The Project Gutenberg eBook of Der Krieg im Westen, by Bernhard Kellermann
Title: Der Krieg im Westen
Author: Bernhard Kellermann
Release Date: December 28, 2021 [eBook #67033]
Language: German
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Kriegsberichte
von
Bernhard Kellermann
1915
S. Fischer, Verlag
Berlin
Erstes bis zehntes Tausend.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung.
Copyright 1915 S. Fischer, Verlag.
3. Mai 1915
Das besetzte Frankreich ist heute Friede und Sonne. Der Zug fliegt dahin, sorglos und leicht, als ob er Vergnügungsreisende an Bord habe, durch grüne Täler und blühende Landschaften. Er hat nichts Martialisches mehr an sich. Vor Monaten keuchte und klirrte er, wie ein schwerer Krieger, der in die Schlacht geht, er rasselte wie Panzer und tastete sich zornig vorwärts. Heute ist er ein gutmütiger europäischer D-Zug geworden, der unbekümmert seine Meilen abfährt. Fern ist der Krieg. Auf den Höhen der Ardennen liegt die Sonne, die Luft schmeichelt, die junge Saat leuchtet. Die Felder sind bestellt, säuberlich bunt wie ein Teppich. Nur da und dort liegt ein Acker grau und welk, vergessen und verödet, ungepflegt und stumpf, wie ein Mensch, der trauert. Man sieht ihn meilenweit! Was an Leuten zurückgeblieben ist und nicht vor dem Krieg entfloh, arbeitet in den Fluren. Es sind nur spärliche, dünne Trupps, die in der Sonne zerrinnen. Viele, die diese fruchtbare Erde gebar, sind fort, und viele kommen nicht wieder. Eine leise Beklommenheit liegt auf dem Lande. Halbwüchsige Burschen, Frauen und Greise streuen die Saat und verrichten heuer jene Arbeit, die sonst den Kräftigsten, Blühendsten und Erfahrensten zusteht. Hingegeben und ganz bei der Sache, voll heißer Wünsche, denn das Brot ist kostbar, schreiten sie durch die Äcker und schwingen den Arm, mit jener schönen und freien Geste, die ein Symbol des Friedens und der Wiedergeburt ist. Der Pflug ist hinter den Kanonen hergekommen und nahm seine Arbeit wieder auf. Die Schützengräben hier und da, wo der Krieg seine Zähne einschlug, sind längst zugeschüttet, Narben in der gemarterten Erde, und der Pflug geht darüber. Bald wird sich das Korn hier wiegen und das Land wird vergessen. Verbrannte Häuser und Dörfer, im hellen Schrecken verlodert, erwecken heute, in der Sonne, in der summenden heißen Luft, den Eindruck, als seien sie einem Schadenfeuer zum Opfer gefallen. Nicht anders sehen sie aus. Sie jammern und schreien nicht mehr wie im Herbst und Winter, wo sie ihre rauchgeschwärzten, verstümmelten Mauern in den Himmel streckten. Der Frühling deckt sie zu. Sie schweigen. Grün und Blüten verhüllen ihren Gram. Ein blühender Kirschbaum steht jung und schön, triumphierend inmitten der rauchgebeizten Trümmer einer Mühle, und Gras und Blumen sind dabei, die verbrannte Erde zurückzuerobern. Das Leben ist stärker als der Tod und der liebe Gott läßt sich nicht durch Granaten imponieren! Im November war ich im zerschossenen Longwy, alles war durchlöchert, zerschmettert, verbrannt – aber schon trieben die angekohlten Platanen des Kirchplatzes wieder starke grüne Knospen. Herden von Rindern weiden friedlich im Gras, dem Geschäft des Fressens hingegeben, und Väterchen hütet sie, das alte nämliche französische Väterchen, mit Holzschuhen, einem verwilderten grauen Bart, hager und mit entzündeten Augen, die flache Mütze auf dem kahlen Schädel. Weidende Pferde, Stuten mit ihren Füllen. Eine glückliche Schwangerschaft hat sie vor schwerem Dienst bewahrt.
Der Bahnhof von Sedan ist so still, daß ich ihn kaum wiedererkenne. Im Oktober stand hier Zug an Zug, Gewühl, Lärm, Staub, Kanonen, Truppen, Sanitäter, Schwestern, Gefangene, Verwundete, Schmutz und Blut. Er war ein krachendes Rad am Kriegswagen. Heute ist es der Bahnhof einer kleinen Provinzstadt mit mäßigem Verkehr. Nichts sonst. Zwei endlos lange Lazarettzüge stehen da, aber sie sind beide unbelegt. Sie stehen in der grellen Sonne, alle Türen und Fenster offen, und schlafen. Das Personal sitzt und sonnt sich. Eine kleine rotbäckige Schwester gähnt und klopft sich auf den Mund, als sie sich beobachtet sieht. Ein Krankenwärter sitzt auf dem Trittbrett und schneidet sich sorgfältig die Nägel; ein andrer wäscht sich, er hat eben ausgeschlafen. Im Arztwagen ist keine Seele zu sehen. Wahrhaftig, wäre es nicht frivol, so könnte man sagen, die Lazarettzüge sehen wie Badehotels aus, die auf Gäste warten. Bei den Rampen stehen auf den Loren zwei nagelneue Flugzeuge, die Flügel zusammengeklappt, wie Schmetterlinge, die eben aus der Hülle schlüpfen und sich die Flügel von der Sonne trocknen und ausbügeln lassen. Bald werden sie hoch oben auf der sonnigen Luft liegen. Vom Frühling ausgebrütet, glänzend neu, liegt Material da und dort auf den Stationen: Lastautomobile, ohne Tadel, grüngestrichene Pumpen, feldgraue Karren; ein Trupp Infanterie, mit neuen Uniformen und frischen, roten Gesichtern, wie Knospen, gerade vom Gärtner geschnitten. Auf einem in der Sonne blitzenden Geleise stehen ein paar Geschütze. Neu wie das Gras auf der Wiese. Sie haben noch kein Blut geschluckt, es sind Kanonenjungfrauen; drall, massiv, die Haut glatt und kalt. In ihre ehernen runden Hüften gestützt, harmlos und unschuldig wie junge Raubtiere, glotzen sie mit ihren runden Mäulern, von dem Instinkt ihrer Rasse getrieben, in die Richtung, in der sie den Feind wittern.
Der Zug fliegt weiter, läßt die Jungfern hinter sich, die neugierig und dumm noch immer in die gleiche Richtung starren, bis sie plötzlich hinter einem Berg von Blüten verschwinden. Ja, die Geschütze werden bis an den Hals in Blumen versinken, aber feuern werden sie doch! Eine Feldwache liegt unten im Schatten von Kastanien und schreit nach Zeitungen. Auch sie, die Biedern und Treuen, haben ein frühlingshaftes und friedlicheres Aussehen bekommen. Früher, in den kalten Monaten, eingemummt in Decken, Tücher und Mäntel, erschien jeder einzelne, der an der Strecke stand, wie ein festmontierter Panzerturm, drohend und unerbittlich. Heute, mitten im Grün, sehen sie lachend und friedfertig aus, wie gutmütige, treuherzige Burschen, die sie sind. Das herrliche Wetter hat sie aus ihren Löchern und Bauten gelockt und sie sonnen sich und genießen. Sie haben es redlich verdient. Ich konstatiere mit Freuden, daß der Winter ihnen nichts geschadet hat. Wohlgenährt, rosig und blühend sehen sie aus. Sie sind guter Laune und nun ganz zu Hause. Eine Wache hat große Wäsche und wirtschaftet schwitzend und halbnackt im Garten. Die Herrlichkeiten bleichen auf dem Rasen. Ein Dienstfreier hat soeben sein Bad genommen. Nur mit einer hochgekrempten Leinenhose bekleidet, sitzt er im saftigen Gras und schmort. Er hat ein Handtuch wie einen Turban um den rotglühenden Schädel geschlungen, da sitzt er wie ein Sultan und glänzt vor Gesundheit und guter Laune. Neben ihm hockt ein winziger weißer Hund, kaum acht Tage alt. Andre stehen vergnügt in einem Kreise von Weibern und Kindern und winken dem Zuge zu. Häufiger und häufiger aber werden die Angler!
