und hübscher war. Ach! Sie haben nie erfahren, was Theaterneid und Theatereifersucht bedeuten. So oft ich mit meiner Nebenbuhlerin spielte, hatte sie den Beifall und die Kränze; meine Freunde wurden von ihren Anhängern überstimmt. Sie war seit Jahren in der Stadt ansässig, mit vielen Familien bekannt; ich kam aus einer anderen Provinz, aus anderen Lebensgewohnheiten und hatte zunächst keinen Umgang und keine Stütze als bei einigen meiner Genossen. So verdrießlich und peinlich waren diese Verhältnisse, so viel Thränen hatte ich schon darüber vergossen, daß ich den Beschluß gefaßt, meinen Kontrakt zu lösen und auf einer anderen Bühne mein Heil zu versuchen, als ein Abend mein Schicksal änderte. Damals hielt ich es für eine Wendung zum Glück! Was sind wir doch für kurzsichtige Eintagsgeschöpfe mit unendlichen Plänen und Hoffnungen! Emilia Galotti wurde aufgeführt, ich war die unglückliche Emilia. Man hatte mir gesagt, daß meine Gegnerin gerade in dieser Rolle ein Meisterstück geleistet hätte, daß es thöricht und übermütig von mir wäre, gerade hier den Kampf mit ihr aufzunehmen – ich wußte im Voraus, daß mir an diesem Abend nichts gelingen würde. Das Haus war dichtgedrängt voll von Zuschauern; mich dünkte es, als wären die meisten aus boshafter Absicht gekommen, meinen Fall mit anzusehen. Den Schrecken Emiliens, bei ihrem Auftreten, hat vielleicht nie eine Schauspielerin natürlicher dargestellt als ich, nur floh ich den Feind nicht, sondern mußte ihm entgegengehen. Ein Zischen empfing mich, das nur mühsam zur Ruhe gebracht wurde, die Versammlung war aufgeregt; als ich mich nach einer tödtlichen Viertelstunde endlich zum Abgehen wandte, das Schlimmste erwartend, erhob sich ein lauter Beifall, ein anhaltendes Händeklatschen, in dem das Gezisch verhallte, ich wurde hervorgerufen – ein-, zweimal, mit thränenfeuchten Augen blickte ich umher. In einer der vordersten Logen, hart an der Bühne, saßen mehrere Offiziere der Garnison: einer war aufgestanden und klatschte wie toll, es war Herr von Lüttow. Es war natürlich, daß ich bei meinem Auftritt im anderen Akte dankbar nach meinem Ritter hinüberschaute. Wie eine Erinnerung dämmerte es in mir auf, daß ich ihn schon einmal gesehen hätte – es war eine schmerzliche Erinnerung. In der Leidenschaft des Spieles bekümmerte ich mich nicht um das unangenehme Gefühl, aber um so stärker kehrte es mir zurück, als ich in einer schlaflosen Nacht die Ereignisse des Abends überdachte. Wohl war ich stolz und glücklich über meinen Erfolg, er hatte nicht nur über meine Stellung an diesem Theater, sondern überhaupt über meine künstlerische Laufbahn entschieden. Manche Zweifel, die in mir aufgestiegen waren, hatte der Beifall verstummen lassen. Sie würden mich auslachen, verehrter Freund, wenn ich Ihnen meine damaligen ehrgeizigen Gedanken beichten wollte, da so wenig von ihnen in Erfüllung gegangen ist. In meine Freude mischte sich indeß ein Tropfen Wermut; es verdroß und ängstigte mich, daß Herr von Lüttow einen so großen Anteil an meinem Triumphe gehabt hatte. Nicht, daß ich jemand zu Dank verpflichtet war – daß ich es ihm war, beunruhigte mich. War es schon eine Ahnung von dem Unheil, das er mir bereiten würde, die sich in mir regte? Ich suchte mir damals jene Empfindung aus einer Art von Scham zu erklären. Vor zwei Jahren hatte mich Herr von Lüttow unter anderen, unter glänzenderen Verhältnissen kennen gelernt. Es war in einem Badeort gewesen, mein Vater lebte noch. Ich galt für eine reiche Erbin und gab in meinem Kreise den Ton an. Es ist bitter, dann als arme Schauspielerin einem früheren Verehrer zu begegnen; Sie müßten ein Weib sein, um mich ganz zu verstehen, lieber Doctor – ein Weib, das plötzlich einem Manne Dankbarkeit schuldet, dessen Huldigung sie bisher übermütig zurückgewiesen hat, das von den Höhen des Reichthums in die Unsicherheit eines zweideutigen Standes hinabgestürzt, dem vornehmen Manne gegenübersteht. Daß mir gerade das Künstlerthum einen romantischen Zauber in seinen Augen geben könnte, fiel mir nicht ein. Ich fand mich durch das Unglück meines Vaters in meinen Augen gedemütigt, ich fürchtete mich vor der Erzählung unseres Sturzes, vor dem Aufreißen kaum vernarbter Wunden. So mischte sich von vornherein in mein Verhältniß zu Herrn von Lüttow ein Element der Pein und des Unbehagens, das zu verbannen vermutlich selbst der zärtlichsten Liebe schwer geworden wäre.«
Erst nach einer Pause, in der sie still vor sich hin auf den Teppich geblickt hatte, fuhr sie fort: »Und ich liebte ihn nicht. Nein,« wiederholte sie mit Heftigkeit, als ob ich oder eine geheime Stimme ihres Herzens ihr widersprochen hätte, »ich liebte ihn nicht. Seine Gegenwart drückte mich, seine Blicke, die mich unablässig verfolgten, schüchterten mich ein. Mir fiel immer der Jäger ein, der auf dem Anstand das arglose Thier erwartet, bis es ihm in den Schuß kommt. Nun bin ich freilich nicht ohne Schuld, ich hätte auch als Schauspielerin ihm gegenüber die Rolle weiter spielen sollen, die ich als Weltdame gegen ihn angenommen. Mein Herz hatte sich in den zwei Jahren nicht zu seinen Gunsten gewandelt, aber ich hatte meinen Trotz, meinen Uebermut verloren. Arm geboren, in den Entbehrungen der Not, in den Kämpfen um das armselige Leben groß geworden sein, mag den Charakter stählen und dem Menschen durch Willenskraft ersetzen, was es ihm an anmutigen Formen raubt. Aber durch einen einzigen Wetterschlag aus der Sorglosigkeit des Wohlstandes auf das Schlachtfeld des Daseins geworfen werden, der Armut ins hohle Antlitz sehen, Entbehrungen erleiden und Forderungen sich fügen müssen, vor denen wir in unserem Glücke zurückgeschauert wären, wie vor der Berührung des Todes – das kann wohl den Mut auch des Stärksten herabstimmen. Und ich war ein Mädchen; froh genug, daß ich mich so weit emporgekämpft, ohne den Stolz der Seele eigenwillig ganz zerbrochen, ohne ihn ganz durch das Verhängniß verloren zu haben! Wie hätte ich die Hand eines Freundes in meiner Lage zurückstoßen können? Auch vermied er in der ersten Zeit nach der Wiederanknüpfung unserer Bekanntschaft jede heftigere Annäherung und jede Anspielung auf die Vergangenheit, die mich hätte verletzen können. Er war voll ritterlicher Zurückhaltung und schien die schiefe Stellung, in die ich durch das Unglück zu ihm gerathen war, achten zu wollen. Wäre ich ein Theaterkind oder eine echte Schauspielerin gewesen, die nicht nur auf der Bühne Komödie spielt, sondern unwillkürlich und unbewußt ihr ganzes Leben zu einer Reihe von Komödienscenen ausbildet, wie leicht, wie angenehm hätte sich mein Verhältniß zu Lüttow gestaltet. Er war ganz der glänzende Kavalier, mit dem eine Schauspielerin gern eine Weile ein Liebesabenteuer hat. Ich aber hatte wohl aus dem Drange der Not und in einem dunklen Triebe die Bühne betreten, doch Schauspielerblut hatte ich nicht in den Adern. Noch immer betrachtete ich die Welt mit den Augen eines gebildeten, sittsam erzogenen Mädchens, einer jungen Dame der besten Gesellschaft – damals noch mehr wie heute, mein verehrter Freund, muß ich leider hinzusetzen. Meine Colleginnen beneideten mir die Eroberung des reichen Offiziers; sie begriffen nicht, daß ich nicht mit beiden Händen zugriff oder ihn nicht, wenn ich nun einmal einen unbesieglichen physischen Widerwillen gegen ihn empfände, entschlossen von mir entfernte. Der ersten Entscheidung widersprachen mein Herz und meine Lebensanschauung, zu der anderen fehlte mir der Muth. Denn inzwischen hatte sich Lüttows Benehmen gegen mich in einer Weise geändert, die mir die lebhaftesten Besorgnisse einflößte. Er war zudringlich und herausfordernd geworden, seine Huldigung äußerte sich in so auffälligen Zeichen, daß bald die ganze Stadt von seiner Leidenschaft sprach. Diese Ständchen, diese Blumen, diese Geschenke trieben mir die Schamröthe in die Wangen und brachten mich außer Fassung. Es half nichts, daß ich sie ihm verbot, daß ich ihm drohte, jede Beziehung zu ihm abzubrechen: er lachte darüber. Ich sei eben eine Festung, die regelrecht belagert und bestürmt werden wolle, das sei ihm neu und unterhalte ihn, behauptete er. Wie lange sich der kleine Krieg zwischen uns hätte hinziehen können? Ich weiß es nicht; die spöttischen Reden seiner Kameraden über die Nutzlosigkeit seiner Bemühungen erregten schließlich einen so großen Zorn in ihm, daß er ein Ende zu machen beschloß. Ich hatte einige leidenschaftliche Auftritte zu erdulden, aber ich beugte mich nicht. Seiner Verfolgungen und Liebeserklärungen müde, schloß ich ihm meine Thür und forderte von meinem Direktor meine Entlassung. Es war mir nicht möglich, mit diesem Wilden in derselben Stadt zu wohnen. Nun legte er sich auf das Bitten und Schmeicheln; einsehend, daß ich niemals seine Geliebte werden würde, bot er mir seine Hand an. So groß war seine Leidenschaft, oder seine Eitelkeit so blind, daß er meine Abneigung gegen seine Person nicht für möglich hielt und meinen Widerstand einzig aus moralischen Gründen erklärte. In denkbar maßvollster Weise antwortete ich ihm; nachdem ich ihm die Hindernisse auseinandergesetzt, die sich seiner Verbindung mit mir widersetzten, deutete ich leise die Verschiedenheit unserer Charaktere an, die auch innerlich eine dauernde glückliche Verbindung zwischen uns ausschlösse, und bat ihn, nicht ferner meine Ruhe zu stören und mich ziehen zu lassen. Große Hoffnungen hegte ich freilich nicht von meiner Vernunftpredigt, aber ich war doch weit entfernt, den leidenschaftlichen Ausbruch zu ahnen, den sie hervorbrachte. Mit zweien seiner Freunde erschien er plötzlich in meiner Wohnung und erklärte mir vor ihnen, als seinen Ehrenzeugen, daß er mich heiraten wolle, ich müsse einwilligen. Nur mit Mühe konnten die Herren den Tobenden beschwichtigen. In meiner Herzensangst, eben so sehr um ihn wie um mich besorgt, that ich jetzt einen Schritt, der die Qual und der beständige Stachel meines Lebens geworden ist – er hat den Tod eines Unschuldigen verursacht.«
»Sie Aermste!« suchte ich zu trösten. Ich empfand in diesem Augenblick, wie ich sie so aufgeregt von den schmerzlichsten Erinnerungen sah, einen tödtlichen Haß gegen diesen Lüttow und wünschte mir Riesenkräfte, ihn zu bändigen.
»Ich schrieb,« nahm Elsa ihre Erzählung wieder auf, »einen Brief an einen der Herren, die Zeugen jenes Auftrittes gewesen waren, einen Jugendfreund Lüttows und seiner ganzen Familie, und ersuchte ihn, mir eine Unterredung mit der Schwester Lüttows zu vermitteln, die einen großen Einfluß auf ihn ausübte und in der Nähe der Stadt mit einem Gutsbesitzer verheiratet war. Herr von Sternberg kannte mein ganzes Verhältniß zu seinem Freunde; ich hatte ihm gestanden, daß ich Lüttow nicht lieben könnte – ich rief ihm in dem unglückseligen Briefe Alles, was zwischen uns verhandelt worden war, ins Gedächtniß zurück: so wie er mich kennen gelernt, möchte er mich der edlen Frau, deren Schutz ich anflehte, schildern. War es ein tückischer Zufall, war es eine Unvorsichtigkeit Sternbergs – Lüttow erhielt Kunde von diesem Briefe; um sich zu rechtfertigen, übergab ihm Sternberg meine Zeilen – die Folge war ein Duell. Lüttow glaubte sich von dem Freunde verraten und betrogen; er traf ihn ins Herz. Was ich dabei gelitten, erlassen Sie mir Ihnen zu sagen. Mein Aufenthalt in der unseligen Stadt dauerte zum Glück nicht lange mehr. Von Lüttows Verfolgungen war ich befreit, er saß auf der Festung, aber unablässig verfolgte mich das Bild des unschuldig Gemordeten. Noch jetzt sehe ich es vor mir, die treuen, guten Augen vorwurfsvoll auf mich gerichtet – nie wird es mich zur Ruhe kommen lassen.«
Neunmal – hart und scharf schlug im Nebenzimmer die abscheuliche Uhr. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte bitterste Thränen.
An dem Abend sprachen wir noch lange über die Launen des Schicksals, über das dämonisch Unerklärliche der Leidenschaft in kühler Verständigkeit und kamen darin überein, daß es für die Heiterkeit und Ruhe des Daseins am besten sei, sich früh bescheiden zu lernen. Da selbst die Befriedigung der Leidenschaft wohl entzücke, aber nicht beruhige und nur Unlust und Ermüdung zurücklasse, wozu diese Qual? Ob es aber überhaupt dem Menschen möglich sei, sein Herz zu bändigen? fragte sie dazwischen. Ob der dunkle Trieb nicht stärker sei, als der bewußte Wille, und sogar denjenigen fortrisse, der in lichten Augenblicken das Gefährliche und Selbstmörderische eines überwältigenden Dranges der Liebe oder des Ehrgeizes erkenne? Ich war nahe daran, ihr eine Geschichte aus meinen jungen Jahren zu erzählen, in der sich, wie ich wenigstens glaube, meine Entsagungsfähigkeit der Versuchung gegenüber heroisch bewährt hatte – aber eine innere Stimme sprach dawider, mit meinen fünfzig Jahren erschien es mir beinahe geckenhaft, von einem sentimentalen Liebesabenteuer zu sprechen. Noch dazu einer Schauspielerin gegenüber! Auch war es über unseren philosophischen Betrachtungen spät geworden und wünschenswerth, daß jeder die Gedanken, die in ihm aufstiegen, still für sich und in sich ausklingen ließe.
An der Wahrheit der Geschichte Elsa's gab es in keinem Punkte einen Zweifel; vielleicht, sagte mein Argwohn, ist sie nicht immer in ihrem Benehmen vorsichtig genug gewesen und hat Erwartungen erweckt, deren Nichterfüllung den hitzköpfigen Lüttow eine Beleidigung zu sein dünkte. Das ist aber auch Alles, ohne Schuld ist sie dem Verhängniß verfallen. Dennoch war es nicht dieser Teil ihrer Erzählung, der mich am meisten beschäftigte; ihr Vorleben, ehe sie die Bühne betreten hatte, die halb verlorenen Andeutungen, die sie darüber gemacht, nicht, wie ich es wohl gemerkt, ohne sich einen gewissen Zwang anzuthun, der schmerzliche Rückblick auf eine schönere Vergangenheit zogen meine Gedanken wie magnetisch an und verlockten meine Phantasie in den Irrgarten der Möglichkeiten. Dazu gesellte sich eine Art selbstgefälligen Stolzes über meine Menschenkenntniß; hatte ich doch gleich an dem ersten Abend, wo ich sie spielen gesehen, die Vermutung gehabt, daß sie ursprünglich einem anderen Lebenskreise als dem des Theaters angehört habe. Allein was gingen mich die Verhältnisse meiner Nachbarin an? Was hatte ich dieselben bis zu ihren tiefsten und geheimsten Wurzeln zu verfolgen? Wollte ich sie wieder von der Bühne entführen? Sie ihrem früheren Dasein zurückgeben? Gewiß, das wäre ein Weg gewesen, der sie für immer von Lüttow getrennt hätte. Zwischen einem unternehmenden Manne und einer Schauspielerin ist die Hälfte der Schranken gefallen, die sonst in der gebildeten Gesellschaft die beiden Geschlechter trennen. Aber ihre Eltern waren todt, ich kannte nicht einmal ihre Namen. Hatte sie noch Verwandte? Wußten, wollten sie noch etwas von der Schauspielerin wissen? Und dann erschien auf dem Hintergrund all dieser Hypothesen, sie alle vernichtend, ein ernstes, finsteres Antlitz: die Not. War es möglich, ihr durch einen Zauberspruch die eingebüßten Glücksgüter wieder zu verschaffen, sie wieder von dem Schlachtfeld des Daseins in die idyllische Behaglichkeit des Reichtums zu versetzen? Wenn sie einen reichen Mann heiratete – ja, wohin verlor ich mich? Hatte ich für sie zu sorgen und in die Wahl ihres Herzens ein Wort mit darein zu reden, als Oheim, als Bruder, als Vater? Mitleid sollen wir mit allen Geschöpfen haben – und wohin hatte mich das Mitleid für Elsa schon geführt, wohin drohte es mich noch zu führen! Ja, wenn sie dich lieben könnte – noch hatte ich Kraft und verständige Ueberlegung genug, um diesen Einfall blitzschnell, wie er in mir aufgetaucht war, auch wieder zu verbannen.