Ist es das französische Wasser, das zum Angeln lockt? Ist es der französische Fisch? Jedenfalls sitzen sie genau wie Stockfranzosen geduldig und aufmerksam mit der Rute da, wie gewiegte Sportsleute und Kenner und ergeben sich der Hypnose des glitzernden Wassers. Es handelt sich hier um einen Sport wie jeden andern, und der Erfolg ist nicht die Hauptsache. Sie sitzen an Pfützen und Löchern, wo gar keine Fische sein können, aber das ist einerlei. Auf einer Station trete ich an einen feldgrauen Angler heran, der so angespannt arbeitet, daß er nicht einmal nach dem Zug umblickt. Ich erlaube mir die Frage, ob er schon etwas gefangen habe? Der Angler dreht bedächtig den roten Nacken. Ob ich nicht sehen könne? Er ist Württemberger. Ach so! Entschuldigen Sie. In einer Blechbüchse neben ihm schwimmen zwei winzige Sardinen.
Aber was ist das? Eine Rudergesellschaft! Fünf Feldgraue befahren in einem gebrechlichen Nachen einen Wassergraben, kaum zwei Schritt breit. Sie haben so voll geladen, daß der Mann im Heck schon mehr im Wasser sitzt als im Boot. Mit ihren primitiven Rudern legen sie einen Knoten in der Stunde zurück. Aber Sport ist Sport. Plötzlich schreien sie laut und wild und lachen: sie sind auf Grund gelaufen.
So viel frohe und helle Stimmen sind in der Luft. Die Hühner gackern in den Gärten, Vögel zwitschern, Kinder wälzen sich lärmend im Gras, die Luft summt von Insekten. Der Himmel strahlt Zuversichten und Hoffnungen. Man atmet auf. Viele Monate hat man an einem schweren Gedanken getragen ...
Ich will in den Speisewagen gehen und frühstücken. Aber gerade als ich die schlingernden Korridore entlang balanciere, beginnt es in der Ferne zu brummen. Ich horche auf. Es rollt, murrt, grollt wie Gewitter, ein Satz ferner Kanonenschläge. Er steht immer noch da draußen, der blutige Trommler und schlägt seine Wirbel! Ich hatte ihn fast vergessen.
8. Mai 1915
Während die verbündeten Armeen in Westgalizien das russische Tor aus den Angeln brechen, sind wir hier oben im Westen dabei, die englisch-französische Panzertür einzurennen. Der Gegner hier oben ist zäher und intelligenter und läßt sich die Zähne aus dem Maul schießen, bevor er weicht. Die Kämpfe sind wütend. In aufrechten Sturmkolonnen liefen die Engländer da und dort gegen das Feuer unsrer Gräben an. Man ist guten Muts und voller Zuversicht. Wie ich höre, haben sich unsere Truppen in höllischen Nahkämpfen wie Rasende geschlagen. Sie gingen wie glühende Teufel vor. Ich sah sie heiß und dampfend aus den Stellungen zurückkehren, und der Rausch des Kampfes lag noch in ihren siedenden Augen und über den rauchenden, marschierenden Kompanien. Einige trugen Verbände, die meisten hatten schon wieder den Weg in die Wirklichkeit zurückgefunden und lachten. Seit den letzten Tagen dröhnt hier Himmel und Erde vom Donner der Geschütze. Die Kraterkette, die die deutschen Batterien in weitem Bogen gegen Ypern vorschoben, speit täglich Hunderte von Tonnen Eisen in den Hexenkessel von Ypern hinein. Ein Hauptmann versicherte mir, das Feuer sei heftiger, als es vor Antwerpen war.
Heute morgen um sechs Uhr war ich an der Front, die im Südosten an das Operationsgebiet von Ypern stößt. Die Kanonen sind noch früher aufgestanden. Sie pochen, atemlos, wie schwere Schmiedehämmer, die im Akkord arbeiten, und die Luft wettert von den wütenden Schlägen. Auch nicht eine einzige kleine Sekunde Pause gönnen sie sich. Sie sind ein Rudel von Gewittern im Hochgebirge, die knurren und grollen, verstört hin und her irren und nicht zur Ruhe kommen. Häufig fallen die Schläge zusammen, und dann dröhnt und rollt es, als donnere eine Bergwand zu Tal. Sie stampfen über und unter der Erde, sie sind ringsum, überall. Der ganze Horizont brandet. Sie saugen die Atmosphäre ein und schnauben sie aus. Das Gebäude der Luft wankt. Je näher das Auto jagt, desto wütender und wilder wird das Feuer. Deutlich hört man aus dem atemlos auf und ab wogenden Pochen und Stampfen das böse, tiefe Raubtierknurren der schwersten Geschütze heraus, die die andern überbrüllen.
Wir halten in einem zerschossenen Gehöft, einige hundert Meter von den englischen Stellungen entfernt, und der Boden rollt ununterbrochen unter meinen Füßen, wie von schweren Lastautomobilen. Die Seismographen, denke ich, müssen die Erschütterung der Erdkruste auf Hunderte von Meilen im Umkreis anzeigen, falls sie etwas taugen. Ich habe noch kein Erdbeben erlebt, aber es kann kaum anders sein. Es ist richtiges wildes Trommelfeuer (ein neues Wort für mich) und zuweilen verschlägt es mir den Atem, obschon ich einigen Lärm vertrage. Schlag auf Schlag, bebend von Leidenschaft, unerbittlich und rasend, Salvenhiebe eines Boxers, der den Gegner erbarmungslos niederhämmert. Die Geschütze schütteln sich vor Wut, sie glühen und taumeln, kochenden Schaum vor dem Maul, und speien ihren Haß hinüber.
Der Morgen ist göttlich. Die Welt leuchtet und die Vögel singen unbekümmert. Aber ich sehe und höre nicht, ich ergebe mich der lauten Brandung des Feuers, die mächtig, wie der Ozean, daherrollt. Zuweilen wage ich es, einen kleinen scheuen Blick zum Himmel emporzuwerfen, der in seiner Herrlichkeit blendet, zuweilen erbleiche ich im Innern, und manchmal hätte ich Lust, mich zu bekreuzen. Ich bin, ohne mich’s zu versehen, mitten in ein Gewitter der Urzeit geraten, da die Erde sich spaltete und die Gebirge gebar. Oder was ist es? Führt die Erde Krieg mit der Sonne und befeuert sie aus ihren Vulkanen rasend das Gestirn am Himmel? Poltern Unholde im Raum, die ich nicht sehe und die rings um mich toben? So unheimlich und mächtig ist das Toben, von solch elementarer Wucht, daß meine Maßstäbe versagen, wie vor den Zahlen der Astronomen, und es mir schwer wird zu glauben, daß hier Menschen kämpfen und auf Fleisch und Knochen geschossen wird. Ja, verstehst du wohl, es ist der Mensch, von menschlichen Müttern geboren, der hier eine Sache unter sich ausmacht. Auf seine Art, mit seinen Maschinen und seinem Zorn. Der Dämon der Erde, angefüllt mit urweltlichen Instinkten, die lange schlafen und die ein Nichts wecken kann. Ich bin, wenn man will, in ein Völkergewitter geraten, das sich wütend entlädt, bei dem es Eisen hagelt und Blut regnet.
Ich muß gestehen, ich möchte heute nicht in Ypern und in der Umgebung Yperns sein. Ich möchte auch nicht, daß ein Freund und Bruder von mir dort wäre. Selbst für englische Nerven, denke ich, muß es genügen, und ich bin sicher, heute gehen ihnen die Pfeifen aus. Ich spreche gar nicht von den Franzosen und Farbigen, die mit der Hälfte zufrieden wären. Sie – die Engländer – wissen recht gut, daß es uns Ernst ist, und täuschen sich nicht über die Lage. Unerbittlich und mitleidlos ist die Sprache der Geschütze. In ganzen Rudeln stoßen ihre Flugzeuge aus dem Feuerloch, aufgescheucht und unruhig, und kreuzen hartnäckig und verzweifelt über unsern Stellungen, um die Geschütze zu finden. Wie zornige Raubvögel, deren Horst brennt, kreisen sie hoch oben und spähen nach dem Feind. Heute morgen, vor fünf, hat mich schon das Krachen der Abwehrkanonen aus den Federn getrieben. Nun, da der Tag wächst, stehen bald rechts, bald links hoch oben am blauen Himmel die Reihen der weißen Schrapnellwölkchen. Plötzlich kracht es auch dicht neben mir, ein harter und naher Knall, und eine Granate zischt gierig und böse knirschend über meinen Kopf hinweg in den Himmel empor. Ein englischer Doppeldecker in eiliger Fahrt, gut 2000 Meter hoch. Das Schrapnell explodiert hinter ihm. Zwei, drei. Wie Raketen fauchen sie in die Höhe. Vier, fünf. Ein Maschinengewehr rasselt und streut eine Fontäne von Spitzkugeln in den Äther. Nun reißt ein Geschütz in einiger Entfernung links ab und der Engländer bekommt Stirnfeuer. Prächtige Schüsse! Ein Schrapnell muß dicht über ihn weggeflogen sein. Der Engländer hat genug, er wendet in toller Kurve und geht mit dem Wind davon. Aber er kommt wieder. Dreimal versucht er es, hartnäckig und kühn, unsre Stellungen zu überfliegen, und dreimal muß er zurück. Das Maschinengewehr hämmert wie toll und kann sich nicht mehr beruhigen.
Das Geschützfeuer aber rollt und pocht, ohne Atem zu holen, die Salven dröhnen. Die Schlacht geht weiter. Wie sage ich? Sie hat erst begonnen. Es ist sieben Uhr.
Am Abend sah ich die Sonne im Westen versinken, blutrot, groß und düster, wie sie an großen historischen Schlachttagen gesunken sein soll. Sie sah aus wie ein blutüberströmtes Antlitz, die Sonne von Ypern, naß, zerschossen, und sterbend noch voll Majestät.
Die Geschütze aber schlugen noch immer.
Mai 1915
Der Adlerwagen fegt die Landstraße hinunter, als sei der böse Feind hinter ihm her. Er springt in langen Sätzen über die frischbeschotterten Granattrichter hinweg und sucht so rasch wie möglich in Deckung des zerschossenen Gehöftes zu kommen, auf das die staubige Straße schnurgerade zuführt. Die Sache ist die: gewöhnlich setzt es hier eine Lage, und die feindlichen Geschütze sind, wie ein Blinder sehen kann, verteufelt genau eingeschossen. Allein nichts geschieht. Der Wagen duckt sich hinter eine Backsteinbaracke, ein ehemaliges Wirtshaus, dessen Stirn jämmerlich zerschmettert ist wie von Keulenhieben. Hier pflegen die Granaten gewöhnlich einzuschlagen.
Der Begleitoffizier hegt noch immer Hoffnungen. Er lauscht hinüber, und ich sehe ihm deutlich an, daß er enttäuscht ist. Er hatte mir die Lage angekündigt und empfindet es als eine Störung des Programms, daß der Feind zu faul ist zu schießen.
„Dann bekommen wir sie sicher auf der Rückfahrt!“ Das ist ein gewisser Trost.
Zu Fuß geht es weiter, denn er – der Feind – würde es als eine Achtungsverletzung betrachten, wenn man auch die allerletzte Strecke zu den Gräben noch im Auto zurücklegte. Es gibt immerhin Grenzen. Eigentümlich ist das Gefühl, zu Fuß zwei Kilometer in der hellen Sonne eine Landstraße entlang zu promenieren, ohne jede Deckung, knappe achthundert Meter an den feindlichen Gräben entlang. Sie können uns ja deutlich sehen, mit bloßem Auge, und die roten Streifen der Offiziersmützen leuchten weithin. Weshalb schießt er nicht? – „Sie frühstücken, sie rasieren sich.“ – Drüben liegen Engländer. Sie trinken jetzt wohl Tee und essen Marmelade dazu, was mögen sie tun? Immerhin, es liegen Hunderte von Gewehren schußbereit. Vielleicht reizt sie das kecke Rot der Offiziersmützen, vielleicht haben sie schlecht geschlafen, oder vielleicht sind sie mit dem Frühstücken gerade fertig geworden und haben Lust, ein wenig zu arbeiten. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß uns ein Offizier durch das Glas genau beobachtet, in unsern Mienen mit den Blicken herumtastet, und es lediglich von seiner Laune abhängt, ob er feuern lassen will. Nichts ereignet sich. Auf dem Rückweg allerdings, ich will das vorausnehmen, summten ganz unvermittelt ein paar Kugeln über uns weg – aber nur weil wir stehengeblieben waren, um einen Flieger zu beobachten. Es gibt eben hier Sitten wie überall, gehen ist erlaubt, stehenbleiben wird als Unhöflichkeit angesehen.
In dem von Granaten übel zugerichteten Dorf empfängt uns der Kommandeur des Regiments. Ein Mann wie aus Wurzelholz geschnitzt, knorrig, stark und schlicht, ohne Pose und ohne Phrase. Das gibt es hier außen nicht. Er hat die Augen des Frontoffiziers, Frontaugen, die aus Hunderten herauszufinden ich mich jederzeit erbiete. Sie sind glänzend und rein, bewußt, ein wenig nachdenklich und voll Anteilnahme. Der Mensch ohne Lack und Firnis blickt aus ihnen. Es sind Augen, wie Menschen sie haben, die der Tod anschauerte, die er zuweilen mit seinem Finger berührte und denen er ein kleines Wort zu irgendeinem Augenblick ins Ohr flüsterte.