Eine Weile war ich der Schönen und meinem eigenen Herzen gegenüber auf der Hut und glaubte, daß Alles zwischen uns in dem gewohnten Geleise bleiben würde. Der Unterschied des Alters, der Widerspruch der Stellung und der Lebensaufgabe, die Verschiedenheit des Empfindens machten sich oft so scharf und einschneidend geltend, daß ich in eine trügerische Ruhe gewiegt und über die Natur meines Gefühls getäuscht wurde. Wie es mit ihr in dieser Hinsicht stand, war für meinen geringen Scharfsinn nicht zu entdecken. Der Verkehr mit mir unterhielt sie und regte sie angenehm an. Eine Fülle von Dingen, die sie mit ihren Kameraden nicht besprechen konnte, ihre Vergangenheit, die Bildung, die sie genossen, der Drang, ihre Kenntnisse auszubreiten, wünschten sich zu offenbaren und forderten ein Ohr und ein Herz für sich. Vermutlich wäre ihr der jüngere Freund der willkommenere gewesen, aber einen gewissen Ersatz bot ihr doch auch der ältere Mann. Mit herzlichem Vertrauen, mit harmloser Heiterkeit trat sie mir entgegen, beinahe ganz streifte sie im Gespräch mit mir die Schauspielerin ab und zeigte sich als ein kluges, liebenswürdiges Mädchen, durch das Unglück geläutert und über viele Nichtigkeiten des gesellschaftlichen Treibens erhaben. Für mich hatte der Gegensatz ihres inneren und äußeren Lebens einen unbeschreiblichen Reiz. Niemals hatte das Komödiantische mich bisher anzuziehen vermocht; sorgfältig war ich einer persönlichen Bekanntschaft auch mit den berühmtesten Künstlern aus dem Wege gegangen; ich fürchtete das Unwahre in ihnen. Nun erschien mir unerwartet in Elsa eine Schauspielerin, an der das Herz wahr und nur die Maske eine Lüge war, deren echte Weiblichkeit sich halb wider Willen in eine phantastische Vermummung hatte hüllen müssen.
Wie lange die Dinge in dieser Weise ohne Entscheidung hätten fortlaufen können? Jetzt scheint es mir so, als hätte einzig der Zufall eine vorzeitige Krisis herbeigeführt, aber vielleicht war der Zufall nur der Drang und Trieb des Herzens. Auf die Dauer läßt sich ein sogenanntes Freundschaftsverhältniß zwischen einem Mann und einem Weibe, die beide keine Pflicht zurückhält und keine Neigung bindet, nicht aufrecht erhalten; der Unterschied der Jahre, der Stellungen wird mit jedem Tage im gemeinsamen Verkehr geringer; endlich tritt der entscheidende Augenblick ein, wo Beide einander in die Arme fallen oder das Eine erschrocken vor dem Anderen zurückflieht. – Wie war es nur möglich, daß wir uns dahin verirrten? Zwei ganz veränderte Gesichter starren sich an. Und was ist im Grunde geschehen? In dem Einen ist die Skala der Empfindung um ein Kleines gestiegen, und diese Steigerung hat in den Gefühlen des Anderen eine hochgradige Abkühlung erzeugt. Dies aber ist doch immer von natürlichen Gesetzen abhängig, die darum, weil uns ihre Wurzeln verborgen sind, nichts von ihrer Folgerichtigkeit und Verständlichkeit verlieren. Zwischen Elsa und mir indessen that sich etwas Unerwartetes, Seltsames auf.
In den zwei Monaten unseres Verkehrs war sie schon so vertraut mit mir geworden, daß sie kaum ein Geheimniß vor mir hatte und mir all ihren Aerger und ihr Vergnügen vor und hinter den Coulissen erzählte. Ich meinerseits versäumte beinahe keine ihrer Vorstellungen; anfangs hatte ich mich geschämt, so oft das Theater zu besuchen – ich glaubte, jeder im Saale müsse es mir ansehen, daß ich allein Elsa's wegen käme –, zuletzt nahm ich meinen bestimmten Platz mit gelassener Unbefangenheit ein. Der Reiz, sie zu sehen, war eben stärker, als der mögliche Verdruß, darüber geneckt zu werden. In Wirklichkeit achtete auch niemand sonderlich auf mich. Und wenn ich sie heiratete, dachte ich, würde es eben so wenig Anstand erregen. Ein halbes Dutzend Leute machten vielleicht ihre guten oder schlechten Witze über mich, nach vierzehn Tagen würde niemand mehr davon sprechen. Ist man einmal auf einem Abhang ins Gleiten gekommen, geht es immer schneller bergunter.
»Raten Sie, mit wem ich gestern zusammen war?« fragte sie mich eines Tages. »Sie merken mir nichts an, keine ungewöhnliche Aufregung, keinen stärkeren Herzschlag? Und dennoch – gestern in der Gesellschaft bei unserem Direktor, die ich nothgedrungen mitmachen mußte, habe ich Herrn von Lüttow getroffen.«
»Lüttow!« fuhr ich auf. Wohl hatte ich beständig an ihn gedacht, aber wie es der Zufall so fügt – in der großen Stadt waren wir uns Beide seit jenem Abend nicht wieder begegnet.
»Und nun wollen Sie wissen, wie Alles zugegangen,« sprach sie munter weiter. »Sie brennen vor Neugierde, lieber Freund. Ueber Erwarten gut und friedlich. Als ich seiner zuerst ansichtig wurde, glaubte ich in die Erde sinken zu müssen. Eine Weile glich ich einer Bildsäule, so starr und regungslos stand ich da. Es brauste mir vor den Ohren; ich war nicht im Stande, ein einziges Wort zu äußern, einen einzigen Schritt zu thun. Aber ganz gegen seine Gewohnheit verhielt sich Lüttow still und ruhig; er machte mir aus einiger Entfernung eine tiefe Verneigung und begnügte sich während des Abends ein paar gleichgiltige Worte an mich zu richten. Auch als ich ging, drängte er sich nicht an mich heran: er blieb noch in der Gesellschaft, nur seinen finstern Blick fühlte ich auf mich gerichtet, als ich das Zimmer verließ. Dieser Blick verfolgte mich, bis ich in meinem Wagen saß; erst da hatte ich das vollkommene Gefühl der Freiheit und Sicherheit, allein gegen meine Befürchtungen gehalten, war dies erste Zusammentreffen harmlos genug. Was meinen Sie, lieber Freund, sollte endlich bei Lüttow der Verstand gesiegt haben? Zeit wäre es,« setzte sie mit einem ein wenig gefallsamen Lächeln hinzu, »er und ich – wir sind längst über die Kinderjahre hinaus.«
Ich weiß nicht – etwas in ihrer Erzählung gefiel mir nicht, etwas, das nicht ausgesprochen wurde und das mir doch in den Worten zu liegen oder darüber zu schweben schien. »Herr von Lüttow geheilt?« sagte ich mit größerer Schärfe, als die Sache verdiente. »Sie können es nicht im Ernste glauben, meine Freundin. Unter so vielen auf ihn gerichteten Augen konnte er sich Ihnen wohl nicht anders als in den vorgeschriebenen Formen der Höflichkeit nähern. Nein, so leichten Kaufs werden Sie nicht von ihm befreit werden. Er Sie aufgeben, um die er so viel gelitten, um die er eine Blutschuld auf sich geladen!« Ich redete mich in einen solchen Eifer hinein, daß sie mich mit dem erstaunten Ausruf beruhigen mußte:
»Aber, lieber Doctor, ich erkenne Sie nicht wieder! Habe ich Ihren Gelehrtenstolz beleidigt, weil ich die Möglichkeit einer Heilung ausgesprochen, wo Sie schon das Todesurtheil gefällt haben? Ich bescheide mich, allein ich gestehe Ihnen aufrichtig, mir wäre es lieber, Lüttow würde ein vernünftiger Mensch und vergäße mich so völlig, wie man hienieden nur jemand vergessen kann, als daß er nach Ihrer Diagnose als Wahnsinniger vor meiner Thür sich erschösse.«
Mit einem Lächeln um ihre vollen Lippen hatte sie angefangen – nun endete sie doch wider ihren Willen mit so herben und traurigen Worten. Sie war bleich geworden und streckte die beiden Arme abwehrend weit von sich, als sähe sie das schrecklich häßliche Bild leibhaftig vor sich.
»Wie nur ein solcher Einfall in uns aufsteigt!« sagte sie dann und schüttelte sich.
»Ich bin trostlos über meine Ungeschicklichkeit,« erwiderte ich, und ich war es in der That; »vergeben Sie mir, Fräulein Themar. In dem Manne muß wohl ein Dämon stecken, daß man gleich in Verwirrung geräth, wenn man nur von ihm redet. Welcher Arzt hörte aber auch gern von seinem Kranken, daß er wieder in der Gefahr eines Rückfalls gewesen? Und so oft Sie ihm begegnen, besorge ich ein Unglück.«
»Natürlich,« meinte sie abgebrochen, »– als Arzt.« Plötzlich schaute sie mich groß an; es ging etwas in ihrer Seele vor, das nur als Wiederschein über ihr Gesicht blitzte und seinen Ausdruck erhöhte, dem sie jedoch keine Worte geben konnte oder mochte.
So blieben die drei Worte: »Natürlich, als Arzt« – in der Luft hängen – schwebende Fragezeichen, hinter einer Frage, die nur in einem Blicke – noch weniger, die nur in einem Hauche bestand. Das Gespräch wollte nicht mehr recht in Fluß kommen; Elsa's Stimme hatte einen eigenen, leise zitternden Ton – auf der Bühne sprach sie so, wenn ein Unerwartetes auf sie einstürmte, wenn sie sich mit einem plötzlichen Ereigniß, einer peinlichen Thatsache abzufinden hatte. Wie immer trennten wir uns mit freundlichem Händedruck; sie hatte eine starke, kleine Hand und eine besonders liebenswürdige Art, die des Anderen zu ergreifen – heute zum ersten Male war in ihrer Bewegung etwas Zögerndes; ihre Hand war feucht und ihre Augen wie verschleiert.
Mir selbst war nicht weniger bänglich und unheimlich. Woraus entsprang denn mein Uebereifer gegen Lüttow, woher dies Geschrei über eine Begegnung, die mir vor einigen Wochen noch ganz in dem Lichte, wie ihr selbst, erschienen wäre? Aus Eifersucht, alter Narr, aus Eifersucht! Das Netz war über mir zusammengezogen – das Netz ihres Liebreizes, ihrer Liebenswürdigkeit. Mit all meiner Klugheit saß ich gefangen. Weder die Jahre noch die Studien, weder die Erfahrungen noch die Erkenntniß von der Nichtigkeit und der Gefährlichkeit der Leidenschaft hatten mich vor dem Falle bewahrt. Und was wollte ich denn? Ihre Liebe gewinnen, sie heiraten, Lüttow den Zweiten spielen? Denn wie durfte ich Günstigeres hoffen als der jüngere, glänzendere Mann? Aber nicht diese Aussicht in die Zukunft war es, was mich zunächst bekümmerte und meinen Stolz auf das empfindlichste kränkte – ich hatte mich Elsa gegenüber verraten. Daher ihre Verwirrung, das Beben ihrer Stimme. Es war noch eine Güte ihres Herzens, daß sie mich nicht ausgelacht. Ein älterer Mann, ein Gelehrter, der einem Mädchen seine Liebe erklärt – wie lächerlich hatte ich das bisher gefunden; die Rache des Schicksals war gerecht – ich mußte mich in eine Schauspielerin verlieben. Dahin hatten mich schließlich meine Weisheit, mein Junggesellentum, meine Sicherheit, daß mir die Pfeile Amors nichts mehr anhaben könnten, geführt. Ich irrte an diesem Tage trotz des schlechten Wetters in den entlegensten Teilen des Parks umher, um von niemand gesehen zu werden. Ich fürchtete in meiner Wohnung jeden Besuch, das Gesicht des gleichgiltigsten Bekannten. Alle müßten mir meine Thorheit von der Stirn ablesen. Gegen die Flamme, die in mir lohte, half freilich das Spazierengehen unter entlaubten Bäumen, auf feuchtem Boden, in Wind und Regen ebenso wenig, wie der Vorsatz, sie unter moralischen Betrachtungen zu ersticken. Nichts war leichter, als mich auszuschelten, als mir die unwürdige Lage, in die mich die Leidenschaft gebracht hatte, die Demütigung, die mir zweifellos noch vorbehalten war, in den schwärzesten Farben auszumalen; darum hörte die Hoffnung nicht auf, mir in das Ohr zu flüstern: wenn nun aber Elsa trotz alledem deine Hand annimmt, weniger aus Liebe – so eitel wirst du doch nicht sein, an ihre Liebe zu glauben! – als aus Freundschaft; wenn sie der Bühne und dieses unruhigen, unstäten Lebens müde, eine gesicherte Stellung, ein behagliches Dasein in Kreisen, die ihrer Bildung und Schönheit angemessen sind, einer ungewissen Zukunft und den mageren Lorbeern vorziehen sollte ... So hinüber und herüber, in einem wilden Durcheinander gingen Furcht und Zuversicht. Der heldenmütige Entschluß, sie die nächsten Tage zu vermeiden und auch das Theater nicht zu besuchen, der noch heldenmütiger ausgeführt wurde, änderte weder an dem Zustande meines Herzens noch an der Lage der Dinge das Geringste. Meine Bücher dünkten mich schal, meine Untersuchungen wertlos – ich sehnte mich nach ihrem Lächeln, nach einem Wort von ihr; das ersetzte mir nicht nur den ganzen Galenus – ich empfand zu meinem Schrecken, daß es mir schon zu meinem Leben notwendig geworden, wie der Sonnenschein meinen Palmen.
Uebrigens hatte ich mit meinem Enthaltungssystem die Rechnung ohne die Wirtin gemacht; ich hatte vergessen, daß ich nicht mehr allein im Kahne saß, sondern daß ein Zweites zu mir eingestiegen war. Als ich am dritten Tage nicht zu Elsa hinübergekommen war, ließ sie fragen: ob ich krank sei, ob mir ihr Besuch nicht ungelegen? Und da war sie schon, schöner als je. Ich schützte meine Studien vor, daß ich sie nicht besucht, eine schwierige Untersuchung. Sie nickte lächelnd mit dem Kopfe, als brauche ich ihr keine weitere Entschuldigung oder Lüge zu sagen. Neugierig schaute sie sich in den vorderen Zimmern um.
»Ich hatte mir die Wohnung eines Gelehrten nicht halb so freundlich und so prächtig gedacht,« sagte sie. »Welch' schöne Blumen! Echte alte chinesische Vasen?«
»Das Geschenk eines Engländers, der lange Jahre Konsul im Reich der Mitte gewesen.«
Nun fragte sie nach diesem und jenem; ich kramte die Seltsamkeiten, Kunstsachen und Kunsttrödel aus, die ich besaß. Und dann ein Gespräch, das nicht abriß, wie ich sie erworben, an welchem Orte, von meinen Reisen – die Stunde flog nur so dahin. Sie hatte ihre frühere Harmlosigkeit wieder gewonnen und gab mir dadurch gleichfalls wenigstens den äußeren Schein der Ruhe und die gemessene Haltung.
»Und für wen haben Sie dies Alles gesammelt?« fragte sie plötzlich, ihren Kopf zurückwerfend »Für das Gewerbemuseum?«
Es lag so viel Schelmerei und Neckerei in der Frage, daß ich in demselben Ton antwortete: »Freilich, für wen sammelt ein Hagestolz, wenn nicht für das Allgemeine?«
Ein schräger Blick traf mich, und um ihre Mundwinkel zuckte es wie von einem verhaltenen Lächeln. »Da mögen Ihnen die Nachkommen Dank wissen.«
»Sie halten nicht viel davon, vom Nachruhm?«
»Eine mittelmäßige Schauspielerin und Nachruf! Spotten Sie nur! Ich bin eine Eintagsfliege und suche so viel Sonnenschein als möglich zu genießen. Bei Ihnen liegt die Sache anders; Sie leben nicht mit uns und für uns; die besten Gedanken und Stunden eines großen Gelehrten gehören den noch ungeborenen Geschlechtern. Ist es nicht eine Ironie des Weltgeistes, daß Darwin die Unsterblichkeit leugnet und für die Unsterblichkeit arbeiten muß? Für eine Zukunft, die er nicht absehen kann?«
Während sie so sprach, spielte sie mit einem japanischen Fächer, den ich einmal auf einer Auction in London gekauft hatte: zierlich in Elfenbein geschnitzt, mit phantastischen Drachenungetümen und Vögeln, sollte er ein hohes Alter besitzen.
»Wie hieß der Künstler, der ihn fertigte? Wo sind die Schönen hin, die sich mit ihm fächelten und ihn die Sprache der Liebe reden ließen?« meinte sie halb für sich hin, halb zu mir gewendet. »Niemand weiß von ihnen.«
»Aber die ursprüngliche Absicht des Künstlers,« entgegnete ich, »ist doch in Erfüllung gegangen und geht immer von neuem in Erfüllung; er wollte etwas Gefälliges für die Schönen schaffen, und seine Arbeit gelangt in Jahrhunderten immer wieder, nach den mannigfaltigsten Wechselfällen, aus einer schönen Hand in die andere; jede Nachfolgerin freut sich des zierlichen Werkes, wie die erste Besitzerin, und gedenkt unwillkürlich des Meisters und all ihrer Vorgängerinnen.«
Rasch wollte sie den Fächer in das Futteral zurücklegen, allein ich litt es nicht.
»Nun müssen Sie ihn schon behalten,« lachte ich und drückte ihn in ihre Hand.
»Muß ich?« scherzte sie, »dann bezahle ich ihn auch« – und ihre Wange schmiegte sich an meine Lippen ... So empfängt ein junges Mädchen die Liebkosung eines alten Verwandten. Ein unschuldiger Kuß ... Wären nur ihre Augen nicht gewesen, die wie durch einen leichten Schleier mich anschauten, halb mit einer Frage, halb mit einer Aufforderung.
Seitdem setzte sich unser Verkehr wieder in der früheren Weise fort. Keines wollte dem andern deutlich merken lassen, daß trotz der scheinbaren Gleichmäßigkeit unseres Benehmens unser Verhältnisse eine tiefgehende Aenderung erfahren hatte. Nur ein verstohlener Blick Elsa's, ein kurzer Seufzer, gewisse Wendungen der Rede, ein zärtlicheres Eingehen auf meine Eigenheiten und Ansichten, dann wieder ein beredtes Schweigen, ein Zusammenschauern, wenn ich sie berührte, ließen mich glauben, daß sie gegen meine Liebe nicht unempfänglich wäre, daß sie meinen Wünschen keinen unbesiegbaren Widerspruch entgegensetzen würde. Es waren eben so viele Brände, um die Glut meines Herzens noch mehr zu entzünden. Du bist ja noch kein Greis, sagten die Eitelkeit und die Begierde in mir, daß du nicht nach dem Besitz eines schönen Mädchens streben könntest, und über die erste Jugend und den ersten Liebestraum ist doch auch sie schon hinaus. Bitter genug hat sie die Wechselfälle des Schicksals erfahren, um nicht den heiteren Lebensgenuß in würdiger Stellung nach seinem vollen Werte zu schätzen.