Wir steigen in die Schanze ein. Hier stand früher einmal eine Brauerei. Früher! Die Granaten sind heißhungrig darüber hergefallen und haben nur Trümmer übriggelassen. Sie haben die Mauern zerfressen, die Kamine mit Stumpf und Stiel verschlungen und Kessel und Röhren zu Klumpen zerkaut. Fanden sie nichts andres, so fraßen sie tiefe Löcher aus der Erde. Laufgänge und Schützengräben durchspinnen und umspinnen den Komplex der Ruine. Mit Sandsäcken und erdgefüllten Bierfässern hat der Kommandeur ein Fort aus den Trümmern gebaut, eine groteske und musterhafte Festung, in der man vor Gewehrkugeln wenigstens ziemlich sicher ist, wenn man nicht allzu großes Pech hat. Wieder und wieder versucht der Feind, die Schanze durch Granaten zu zerstören, immer wieder wird geflickt, gebaut und verrammelt. Bombensichere Mannschaftsunterstände mit winzigen Eingängen – Villa Duck dich, Villa Frieden usw. – mit kleinen blühenden Gärtchen davor. Hier und da ein paar blumengeschmückte Gräber. Der „Friedhof der Leichtsinnigen“. Hier ruhen zur Warnung für die Lebenden jene Tapferen, die aus Unvorsichtigkeit und Leichtsinn dem Tod entgegenliefen. Sie streckten den Kopf aus dem Graben, um zu sehen, ob etwas los wäre, sie krochen aus dem Graben heraus, obgleich es verboten ist, nur um einmal etwas Neues zu tun. Nun liegen sie da, dicht neben den Blumenbeeten, und die Kameraden pfeifen ihr Liedchen über ihr Grab. Das ist, ganz kurz, was es hier oben zu sehen gibt, zwischen den Wällen sozusagen. Die eigentliche Festung aber liegt in den Kellern der Brauerei, zweistöckig und labyrinthisch. Nasse, finstere, niedrige Gänge wie in einer Schauerburg. Trübes Bier schwimmt in einem Graben, Treppen und Verschläge, die in pechschwarze Stollen und Kamine hinabführen, Mauern aus Sandsäcken und Fässern. Schießscharten dazwischen, vorsichtig mit Ziegelsteinen verschlossen. Sehr freundlich sieht es hier nicht aus. In den Kellerräumen, wo die Mauern am dicksten sind, schlafen die Mannschaften beim trübseligen Schein einer verstaubten, elektrischen Lampe. Sie liegen, dicht nebeneinander gepackt, in Uniformen und schweren Stiefeln, so wie sie aus den Gräben kommen. Wie verwunschene Bergleute, von einem Zauber eingeschläfert, liegen sie da. Sie wachen nicht auf, wenn wir eintreten. Der Schweiß perlt auf ihren eckigen Stirnen, es ist heiß hier unten. Sie genießen den Schlaf, sie klammern sich an ihn. Heute sind sie soundsoviel, morgen sind sie einer oder zwei weniger. Ein Platz wird leer sein oder zwei oder mehr. Daran sind sie gewöhnt. Sie leben von heute auf morgen, und sie gehen vom Leben in den Tod, wie man eine Tür zumacht, und niemand sieht sie wieder. Wenn sie heute das erste Wort sprechen, so wissen sie nicht, ob es nicht ihr letztes ist. Ein junger Schläfer schwitzt stärker als die andern, seine Wimpern sind nahezu weiß. Auf seinen roten Backen flimmern feine Härchen. Sein Mund steht offen und zeigt die weißen starken Zähne. Er scheint zu lachen im Schlaf und schläft so ruhig und gesund wie in seinem Dorf zu Hause. Neben ihm liegt ein Dunkelhaariger, mit gelber Gesichtsfarbe und dichten Bartstoppeln. Er schläft unruhig und röchelt gepreßt. Träumt er? Träumt er, daß der Engländer kommt und ungeniert in den Drahtverhauen wirtschaftet, und er schießt und schießt, aber der Engländer ist nicht zu treffen, er zieht eine Zange heraus und fängt an, in aller Gemütsruhe die Drähte zu durchschneiden ... Plötzlich öffnet er die Augen, sie blicken grünlich, und starrt mich an. Sobald er sich regt, taucht hinten ein fahles Gesicht empor. Aber im nächsten Augenblick schlafen sie wieder, und alle schlafen, dicht aneinandergedrückt, tief und traumlos, als ob sie keine Lust hätten aufzuwachen.
Luft, Licht. Wir tauchen aus dem dunkeln Bergwerk empor in die grelle Sonne. Über meinem Kopfe rasselt und trommelt plötzlich ein Kobold in den Kupfertöpfen der Brauerei. Eine Kugel. Sahen sie uns an den Schießscharten vorübergehen? Die Gräben sind das Letzte an Bequemlichkeit und Umsicht. Tief eingeschnitten, so daß man sich nicht zu bücken braucht, die Schießscharten solid verschalt wie tiefe Nischen. Bei jeder ein Täfelchen mit dem Namen des Schützen. Der Boden ist mit Brettern ausgelegt, und da und dort steht: Nicht ausspucken! Es spuckt auch niemand aus. Eine Dame könnte in einem Ballkleid hier gehen. Ich habe von französischen Gräben gehört, wo sie in ihrem eignen Dreck herumlaufen und ihre Toten, mit einer Lage Erde darüber, als Diele benützen. Ein Toter ist tot und spürt nichts mehr, aber trotzdem ...
„Sehen Sie etwas?“
„Ja. Einer guckt immer mit dem Kopfe raus. In der Nacht haben sie eine Puppe an einer Stange aufgehängt. Dort!“
Durch die kleine, rechteckige Schießscharte blickt man in das grüne Land hinein, wie durch ein Fernrohr. Unsere Drahtverhaue, dann eine Wiese, die leicht im Winde schwankt. Dahinter dünnes, wirres Gestrüpp. Das sind seine Drahtverhaue. Ein kleiner Wall aufgeworfener Erde. Sonst ist nichts zu sehen, so sehr ich mich auch anstrenge. Auf diesem Streifen Wiesenland, ein paar hundert Meter breit, bewegt sich nichts, seit vielen Monaten nichts. Es ist ein verfluchter Streifen Land. Das Gras wächst, weil es keine Vernunft hat, aber kein Falter, kein kleiner Vogel lebt hier. Nur die Kugeln spinnen ihr Netz darüber. Plötzlich erschrecke ich. Da steht, man mag es glauben oder nicht, wahrhaftig ein Mensch aufrecht und unbekümmert auf dem Erdwall drüben! Ich erschrecke für ihn, obwohl ich es ja nicht bin, der da drüben steht, und ich erschrecke vor allem, weil sich auf diesem leblosen Streifen Land überhaupt etwas zeigt. Ist er toll geworden? Aber das ist ja die Puppe! Dann und wann knallt es da drüben, in der Ferne rumpelt Geschützdonner. Die Schanze aber schweigt. Sie hat seit zwei Tagen keinen Schuß abgegeben. „Es ist ein richtiger Spaß! Er soll glauben, daß wir fort sind.“ Aber er glaubt es ja doch nicht. Gestern hat er alle Schießscharten einzeln abgestrichen und die Schanze hatte zwei Tote.
Sonderbar ist so ein winziges rechteckiges Fensterchen ins grüne Land. Es ist ein Fenster ins Jenseits ... Es ist möglich, daß in dem gleichen Augenblick, in dem der Feldgraue hinaussieht, der Tod hereinblickt, und der Feldgraue erschrickt und fällt hintenüber ...
Ein Gewirr sind die Gräben, auf, ab, hin und her. Maschinengewehre, sie haben den schönsten Platz. Überall stehen Posten. Sie stehen hier Tag und Nacht, heute, morgen und in diesem Augenblick. Seit dem Herbst, da das Laub fiel, und jetzt ist es wieder grün.
In den letzten Tagen hat die Festung ein neues Fort dazubekommen. Der Feind hat einen Minengang vorgetrieben und gesprengt. Es ist ein Krater, rund und groß wie ein Karussell, und der Rand des Kraters ist schon wieder ausgebaut und befestigt. Ideal ist das Fort, es flankiert unsere Gräben. Leider hat es drei von unsern tapfern Leuten gekostet. Sie liegen tief unten in der Erde, so tief, daß man sie nicht holen kann. So hat hier jeder Tag seine Ereignisse, und die nächste Minute kann sie bringen. Er kann ja eine neue Mine hochfliegen lassen, Gott weiß, worüber er jetzt, in dieser Sekunde, brütet?