So kleinlaut ich noch vor Kurzem gewesen, so mutig wurde ich jetzt. Mutig und unternehmend – wir waren in der Weihnachtszeit, und ich fühlte mich, mehr wie in der Jugend, zu abenteuerlichen Streichen aufgelegt. Unter so harten Entbehrungen und Kämpfen um das Dasein hatte ich die Jahre, die man die schönsten nennt, hinbringen müssen, daß ich kaum eine Jugend gehabt, wenigstens nichts von ihrem Sonnenschein genossen. Einmal hatte auch mir die Liebe gelächelt, einmal war auch ich in Arkadien gewesen – aber ich hatte das Glück nicht zu benutzen verstanden. Jetzt war es unnütz, nachträglich darüber zu grübeln, ob ich wie ein Thor oder wie ein Held gehandelt, ob ich mich mit der Kraft des Willens vor der Schuld bewahrt hatte oder vor der Leidenschaft aus angeborener Schwäche geflohen war. Die einzige Ausbeute, die ich von allen Arbeiten, Nachtwachen und Entsagungen heimgebracht, war ein Name in der Wissenschaft und ein Vermögen – zu spät erkannte ich, daß sie nicht im Stande sind, Glück zu gewähren. Nein, es sollte nicht zu spät sein! Ich wollte mich an die Tafel des Lebens setzen und seinen Wein kosten.
Das Weihnachtsfest bietet die leichteste und die ungezwungenste Annäherung auch denen, die sich bisher im Zwange der Gesellschaft ferner gestanden; unter dem Tannenbaum, im Glanz der Lichter, in dem Hauch der Kindheitserinnerungen, der mit dem Harzduft durch das Gemach zieht, finden sich Hände und Herzen gleichsam von selbst zusammen. In meiner Stube hatte freilich seit fünfunddreißig Jahren kein Weihnachtsbaum gestanden; ich pflegte mich jeden heiligen Abend, wenn die Pflicht mich nicht durch die feuchten Straßen, in Nebel und Regen, auf und ab von einem Krankenbett zum andern trieb, so tief ich konnte unter meinen Büchern zu vergraben. Hatte ich doch nicht einmal frohe Erinnerungen heraufzubeschwören. In Armut und Sorge war meine Mutter gestorben, ich hatte ihr keinen heiteren Lebensabend bereiten können; in weiter Ferne lebten mir die Geschwister – nun auch, so viel ich wußte, in wohlhabenden Verhältnissen, aber jenseit des Oceans, im Westen der Union. So war mir der Christabend nur dadurch ein anderer als die übrigen Abende im Jahre, daß sich an ihm mein Mißmut und meine Melancholie steigerten und das Weltelend mich in den Abgrund der Verzweiflung hinabzustoßen drohte.
Heute sollte es anders sein. »Ich lasse mir meinen Weihnachtsbaum nicht nehmen,« hatte Elsa gesagt. »Der Direktor ist in der Gebelaune und will uns Allen eine feierliche Bescherung bereiten, allein um neun Uhr bin ich wieder daheim und zünde mir mein eigenes Christlicht an. Sie sind feierlich dazu geladen, mein lieber, mein verehrter Freund!« Mir war das eine Botschaft wie aus Engelsmunde. Wie dereinst der römischen Welt, so schien auch mir eine Zeit des Friedens und der Fröhlichkeit anbrechen zu sollen.
Ungeduldig erwartete ich die neunte Stunde – ich glaube, mit klopfendem Herzen wie ein Kind. Und meine Hoffnung wurde nicht getäuscht. Nie habe ich einen schöneren Weihnachtsabend gefeiert, als diesen. Alles vereinigte sich, Elsa in die rosigste Laune zu versetzen. Ihre Kollegen, ihr Direktor hatten sie mit ausgesuchtester Liebenswürdigkeit behandelt; vor einigen Tagen war ein neues Schauspiel aufgeführt worden, und sie hatte darin einen so großen Erfolg gehabt, daß ihr Spiel und die Kunde, die sich davon in der Stadt verbreitet, der Neuigkeit während mehrerer Wochen volle Häuser zu versprechen schienen. Die Kleinigkeiten, die sie verschenkt, hatten den anderen eben so viele Freude bereitet, als ihr die Gaben, die sie empfangen. In ihrer Wohnung strahlte bald der bunt aufgeputzte Tannenbaum im hellen Lichterglanz. Mir schimmerte ihr Gesicht wie Frühlingssonnenschein. Sie trug ein blauseidenes Kleid, die blonden Haare fielen ihr lang ausgekämmt über Schultern und Rücken. In ihrer Heiterkeit und Geschäftigkeit hatte sie niemals bestrickender den ganzen Zauber ihrer Anmut entfaltet. Nachdem wir Beide uns an dem gegenseitigen »Aufbau« erfreut und satt gesehen, sie in jeder Kleinigkeit noch eine besondere Zierlichkeit entdeckt hatte, saßen wir dicht neben einander. Aus ihrer munteren Laune war sie allmählich ernsthafter geworden, unwillkürlich hatten sich unsere Hände zusammengefunden. »Heute komme ich mir wirklich wie die arme Schäferin vor,« sagte sie, »der ihre Pate, die Fee, einen ganzen Korb köstlicher Geschenke in den Schooß schüttet. Denken Sie nur, ich habe einen Gastspielantrag von dem Burgtheater in Wien erhalten – ich, armes Ding! Wer mir das vor einem halben Jahre geweissagt hätte! Ich muß aber seitdem eine vortreffliche Schauspielerin geworden sein, wenn ich dem Publikum und meinem Direktor glauben soll. Und wem verdanke ich dies glänzende Resultat? Wem anders als Ihnen, lieber Freund, Ihren Ratschlägen, Ihren Lehren!«
Darauf wußte ich kein Wort zu erwidern, ich hatte auch nur die erste Hälfte ihrer Aeußerung deutlich vernommen. Einen Antrag nach Wien! »Also wollen Sie uns verlassen?« rief ich aus.
»So weit ist es noch lange nicht,« erwiderte sie. »Ein Gastspiel ist noch kein Engagement – und wenn ich auch hier an einem zweiten Theater gefalle, werde ich auf einer ersten Bühne auch nur genügen? Tel brille au second rang, qui s'éclipse au premier.«
Nun mochte ihr doch wohl mein unruhiges Hin- und Herrücken auf dem Sopha auffallen; der Verschluß unserer Hände hatte sich gelöst, sie blickte zur Erde, zupfte an den Schleifen ihres Kleides und sagte endlich: »Oder verbieten Sie mir jeden Ehrgeiz? Meinen Sie, daß ich trotz alledem nur eine Mittelmäßigkeit bin und wohl daran thue, mich keiner schärferen Beurteilung auszusetzen?«
»Lästern Sie doch Ihr Talent nicht, Elsa,« brach ich ungestüm aus, in irgend einer Weise mußte sich meine Erregung Luft schaffen. »Warum sollte Ihnen das Höchste unerreichbar bleiben? Ich dachte, bei dem Gedanken, daß Sie fortgehen könnten, nur an unseren, an meinen Verlust.«
»Würde ich Ihnen fehlen?« fragte sie zurück und wandte mir plötzlich ihr Gesicht voll und ganz zu. Es war, als vereinigte sich der Glanz aller Kerzen und Lichter, so viel ihrer im Zimmer brannten, auf diesen schönen rosig überhauchten Zügen. Ihre Augen forschten in den meinen, und ihre halb geöffneten Lippen schienen eine Frage flüstern zu wollen, wenn ich ihnen nicht mit der Antwort zuvorkam.
»Wenn Sie wieder gingen, Elsa, warum es verschweigen? Ein schöner Stern würde mir damit unwiederbringlich von dem Lebenshimmel entschwinden. Und ich bin nicht mehr in den Jahren, wo man mutig das Erscheinen neuer Meteore erhofft. Ein Dunkel würde über mich hereinbrechen, doppelt so finster und trostlos als das vorangegangene, da ich mich an die Schönheit des Lichtes gewöhnt. Was uns zusammengeführt hat, ist mir mehr als ein bedeutungsloser Zufall. Sie haben mir eine Seite des Lebens erschlossen, die ich nicht kannte, deren Duft und Farbenschimmer mich nun entzückt – die ich ewig entbehren würde, wenn ich jetzt in mein Einsiedlertum zurücktreten müßte. Aber es ist selbstsüchtig, nur von mir und meinem Verluste zu reden, während Sie nichts verlieren, nichts einbüßen werden.«
»Glauben Sie?« sagte sie und stand auf. Sie ging einmal durch das Gemach, wie mit sich selbst kämpfend und nach Worten ringend, dann trat sie dicht vor mich hin, in einem prächtigen Schwunge flossen ihre Haare um sie. »Nein, Sie können mich nicht für so gleichgiltig und herzlos halten! Ich sollte einen Freund, einen so treuen, redlichen, uneigennützigen Freund nicht entbehren? Mich nicht nach seinem Umgang, seiner Belehrung, seiner Liebenswürdigkeit zurücksehnen? Warum spielen die stolzesten Männer so gern die bescheidenen? Denn Sie fühlen es so gut wie ich, daß Sie nicht zu der großen Schaar der Alltagsmenschen gehören, denen man ohne Neigung begegnet, und die man bis auf die Erinnerung vergißt.«
Vielleicht wurde nun doch, je länger sie sprach, die Schauspielerin in ihr mächtig, aber ihre Erregung, das höhere Rot ihrer Wangen, der lebhaftere Blick ihrer Augen gaben ihr etwas Unwiderstehliches. Wie hätte sie mich nicht hinreißen sollen, den das heimliche Feuer schon seit Wochen verzehrte? Wenn es je einen günstigen Augenblick für die Liebeserklärung eines älteren Mannes gegeben, so war es dieser, wo die gegenseitige Leidenschaftlichkeit den Unterschied der Jahre verwischte und in uns Beiden die Empfindung stärker sprach als die Ueberlegung. »Müssen Sie denn von uns gehen, Elsa?« begann ich. »Ist das Glück Ihres Lebens an die Verfolgung Ihrer künstlerischen Laufbahn gebunden? Reizt Sie die Unruhe des Kampfes mehr als die Heiterkeit des Friedens? Es mag ja eine tolle Aufforderung sein, einer jungen glänzenden Schauspielerin zu sagen: tritt vom Schauplatze deiner Triumphe zurück; und ich würde der Letzte sein, Ihnen einen solchen Vorschlag zu machen, wenn Sie mir nicht selbst gestanden, daß bisher Ihre Thätigkeit Ihr Herz nicht ganz ausgefüllt hätte, wenn ich nicht annehmen dürfte, daß Ihnen ein anderes Loos nicht auch wünschenswert erschiene –«
»O!« unterbrach sie mich, »ich habe Ihnen nicht verschwiegen, was mich auf die Bühne führte, aber ein erster Schritt auf den Brettern ist verhängnißvoll, allmählich wird zur Neigung, was anfänglich nur Notwendigkeit und dann Gewohnheit war, um so mehr, wenn die Verhältnisse, die unsern Entschluß bestimmten, dieselben bleiben und noch fortwährend ihren Einfluß ausüben.«
»Aber diese Verhältnisse sind nicht unüberwindlich, sind nicht unwandelbar,« rief ich. Was ich ihr nun weiter sagte, in welchen Worten ich ihr die Entstehung, das Wachsen meiner Neigung zu ihr, die Kämpfe, die ich mit meiner Leidenschaft bestanden, das Glück, das sie mir schenken, die Ruhe und die sichere Stellung, die ich ihr bereiten würde, aus meinem Herzen heraus schilderte, vermag ich nicht mehr niederzuschreiben. Ich kam mir selbst wie ein Besessener vor, eine höhere Macht oder mein erhöhtes Ich redete und handelte aus mir. Elsa atmete nur schwer, sie erwiderte nichts, bald sah sie von mir weg auf die Lichter des Tannenbaumes, bald blickte sie mich wieder freundlich an, als wolle sie mich dadurch ermuntern, weiter zu sprechen. Einmal entfuhr mir der Name Lüttow – daß es nur eine Sicherheit für sie gegen seine Verfolgungen gäbe, eine Heirat, die sie für immer von ihm trennen würde.
»Für immer!« murmelte sie halblaut und nickte, wie meine Meinung bestätigend, mit dem Kopfe; dann fuhr sie mit der Hand über die Stirn, als wolle sie einen bösen Gedanken verscheuchen. »Es ist wahr, ich muß mit ihm enden.« Und wieder versank sie in ihr Schweigen, wortlos und entschlußlos.
Sie mochte vielleicht eine Liebeserklärung, aber nicht eine Bitte um ihre Hand erwartet haben. Als ich nun aber, durch ihr Schweigen kühn gemacht, sie umfassen wollte, entzog sie sich mir hastig, sprang auf und eilte zum Fenster. Sie drückte ihr Gesicht gegen die Scheiben und starrte hinaus. Hier und dort hell erleuchtete Fenster, gleichsam die Freude, die drinnen in den Zimmern herrschte, nach außen strahlend, im Gegensatz zu dem unheimlichen Schneegestöber, das der pfeifende Wind durch die Straße jagte. Ich war ihr gefolgt und an ihre Seite getreten. »Zürnen Sie mir?« fragte ich leise. Statt der Antwort gab sie mir ihre Hand. Ihre Augen waren wie umflort; war es tiefe Bewegung oder eine heimliche Angst – etwas hielt das Wort in ihrem Munde zurück.
»Daß Sie mich liebten, mein Freund,« brachte sie endlich wie mühsam hervor, »war nicht schwer zu erraten, nun aber –«
»Sie finden, daß ich ein Geck sein müsse, Ihnen in meinem Alter einen solchen Antrag zu machen.«
»Als ob ich ein Kind wäre, das die Jahre seines Freundes abzählt. Nein, ich bin bestürzt, verwirrt. Hand in Hand gingen wir in der Dämmerung einen uns nur halb bekannten Weg, allein ich vertraute sorglos Ihrer Führung, und statt mich zu fürchten, gefiel ich mir sogar in dem Halbdunkel. Ach, warum konnten wir nicht immer wie im Traum neben einander hergehen! Nun ist ein grelles Licht auf den Pfad gefallen und zeigt mir das Ziel.«
»Ein Ziel, das Ihnen unfreundlich und unwohnlich erscheint –«
»Das mich nur zögern läßt, es zu betreten. Sie verlangen nicht in dieser Stunde eine Entscheidung über mein Schicksal. Ich bin eben kein Mädchen, die mit einem Ja oder Nein Alles abgethan glaubt und die weiteren Folgen dem Vater oder dem Vormunde überläßt – ich stehe allein da, und Sie fordern den Beginn eines neuen Lebens von mir. Was könnte ich Ihnen für die Sicherheit unserer beiderseitigen Zukunft bieten, zöge ich jetzt blindlings einen Strich unter meine Vergangenheit und Gegenwart?«
»Sie halten nur gutmütig den bittern Trank zurück, den mir Ihre Hand doch kredenzen muß.«
»Würde ich sie dann in der Ihrigen lassen?« fragte sie sanft zurück und lehnte ihren Kopf an meine Brust. Ihren Haaren entströmte ein feiner, berauschender Duft, heftiger preßte ich sie an mich und bedeckte ihre Stirn mit meinen Küssen. Augen und Lippen hielt sie fest geschlossen. »Und nun genug mit der Ernsthaftigkeit!« rief sie sich schüttelnd und hatte sich mir schon entwunden. »Wir wollen uns den Abend nicht durch Nachdenken und Grübeln stören, lieber Freund. Ich hatte einmal als Kind eine so prächtige Puppe zum Weihnachtsfeste bekommen, daß ich sie gar nicht anzufassen wagte. ›Nimm sie doch,‹ lachte die Mutter und wollte sie mir in den Arm legen. Aber ich blieb bei meiner Weigerung. So lassen Sie mich noch eine Weile Ihr kostbares Geschenk von ferne betrachten, es ist nicht der Geber, es ist die Gabe, die mir ein wenig Angst macht.«
Mit der Leichtigkeit und Anmut, in denen sich nun doch wieder die Schauspielerin verriet, wußte sie das Gespräch nach anderen Punkten zu lenken, ihre Stimmung und allmählich auch die meine zu verwandeln. Aus ihrem Wesen und Betragen glänzte mir ein Hoffnungsschimmer entgegen. Und hatte sie nicht Recht? Ich forderte nicht allein ihre Freundschaft, sondern auch ihre Zukunft, nicht nur ihre Hand, sondern auch ihre Freiheit und ihren Ruhm. In der That – ich hätte sie geringer schätzen müssen, wenn sie, ohne sich zu besinnen, in meine Bitte eingewilligt.
Freilich – als ich nicht mehr unter dem Zauber ihrer Gegenwart stand, nahm die Sache eine dunklere Färbung für mich an. Wohl mußte ich ihre Bedenken gelten lassen, aber – würde sie danach gefragt haben, hätte sie mich geliebt? So ungerecht sind wir; ich hatte mir Tage und Wochen zur Ueberlegung und zum Austrag meiner Herzenskämpfe gestattet und wollte ihr nicht die kürzeste Frist gönnen. Gern oder unwillig, schließlich mußte ich mich darein ergeben. Die nächsten Tage schlichen in Hangen und Bangen, im Wechsel von Furcht und Hoffnung dahin; sie war viel beschäftigt, jeden Abend auf der Bühne, ich wurde von einer russischen Fürstin in Anspruch genommen, die mich zu konsultiren nach der Stadt gekommen war, ehe sie ihre Winterreise nach dem Süden antrat. So sahen wir uns nur flüchtig, zum Aussprechen war keine Muße gegeben. Und derselbe Drang, der mich zu meiner Erklärung fortgerissen, hielt mich jetzt zurück, ungestüm die ihrige zu verlangen. Zeit zu gewinnen, schien mir plötzlich in meiner Lage das Wünschenswerteste. Mindestens blieb mir dadurch das Herbste erspart, ihr Nein zu vernehmen, den Schmerz zu verbeißen und in der Entfernung von ihr nicht Vergessenheit, doch Trost zu suchen. Der Ernst ihres Gesichtes, ein gewisser träumerischer Zug, den ich in solcher Stärke noch nicht an ihr bemerkt, bewiesen mir hinlänglich, daß sie mit sich selbst nach einer Entscheidung rang. Wenn ich des Abends im Theater dem stürmischen Beifall zuhorchte, der ihre Darstellung begleitete, die Kränze und Blumensträuße zählte, die man ihr zuwarf, fühlte ich wohl, daß ich da einen ungreifbaren, kaum zu überwindenden Gegner hatte. Alle stimmten darin überein, daß sie noch nie so vortrefflich gespielt habe. Und dem Allen, ihrem Talente, diesen Triumphen sollte sie entsagen, um einem älteren Manne den Abend seines Lebens zu verschönen und ihre eigene Zukunft vor Stürmen und Schicksalsschlägen sicher zu stellen! Welche Thorheit, welche Dürftigkeit der Phantasie, welche Leere des Herzens mußte ich bei ihr voraussetzen! Sie aus diesem Glanz, aus diesem bacchantischen Taumel herausreißen zu wollen – ich hätte meine Werbung zu keiner ungelegeneren Zeit vorbringen können!