Ein Laufgang führt mitten durch das zerschossene Dorf zum Unterstand des Kommandeurs. Hübsch und freundlich ist es hier unten, eine Schiffskabine erster Klasse unter der Erde. Hierher kommen die Offiziere zuweilen des Abends, sozusagen, wenn sie ausgehen wollen. Es sind nur hundert Schritte, aber es ist immerhin eine Abwechslung. Nur eine Schattenseite hat dieser Salon unter der Erde. Er stößt direkt an den Friedhof. Die Granate ist ein böses Tier ohne Vernunft. So ist sie wiederholt in den Friedhof gefahren, wo sie nichts zu suchen hatte, und hat die Gräber der französischen Bürger aufgerissen. Sie warf die Grabsteine durcheinander, hat die Gebeine mit in die Tiefe gerissen, und in einer Familiengruft schwimmt ein Kindersarg. Von der Treppe des unterirdischen Salons aus sieht man über eine Reihe frischer Gräber. Das sind die Toten der Schanze. Der frühere Kommandeur, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Nebeneinander liegen sie, so wie sie auf der Schanze nebeneinander kämpften.
Ja, hier liegen sie, aber in Wahrheit sind sie nicht tot. In Wahrheit leben sie, denn sie sind unvergessen. Sie leben mit den Kameraden auf der Feldschanze, ganz wie früher. Sie wandern durch die Schlafgewölbe und sehen nach, ob sie noch nicht aufstehen, sie sitzen auf den Gräbern und lauschen auf die Gespräche der Kameraden. Bei den Maschinengewehren stehen sie und lugen aus. In der Nacht wandern sie in den Gräben. Sie warnen die Kameraden, sie richten ihnen die Gewehre, sie zeigen ihnen den Feind: dort, dort ...
Mai 1915
Durch die Luke in der Kirchturmspitze hat man einen weiten Blick über das Land: unten liegt winzig und verwinkelt das Dorf. Ein paar Häuser sind zerschossen. Soldaten hantieren vor den Häusern. Eine Radfahrerabteilung – braune Marinesoldaten, das Gewehr auf dem Rücken – schlängelt sich über den kleinen Marktplatz. Ein großes Postauto tutet und überholt sie. Karren, trottende Pferde, die roten Gesichter der Fuhrleute sind alle nach oben gerichtet. Zwei Flugzeuge kreuzen unter den grauen Wolken. Rasch und klein wie eine Maus läuft das entferntere am Himmel entlang. Hinter dem kleinen Dorf aber breitet sich das Land. Flandern. Es ist grün von den Wiesen und gelb von den blühenden Rüben, ganz flach; trübe und resigniert duckt es sich unter dem hängenden Gewölk. Silhouetten von Alleen, die die Landstraßen begleiten, stehen geisterhaft auf dem Lande, eine hinter der andern, wie Schleier, die herabhängen, und alle scheinen sie parallel, quer durch das Land zu laufen, bis zum Horizont, wo eine graue Regenwolke Ypern verbirgt. Dazwischen flache graue Wolken, die auf der Erde liegen, Wälder und Wäldchen, die niemand kannte, und die plötzlich einen Namen bekamen: Polygonenwald, das Wäldchen von St. Julien. Hier standen die vier großen englischen Geschütze. Hinter den geisterhaften Silhouetten der Alleen Dörfer, Reste von Dörfern, dem Auge kaum erkennbar. Zonnebeke, St. Julien, Langemark. Im Frieden werden Orte berühmt durch ihre Kultur und ihren Geist, im Krieg durch ihr Unglück. Da liegen sie und verstecken sich in der Erde. Still und verzweifelt liegt das Land, und der Donner der Geschütze rollt darüber weg.
Heute, Flandern, mit deinen geisterhaften Alleen, die stillstehen und sich nicht bewegen, erscheinst du mir wie ein großer Friedhof.
Eine knappe Viertelstunde von dem Kirchturm entfernt zieht sich ein lehmiges ausgetrocknetes Flußbett in weitem Bogen durch die Landschaft. Oft nähern sich die Ränder bis auf dreißig Meter, oft entfernen sie sich bis auf ein paar hundert. Die Ränder sind tief ausgegraben, unterhöhlt, gewunden und verzweigt, wie Bauten von Bibern. Das sind die verlassenen Stellungen.
Hier auf diesem Gürtel Landes lagen sie einander sechs lange Monate gegenüber, Tag und Nacht, und Tag und Nacht saß der Tod dicht angelehnt neben jedem einzelnen Mann. Hier lagen die Gewehre und hier, man sieht es noch deutlich, standen die Maschinengewehre. Zwischen den Gräben lagen die Leichen, wo sie gerade hinfielen, und da lagen sie und blieben liegen, und die Kugeln durchlöcherten sie noch hundertfach, obschon sie schon zehnfach gestorben waren. Tausendfach starb hier jeder einzelne Mann, auch der, den der Zufall verschonte. Oft raste der Tod hier wie ein Orkan, mit Finsternis, Feuer, Eisen und erstickenden Gasen. Die Gräben wurden eingetrommelt, Meter für Meter. Einmal hatten sie drüben Besuch (nicht in den Gräben, sondern weit dahinten!), zwei Könige und einen Präsidenten. An diesem einzigen Tage warfen sie siebzigtausend Granaten herüber – und wir hatten keine dreißig Mann Verluste. Sie gaben den hohen Herrschaften eine Vorstellung und schossen ein Vermögen in die Luft hinein. Die Komödie auf dem Schlachtfelde! So und nicht anders ging es hier zu. Der Soldat kroch in die Erde. Aber da kam ihm das Wasser entgegen. Bis an die Knie wateten die Tapfern im Wasser. Jedes Haus hinten war zerschossen und die Trümmer unausgesetzt unter Feuer. Es entstanden ganze Städte unter der Erde, Städte in Wäldern, die Mannschaften ruhten aus in Eisenbahnzügen, die zurück mußten, sobald das Feuer zu stark wurde.
Die Erde bei den Gräben ist zerrissen. Trichter an Trichter. Der Regen spritzt heute in den kreisrunden Lehmtümpeln. Auch die Allee hat mitgekämpft. Die hohen Bäume schlugen der Länge nach hin, wie Riesen, von der Granate in den Wurzelbau getroffen und hochgeschleudert. Sie wurden in der Mitte abgerissen. Ihre Kronen stürzten zersplittert in das Feld, und so stehen sie noch. Kein Baum, der nicht seine Wunde hätte, manche sind von oben bis unten zerfetzt. Die Allee hat sich tapfer geschlagen, die Allee von Poel-Capelle nach St. Julien. Eine Armee von Krüppeln steht an der Straße.
Die verlassenen Gräben sind mit allerlei Schutt angefüllt. Konservenbüchsen, Waffenteile, zerweichte und unleserlich gewordene Briefe. Ein blutiger Tuchfetzen, den einer an die Wunde preßte, erblassend und zu Tode erschrocken. Sie sprechen eine grauenhafte Sprache und ihr Flüstern verfolgt mich. Es ist sehr still hier und es hat den Anschein, als ob die Stille sich über den Gräben verdichtete und über all den Dingen, die einst Menschen gehörten. Ich wünschte wohl, sie kämen hierher, die drei hohen Herrschaften, zu deren Ehre einmal so furchtbar laut geschossen wurde, sie kämen hierher und hörten sich die Stille an. Vielleicht würden sie den süßlichen Geruch spüren, der aus den Gräben steigt, vielleicht würde sich ihr Auge schließen vor all dem Grauenhaften, das der Schutt in den Gräben deckt. Sie würden gehen und nun würden sie stolpern! Bei jedem Schritt würden sie über Gräber stolpern. Gräber hier, Gräber dort. Franzosen, Schottländer, Kanadier, Kolumbier, Farbige und Schwarze. Sie würden die Namen auf den Kreuzen lesen. Sie würden die verstümmelte Allee hinabgehen, und links und rechts würden die Kreuze ihnen folgen. Sie würden bei St. Julien die Massengräber sehen. Hier lagen die Kanadier so dicht, daß die Fliegerphotographien aus 2000 Meter Höhe die Leichenhaufen zeigten. Nun würden sie begreifen, daß sie in einen Friedhof geraten sind, der naß ist von Blut und Tränen.