Gleichsam, um die Aussichtslosigkeit meiner Wünsche mir grell vor das Bewußtsein zu führen, mußte mir da eines Nachmittags bei meinem Spaziergange durch die Siegesallee des Parkes Lüttow entgegenkommen und mich anreden. Er war in Gesellschaft, schlank und hoch und trotzig wie immer, aber er ließ, wie er mich erkannte, die Herren stehen, eilte auf mich zu und bot mir die Hand.
»Haben uns lange nicht gesehen, Herr Medicinalrat,« sagte er in seiner lauten, aber dennoch gewinnenden Weise. »Sie haben eine Wunderkur an Fräulein Themar vollbracht. Das ist jetzt all' ein Leben und ein Feuer in ihrem Spiel. Schauen Sie mich nicht so fragwürdig von der Seite an; ich rede im Ernst. Dies Mädchen ist eine große Künstlerin, es wäre ein Unrecht, sie der Kunst zu entführen und prosaisch zu heiraten. Ihr Genius hat sie richtig geleitet. Wollen Sie ihr sagen, daß ich aufrichtig alle meine Sünden gegen sie bereue?«
Zum Glück hatten sich jetzt seine Begleiter genähert, und ich konnte mit einigen allgemeinen verbindlichen Redensarten und mit der Zustimmung in sein Lob Elsa's mich losmachen. Was vor Wochen mich sowohl ihret- wie meinetwegen gefreut hätte, Lüttows Einkehr in sich selbst, wie ich es damals genannt hätte, ängstigte mich jetzt. Hoffte ich zu siegen, wo dieser Hartnäckigste der Menschen sein Spiel verloren gab? Wenn er den Triumph und den Rausch der Bühne für mächtiger hielt als seine Leidenschaft, was hatte ich dagegen einzusetzen? Dennoch teilte ich meine Begegnung mit Lüttow Elsa mit: es wäre mir unmöglich gewesen, ihr eine solche Mitteilung zu verschweigen. Sie wurde blaß, als ich seinen Namen nannte – wie ich dann zu Ende war, griff sie nach ihrem Herzen, und ein schwermütiges Lächeln spielte um ihren Mund: »Er ist ja sehr ruhig geworden!«
Irgend etwas in seiner Aeußerung hatte sie verletzt. »Wenn mein Spiel eine so beruhigende Wirkung auf erregte Nerven ausübt,« meinte sie, »sollten Sie es Ihren Kranken als Heilmittel empfehlen, werter Freund. Im übrigen hat mich Herr von Lüttow niemals verstanden, weder meine Empfindungen noch meine Handlungsweise; er würde sonst wissen oder doch ahnen müssen, daß mich nie mehr als gerade in meinem Triumph das Gefühl meiner Unzulänglichkeit und die Sehnsucht nach der Stille beschlichen hat.«
Wie hoffnungsvoll klang das für mich! Und endlich mußte doch auch die Entscheidung fallen. Wie alle Spieler und unglücklich Liebende war ich in diesen acht Tagen abergläubisch geworden und hatte mir fest eingeredet, am Neujahrstage würde Elsa ihr Ja oder Nein sprechen. Mein Erstaunen, meine Verwirrung war darum nicht gering, als sie mir am Morgen des Sylvestertages sagte:
»Schelten Sie mich nur gleich tüchtig aus, als Arzt und als Freund. Wenn es noch Ablaßzettel gäbe, kaufte ich mir einen im Voraus. Ich will heut' Abend eine Thorheit begehen und das alte Jahr auf einem Maskenball beschließen. Meine Kollegen haben mir so viele lustige Geschichten von dem Balle erzählt, den das Balletcorps heute giebt, daß ich nicht habe widerstehen können. Ich werde im Domino hingehen und hoffentlich einen guten Tänzer finden. Nun, da sitz' ich, was muß ich thun, um die Sünde zu büßen?«
Anfangs war ich so betroffen, daß ich sprachlos vor ihr dastand, bis ihr helles Gelächter mich zur Besinnung brachte.
»Bin ich eine rückfällige Ketzerin, für die Sie gar keine Buße und Strafe wissen? Wollte ich nun meine Hexenmacht gebrauchen, müßte ich darauf bestehen, daß Sie mich begleiteten und mit mir in dieselbe Schuld verfielen. Bekennen Sie, daß ich großmütig bin, wenn ich allein die Verdammniß auf mich nehme.«
Wie verstimmt ich auch über ihre so unerwartet auftauchende Laune war, durch ein schroffes Dareinreden wagte ich meine Lage nicht noch mehr zu verschlimmern. Mein Mißvergnügen war gewiß kein vernünftiger Grund gegen den Besuch eines Balles, und wenn schon der Liebhaber Einspruch gegen ihre Vergnügungen erhob, welche Beschränkungen ihrer Freiheit und ihrer Neigungen mußte sie erst von dem Gatten befürchten. Nach Kräften suchte ich einzulenken und riet ihr nur, sich nicht zu erhitzen, nicht zu heftig zu tanzen – Albernheiten, über die ich vor mir selbst errötete. Wie es nicht anders sein konnte, schieden wir ein wenig kühl und frostig. Wider meinen und ihren Willen war nun doch der Unterschied zwischen einer lebenslustigen, munteren Schauspielerin und einem alternden Gelehrten zur unerfreulichen Erscheinung gekommen. Ich pflegte sonst den Sylvesterabend im Kreise langjähriger Freunde, Wittwer oder Hagestolze, zuzubringen: heute lehnte ich ab, ich war zu verdrießlich und unzufrieden, um einen halbwegs erträglichen Gesellschafter abzugeben. Aber was nun mit dem langen Abend beginnen? Zu Hause bleiben, lesen, schreiben, die Rechnung des Jahres ziehen? Ein Alpdruck lastete auf mir, als müßten in der nächsten Sekunde die Mauern über mich hin zusammenstürzen. Vielleicht fiel es Elsa gar ein, im Domino und mit der Larve vor dem Gesicht Abschied von mir zu nehmen, ehe sie in den Wagen stieg. Ich glaubte das Rollen der Räder zu hören – jeder Schlag versetzte meinem Herzen einen Stoß. Ich blickte auf die Uhr – die neunte Stunde ging eben zu Ende, und sie spielte noch im Theater. Nein, ich wollte, ich konnte sie nicht erwarten; jetzt schalt ich sie herzlos, eitel, vergnügungssüchtig, und dann spottete ich mich aus, einen Gecken, einen Eifersüchtigen, wie es noch nie einen größeren und traurigeren gegeben. Unmöglich, in den engen, überheizten Zimmern auszudauern. Wenn auch ich auf den Ball ginge und sie beobachtete? Unsinn, ich auf dem Maskenball des Corps de Ballet! Wollte ich die lustigen Streiche der Jugend mit fünfzig Jahren nachholen? Inzwischen, inmitten all dieser Anklagen, Ausrufungen, ironischen Betrachtungen kleidete ich mich gesellschaftsmäßig an. Ich getraute mich dabei nicht, meinem Diener ins Gesicht zu sehen, aber der Gute vermutete meine bösen Gedanken nicht und wunderte sich nur, daß ich mich so früh schon auf den Weg zu meiner Sylvester-Gesellschaft machte. Auf der Straße war ich bald, aber mein Wille blieb zwiespältig wie zuvor. Als ich um die Ecke unserer stillen Straße in die belebtere Hauptstraße einbog, fuhr ein Wagen dicht an mir vorbei. Ich wußte, daß es der Wagen war, der sie aus dem Theater heimbrachte, und ich empfand eine gewisse Genugthuung, ihr entgangen zu sein. Sie sollte merken, daß ich auch ohne sie zu leben vermöchte. Und dabei schmachtete ich armseliger Thor nach ihrer Gegenwart, ihrer Rede und ihrem Lächeln. Nein – fahrt dahin, Stolz des Weisen und Würde des Alters, dahin ihr Entschlüsse der Entsagung! Ich bin ein Mensch von Fleisch und Blut. Sehr wahrscheinlich werde ich morgen einen Thorenstreich zu bereuen haben, aber der Drang des Herzens will seine Befriedigung, gleichviel, um welchen Preis. Ein Maskengarderobe-Laden war leicht gefunden, ein dunkelblauer Domino, eine Maske erstanden – ich ließ eine Droschke kommen und fuhr nach dem im Parke gelegenen Ballhause. Der Pförtner schaute mich verwundert an, ich war der erste Ballgast. Von dem Kellner, der mir eine Flasche Wein brachte, erfuhr ich, daß die rechte Lustigkeit und das bunteste Maskengewühl erst kurz vor Mitternacht seinen Anfang nähme. Eines vor Allem that mir not: Gelassenheit, ich war sonst nahe daran, die auffälligste Erscheinung des Balles zu werden.
Allmählich füllten sich die Säle mit Charaktermasken und Dominos. Mir waren diese wie jene gleichgiltig, ich suchte nur die Eine zu entdecken. Unter Tausenden hätte ich geglaubt, ihren Wuchs, ihre Haltung, ihren Gang heraus erkennen zu müssen – nun zeigte sich die Sache doch schwieriger, die Stimme des Herzens schwieg. Hinauf und hinab drängte ich mich durch das Gewühl, wiederholt angeredet von Stimmen, die mir unbekannt waren, und mit einer Stimme antwortend, die den Anderen so fremd klang, wie ihnen die meine. Ohne Absicht war ich so in die Nähe zweier schwarzen Dominos gekommen, die Hand in Hand mit einander gingen. Leise streifte ich die Eine, sie achtete nicht darauf, aber im nächsten Augenblick hörte ich sie halblaut zu ihrer Begleiterin sagen: »Da ist er!« Die Musik übertönte das Uebrige, allein mir genügten die drei kurzen Worte. Es war Elsa, offenbar mit einer befreundeten Schauspielerin. Da ist er – nur sie konnte mit diesem eigentümlich zitterndem eindringlichen Tone reden. Da ist er – wen hatte sie gemeint? wen konnte sie meinen? Hatte sie mich eher entdeckt als ich sie? Hatte die unwillkürliche Berührung ihres Gewandes mich verraten? Oh, oh! grollte es dagegen in mir, täusche dich doch nicht länger! Nicht von dir war die Rede, nicht deinetwegen ging sie auf diesen Ball. Herunter die Maske und betrachte dein runzeliges, häßliches Gesicht in einem der vielen Spiegel, welche die Wände zieren. Und dann entfliehe diesem Raum, wohin du nicht gehörst, vergrabe dich in deine Höhle, vertrinke deinen Gram wie ein alter Satyr, oder noch besser, hänge dich auf, Medicinalrat, ehe du eine Figur für die Posse wirst!
Und nun fing eine tolle Jagd an. Ich suchte ihr auf den Fersen zu bleiben und zugleich den Unbekannten zu entdecken, den sie ihrer Begleiterin bezeichnet hatte. Einmal war ich dicht hinter ihr, dann schob sich wieder eine Menschenwelle zwischen uns. Zuweilen blickte sie sich um, als hätte sie die Empfindung, daß sie verfolgt würde. Aber sie beschleunigte ihren Schritt darum nicht. Sie anzureden wagte ich nicht, meine Stimme würde mich verraten haben. Plötzlich, als die Paare sich zum Tanz ordneten und das Ganze zu einem buntschimmernden, in einander wirrenden, rasenden Wirbel wurde, war sie mir entrückt. Weder unter den Tanzenden noch unter denen, die zuschauten, vermochte ich sie zu entdecken. Eine geraume Weile verlief so, mir stand die Zeit still. Ich lehnte mich an eins der hohen Fensterkreuze des Saales und starrte beinahe gedankenlos in das jubelnde, lachende, walzende Gewühl. Der Wein, die Hitze im Saal, die rauschende Musik, das Drehen hin und her vor meinen Augen hatten mir einen dumpfen Schmerz im Kopf, Ohrensausen und Schwindel verursacht: ich war in der That auf einen Hexensabbat verschlagen worden. Zu Ende – die Musik schweigt. Was ist das? Alle drängen sich zusammen, zischeln mit einander, rücken an ihren Masken, ziehen ihre Uhren. – Und da – zwölf laute, dröhnende, weithin hallende Schläge. Neujahr! Prost Neujahr! schreien sie wie die Besessenen. Champagnerpfropfen knallen – und Hurrah! Hoch! Das Orchester bläst einen Tusch. Trink, Brüderchen, trink! Das neue Jahr soll leben! Und die alten Flammen! Was wir lieben, rosa Domino! Die Masken werden abgenommen, überall lachende, grinsende, erhitzte Gesichter, flatternde Locken, funkelnde Augen – Bacchanten und Mänaden! Was soll ich unter ihnen? In ihren Lärm und Taumel mit einstimmen? Mich von ihnen foppen lassen? In diesem Tumult Elsa suchen und sie am Arme eines Andern finden? Nein, ich rette mich ... Da entsteht ein Laufen, ein ängstliches Durcheinander, ein herzzerreißender Schrei ... ich kenne diesen Schrei! Und zugleich der Ruf: »Zu Hilfe, ein Arzt, ein Arzt!« »Hier! hier!« schreie ich, reiße mir die Larve, den Domino vom Leibe und arbeite mich durch das Gedränge. Alle machen mir Platz, ich komme aus dem Tanzsaal in den Nebensaal. – »Sie stirbt mir unter den Händen!« jammert eine Frauenstimme aus einer der Nischen. – Auf dem Divan liegt Elsa besinnungslos in Krämpfen, ein junger Arzt ist schon um sie beschäftigt, der den älteren, ihm bekannten Kollegen mit Freuden begrüßt. An ein Fragen, wie Alles gekommen, ist hier nicht zu denken, es gilt zu helfen. Unseren Bemühungen gelingt es, mit krampfstillenden Mitteln die Gewalt des Anfalls zu brechen. In einer halben Stunde ist es möglich, Elsa mit ihrer Begleiterin in einen Wagen zu schaffen, ich fahre sie nach Hause. Gesprochen wird kein Wort zwischen uns, obgleich sie mich erkannt hat, schlaff ruht ihre Hand in der meinen. Während sie mit Hilfe ihrer Zofe und meines Dieners hinaufgebracht wird, eile ich in die nächste Apotheke, um noch einige Medicamente herbeizuschaffen. Die Bereitung dauert länger, als ich gehofft; als ich zurückkehre, finde ich Elsa schon im Bett, unruhig, in Fieberphantasien. Ihre Zofe ist bei ihr. – »Ich werde mich im Salon in einen Lehnstuhl setzen,« sage ich, »und mit Ihnen wachen. Weinen Sie nicht, wenn der Krampf nicht wiederkehrt, ist es noch nicht gefährlich. Ruhe und Eisumschläge.«
Und nun sitze ich bei einer mit einem großen grünen Schirm verdeckten Lampe, im Halbdunkel, in meinem Ballstaat, die ängstlich hin- und herflackernde Flamme des mir theuersten Lebens bewachend. Welch' eine Neujahrsnacht! Daß Lüttow bei dem Unglück mit im Spiel gewesen, daß Elsa von einer dämonischen Macht angezogen, nur seinetwegen auf diesen Maskenball gegangen, stand bei mir fest, aber alle diese Nachgedanken, diese ohnmächtigen, leise zwischen den Zähnen gemurmelten Verwünschungen beseitigten das Uebel, verscheuchten das Schreckgespenst eines tödlichen Herzschlages nicht. In kurzen Pausen trat ich an ihr Bett, um zu sehen, ob das Pochen des Herzens sich mindere, ob die einschläfernden Mittel ihre Wirkung thäten. Halb aufgerichtet saß sie in den Kissen, mit geschlossenen Augen, gelblichweiß im Gesicht, aus der matt brennenden Lampe fiel nur wie verloren ein Lichtschimmer über sie hin. Endlich schien sich ein leichter Schlummer auf sie herabzusenken. Ich schlich in das Vorderzimmer zurück.
Die unglückliche Uhr mit ihrem lauten Pendelschlag hatte die Dienerin schon aus dem Schlafgemach fortgenommen, jetzt wollte ich auch den Pendel anhalten, nicht das leiseste Geräusch sollte Elsa's Schlaf stören. Erst da fiel mir ein, daß ich zum ersten Male das unselige, geheimnißvolle Werkzeug dieser ganzen Verwickelung mit Augen sah. Diese Uhr hatte mich zuerst peinlich und unangenehm auf meine Nachbarin aufmerksam gemacht, ihr gleichmäßiger, rauher, heiserer Schlag hatte alle Wandlungen unseres Verhältnisses begleitet. Gab es einen magischen Zusammenhang zwischen dieser Uhr und unserer Freundschaft? Endete die Freundschaft, wenn der Pendel der Uhr still stand?
Entschlossen streckte ich dennoch die Hand aus und hielt ihn an; niemals hatte mir sein Geräusch unheimlicher geklungen. Eine altmodische Uhr, von Gold, Elfenbein und Ebenholz in dem Geschmack des Empire, mit vergoldeten Säulchen und einem Giebelfeld darüber, an den Ecken Adler sitzend, auf der Spitze eine Figur mit fliegendem Gewande, die wohl den Genius der Zeit darstellen sollte – Alles in strengen, harten Linien. Aber das Wunderlichste ist ein kleines auf Elfenbein gemaltes, in die Mitte des Giebels eingelegtes Bild. Ich nehme die Lampe, um es genauer zu betrachten: es ist in Miniatur ein Brustbild der Kaiserin Josephine. Ich will meinen Augen nicht trauen, ein Nebel täuscht mich, ein Lichtschein – ein Schatten, der gerade so oder so fällt, bringt die Wirkung hervor. Allein wie ich auch die Lampe halte, hoch oder niedrig, nahe oder fern, wie ich auch meinen Platz ändere: es ist der Kopf, das Gesicht Josephinens. Und je länger ich nun die Uhr, die still, unbeweglich auf ihrer Konsole steht, betrachte, kommt sie mir bekannt und immer bekannter vor, die Adler, den Adlern auf den französischen Fahnenstangen nachgebildet, der davonfliehende Genius – ich habe sie schon gesehen! Wo gesehen – wie gesehen! Die Lampe zittert in meiner Hand, kaum daß ich sie auf den Tisch ungefährdet zurücksetzen kann. Ist es denn möglich! Ich nähere mich Elsa's Bett ... »Sie schläft,« flüstert mir die Zofe zu. Mit dem Gesicht der Wand zugewendet liegt sie da, ruhiger atmend. Es ist, als ob wir die Rollen umgetauscht hätten, als ob ihr Leiden jetzt in meinem Herzen wohne ... wie von einem unsichtbaren Schlage getroffen, sinke ich in den Sessel.