Aber weiter. Die Kanonen krachen. In Erdhöhlen hocken Soldaten um die dampfenden Kochtöpfe und sind guter Dinge, denn sie leben.
Langemark, berühmt geworden durch sein Unglück, wie viele andre Orte, ist das grinsende Skelett einer kleinen Stadt. Die wenigen Häuser, die noch stehen, zeigen fröstelnd das nackte Gebälk. Die Ziegel sind ohne Ausnahme herabgerasselt, als die schweren Geschosse einschlugen. Wie Gespenster von Häusern stehen sie inmitten der Trümmerhaufen. Der Kirchturm sieht aus wie ein verwitterter Sandsteinfelsen, rostrot und brüchig steht er am Rande eines niedergemähten Parkes. Ein Haus ist mit dem Schieferdach niedergebrochen, wie ein gefallener Elefant, der sich auf die Stoßzähne stützt. Es ist deutsche Arbeit, sie ist gründlich, das muß man sagen. Hut ab vor unsern Kanonieren!
Aus dem Keller irgendeines zerschossenen Hauses steigt langsam und still ein General, in den weiten Mantel gehüllt. Er scheint das einzige lebende Wesen weit und breit zu sein. Gelassen und würdevoll, ein wenig gelangweilt, zeigt er uns sein Heim. Das Haus ist verschüttet, es liegen noch Leichen unter dem Schutt. „Hier lebe ich nun, im Keller,“ sagt er mit leiser, gelangweilter Stimme. „Sie schießen oft wütend herein. Sehen Sie die Trichter? Es sind ganz große Dinger. Na, man gewöhnt sich an alles.“ Wir gehen und der General promeniert ruhig, in seinen Mantel gewickelt, im Regen auf und ab.
In dieser Gegend sieht man kein Tier und kein lebendes Wesen. Zuweilen ein paar Soldaten, die laut und fröhlich antworten, wenn man sie anruft. Aber die Geschütze krachen ringsum, obschon man sie nicht sieht.
Sie sind trotz des schlechten Wetters fleißig bei der Arbeit und die Luft dröhnt wie von Explosionen, hart und metallen. Die Geschosse toben in die Höhe, es röhrt und wühlt in der Luft, sie pflügen sich hinauf. Die Luft zischt, genau wie das Wasser unter dem Kiel eines Rennbootes. Es gurgelt gierig da oben, wie Gurgeln voller Blut. Unwillkürlich sucht der Blick das Geschoß, obwohl es natürlich zu rasch ist, als daß man es sehen könnte. Aber es scheint greifbar nahe zu sein. Ja, ich sehe es auch, wie es in seiner Kurve dahinjagt. Es ist gelb und dreht sich rasend um die Längsachse, eine donnernde, dröhnende Röhre von Luftwirbeln als Schleppe, den blanken Zünder zischend in die dicke, graue Regenluft bohrend. Die gelbe Farbe verbrennt rauchend auf seiner Hülle. Nun ist nur noch das schleifende Zischen der Luft zu hören. Es ist hinüber! Links und rechts schlagen die Geschütze, es kracht wie von einschlagenden Blitzen. Alle paar Minuten dröhnt hinter mir ein hellerer Schlag und eine Granate jagt gurgelnd und zischend über mich hinweg. Die Luft ist voller Eisen. In den Pausen der Geschütze hört man das hastige, heisere Kläffen der Maschinengewehre und das Knattern der Gewehre.
So ist es hier. Es ist das Morgenkonzert, das gewöhnliche. Und so ist das Abend- und Nachtkonzert. Man gewöhnt sich daran, und das flandrische Land hat seit vielen Monaten nichts andres gehört. Die Front ist um einige Kilometer vorgerückt, sonst hat sich nichts geändert.
Mai 1915
Die Welt des Feldsoldaten ist groß und erhaben. Der sausende Himmel, die Sterne, die Wolken und das freie Feld: das ist seine Wohnung. Vertraute Wege und bekannte Dörfer, die Heimat in der Ferne, Briefe, Zeitungen, alles gehört ihm. Kameraden, bekannte Gesichter, neue, immer neue Gesichter, neues Gelächter und neue Stimmen. Ein spukhaftes Dasein, voll des Unbekannten, stetig Wechselnden. Die alltäglichsten Dinge, Essen, Schlafen, abenteuerlich und absonderlich. Außergewöhnlich, groß und unerhört, voll nie gekannten Grauens und nie gekannter Wonnen sind seine Empfindungen. Der Feldsoldat ist kein gewöhnlicher Mensch mehr, er ist der Erkorene, er ist das Volk selbst, für das er kämpft. Wäre es anders, nicht den zehnten Teil der Anstrengungen, die das Feld fordert, könnte er ertragen. Wenn er sein Geschütz abreißt, so ist es nicht seine Faust, die Millionen Fäuste seines Volkes reißen das Geschütz ab, und sein Volk sendet den großen Fluch hinüber zum Feinde.
Wehe aber, wenn er das Unglück hat, gefangengenommen zu werden! Seine große und stolze Welt bricht in einer einzigen unglückseligen Stunde zusammen. Er ist nicht mehr sein Volk, er ist ein gefangener Soldat, nichts andres. In einer Sekunde sind seine Tressen und seine Auszeichnungen verblaßt, die Bewunderung seiner Kameraden, die ihn belebte, ist verstummt. Kennt hier jemand seine Geschichte, seine Geschichte als Soldat, meine ich? Weiß hier jemand, wie er sich schlug, welch kühne Patrouillengänge er hinter sich hat, daß seine Offiziere ihm die Hand drückten und ihn vor versammelter Mannschaft lobten? Fremde Gesichter, fremde Worte, eine fremde Welt. Eine Ewigkeit trennt ihn von seinen Kameraden, seinem Pferde, seiner Batterie, seiner Heimat, seinen Angehörigen, unwirklich scheinen schon jetzt die Bilder zu sein, an die sein Gedächtnis sich klammert. Sein Mut, sein Ehrgeiz, sein Rausch, sie sind dahin. Er war alles, jetzt ist er nichts. Eine Nummer in den Listen der Gefangenenlager ist er, in dem das Herz seines ganzen Volkes schlug, geworden. Nüchtern, klein und erbärmlich ist jetzt seine Welt.
Sieht man Gefangene gehen, so versteht man alles. Sie trotten müde dahin, gleichgültig, ohne Haltung, aber nichts wäre verkehrter, als von Gefangenen auf die Truppe zu schließen, der sie angehörten. Häufig wird der stolzeste und stärkste Soldat der gebrochenste Gefangene sein.
Schlimmer noch, um vieles schlimmer ist es, verwundet in Gefangenschaft zu geraten. Noch kleiner und elender ist die Welt des verwundeten Gefangenen. Ein Bett, ein getünchter Saal, die Gesichter der Pfleger und Pflegerinnen und der Ärzte, nichts sonst. Der Schritt der Wache vor der Tür. Droben in Flandern habe ich verwundete Gefangene besucht, und von ihnen will ich erzählen.
Ich trete ein, und sofort sind alle Augen auf mich gerichtet. Ein neues Gesicht! Seit vielen Tagen, seit Wochen das erste neue Gesicht. Was will er, was tut er hier, was bringt er uns? All diese glänzenden Augen forschen neugierig und aufmerksam in meinen Zügen. Einzelne haben sich aufgerichtet, um mich besser sehen zu können. Niemand spricht ein Wort, alle stellen die Ohren und es ist ganz einerlei, in welcher Sprache ich rede, die Hauptsache ist, daß sie eine neue Stimme hören.