Eine Uhr aus der Napoleonischen Zeit ... es giebt hundert, tausend Uhren aus jenen Tagen. Auch wohl mit dem Bilde der Kaiserin Josephine. Muß die Uhr da vor mir gerade dieselbe sein, die ich vor vielen ... vor dreiundzwanzig Jahren gesehen, in einer Lage, der meine jetzige, hier auf dem Sessel, im Nachtwachen bei einer schwer Kranken, auf das Genaueste gleicht? Eine Uhr, deren grausamer Stundenschlag mir damals verkündigte, daß ich den Augenblick des Glücks für immer versäumt? Ja wohl für immer, wenn sie nicht durch einen Zufall in Elsa's Hände gekommen, wenn sie ein Erbstück ist – das Erbe ihrer Mutter! Keinen Blick kann ich von der Uhr abwenden, es ist, als ginge jene ganze holde schmerzliche Vergangenheit noch einmal an mir vorüber, als tauchte in dem Halbdunkel des Gemaches ein vielgeliebter Schatten auf, den erst Elsa's liebliche Wirklichkeit aus meinem Herzen zu vertreiben vermochte, als gäbe die tiefe Stille und die ängstliche Spannung meines Geistes der Phantasie eine doppelte Gewalt. Halb träumte ich und halb erlebte ich ein unvergessenes Abenteuer noch einmal.
Ich sitze in einem prächtig ausgestatteten Zimmer, vor mir dieselbe Uhr auf einer marmornen Konsole, das große Fenster ist geöffnet, Lindenblütenduft haucht hinein, der süße Schauer einer Mondscheinnacht, durch die hohen Bäume des Gartens geht zuweilen ein sanftes Säuseln. Mir gegenüber liegt halb ausgestreckt angstvoll, übernächtig auf dem Sofa eine schöne blasse Frau, die Hände wie zum Gebet gefaltet – zu einem Gebet ohne Worte. Daneben ruht ihr Kind in Todesgefahr, ihr einziges, zweijähriges Töchterchen ... Ein Schul- und Universitätsfreund, ein reicher Gutsbesitzer in der Rheinprovinz, hatte mich eingeladen, einige Zeit auf seinem Gute zu verweilen; bei einem Besuche in der Hauptstadt hatte den treuen Kameraden mein krankhaftes Aussehen erschreckt: du gehst zu Grunde, wenn du keine Unterbrechung in deinen Studien und Arbeiten eintreten lässest, hatte er ärgerlich ausgerufen. Ich hatte seinen Bitten nachgegeben und war zu ihm gekommen. Seit zwei Wochen wohnte ich nun bei ihm, in herrlichster Lage, in der Nähe des schönen Stromes, mitten in den Weinbergen des Rheingaus; dem Ufergelände entlang reihten sich in mäßiger Entfernung von einander Städtchen, Dörfer, Landhäuser; Dampfschiffe, Segelboote, Nachen belebten beständig den Fluß, überall ein munteres, geschäftiges, wie vom Weinduft angehauchtes Treiben. Landschaft und Leute wirkten wohlthuend, erfrischend auf mich ein. Nicht nur ins Gesicht, die Junisonne schien mir auch in das Herz. Am Fuß des Hügels, auf dem sich das Haus meines Freundes erhob, stand eine kleine Villa inmitten eines großen Gartens, die hellen Fenster auf den Strom gerichtet. Sie gehörte einem der reichsten Kaufleute in der Hauptstadt der Provinz, der in jedem Jahre den Septembermonat darin zuzubringen pflegte: jetzt hielt sich seine Gattin mit ihrem Töchterchen in dem Landhause auf. Zwischen der Familie meines Freundes und der Frau Friederike bestand ein höflicher nachbarlicher Verkehr, näher war man einander nicht gekommen. Die Gattin meines lieben Wirts hatte für die feine, verzärtelte Städterin etwas zu derbe Formen, sie war schnell mit der Zunge wie mit der Hand, während Frau Friederike an sich hielt und in ihrer vornehm lässigen Weise Dinge und Menschen mehr von sich entfernte, als sie eifrig in ihren Kreis zog. Wir Männer redeten auf unseren Spaziergängen oft von ihr: bald begegneten wir ihr, wenn sie im Wagen einherfuhr oder mit ihrem Kinde an der Hand unter den Bäumen ihres Gartens auf- und abwandelte, den nur eine Hecke und ein niedriges Gitter von der Fahrstraße schied. Und niemand konnte Frau Friederike sehen, ohne sich noch einmal, wenn sie ihm vorübergegangen, verwundert nach ihr umzuschauen. Sie war eine Frau von wunderbarer Schönheit, eine Raphaelische Madonnenfigur mit einem leisen Zuge des Leidens im Gesicht, der halb eine körperliche Schwäche anzudeuten, halb die ungestillte Sehnsucht des Gemüts nach einer schöneren Welt auszudrücken schien. Sanftmütig, nicht von schnellem und scharfem Geiste, aber voll tiefer Empfindung schilderte sie mir der Freund; was ich von ihr sah und hörte, denn ein und ein anderes Mal war sie in dem Hause auf dem Hügel, wir in ihrer Villa gewesen, ergriff mich weit über den Grad des Eindrucks, den bisher noch ein weibliches Wesen auf mich gemacht hatte. Sie stand etwa in meinem Alter und behandelte mich, für eine so reiche und ausschließliche Dame, wie sie es war, mit besonderer Güte. Von dem Freunde erfuhr ich, daß sie nicht glücklich verheiratet sei. Also unglücklich? An einen Mann, der sie nicht verdient, der sie peinigt, einen Tyrannen? fragte ich erregt. Von dem Allen war nicht die Rede. Der Mann, in der Mitte der vierziger Jahre, behandelte sie mit der größten Achtung und Freundlichkeit, und auch ihr entschlüpfte niemals ein Wort des Verdrusses oder der Klage über ihn; sie paßten eben nicht für einander: sie eine schwebende Natur mit ätherischem Anfluge, er fest und hart in der Welt der Thatsachen wurzelnd, ohne Neigung, sich daraus zu erheben. Bei ihrer Stille und sanften Anmut mochte er kaum bemerken, daß die Uebereinstimmung ihrer Seelen fehle; die Zärtlichkeit, die sie entbehrte, bedurfte er nicht. So beschrieb mir der Freund das Verhältniß der beiden Gatten, und er wird wohl das Richtige getroffen haben; ich selbst habe den Mann nie gesehen.
Ein Unglücksfall verband mich dann inniger mit Friederiken. Eines späten Abends kam atemlos einer ihrer Diener herauf geeilt: das Töchterchen der gnädigen Frau sei erkrankt, der Arzt im nahegelegenen Flecken über Land gefahren, ich möchte mich des kranken Kindes annehmen. »Rette es,« rief der Freund mir zu, »hier geht für dich der Weg zum Ruhm!« Was dachte ich in jenem Augenblick an den Ruhm, an die Zukunft! Ich hatte nur Sinn für Friederikens Angst und Verzweiflung, ich flog den Hügel hinunter. Als ich dann vor ihr stand, ihr in das thränenüberströmte, schmerzvoll zuckende Antlitz blickte, ergriff mich eine unbeschreibliche, so noch niemals empfundene Bewegung, als ob ein neues Element in meinen Körper gekommen. Es war eine furchtbare Nacht; das Kind war von einem gefährlichen Anfall der Diphtheritis ergriffen worden, und mehr als einmal schwebte der Todesengel dicht an ihm vorüber – dicht, wie jetzt an Elsa! War ich in beiden Fällen die Hand, der sich das Schicksal bediente, ein und dasselbe Leben zu retten? Und beide Male zu meinem Verderben!
Diese Nacht mit ihren Schrecken hatte Friederike und mich einander mehr genähert, als eine langjährige gleichgiltige Bekanntschaft es gethan haben würde. In der gleichen Sorge enthüllte sich unabsichtlich das Innerste unseres Wesens, Jedes fand in dem Herzen des Andern etwas wie das Echo des eigenen. Die Krankheit des Kindes gestattete keine Trennung; kaum war der Anfall beseitigt, zeigten sich Spuren des Scharlachfiebers, das zwar nur leicht auftrat, aber die einmal in Angst versetzte Mutter nicht aus der erregten Spannung ließ. In ihrer freudlosen Ehe war die Tochter ihr einziger Trost, ihre einzige Freude; es schien ihr, als könnte sie den Verlust derselben nicht überleben. Ihr Gemahl befand sich gerade auf einer Geschäftsreise in England; er bat sie, ihm jeden Tag Nachricht von dem Befinden des Kindes zu geben, aber sie schalt es herzlos, daß er nicht ohne Zögern alle seine Geschäfte hatte fallen lassen und an das Lager der kleinen Elsbeth geeilt war. Mein Gastfreund nannte das eine Uebertreibung der Mutterliebe; ich aber stimmte ganz mit Friederike überein: wenn nicht des Kindes, doch einer solchen Mutter wegen hätte der Vater kommen müssen; wie konnte man diesem Weibe gegenüber nur den leidigen Gelderwerb in die Wagschale legen! So geschah es, daß Friederike sich immer lebhafter und inniger an mich anschloß. Wenn ich mit ihr zusammen den Schlaf der Kleinen überwachte, ihre Besorgnisse und Kümmernisse anhörte, zu zerstreuen suchte oder meinen Teil daran forderte, ihr ein Buch vorlas, dem Kind ein Spielwerk mitbrachte, erfüllte ich in ihren Augen die Pflichten eines wirklichen Vaters; unmerklich schob ich den wahren Vater, den Entfernten, aus seiner Stellung. Ich that, was er hätte thun sollen, und da mein Alter und meine Gemütsart besser zu Friederikens Jahren und Ansichten stimmten, als die seinigen, galt ich ihr bald als der vorzüglichere Mann. Meine Empfindung für sie war die der reinsten Verehrung; ich sah und betete etwas in ihr wie das Ideal des Weibes an, eine Mischung von Jungfräulichkeit und Mütterlichkeit, wie ich sie bisher nur in den Werken der großen Maler angestaunt hatte, ohne an ihre irdische Verkörperung glauben zu können.
Nicht wenig trug der Gegensatz, in dem Friederikens poesievolle Erscheinung zu der trockenen Prosa meiner gutmütigen Wirtin stand, dazu bei, diesen Glorienschein um ihr liebliches Haupt täglich zu erneuen. Wohl erkannte ich, daß die zugleich glänzende und reizende Umgebung Friederikens den Zauber ihrer Gegenwart verstärkte; nur zu gut wußte ich aus eigener trauriger Erfahrung, welche Feindin eines schönen Lebens, einer sich immer gleich bleibenden würdigen und anmutigen Haltung die Armut, die Dürftigkeit ist – aber vielleicht, sagte ich mir, ist das Glück auch das größte Verdienst. Wenn es solche auserwählte Wesen nicht gäbe, denen die gemeine Sorge um das tägliche Brot, die Anstrengung und Mühe des Kampfes um das Dasein niemals den heitern Wechsel ihrer Tage und das gefällige Spiel der Erscheinungen stört oder trübt, wie armselig wäre die Erde! Sie sind in der Menschenwelt, was die schöne Landschaft in der Natur ist. Indem wir sie erblicken, fühlt sich unser Herz erfreut und erhoben, wie bei einem Blick von der Bergeshöhe in ein entzückendes Thal. Gemeine Seelen mögen sie beneiden, edlere begrüßen sie als den höchsten Ausdruck menschlicher Vollkommenheit. Ich konnte mir Friederike nicht anders als im Reichtum, inmitten wohlgeordneter Verhältnisse denken; der Harmonie ihres Wesens mußte die Ordnung und Sauberkeit des Aeußeren entsprechen.
»Du bist noch nicht weit und viel in der Welt umhergeschleudert worden,« meinte der erfahrene Freund bei meinem begeisterten Lob der schönen Frau, »und hast noch zu wenig Frauen in ähnlicher Lage kennen gelernt; du bist wie ein junger Mönch, der aus der Klosterschule seinen ersten Schritt ins Leben thut und überall Engel oder Teufel sieht.«
Nein – der Freund hatte Unrecht; hundert und aberhundert reiche und vornehme Frauen habe ich seitdem in nächster Nähe, mit und ohne Schleier gesehen, aber eine Friederike habe ich nie wieder gefunden!
Wohin mein Gefühl mich führen könnte – ich ahnte es nicht. Ohne Rück- wie ohne Vorgedanken überließ ich mich der Gegenwart. Ich weilte wie in einem verzauberten Garten. Gerade genug, daß die Sorge um das langsam genesende Kind noch an die Wirklichkeit erinnerte und mich immer wieder aus dem Labyrinth der Empfindungen zurückzog. So unendlich erhaben dünkte mich Friederike, daß ich fest überzeugt war, meine Augen würden nie anders als wie zu einem Heiligenbild zu ihr emporschauen. Und ahnungslos des Abgrunds, dem wir entgegentrieben, war auch sie in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft. Sie hatte nach einem Retter ihres Kindes gerufen und ihn in mir gefunden. Die Dankbarkeit, die sie jedem andern an meiner Stelle ebenso gewidmet haben würde, erhielt durch die Einsamkeit, in der sie lebte, durch den Unmut über die Hartherzigkeit ihres Gatten, durch die Aehnlichkeit unseres Wesens, wie ich glaube, eine wärmere Färbung. Darüber hinaus dachte und sorgte sie nicht. Erst als es zu spät war, blickte sie auf den Weg zurück, den wir gewandelt. Und niemals waren zwei Menschen einen lieblicheren dahingegangen. Als die fortschreitende Genesung des Kindes meine täglichen Besuche und noch mehr mein stundenlanges Verweilen in Friederikens Hause unnötig machte, hatten wir uns schon so sehr in diese Gewohnheit hineingelebt, daß uns das Aufhören derselben mehr erschreckt haben würde, als das Fortsetzen. Nach wie vor erschien ich am Morgen in der Villa, nach wie vor blieb ich am Abend. Ich war der Hausgenosse, dessen Erscheinen zu jeder Zeit nicht einmal der Dienerschaft mehr auffiel, der Hausfreund, den der Gemahl in seinen kurzen Briefen nie zu grüßen vergaß. Eine Weile bildete noch das Kind, die um sein Wohl und Wehe ausgestandenen Aengste und Beschwerden den Mittelpunkt unserer Gespräche, aber allmählich suchten sie andere Stoffe und Ziele. Wir lasen zusammen in unseren Dichtern, neben einander schritten wir durch die schattigen Laubgänge des Gartens oder schauten von der Terrasse auf den im Abendrot schimmernden Strom und die gegenüberliegenden Berge.
Es war, wie man nun will, unser Glück oder unser Unglück, daß für mich wie für Friederike eine zärtliche, schwärmerische, romantische Neigung noch eine ungekostete Frucht vom Baume der Erkenntniß war: sie hatte ohne Liebe, aber auch ohne Widerwillen ihrem Gatten vor fünf Jahren die Hand gereicht und in ihrem Lebenskreise Keinen getroffen, der ihr ein wärmeres Gefühl erweckt, dem sie ein größeres Vertrauen hätte schenken können, als eben ihm; mir war in harter, unablässiger Arbeit der Umgang mit Mädchen und Frauen beinahe ganz verwehrt gewesen – ich hatte mit der Welt um das Dasein ringend keine Muße für Liebeständeleien, nicht einmal für eine Schülerliebe gefunden. Den Naturtrieb kannten wir beide; aber was die Liebe ist, war uns unbekannt wie der Apfel der Hesperiden. Wir hatten von idealischen Gefühlen bisher nur gelesen und geträumt, jetzt erlebten und erlitten wir selbst sie.
Welche Stunden! Hätten sie ewig dauern oder wir doch mit ihnen schmerz- und schuldlos in die Unendlichkeit versinken können! Freilich damals freuten wir uns jedes neuen sonnigen Tages, der uns aufstieg. Dieselbe Uhr, die mir jetzt regungslos gegenübersteht, der einzige Zeuge jener Vergangenheit, der letzte Rest, der von ihr geblieben, wie oft gebot uns ihr Weiser Trennung. Ein Erbstück noch von der Großmutter her, schmückte die altmodische Uhr das Lieblingszimmer Friederikens im Erdgeschoß. Von unseren Wandelgängen durch den Garten zurückgekehrt, sagten wir uns hier, wenn die Uhr die zehnte Stunde verkündigte, Lebewohl. Wie berauscht stieg ich dann den Hügel hinauf, um noch lange am offenen Fenster stehend auf die dunklen Wipfel ihrer Bäume herabzuschauen, die in ihrem Schatten sie, ihr Kind und ihr Haus einschlossen und verbargen. Ich hatte ihr meine ganze Jugendgeschichte erzählen müssen, bis zu dem Tage, an dem ich sie zum ersten Male gesehen, der für mich einen neuen Lebensabschnitt bezeichnete. Es war im Vollmondschein; wir gingen unter den Platanen hin und wieder, zuweilen fiel das Mondlicht auf ihr Gesicht, daß es wundersam erglänzte; unsere Hände suchten und verschränkten sich in einander ... da entfloh mir das erste Liebeswort. Sie zuckte zusammen, sie erwiderte nichts, aber sie duldete doch, daß ich ihre Hände mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. Ich wollte vor ihr niederfallen, ihre Kniee umfassen – »Gotthold! Gotthold!« hauchte sie leise, und ihre Lippen berührten meine Stirn. Im nächsten Augenblick war sie entschwunden. Ich wagte ihr nicht zu folgen; glückselig irrte ich unter den Bäumen hinauf und hinab. Als ich endlich in den Salon zurückkam, Abschied zu nehmen und meinen Hut zu holen, saß sie am Tisch und blickte ohne zu lesen in ein Buch. Bei meinem Eintritt fuhr sie empor – eine Sekunde standen wir uns so wortlos mit fliegenden Pulsen und glühenden Gesichtern gegenüber. »Gute Nacht, liebe gnädige Frau!« stammelte ich. Da warf sie sich heftig weinend an meine Brust, küßte mich unter Thränen und rief: »Nun gehe, gehe!« Und sie drängte mich zur Thür. Ein Klügerer oder ein Kühnerer würde geblieben sein und es auf eine nochmalige Abweisung haben ankommen lassen, aber ich war ein Neuling in der Liebe und zu gewohnt, jedem ihrer Winke zu folgen. Auch getraute ich mich in meiner Zaghaftigkeit gar nicht an mein volles Glück zu glauben und fürchtete, wenn ich fest danach griffe, würde es mir in leere Luft zerrinnen. Sie mich lieben! dies Götterbild sich zu mir herabneigen – nicht im verwegensten Traume hätte ich es gefordert, und nun war es Wirklichkeit. Was wollte, was konnte ich noch mehr wollen?
In jener Nacht nichts mehr, das große unverdiente Glück hatte alle geringeren Wünsche verschlungen. Denn im ersten Rausch einer schwärmerischen Jugendliebe erscheint die Seligkeit, wieder geliebt zu werden, als der Inbegriff alles Höchsten und Begehrenswerten; das Herz wagt sich noch gar nicht an den Gedanken, die Geliebte zu besitzen, heran. Nichts trübte mir darum den Vollgenuß jener Stunden. Am nächsten Tage fiel freilich der Schatten des Irdischen wieder auf unsern Weg. Mit seltsamer Scheu, wie ich sie bisher an der ihres Wesens und ihrer Rede so sicheren Frau noch nicht wahrgenommen, begegnete sie mir; sie vermied es, mit mir allein zu sein, und behielt ihr Töchterchen um sich, es bald an der Hand fassend, bald es auffordernd, auf dem Teppich zu ihren Füßen zu spielen. Viel früher als sonst verabschiedete sie mich, unter dem Vorwande, daß sie noch Briefe zu schreiben habe, und als ich sie anschaute und »Friederike!« rief, erwiderte sie meinen Blick mit so bittendem, so herzrührendem Ausdruck ihrer Augen, daß ich nichts anderes zu thun vermochte, als zu gehen. Lange brauchte ich nicht nach der Ursache ihres Benehmens zu suchen: gerade als ich aus der Gartenpforte ging, übergab der Briefträger dem Hausdiener einen Brief – »Ach! vom Herrn!« sagte der, nachdem er die Aufschrift angesehen. Und damit sank die Last, die ihre Seele bedrückte, auch auf die meinige. Sie war vermählt, einem andern hatte sie Treue gelobt – wir standen vor einer Schuld. Eine quälende Unruhe ergriff mich. Ich war unter dem kategorischen Imperativ der Pflicht erzogen worden und hatte danach mein Leben eingerichtet. Wollte ich aufrichtig sein, konnte ich nicht einmal sagen, daß es mir seelisch schwer geworden, bis dahin alle meine Pflichten nach Kräften zu erfüllen. Hart hatte ich arbeiten müssen, Lieblingsplänen entsagt, auf den schönen Schein der Welt verzichtet, statt frei und ganz mich der Wissenschaft hinzugeben, als Tagelöhner gedient: aber ich hatte das alles wie eine Bestimmung auf mich genommen und mich nicht lange mit unnützen Gedanken aufgehalten. Jetzt zum ersten Male entbrannte in meinem Innern ein harter Kampf. Der Scheideweg des Herkules war da. Die eine Erkenntniß führte die andere herbei; waren wir schon zur Hälfte schuldig geworden, wie lange konnte es währen, und wir wurden es in jedem Sinne! Weil wir wußten, daß wir an eine verbotene Frucht gerührt, mußte sie bald doppelt verlockend für uns werden. Nur die Flucht konnte mich davor bewahren, sie zu brechen. Aber Friederike fliehen! Für immer mich von ihr losreißen, jeder Hoffnung, sie wiederzusehen, zu entsagen: es war zu viel! Und mußte denn gleich das Aeußerste geschehen, konnte unsere Liebe nicht auch ferner rein im reinen Gewande bleiben?
So war ich denn am nächsten Tage wieder in der Villa. Wie wir beide uns ansahen – so hatten wir uns noch nie angesehen, auch damals nicht, als ich ihr meine Liebe gestanden.
»Sie wollten mich verlassen,« sagte Friederike nach den ersten in der Gegenwart der Dienerin und des Kindes gewechselten Begrüßungsworten, als wir allein waren, »ich habe die Nacht in schmerzlichen Gedanken durchwacht, und die Ahnung zerriß mir das Herz, daß Sie auf Flucht sännen, auf Flucht vor der Liebe und vor mir.«
»O Friederike, Sie allein haben über mich zu gebieten! Ein Wort von Ihnen heißt mich bleiben oder vertreibt mich. Sprechen Sie dies Wort; ich höre auf keine andere Stimme als die Ihrige, bei Ihnen liegt die Entscheidung meines Schicksals.«
»Kann ich dies Wort denn sprechen, Gotthold? Wie wäre ich darauf verfallen, daß Sie mich fliehen wollten, wenn ich nicht selbst den Gedanken unserer Trennung in mir erwogen hätte! Durch ein unlösliches Band bin ich mit einem Anderen verbunden – und doch kann ich Ihnen nicht sagen: verlaß mich. Wenn Sie von mir gingen – ich weiß nicht, was geschähe, aber selber mein Unglück zu vollenden, dazu fehlt mir die Kraft.«
»Und warum sollte ich Sie fliehen,« entgegnete ich in der Selbstbethörung der Leidenschaft, »da ich Sie wie eine Heilige verehre, da ich keinen andern Wunsch hege, als Sie glücklich und ruhig zu sehen« ... und was uns in solcher Lage noch weiter der Wahn, Meister unsers Willens zu bleiben, und die Hoffnung, daß die Seele so wie jetzt immer über die Begierden der Sinnlichkeit triumphiren werde, auf die Lippen legen – eitle, fadenscheinige Gründe, wenn sie nicht an eine Frau gerichtet würden, deren Herz nichts weiter verlangt, als bethört zu werden. So viel schwärmten wir einander von hingebender Freundschaft, von unentweihter Seelensympathie und platonischer Liebe vor, daß wir an jenem Abend überzeugt waren: wir würden am Absturz nicht straucheln. »Wir haben einen Engel, der uns beschützen wird,« sagte Friederike und schloß ihr Töchterchen in ihre Arme, »ich habe es geboren, du hast es gerettet, lege deine Hand auf dies unschuldige Haupt, daß wir niemals vor diesem Kinde zu erröten brauchen.«
Mein Gastfreund mochte sich das Seinige von meinen Besuchen in der Villa denken, er gehörte in Liebessachen nicht zu den strengen Moralisten, sondern eher zu denen, die mutig ein gutes Glück erhaschen und festhalten, wo und wie es sich ihnen bietet. Unsere Gefühlsentzückungen würde er einfach als überwundene Romantik zurückgewiesen haben. So gab es niemand, der uns hätte raten können – als ob wir noch Rat angenommen! Wir waren eben in der Gewalt einer übermächtigen Leidenschaft, die mit uns ihr grausames Spiel trieb und uns bald mit heftigem Anreiz, bald mit dem Martyrium der Entsagung quälte. Eins nur war gewiß, in diesen vier Tagen war trotz aller guten Vorsätze unser Handdruck zärtlicher und unser Lebewohl länger geworden. Immer, wenn die Stunde des Aufbruchs schlug, hatten wir uns noch etwas zu sagen, immer schwerer wurde die Trennung. Wir hüteten uns wohl, unsere Stimmung in ein Wort zu fassen, aber statt dessen redeten die Blicke. Stumm und doch verständlich leuchtete in ihnen Frage und Antwort, ein schüchternes Verlangen, ein halbes Gewähren auf. Eines Abends war sie besonders erregt, in stürmischer Hast, voll wechselnder Launen – ich schob es auf die Schwüle der Luft, ein Gewitter zog von Süden her den Strom hinunter. Von den verschiedensten Dingen hatten wir gesprochen, wie wir uns einander schreiben wollten, daß ich aus der Hauptstadt nach ihrem Wohnsitz ziehen sollte, daß mir ihr Einfluß und der ihrer Verwandten bald eine auskömmliche Praxis dort verschaffen würde, von der Schönheit des Sommers, von der Kürze des Lebens, von der Bedürftigkeit des Menschen und der Unsterblichkeit der Seele, wie das Loos der Armen an Geist und Herz auf Erden das glücklichste wäre – alles wirr und kraus durcheinander, wie Menschen, die den Gegenstand, der sie einzig beschäftigt, nicht zu berühren wagen. Endlich faßte sie Mut: »Gotthold, am Sonntag trifft mein Mann hier ein –« und ihrer Gefühle nicht mehr Herrin, brach sie in ein wildes Schluchzen und Weinen aus.
»Dein Mann?« fragte ich zurück, nicht weniger entsetzt, als sie: das Unerwartete schlug mich nieder.
»Er ist heute in Ostende, morgen wird er in Köln sein – er will das Kind sehen.«
»Und du?«
»Und ich!« brach sie leidenschaftlich aus. »Ich bin das unglückseligste Weib. Einem Mann verbunden zu sein, sich ihm versprochen zu haben für Tod und Leben, den man nicht liebt, ist ein Elend, aber es ist erträglich, so lange man nicht liebt. Aber ich liebe dich – dich allein und kann nicht länger die Seine sein. Der bloße Gedanke erregt mir einen tödlichen Schauer, ich bin entwürdigt in seinen Armen.«
Mit entfesselten Haaren stürmte sie durch das Gemach, in dem Sturm, der ihr Innerstes aufwühlte, hatte sie all ihre sonstige Gemessenheit verloren. Zu der Spannung unserer Gemüter stimmte das Rollen des heranziehenden Gewitters und der Widerschein des fernen Blitzes.
»Giebt es etwas Bejammernswerteres als ein Weib?« fuhr sie heftig fort. »Sie ist die Sklavin, die Puppe, die Beute des Mannes, der sie erworben. Es fällt ihm nicht ein, nach den Bedürfnissen ihres Herzens zu fragen – genug, wenn er für sie sorgt, er ist dann schon der beste Gatte, dem sie Gehorsam und Treue schuldet.«
»Denke nicht mehr an ihn,« unterbrach ich sie, »wir sind beisammen, Friederike, ich liebe dich, keine Macht soll dich jetzt mir entreißen; die Liebe ist das höchste Gefühl, das uns gegeben ward, sie allein hat Recht vor allen anderen Gesetzen und Pflichten.«
Sie hatte eine Weile am Fenster gestanden und in das Blitzgefunkel hineingestarrt, jetzt umschlang ich sie mit meinen Armen.
»Durch dich lebe ich erst und soll dich nun aufgeben, Friederike, dich für immer verlieren, ohne dich je besessen zu haben, und dabei zu wissen, daß du mich liebst – sei mein! sei mein!« flehte ich.
In ihren Thränen war sie widerstandslos; das lange, seidene, sie umflutende Haar, das unter der Berührung meiner Hand leise knisterte, wie elektrische Funken, die Unordnung ihrer Kleidung machten sie noch verführerischer und begehrenswerter. »Mutter! Mutter!« rief es da nebenan – die Stimme des Kindes, das ein stärkerer Donnerschlag aus seinem Schlafe geschreckt hatte. Ich werde nie den Blick vergessen, mit dem mich Friederike bei diesem Rufe anschaute. Sie riß die Glasthür, welche den Salon von dem Nebenzimmer trennte, auf und kniete neben dem Bette Elsbeth's nieder. Und in demselben Moment hob die Uhr – dieselbe Uhr, die mir jetzt wieder gegenübersteht, aus und schlug die zwölfte Stunde. Die Glasthür stand offen, mit ihren Liebkosungen und tröstenden Worten hatte die Mutter das schlaftrunkene Kind bald wieder eingewiegt, das Wetter, das einen Augenblick über unsern Häuptern gestanden, schien sich fernab von uns nach dem jenseitigen Ufer hinüberzuziehen – noch hatte der Zeiger auf dem Ziffernblatt nicht zehn Minuten zurückgelegt, aber in uns beiden hatte sich ein Umschwung vollzogen. Schon damals wäre es mir nicht möglich gewesen, was in mir vorging, genau zu schildern, wie vermöchte ich es jetzt nach dreiundzwanzig Jahren! Ihre rührende Schönheit, die Schuldlosigkeit ihres bisherigen Lebens – und dagegen eine schuldvolle, ungewisse Zukunft, das Versprechen, das wir uns gegeben, die dunkle Furcht, daß der Augenblick des Glückes durch viele Stunden des Grames und der Reue gebüßt werden müßte, die letzte Regung der Tugend, die sich noch einmal, halb besiegt im Kampf mit der Leidenschaft, aufrichtet – alles drängte sich mir wie auf einen Punkt, wie in einen Strahl zusammen, der mein Herz durchbohrte. Es war mir, als gingen auf dem Ziffernblatt der Uhr gespenstisch alle Stunden, die ich schon gelebt und die ich noch leben würde, vorüber – die ersten mit ernst ruhigem Gesicht, leicht beflügelte Gestalten, die andern, das Auge am Boden oder scheu sich umblickend, die Hände ringend, blaß und verstört, als wären die verfolgenden Furien auf ihren Fersen.
»Gotthold!« sagte da leise hinter mir ihre Stimme, und ihre Hand legte sich sanft auf meine Schulter. Ich hatte es nicht gemerkt, daß sie wieder aus dem Nebengemach hereingetreten war. »Das Kind schläft –«
Wie es nun auch gekommen, ob durch Zufall, ob durch unser Verdienst – das, was die Mehrzahl der Menschen in diesem Falle Glück genannt hätte, war verpaßt. Der unerbittliche Weiser der Uhr war über die Schicksalsminute hinweggeschritten und nicht wieder zurückzustellen.
»Friederike!« rief ich und fiel vor ihr nieder. Sie hatte die Haare aus der Stirn gestrichen und hob mich empor.
»Es ist besser so, Gotthold,« flüsterte sie, »glaub' es mir. Wir gehören nicht zu denen, welche die Reue nicht kennen oder sie doch zu ersticken wissen. Lass' uns schuldlos scheiden. Dann war alles wie ein Traum, aber ein seliger Traum, an den wir ohne Bitterniß zurückdenken können.«
Was sollte ich ihr entgegnen? Wie wild und ungestüm auch etwas im Innersten meines Herzens ihr widersprach, ich fand ihr gegenüber nicht mehr die überredenden, die siegreichen Worte. Aus mir selbst war das Dämonische der Leidenschaft gewichen; was übrig blieb, leuchtete wohl noch wie Abendrot, aber es wärmte nicht und zündete kein Feuer mehr an. Friederike war für mich wieder die Madonna unserer ersten Bekanntschaft geworden; kein sinnliches Begehren wagte sich an sie heran.
So sind wir von einander gegangen, glücklos und reuelos. Denn ich kann nicht behaupten, daß ich jemals später meine Entsagung, Schwäche, Dummheit oder Blödigkeit, wie man es nun nennen mag, bedauert oder dem Abenteuer ein anderes Ende gewünscht hätte. Am wenigsten in jener Neujahrsnacht, wo mir im plötzlichen Anblick der Adleruhr mit Josephinens Bildniß die Vergangenheit wieder lebendig wurde. Was damals mit der Schnelle des Gedankens und doch in hellsten Farben vor mir vorüberflog, habe ich manche Tage nachher hier niedergeschrieben. Blaß und matt das Ganze – ein rechtes Abbild meines Lebens. Am andern Tage reiste ich entschlossen ab. Auf meinen Abschiedsbrief schrieb sie mir einmal nach der Hauptstadt, es ist einer meiner theuersten Schätze; aber einen innigeren Briefverkehr lehnte sie ab. Drei Jahre nachher meldete mir der Freund, daß sie in Nizza gestorben sei.
Und ich mußte nach einer so langen, so wechselvollen Zeit, unter so veränderten Umständen ihrer Tochter wieder begegnen und wie von einer magischen Gewalt an sie gefesselt werden! Noch ehe ich eine sichere Bestätigung hatte, zweifelte ich schon nicht mehr, daß Elsa jenes Kind sei, das ich damals gehütet, bewacht und gebettet, dem ich, wie die Mutter in ihrer dankbaren Freude ausgerufen, ein zweiter Vater gewesen. Die unerklärliche Macht der Sympathie verband uns beide und wirkte zwischen uns mächtiger als die Verwandtschaft des Blutes. Uns unbewußt gab es einen geheimen Zusammenhang zwischen unseren Schicksalen und unseren Herzen, weil wir an einem dritten, an Friederikens Leben gleichen Teil gehabt. Mit einem Dasein, das vorübergegangen, mit einem Wesen, das ausgelöscht, waren wir verwachsen, und diese Gemeinsamkeit trieb uns trotz aller Hindernisse der Wirklichkeit zu einander. Zu einander und zugleich ach! aus einander! Wie durften die Lippen, die der Mutter Liebe zugeschworen, der Tochter dieselben Beteuerungen wiederholen! Die Neigung meines alten Herzens zu Elsa dünkte mich wie eine Verirrung des natürlichen Gefühls. Väterliche, freundschaftliche Empfindungen waren in dem farbenschillernden Theaterdunstkreis, der Elsa umgab, in eine Art phantastischer Leidenschaftlichkeit umgeschlagen – und wenn das Herz solche Deutung auch nicht zugeben wollte, der Verstand, die Pflicht, die Seele forderten sie gebieterisch. Einer, der als Jüngling die Mutter geliebt, konnte nicht in grauen Jahren die Tochter zum Traualtar führen – konnte vor allem nicht, weil er durch eine traurige Erfahrung wußte, daß er nicht geliebt wurde. Das Glas voll Wein ist wieder aus deiner Hand gefallen – da liegen die Scherben!
Inmitten dieses Gedankensturms, der mir im Gehirn tobte, hatte ich nur ein festes, unerschütterliches Bewußtsein: das meines Berufes. Ich war wieder an Elsa's Bett gegangen, die Fieberhitze hatte ein wenig nachgelassen. Einmal, als ich ihr den Eisumschlag zurechtrückte, schlug sie die Augen auf. »Sie sind es, mein Freund,« wimmerte sie, »wenn Sie bei mir stehen, verschwinden die Schreckbilder. Lassen Sie mich nicht sterben, ich bin die Ihre!«
Gutes Kind, deine Entscheidung kam zum Glücke schon zu spät – ein Schatten hatte sich zwischen uns aufgerichtet, den wir nicht verscheuchen durften.
Es dämmerte bereits, der trübe Morgen eines Wintertages, als ich, da jede unmittelbare Gefahr beseitigt war, in meine Wohnung hinüberging. Beinahe wäre ich zurückgefahren – wie vor einem Gespenst: in meinem Lehnstuhl saß Lüttow, im grauen Mantel, den Hut auf dem Kopfe.