Da ist zunächst ein Neger. Schwarz und glänzend wie ein gewichster Stiefel, das Gebiß blendend weiß. Er ist eines der hübschesten Exemplare, die ich je sah, das sauberste gewiß, fast noch ein Kind, und versucht sofort, meine Milde durch ein naives, vertrauliches Lächeln zu gewinnen. Ich rede ihn englisch an, da ich bis heute nur Englisch mit Negern gesprochen habe, aber siehe da, er antwortet französisch. Aus dem Senegal. Und wie alt? Zwanzig. „Wo hast du gekämpft?“ – Er zeigt sein schönes Tiergebiß und lächelt. Er weiß es nicht. „Bei Ypern?“ – „Ja, bei Ypern. Chemin de fer, hin und her, immer hin und her, chemin de fer“ – er radebrecht, gestikuliert, nein, er weiß gar nichts. Vergnügt legt er sich in das weiße Kissen zurück. Nie in seinem ganzen Negerleben ging es ihm so gut, nie so sauber, Gott, er wird sich nie mehr zu waschen brauchen. Er hatte zwei Lungenschüsse, aber das schadete ihm ebensowenig, wie wenn man eine Katze anschießt.
Neben ihm liegt ein Engländer, ebenfalls Lungenschuß. Ein junger, zarter, hellblonder Bursche, der eben aus dem Jenseits zurückkommt. Er hat noch die großen, glänzenden Augen, die man von dort mitbringt, und die durchsichtigen, schmalen Wangen. Er ist aus Birmingham, Kaufmann. Aufrecht sitzt er in seinem Bett, die beiden Hände auf der Decke, und sein Kopf sinkt schwach von einer Seite auf die andre, während er flüsternd antwortet. Er trägt eine Kette mit einem kleinen Kreuz um den dünnen Hals. – „Was bedeutet das Kreuz? Seid ihr Katholiken in Birmingham?“ – „Nein, ich war protestantisch, aber nun bin ich katholisch geworden.“ Eine Nonne steht neben dem Bett, eine belgische Schwester, rotbäckig und gesund, und blickt auf ihr blondes Lämmchen.
„Hier sind Kanadier!“ sagt der Arzt.
Ja, das sind sie. Schmale, feste Schädel, klar gezeichnete Gesichter, kräftige Augen, breite Schultern, die Arme lang gemessen, das Haar weich und kurz. Es sind Amerikaner, ohne jeden Zweifel, wenn sie auch etwas nördlich von den Staaten geboren wurden. Ich sehe mir sie an, und sie betrachten mich mit der gleichen Aufmerksamkeit. Sie wissen genau, daß sie nun an die Reihe kommen, und haben keine Angst.
„Wer von euch war beim Sturmangriff von St. Julien dabei?“
Nun sehe ich, daß sie geschient und verbunden sind. Trotzdem sehen sie gesund und kräftig aus. Es sind Leute, die einen Stoß vertragen können, ausgezeichnetes Material. Sie antworten höflich, aber sie sagen nicht mehr als gerade nötig ist. Allmählich erst werden sie etwas gesprächiger. Sie sind zufrieden, sie beklagen sich über nichts. Jeder deutsche Soldat, mit dem sie es zu tun hatten, war „gut“ zu ihnen. „Nach dem Kriege werden wir uns die Hände drücken.“ – „Aber die englischen Zeitungen? Sie sind die gemeinsten Lügner der Welt!“ – Ihre Augen stehen auf Abwehr. – „Wann seid ihr herübergekommen?“ – „Ich im September, die andern später.“ – „Wieviel wart ihr? Seid ihr in England gelandet oder in Frankreich?“ – Die schönen Augen des Clerks von Toronto sehen mich offen an und schweigen. Er will nicht sprechen. Aber später, als wir mehr Vertrauen zueinander gefaßt hatten, kam er ganz von selbst auf den Transport zurück und sagte mir, daß sie 30000 waren, 21 Dampfer, drei Wochen auf See, in Plymouth gelandet, in England noch ein paar Monate gedrillt. Es war sehr schlechtes Wetter, immerzu Regen, einer ist am Regen gestorben.
„Am Regen gestorben?“ – „Ja!“
Der Seemann im Nachbarbett, dessen Fuß zerschossen ist, lacht. „Es war verdammt schlechtes Wetter, Sir!“
Sie erzählen mir alles mögliche, und ich bemühe mich, sie gesprächig zu halten. Die Deutschen schießen gut, sie würden es niemand raten, den Kopf auch nur eine Sekunde aus dem Graben zu strecken. Weshalb sie aus Kanada herüberkamen, um gegen uns zu kämpfen, das wollen sie mir auf der Stelle sagen. „Die Neutralität Belgiens, Sir! Wir sind gekommen, um euch aus Belgien zu vertreiben.“ – „Weshalb überlaßt ihr das nicht den Engländern, haben sie nicht genug junge Leute? Weshalb sollt ihr Kanadier die Arbeit der jungen Engländer tun?“ – Das Gespräch wird lebhafter und die Franzosen auf der andern Seite recken die Hälse.
„Und St. Julien? Wie war es da?“
Der hübsche Clerk mit dem geschienten Arm, drei Kugeln, richtet sich im Bett auf, so gut es geht: Sie kamen also da in Gräben, in denen vorher Engländer lagen. Aus welchem Grunde gewechselt wurde, wußten sie vorläufig noch nicht. Später erst begriffen sie es. Zwei Tage lagen sie da. Sie wußten gar nichts, weshalb, warum, nichts. Essen gab es nicht regelmäßig. Die Straßen um Ypern herum lagen unausgesetzt unter Feuer. Plötzlich aber hieß es vorgehen! Weshalb, warum, wohin, kein Mensch wußte es. Nun aber bekamen sie furchtbares Feuer, schwere Granaten, auf offenem Felde, ohne jede Deckung. „Ich lag hinter einem Haufen von gefallenen Kameraden, den rechten Arm zerschossen. Die Kameraden stürmten weiter, plötzlich Maschinengewehrfeuer, Flankenfeuer, Gewehrfeuer. Die Kameraden fielen wie hingemäht. Es war zu Ende.“
Er sieht mich an. „Wie groß sind die Verluste, Sir?“ Seine Augen fragen, er denkt, ich könnte mich jetzt recht wohl revanchieren für die Angaben, die er mir über die Transporte machte. Aber ich weiß es wirklich nicht. Sehr große Verluste!
Der Clerk nickt und wendet den Blick ab. „Ich glaube nicht, daß viele davongekommen sind!“ sagt er ruhig und schlicht.
„Sie haben wohl genug vom Krieg?“ frage ich ihn, indem ich mich verabschiede. „Werden Sie wieder gegen uns kämpfen?“
Er lächelt. „Nein!“ Und leiser, so daß es die Kameraden nicht hören, fügt er hinzu: „Es war die Hölle, Sir!“
Nun kommen die Franzosen an die Reihe. Sie haben die ganze Zeit aufmerksam zugehört, die Ohren gespitzt, auf jede Bewegung geachtet, damit ihnen ja nichts entgehe; verstanden haben sie kein Wort. Sie wußten, daß auch ihre Zeit kommen würde. Höflich und gefällig erwidern sie den Gruß. Selbst der Landwirt aus der Gegend von Rouen nickt mit dem dicken rechteckigen Schädel, obwohl er Schmerzen hat und fiebert. Mich interessiert mehr als alle andern der Greis an seiner Seite, ein schmächtiger Mann mit ausgeprägt französischen Zügen. Sein weißgraues Haar zieht mich an und seine lebendigen, fröhlichen Augen. Er stammt aus der Bretagne, und da ich mich dort auskenne, so haben wir gleich ein Thema, um bekannt zu werden.
„Wann wurden Sie verwundet?“ frage ich. „Im Herbst.“ Er hebt die Decke in die Höhe, und nun sehe ich, daß ihm das linke Bein bis zur Hüfte amputiert ist.