»Ich erwarte Sie schon mehrere Stunden, Herr Medicinalrat,« sagte er zwischen Beben und Knirschen, »ich habe Ihrem Diener verboten, Sie zu rufen – Sie waren nebenan viel nötiger als bei mir.«
Der unheimliche Ausdruck des Mannes hatte jetzt noch die Zugabe des Verwahrlosten und Nachtschwärmers bekommen, so daß ich beinahe zweifelhaft war, ob er nicht ebenso sehr wie Elsa die Hilfe des Arztes bedürfe.
»Was begucken Sie mich von oben bis unten?« brach er aus, Hut und Mantel von sich schleudernd, »bin ich ein Todeskandidat – was liegt an mir!«
»Ein Todeskandidat,« antwortete ich gereizt – wie viele Ursachen hatte ich nicht, ihn zu hassen! – »nein, aber einer für das Irrenhaus.«
»Ich habe es auch schon gedacht. Was ich in dieser Nacht gelitten, würde auch einen besseren Verstand als den meinen außer Fassung gebracht haben. Erst als ich Sie eintreten sah, wurde mir leichter. Sie lebt, sie wird leben – ich habe nicht die Last eines doppelten Totschlages auf dem Gewissen. Aber seit Mitternacht jagte ich wild und unstät durch die Gassen, ich unter all' den Fröhlichen ein zwiefacher Mörder, der Mörder meines Jugendfreundes und meiner Geliebten. Hätte ich einen Revolver bei mir gehabt – Wetter! ich würde jetzt nicht das Vergnügen haben, Ihnen ein fröhliches Neujahr zu wünschen!«
Die Antwort ersparte mir der Diener, der mich die Thür hatte öffnen hören und nun in klugem Verständniß menschlicher Bedürftigkeit den Kaffee hereinbrachte. Mein seltsamer Gast hatte den erwärmenden Trank gewiß so nötig wie ich. »Nicht wahr – Sie verschmähen eine Tasse nicht?« sagte ich. Er trank hastig, in schnellen Zügen – in seine fahlen Wangen kam ein Schimmer von Farbe.
»Und Elsa – und Fräulein Themar,« verbesserte er sich, »ist außer Gefahr?«
»Ich hoffe es, aber schließlich würde auch ein stählerner Körper solchen wiederholten Erschütterungen nicht Stand halten, und Sie haben nun schon zum zweiten Male das Fräulein in Todesgefahr gestürzt. Trotz des Verbotes, das ich Ihnen als Arzt gegeben, sich ihr zu nähern, trotz Ihrer eigenen Versicherung, die Sie mir vor einigen Tagen machten, daß Sie jeder Hoffnung entsagt hätten. Ich habe weder Veranlassung noch Recht über Ihre Leidenschaft abzusprechen, aber Ihre Handlungen sind nicht die eines Mannes, der wahrhaft liebt.«
Nach dem Opfer, das ich in meinem Herzen gebracht, fühlte ich mich stark und hatte wieder die Stelle in diesem Drama gefunden, die meinen Jahren und meinem Stande geziemte. Ingrimmig, die geballte Faust auf dem Tische, schaute er mich von der Seite an; allein er merkte, daß seine Mienen, sein Zorn mich nicht einschüchterten.
»Nicht wahrhaft liebt? Weil ich eben anders liebe, als Sie? Weil ich kein Fischblut in den Adern habe? Weil ich nicht girre und seufze, sondern zugreife?«
»Nein,« entgegnete ich, »sondern weil Sie nicht achten, was Sie zu lieben vorgeben, und nur Ihre Befriedigung suchen, unbekümmert um die Empfindung der Geliebten.«
»Wollen Sie mich anhören?« fragte er darauf. »Der Gang zu Ihnen war mir nicht leicht; ich unterwerfe meine Handlungen nicht gern dem Urteil anderer, aber ich bin in Verzweiflung – zwischen Selbstmord und Irrenhaus.«
»Die Aufregung wird sich legen, Herr von Lüttow; sprechen Sie sich aus, vielleicht werden wir dann klarer sehen, was zu Ihrer, was zu Elsa's Heilung führen kann; ein Richter bin ich in der Sache nicht, nur ein Arzt.«
»Sie sind unter anderen Verhältnissen groß geworden als ich, haben nur mit Büchern und mit Kranken gelebt – alle Ihre Ansichten und Gefühle werden sich darum von den meinigen unterscheiden; aber Sie sind ein Mann und werden mich begreifen.«
»Ich will's versuchen, wenn auch nicht, um alles zu entschuldigen.«
»Als ob ich mich nicht selbst für einen ganz unseligen Menschen hielte! In meiner Familie sind der Jähzorn und das aufbrausende Wesen erblich. Und in einem solchen Charakter, der einer Pulvertonne gleicht, fällt nun der Funke der Liebe. Da muß wohl Würde, Haltung, Verstand in die Luft fliegen! Ich habe das Fräulein in Wiesbaden kennen gelernt, in glänzendster Umgebung, recht auf der Höhe des Lebens. Sie bewohnte mit ihrem Vater, dem Kommerzienrat Asser« –
»Asser!« nickte ich ... sie war Friederikens Tochter!
»Kannten Sie den Mann?«
»Ich habe gelegentlich von ihm gehört.«
»Sie bewohnten eine kleine, in der Nähe der Stadt reizend gelegene Villa, mit Dienerschaft, Wagen und Pferden. Welche Rolle Fräulein Elsbeth in der Badegesellschaft spielte, brauche ich Ihnen nicht zu schildern. Sie war voll Geist und Leben, immer in der geschmackvollsten Kleidung, überreich mit allen gesellschaftlichen Talenten begabt, zu Pferde sah sie entzückend aus. Ich verliebte mich in sie, blindlings, kopfüber. In dem Schwarm der Verehrer, der Freunde, der ernsthaften Bewerber, die sich um das reiche und schöne Mädchen drängten, kostete es einige Mühe, einen ersten Platz zu erringen. Aber es gelang mir, von ihr bemerkt und wenigstens durch Neckereien ausgezeichnet zu werden. Sie glauben mir, daß unser Verhältniß damals nichts von der Spannung und der Pein hatte, die es seitdem angenommen.«
»Ich glaube es gern, die Frage ist nur, durch wessen Schuld es sich verändert.«
»Schicksal! Schicksal! Ich hatte dem Mädchen gegenüber die redlichsten Absichten; wir standen in dem passenden Alter zu einander, sie brauchte, schön wie sie war, nicht zu fürchten, nur ihres Vermögens wegen geheiratet zu werden – ich bin reich, und wenn ich Schulden hatte, konnte ich sie allein bezahlen.«
»Aber was half das Ihnen, wenn Sie nicht geliebt wurden?«
»Wurde ich nicht geliebt? Das eben hat mich toll gemacht. Es hat Augenblicke gegeben, wo ich das Gegenteil glauben durfte, wo auch die anderen überzeugt waren, daß Elsbeth sich für mich erklären würde. Eine unüberwindliche Scheu hielt sie indessen zurück, mir ihr Jawort zu geben. Man mag ihr von meiner Unbändigkeit und Wildheit erzählt haben, und sie empfand eine Art Schrecken vor mir, der das Gefühl der Liebe nicht aufkommen ließ. Es lag tief vergraben, wie unter einem Alp, den es nicht von sich abschütteln konnte. Und ich bin ein schlechter, ein zu ungeduldiger Schatzgräber. Manche meiner Aeußerungen und Handlungen verstärkten die schlimme Meinung, die sie von mir hatte: ich habe einmal gesagt, daß ich es wohl verstände, wenn einer in Liebesraserei die Geliebte töte. Hm! das war nicht vielverheißend für eine, die meine künftige Gattin werden sollte, um so weniger, da sie einen starken Eigenwillen und einen harten Trotzkopf hatte. So hab' ich Wiesbaden verlassen, ohne ihr Herz, ohne ihre Hand zu erhalten: die Nachricht von der gefährlichen Erkrankung meines Vaters rief mich nach meiner preußischen Heimat. Dort hörte ich von dem Fallissement des Kommerzienrats Asser – gerade sechs Monate waren seit unserm lustigen Badeleben vergangen – daß er aus Kummer darüber gestorben, daß die Tochter ihr eigenes Vermögen daran gegeben, um den Makel von dem Namen ihres Vaters zu löschen, und fern zu Verwandten, bald hieß es nach Holland, bald in die Schweiz, verzogen sei. Genug, für mich war Elsbeth Asser verschollen. Nun malen Sie sich mein Erstaunen, den Wirbelsturm von Gedanken und Gefühlen aus, als ich dies Mädchen auf der Bühne meiner Garnisonstadt als Emilia Galotti wiedersehe! Die Flamme meiner Leidenschaft war noch nicht niedergebrannt, sie schlug bei diesem Anblick mit erneuter Glut auf. Alles diente ihr zur Nahrung: Elsa's Unglück, ihr Talent, ihre neue Stellung, die verschiedenen Rollen, die sie spielte, die Selbständigkeit und Einsamkeit ihres Lebens – ach! Sie haben es ja selber durchgemacht, diese Hölle, dies Fegefeuer und Paradies, was man eine Schauspielerin lieben heißt.«
Eine Weile saß er, den Kopf in beide Hände gestützt, schweigend, in sich hinein brütend, da. »Das Uebrige,« fuhr er dann fort, »wissen Sie wohl, sie wird es Ihnen erzählt haben. Ich habe meinen liebsten Freund erschossen – aus Verblendung, Eifersucht, Jähzorn, Wahnsinn ... immer bleibt es doch bestehen: ich bin ein Mörder. Zuweilen, während der Festungshaft, hoffte ich, daß ich sie, die unschuldige Ursache meiner Unthat, hassen und fortan fliehen, daß der Schatten des Getöteten neben ihr einhergehen würde ... Es war thörichte Gespensterfurcht. Ich liebe sie heftiger als je: mein Freund ist dieser Leidenschaft zum Opfer gefallen, ihre Liebe ist mir den Ersatz für ihn schuldig. Das Blut, das vergossen wurde, kittet uns an einander – vergebliche Mühe, dies Band zu zerreißen. Manchmal regt sich die verständige Ueberlegung und sagt mir, daß Elsa mit mir und ich mit ihr unglücklich werden würde – kann sein! zischelt der Dämon dazwischen, aber zuerst werdet ihr glücklich sein. Seit Tagen suchte ich eine Unterredung mit ihr, ich wollte ihr noch einmal mein Herz ausschütten, noch einmal mich bemühen, ihren Starrsinn zu brechen – ich hatte mich hinter eine ihrer Kameradinnen gesteckt und das gutmütige Mädchen für mich gewonnen. Allein Elsa verweigerte mir den Zutritt zu ihrer Wohnung, sie mochte einen Zusammenstoß zwischen mir und Ihnen besorgen. Da machte die Vermittlerin den Vorschlag, wir alle drei sollten uns auf dem Maskenballe treffen; ich würde Muße und Gelegenheit finden, mich auszusprechen, und zugleich gäben die Oeffentlichkeit des Ortes und die Menge der Gäste Elsa Sicherheit gegen meine etwaige Heftigkeit. Daß sie einwilligte, bestätigte mir wieder den Glauben, der mich noch nicht verlassen, daß eine leise Stimme in ihrem Herzen für mich spricht.«
»Ich glaube es beinahe auch,« sagte ich unwillkürlich; seine Erzählung hatte mir ein gewisses Mitleid mit ihm erweckt.
»Sie auch!« schrie er auf. »Viktoria!« Und er umarmte mich stürmisch. »Es wird doch noch gut werden, sie wird sich umstimmen lassen und endlich erkennen, daß all mein Thun nur aus Liebe zu ihr entspringt.«
»Aber ich weiß noch immer nicht, was in der Nacht vorgefallen ist und Elsa in diesen Zustand versetzt hat,« unterbrach ich ihn.
Er rieb sich die Stirn und zog die buschigen Augenbrauen noch dichter zusammen.
»Was soll ich Ihnen sagen? Ein Wort gab das andere – man hatte mir zugeflüstert, sie dächte daran, die Bühne zu verlassen und eine reiche Heirat zu schließen – mit Ihnen, natürlich,« lachte er halb spöttisch, halb hämisch dazwischen. »Und als sie auf meine Frage, ob das Gerücht die Wahrheit spräche, nicht so antwortete, wie ich es gehofft, wogte es wie eine Blutwolke vor meinen Augen. ›Hüte dich!‹ rief ich, ›es ist schon einer um dich gestorben!‹ Gerade mußte da Mitternacht schlagen und der Jubel im Nebensaal ausbrechen – sie fiel besinnungslos nieder, mich rissen die Menschen fort oder jagten die Furien hinaus!«
»Und nun?« fragte ich nach einer längeren Pause, da er nicht Willens schien, unaufgefordert seine letzten Gedanken zu äußern, »was soll, was kann nun geschehen?«
»Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, Herr Medicinalrat, Ihnen eine Beichte abzulegen: ich kam, ein von Angst Gefolterter, der von Ihnen Tod oder Leben erwartet; das Gespräch hat mich weiter geführt, als ich beabsichtigte. Sie wissen jetzt, wie diese Geschichte begonnen und sich verwickelt hat, wie es um mein – wie es um Elsa's Herz steht. Wir sind Nebenbuhler, und wir müßten uns eigentlich die Hälse brechen, aber Sie sind ihr Retter und Arzt, Sie haben selbst vorhin zugegeben, daß Elsa's Herz sich zu mir neige – seien Sie großmütig, werden Sie mein Fürsprecher. Mir ist es immer, als wäre alles, was uns trennte, nur Schein und Mißverständniß, als bedürfte es nur einer ruhigen und glücklichen Hand, diese Scheidewand zu entfernen. Ich besitze eine solche Hand nicht, aber Sie« ...
Bei all' seiner Wildheit lag etwas Bestechendes in seinem Benehmen, und in der Entsagungsstimmung, in der ich war, konnte ich seine Bitte nicht abschlagen. Vielleicht versprach ich ihm mein Fürwort auch nur, ohne mir recht klar darüber zu werden, um mich und Elsa eine Weile von ihm zu befreien.
»Sie werden nichts unternehmen, Herr von Lüttow, bis ich Ihnen Nachricht gegeben,« sagte ich beim Abschiede.
»Auf Ehrenwort.«
»Und sich der Entscheidung des Fräuleins fügen?«
»Auch das. Es soll der letzte Versuch sein« – dabei griff er mit beiden Händen in den rötlich blonden Bart und bemühte sich, hell auf zu lachen. Aber es kam nur ein heiserer Ton und eine Gesichtsverzerrung heraus. Der Wolf in ihm stritt beständig mit dem Menschen.
Wie nach Elsa's erstem Unfall, stellte sich auch diesmal, nachdem die Kraft des Uebels gebrochen war, die Besserung und Genesung schnell wieder ein. Ihre gute Natur rückte alles bald in das Gleichgewicht; sie schrak leicht zusammen, wie die Mimose, allein die Gesundheit und glückliche Beschaffenheit ihres Körpers, verbunden mit ihrer Jugend, tilgten eben so rasch die Spuren des Schreckens. Nur aus ihrem Gemüt schien er diesmal nicht weichen zu wollen. Ihre Stimmung hatte eine düstere Färbung angenommen, kein Mittel, sie zu erheitern, schlug durch. Die Unmöglichkeit, auf der Bühne während der nächsten Tage aufzutreten, der Gram, durch eigene Unvorsichtigkeit sich den Fortgang ihrer Triumphe verscherzt zu haben, mochte mit an ihrem Herzen nagen.
»Dieser eine Maskenball,« sagte sie bitter, »hat mich von der Laune geheilt, je einen zweiten zu besuchen. Ich habe meine Thorheit theuer bezahlt, aber ich hoffe, daß es Ihrer Frau zu gute kommen wird.«
Sie glaubte oder gab sich den Anschein zu glauben, daß unsere Verbindung eine fest beschlossene Sache sei, und daß es nach allem, was geschehen, kaum noch ihrer besonderen Einwilligung bedürfe. Zunächst widersprach ich ihr nicht; die Enttäuschung, die ihrer wartete, bereitete ihr schwerlich einen ernsthaften Schmerz, die Empfindungen der Dankbarkeit und Freundschaft erlitten durch die Enthüllungen, die ich ihr zu machen hatte, keinen Eintrag, sondern erfuhren dadurch nur eine Reinigung und Läuterung; alle Schlacken eines falschen Gefühls, einer im tiefsten Grunde halb unfreiwilligen Zärtlichkeit fielen von ihnen ab, fortan brauchten sie ihren Glanz nicht von dem Namen der Liebe zu borgen, in dem Licht ihrer eigenen Schöne konnten sie strahlen. Ich allein hatte einen unersetzlichen Verlust zu beklagen, ich allein sah einer freudlosen Zukunft entgegen. Es war nur menschlich, mich eine kurze Frist noch in dem holden Wahn eines erträumten Glückes zu wiegen und dabei zugleich die Anzeichen aufzusuchen und zu finden, daß dies Glück sich niemals hätte verwirklichen lassen – so viel Selbstquälerei darin lag, so viel Stärke der Entsagung schöpfte ich doch auch daraus.
Eines Abends begann sie von ihren Eltern zu erzählen; ich müsse doch ihre Herkunft wissen, ehe ich sie heimführe. –
»Ach! Elsa, ich kenne Sie längst – länger als wir beide es bis jetzt geglaubt,« antwortete ich. »In jener Neujahrsnacht – die Uhr dort hat mir alles verraten.«
»Die Uhr? Wie merkwürdig! So altmodisch und wunderlich sie aussieht, ich habe mich nie von ihr trennen können. Schon als Kind hatte ich sie lieb, wohl des hübschen Bildes willen. Sie ist ein Erbstück aus dem Hausrat meiner Urgroßmutter, und bei dem Zusammenbruch unseres Hauses habe ich sie als eine der wenigen Reliquien einer glücklicheren Zeit gerettet. Und Sie wollen sie kennen?«
»Beinahe so genau wie Sie« – sagte ich und konnte vor Bewegung eine Thräne nicht unterdrücken.
»Um Gottes willen, was ist Ihnen, mein Freund? Sie weinen! Habe ich eine so schmerzliche Erinnerung erweckt?«
»Die traurig süßeste meines Lebens, Elsa, die Erinnerung an Ihre Mutter!«
»An meine Mutter!« Sie stand vor mir und schaute mir tief in die Augen. »Ich war noch ein Kind, als ich sie verlor, und habe nur eine ganz undeutliche Vorstellung von ihr. Sie haben sie gekannt? O sie war gut und schön, erzählen Sie mir von ihr. Ich weiß so wenig von ihrem Sein und Denken, ich bin unter fremden Leuten groß geworden. Der Vater sprach nur selten von der Vergangenheit, und ich wagte nicht oft, als ich wieder aus der Erziehungsanstalt in sein Haus zurückgekehrt war, nach der Verstorbenen zu fragen; Sie aber haben ihr ein gutes Angedenken bewahrt« ...
»Ich habe sie geliebt, Elsa« –
»Meine Mutter!« Und mit einer unbeschreiblichen Bewegung, in der sich Staunen, Scheu und geheime Freude ausdrückte, griff sie mit ihren beiden Händen nach ihrem Herzen, als müsse sie es hindern, sich durch sein lautes Pochen zu verraten.
»Und vielleicht entspringt aus dieser Liebe die Sympathie, die mich mit Ihnen verbindet,« setzte ich rasch hinzu.
Sie saß auf einem niedrigen gestickten Stuhl halb zu meinen Füßen, die Hände im Schooß verschränkt, zuweilen zu mir aufblickend, zuweilen träumerisch in die rotglühenden Kohlen des Kamins schauend. So erzählte ich ihr die Geschichte meiner ersten Liebe. Es gab nichts darin zu verschweigen oder zu übertünchen, weder hatte ich vor ihr noch hatte sie über ihre Mutter zu erröten; es war eben eine deutsche Liebe, kein Abenteuer, wie sie es in ihren französischen Komödien zu spielen pflegte. War es nun die Rührung, die mich überwältigte, oder hatte die Einfachheit und Unschuld des ganzen Vorgangs eine solche Gewalt – thränenüberströmt legte sie ihr Haupt, als ich geendet, auf meine Kniee. Ich mußte ihr den vergilbten Brief Friederikens herüberholen, und sie las ihn mit dem Ausdruck tiefster Erregung.
»Warum mußte ich sie verlieren, ehe ich sie recht hatte lieben lernen!« schluchzte sie. »Ja, mein verehrter Freund, in der Erinnerung an sie werden wir immer vereinigt bleiben!«
»Ja wohl, in Freundschaft verbunden, liebe Elsa,« sagte ich und schloß sie in meine Arme. »Jedes unklare Gefühl ist aus meiner Brust gewichen, die Verwirrung hat sich gelöst – ich liebte ahnungslos in Ihnen die Mutter, ich glaubte mich berufen, Sie zu beschützen, als Ihr Gatte Sie zu vertheidigen – es war nur die letzte Nachwirkung jenes Dranges, der mich damals trieb, das Leben des Kindes vor dem Tode zu schirmen. Vergeben Sie mir die Irrung meines Herzens, wenn sie, wie ich fürchte, Ihnen schwere Stunden bereitet hat, und vertrauen Sie fortan in jeder Lage und zu jeder Zeit Ihrem Freunde!«
»Wie mein Leben, schulde ich Ihnen nun auch meine Freiheit,« brach sie aus, »so kann ich denn ganz, ungeteilt und ohne quälende Rückgedanken mich meiner Kunst widmen, es überkommt mich aus Ihrem, aus meiner Mutter Beispiel etwas wie eine Reinigung aller Leidenschaften, zum ersten Male fass' ich den Glauben an meine Künstlerschaft!«
Aus ihren Augen leuchtete ein Feuer, wie es mir so hell und strahlend noch nicht daraus entgegengeglänzt, eine edle Begeisterung beseelte und erhöhte ihr ganzes Wesen. Es war Unrecht, diese getragene Stimmung zu stören und, statt die eine Saite voll ausklingen zu lassen, eine andere zu berühren, die aller Wahrscheinlichkeit nach einen schrilleren Ton von sich gab. Aber wenn ich diese Gelegenheit gegenseitiger Offenbarungen versäumte, ihr von Lüttow zu sprechen, wer wollte sagen, ob ich sie bald wiederfand? Welche Ueberwindung es mich auch kostete, ich war entschlossen, ihm mein Wort zu halten. Ueberlegte ich ihr Benehmen gegen ihn, so konnte auch ich nicht daran zweifeln, daß sich das Seltsame und Widerspruchsvolle darin am besten durch eine von mancherlei Einwänden und Bedenken bekämpfte, über sich selbst ungewisse Neigung erklärte.
»Sie kennen meine Ansichten über das Schauspielertum und das Bühnenleben,« sagte ich darum nach einer Weile, an ihre letzten Worte anknüpfend. »Ich begreife sein Berauschendes, die Verklärung der ganzen Persönlichkeit auf den Brettern, im Schein der Lampen. Die Kunst selbst, wer schätzte, wer bewunderte sie nicht! Ob aber ihre Ausübung den Künstler glücklich macht? Niemand kann Ihnen eine glänzendere Zukunft wünschen, als ich, der ich frei von allen eigensüchtigen Hoffnungen und Eitelkeiten bin, dennoch dürfen Sie es der Weisheit meines Alters nicht verargen, wenn sie danach forscht, ob hinter diesem bunten Glanz sich auch wirklich Zufriedenheit und Herzensruhe verbirgt?«
Der Ausdruck ihres Gesichts veränderte sich, sie runzelte die Stirn und entfernte sich einige Schritte von mir.
»Herr von Lüttow hat mit Ihnen gesprochen,« sagte sie dann hart und scharf.
»Ja.«
»Er hat Ihnen unser Zusammentreffen auf dem Maskenballe erzählt?«
»Ich fand ihn am Neujahrsmorgen in meiner Wohnung als einen Verstörten; es war natürlich, daß ich Aufklärungen von ihm forderte, und daß er sie gab.«
»Er kann Ihnen nicht gesagt haben, warum ich in sein Begehren einwilligte und ihm die Unterredung gestattete. Ihre Freundschaft für mich war in Theaterkreisen bekannt geworden; ich verhehlte meine Achtung, meine Dankbarkeit nicht, und da ich entschlossen war, Ihre Hand anzunehmen, wollte ich dem Gerücht zuvorkommen und Herrn von Lüttow selbst meine Absicht ankündigen –«
»Und sich dem Ausbruche seines Jähzornes aussetzen?«
»Lieber mich als Sie!« Sie stand während des ganzen Gesprächs, hochaufgerichtet, mit finsterem Gesicht, wie zur Abwehr eines Angriffes bereit.
»Liebe Elsa,« bat ich, »beruhigen Sie sich. Lüttow bereut seine Heftigkeit, seine Eifersucht – er ist mehr ein Unglücklicher als ein Schuldiger.«
»So sprechen Sie, weil Sie ihn nicht kennen.«
»Nein, gerade weil ich einen Einblick in sein Herz gethan zu haben glaube. In seinem Schmerz war er aufrichtig und verringerte weder noch entschuldigte er seine Wildheit; er liebt Sie.«
»Und weil er mich liebt, darum scheinen Sie nun auch, wie er, zu verlangen, daß ich ihn wieder liebe! Als ob wir Frauen nur dazu da wären, uns hinzugeben, weil es einem der Herren der Schöpfung einfällt, heftiger nach uns zu begehren. Alle Männer denken in diesem Falle gleich, alle fühlen sich in der Person des einen Zurückgewiesenen verletzt.«
»Doch nicht, Elsa; ich nehme nur an, daß solch wildloderndes Feuer nicht ohne Wirkung auf ein Frauenherz bleiben kann; etwas entzünden diese Funken, Haß oder Gegenliebe, und ich zweifle, ob Sie Lüttow hassen.«
»Er hat Ihnen eingeredet, daß ich ihn lieben müsse?«
»Mich kümmern die Worte eines Verstörten nicht, aber so weit meine ich herzenskundig zu sein, um sagen zu dürfen, daß er Ihnen nicht gleichgiltig ist.«
»Nicht gleichgiltig,« wiederholte sie halblaut und ging unruhig im Gemach auf und nieder. »Warum soll ich es läugnen, daß Lüttow im Anfang unserer Bekanntschaft mir liebenswert erschien? Sein Ungestüm, seine Verwegenheit hatten einen romantischen Zug, es lockte mich, an dem Löwen meine Zähmungskunst zu versuchen; es war schmeichelhaft, einen so unbändigen Mann meinen Winken gehorsam zu sehen. Hinter der gesellschaftlichen Schranke fühlte ich mich vor seiner Heftigkeit sicher; ich stand unter dem Schutze eines strengen Vaters und war ihm ebenbürtig. Aber schon damals warnte mich etwas davor, ihm näher zu treten und mich durch ein Versprechen, eine Gunstbezeugung an ihn zu binden. Urteilen Sie selbst, wie dies innere Unbehagen, das mich schon damals in seiner Gegenwart überfiel, sich steigern mußte, als ich ihm wieder begegnete – eine arme kleine Schauspielerin, die er nun beschützen, in die Höhe bringen, für die er Sonnenschein oder Regenwetter machen konnte! Da hat sich mein Herz gewandelt. Schelten Sie es Stolz oder Eitelkeit – das Fräulein Elsbeth Asser, die reiche Tochter eines reichen Vaters, hätte wohl die Frau des Herrn von Lüttow werden und in leidlicher Ehe mit ihm leben können, aber die Schauspielerin Elsa Themar – niemals!«
»Dies ist nur eine Grille von Ihnen, ein übertriebenes Zartgefühl. Nie würde Ihnen Lüttow Ihre Künstlerschaft als einen – wie sag' ich nur – als einen Makel vorhalten, im Gegenteil!«
»Und wollen Sie vergessen, was alles aus dieser ersten notwendigen Entfremdung zwischen uns hervorgegangen ist? Seine zunehmende Wildheit, meine wachsende Furcht vor ihm, der Tod seines Freundes – eine Blutschuld, die mich immer von Neuem schaudern läßt! Sind das Mißverständnisse, die wir mit gutem Willen heben können? Wenn mein Herz zehnmal lauter für ihn spräche – ich würde es doch bezwingen und schweigend mein Leid tragen. Der lärmt mit seinen Schmerzen, dem sie nicht tief gehen. Sagen Sie ihm dies, es ist mein unabänderlicher Entschluß. Ich will endlich einmal frei sein, mir selbst und der Kunst leben, keinem Manne – da ich es Ihnen nicht kann. Sagen Sie ihm das!«
»Sage es ihm selbst, wenn du es wagst!« rief da eine heisere Stimme, und die Thür ward aufgerissen.
Im Mantel auf der Schwelle stand Lüttow. Noch heute ist es mir unerklärlich, wie er in Elsa's Wohnung gekommen; ob ich, als ich hinübergegangen war, Friederikens Brief zu holen, in der Hast die Korridorthür offen habe stehen lassen, ob er die Hilfe der Dienerin Elsa's erkauft und sie ihm heimlich die Thür erschlossen hat.
»Es dauert mir zu lange, ehe ich mein Urteil aus Ihrem Munde höre, Herr Medicinalrat – ich will es mir aus schönerem holen,« sagte er, aber er that keinen Schritt weiter in das Zimmer hinein.
»Das ist wider die Abrede, Herr von Lüttow,« entgegnete ich. »Sie lassen es mich bald genug bereuen, für Sie gesprochen zu haben.«
Bei dem ersten Ton seiner Stimme hatte Elsa gezittert, aber sei es nun, daß sie diesen Zusammenstoß im Voraus geahnt, oder daß ihr die Erregung des leidenschaftlichen Gesprächs, das sie mit mir über Lüttow geführt, ungewohnte Stärke verlieh – sie zuckte nicht, die Hand auf den Marmorsims des Kamins gestützt, stand sie, mit bleichem Gesicht und bebenden Lippen.
»Herr von Lüttow, Sie entehren sich durch diesen Ueberfall. Was wollen Sie von mir? Soll ich Ihnen wiederholen, daß ein Abgrund zwischen uns gähnt?«
»Ein Abgrund? Soll ich ihn vielleicht noch durch die Leiche des Herrn da überbrücken?« meinte er spöttisch, auf mich zeigend. »Höre mich, Elsa! Ich liebe dich wie ein Rasender, und du warest nicht immer so unempfindlich und unnahbar wie jetzt! Ich fordere Wahrheit, warum stößest du mich zurück?«
Ich wollte mich zwischen Beide werfen, denn ein Unglück schien unvermeidlich bei der Wut, die aus seinen Blicken und Worten sprach, aber Elsa drängte mich zurück.
In diesem Augenblicke schlug die Uhr mit ihrem dröhnenden Klange die neunte Stunde.
»Sie wollen es wissen?« rief sie wie außer sich. »Sagt Ihnen diese Stunde nichts? So wie heute sind Sie um diese Abendstunde in mein Zimmer gedrungen, um mir zu sagen, daß Sie am Morgen Ihren Freund erschossen hätten. Da wußt' ich, was mein Loos – da wußt' ich, daß Sie mein Mörder werden würden. Sehen Sie denn nicht den Schatten, der neben Ihnen steht – er winkt mir! er winkt!« Und mit einem erstickten Schrei warf sie sich an meine Brust.
Lüttow hatte beide Fäuste geballt – er drang auf mich ein, als ob er mit einem Schlage mich und sie niederstrecken wollte. War es ein Zufall, daß er daran stieß oder traf sein erhobener Arm im Niederfallen die Konsole, auf der die Uhr stand – mit lautem Gekrach stürzte sie auf den Teppich des Gemachs. »Verfluchtes Gespenst!« schrie er und stampfte mit dem Fuße auf die Trümmer. Von dem Lärm und dem Geräusch der fallenden Uhr erschreckt, öffnete die Dienerin die Thür des Nebenzimmers.
»Es ist nichts!« sagte er. »Eine Uhr ist zerbrochen. Ich bin nicht so schlimm, wie ich aussehe, Fräulein Themar. Ohne Sorge, ich werde nicht Ihr Mörder werden. Gute Nacht, ich werde Sie nicht wiedersehen.«
Und den Mantel dicht zusammenschlagend, war er hinaus. Alles so schnell, gespenstisch fast, daß ich ihn, Elsa im Arme, weder festhalten noch ihm in den Weg treten konnte.
»Er ist fort!« sagte sie, sich von mir losreißend. »Mein Gott! was hab' ich gethan?«
Das lang verhaltene, halb bekämpfte Gefühl sprengte alle Bande, und wie von einer höheren Gewalt wider Willen fortgerissen, breitete sie die Arme gegen die Thür aus, durch die er entschwunden war: »Egon! Egon! ich liebe dich!« und fiel wie tot nieder.
Zu ihrem Heil! Denn so in ihrer Besinnungslosigkeit hörte sie den Schuß nicht, der ihr Antwort auf ihren Ruf gab. Unten in der Flur des Hauses hatte sich Lüttow mit einem Revolverschuß getötet, gerad' ins Herz hinein. Mit unheimlichen Gedanken war er gekommen, nun hatte er sich selbst für immer beruhigt. –
Was ist unser Leben! Von welchen Mächten hängt es ab? Diese zwei Menschen schienen für einander bestimmt zu sein, und es genügte, daß die Empfindung um wenige Atemzüge zu spät die halb physische, halb psychische Hülle, unter der sie lag, durchbrach, um das Glück Beider zu vernichten. Oder wußte es das Unbewußte besser? Hatte Elsa's Seele die richtige Vorahnung, daß sie in der Liebe zu Lüttow niemals zur Ruhe kommen würde, und fand sie darum erst das entscheidende Wort, als es zu spät war? Die Leidenschaft macht nicht glücklich, aber ach! wenn ich mich selber betrachte, auch die Entsagung nicht. Auf anderem Wege, als Lüttow, war ich zu demselben Ziele gelangt. Sein keckes Zugreifen hatte ihm so wenig genützt, wie mir mein bescheidenes Zurücktreten.
Und wenn nun wenigstens sein Tod und mein Schmerz ihr eine reine und heitere Zukunft bereitet hätten! Aber ihr Sinn ist düster und ihr Herz herbe geworden. Nur die Kunst hat von all unserem Elend Vorteil gezogen. Elsa Themar ist eine große tragische Schauspielerin. Fern von unserer Stadt, die sie nach der schrecklichen Katastrophe verlassen hat, feiert sie Triumphe.
Ob ich sie noch einmal im Leben sehen werde? Ich hoffe es kaum. Je zuweilen in langen Zwischenräumen schreiben wir uns freundliche, ja zärtliche Briefe, wie zwischen Vater und Tochter, aber mir ist es oft, als starre aus den lieben Worten ein finsteres Auge fragend mich an: hast du vielleicht doch durch deine Dazwischenkunft und deine voreilige Geschäftigkeit den unseligen Ausgang mit herbeigeführt?
Sind das nur Wahngebilde eines einsamen Träumers, der zu tief über die Vergangenheit und das Rätsel des Lebens nachgrübelt, oder ist es die unklare Stimme des Gewissens, das eine Schuld empfindet und sie doch nicht bezeichnen kann? Ich wühle in der alten Wunde, aber die Kugel finde ich nicht – den Punkt nicht in dieser Geschichte, wo ich mit meinem Wesen und Charakter anders hätte handeln können und müssen, als ich es gethan.
Eines der alltäglichsten Dinge, eine Uhr, bildete den Einschlag dieses Gewebes, in dem sich für mich so wundersam Vergangenheit und Gegenwart, Diesseits und Jenseits verbanden. Sorgfältig bewahre ich die dürftigen Scherben jenes Ziffernblattes und die Reste des Werkes – sie werden sich niemals zu jenem Ganzen wieder zusammenfügen, das sichtbarlich meiner Freuden wie meiner Schmerzen unvergessene Minuten zeigte. So behalten wir von all' unseren Geschicken, Empfindungen und Erfahrungen gleichsam auch nur Trümmer in der Hand und wundern uns dann, daß sie, wie wir sie auch wenden und drehen, nicht mehr recht zusammenstimmen wollen, weil sie den Klang verloren haben, der einst in ihnen war und sie verband.
Ende.
Frenzel, Erzählungen (Das Abenteuer. Der Hausfreund. Die Uhr.) Zus. in einem Geschenkband 2 Mark
Druck und Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig
Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt. Darstellung abweichender Schriftarten: Antiqua.
Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise "Not" – "Noth", "Wert" – "Werth",
mit folgenden Ausnahmen,
Seite 8:
"," eingefügt
(am Ostende unserer Stadt liegt, in den französischen Komödien)
Seite 10:
"Kömödie" geändert in "Komödie"
(In einer französischen Komödie hatte sie die Rolle)
Seite 23:
"«" eingefügt
(die man in der Gesellschaft von ihm erzählt.«)
Seite 80:
"neben an" geändert in "nebenan"
(»Mutter! Mutter!« rief es da nebenan)
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