„Wie alt sind Sie?“
„Siebenunddreißig Jahre, mein Herr.“
Um meine Überraschung zu verbergen frage ich rasch nach dem Alter des Landwirts aus Rouen. Er ist zwei Jahre jünger.
„Sie fühlen sich jetzt gesund?“ „Sehr wohl!“ Und der Mann aus der Bretagne sprudelt seine Geschichte heraus, ungeheuer lebhaft, mit vielen plastischen Gesten. „Ja, man muß Glück haben, mein Herr, das ist alles. Es war im Herbst, hier oben in Flandern. Wir mußten zurück, die Deutschen waren hinter uns her. O, lala, wir hatten es eilig! Da – eine Granate zerreißt mir den Fuß. Ich verkrieche mich in ein Loch in der Erde und warte. Die Kameraden sind fort, alle weg, niemand zu sehen. Ich warte, immer in meinem Loch. Zweiunddreißig Stunden liege ich da, aber nun hören Sie! Plötzlich Schritte. Ich spitze aus meinem Loch hinaus. Ein Sergeant vom Roten Kreuz. Ich rufe, er hört. Ich strecke die Arme hoch – so – er kommt heran und sagt: ‚Rühren Sie sich nicht!‘ Zwei Stunden später war ich im Lazarett. Man muß Glück haben.“
Fröhlich und heiter ist der Mann aus der Bretagne. Er hat dem Tod ein Bein hingeworfen wie einem Haifisch und triumphiert über den Handel. Im Krieg wird der Mensch bescheiden.
Unten im Garten des Klosters treffe ich einen Scheich, mit Turban, würdigem Bart, elfenbeinernem Gesicht und elfenbeinernen Händen. Er bittet mich um eine Zigarette. Vielleicht hat er ein Dutzend Frauen zu Hause, vielleicht ist es Sünde, daß er etwas aus meinen Händen entgegennimmt, vielleicht verliert er seine Kaste. Einerlei, es ist nun doch so weit mit ihm gekommen, daß er bettelt.
Im Mai
Brügge, das tote Brügge, ist heute keineswegs tot. Es lebt. Aber noch weiß es nicht recht, ob es wirklich erwacht ist oder ob es nur träumt. Einen wunderlichen, wirren Traum, grotesk, unfaßbar und unterhaltend, aus dem aber jeden Augenblick der Schrecken züngeln kann wie eine Stichflamme roten Feuers. So liegt es, zwischen Wachen und Schlaf, ein heiteres Lächeln auf den Zügen und einen kleinen Tropfen Angstschweiß auf der Stirn.
Seine stillen verwinkelten Gassen hallen wider von schweren genagelten Stiefeln, die ungeniert auftreten wie zu Hause, und an den Klöpplerinnen vorüber, die fleißig vor den kleinen Häuschen sitzen, rumpeln schwere Lastautomobile, so daß der Boden erbebt. Auf dem Fischmarkt hocken putzige Weiber und ziehen den Aalen die Haut über den Kopf, und während sie schaben und feilschen, rasselt eine Maschinengewehrabteilung an ihnen vorbei. Aus dem Schmuckkästchen der Rue de l’Ane Aveugle quillt ein Bilderbuch: Weiber mit weißen Hauben, Krausen und sonderbaren Umhängen, und plötzlich weichen sie zur Seite, und der Teufel in der Vermummung eines Motorradfahrers prasselt und knallt mitten durch sie hindurch und bewedelt sie mit seinem langen Schweife aus Schwefeldämpfen und Gestank. Die herrliche Grande Place wimmelt von Leben. Wachen, Autos, Karren, Züge brauner Marinesoldaten, heiß und staubig, das Gewehr auf dem Rücken. Die Zeitungsjungen schreien und rennen, um die neuesten Blätter aus Berlin, Frankfurt und Köln an den Mann zu bringen, und wenn jemand es wagt, einen scheuen Blick auf die Wunder von Architektur ringsum zu werfen, so ist eine Meute von Postkartenverkäufern hinter ihm her. Die Bevölkerung Brügges ist auf den Beinen, denn es ist immer etwas zu sehen, und die Soldaten sind auf den Beinen, um die Bevölkerung zu sehen. Ein paar Mönche in braunen Kutten rudern durch einen Schwarm Feldgrauer. Drei Jahrhunderte fließen auf der Grande Place zusammen, nicht mehr und nicht weniger. Aber jede Viertelstunde singt das Glockenspiel oben auf dem Beffroi seinen Choral, fromm und gottergeben, während unten die Motoren prasseln und rattern.
Der Krieg ging an Brügge vorüber, und Brügge freut sich, daß es lebt. Es ist eine Stadt des Friedens, eine Stadt auf Urlaub. Kommt man von da draußen, wo die Häuser keine Dächer mehr haben und mit Sandsäcken ausgestopft sind, so wirkt Brügge wie eine Großstadt, in der man nun ruhig Atem holen will.
Ein Lehmfarbiger stolpert vor mir über den Platz. An seinen Stiefeln hängt noch der Schmutz der flandrischen Gräben. Er stolpert, weil er nicht mehr gewohnt ist, auf richtigem Pflaster zu gehen, er torkelt vor Verwunderung und kann sich gar nicht zurechtfinden. Hier gibt es noch Häuser ohne Granatlöcher, und hier sehen wirklich und wahrhaftig Menschen, Zivilisten, aus den Fenstern und nicht Soldaten und Pferde! Er dreht den gebräunten Hals hin und her und kratzt sich den golden schimmernden Stoppelbart. Und hier gibt es – Frauen! Er betrachtet sie aufmerksam und eingehend, als ob er sie kaufen wolle, von den Schuhen angefangen bis hinauf zum Scheitel. Er bleibt stehen und glotzt ihnen direkt ins Gesicht. Zeitungen? Nein, Zeitungen will er nicht. Er will nichts wissen vom Krieg, er will nichts als dieses Leben hier, diese Welt, in der er fast ein Fremder geworden ist, und die ihm, weiß Gott wann, abhanden kam. Hätte er je gedacht, daß es noch eine Stadt gäbe wie diese, unversehrt, friedlich und sonnig, eine Stadt, genau so wie Städte früher waren? Er begreift es nicht. Aber nun kommt ein Mädchen über den Platz, rotweiß gestreiftes Kleid, blondes Haar, hochbusig und mit Hüften, die sich sehen lassen können. Eine Köchin. Der Lehmfarbige steht wie angewurzelt, er beginnt zu wachsen, seine Brust wird breiter, und sein heller Blick strahlt der Köchin entgegen. Sein braunes, mageres Gesicht ist ernst und ohne jede Bewegung, aber sein Blick folgt jedem Schritt des Mädchens und sein Gedanke ist so stark, daß die Köchin instinktiv einen Bogen macht, als sie nahe kommt. Und nun betrachtet er sie von hinten! Dann stolpert er weiter, bestaunt die Läden, die Frauen, und immer wieder bleibt er stehen und läßt den Blick über den Platz wandern. Die Großstadt Brügge hat ihn berauscht! Ein kleines Café, schon ist er drinnen. Ich genieße das Behagen, mit dem er ein Glas Bier hinuntergießt. Ein Schluck. Zahlen, gehen. Man sieht, er hat nicht eine Minute Zeit zu verschwenden. Ein kleines Restaurant, hinein. Beim dritten Glas verlasse ich ihn. Ich gehe nahe an ihm vorbei und sehe, daß seine linke Backe eine Anzahl Schmisse trägt. Der Lehmfarbene ist Student, Gott weiß, wer er ist, momentan ist er gemeiner Soldat, und das genügt.
In der Stunde, in der ich in dem verzauberten Brügge eintraf, hatte das Leben auf der Grande Place gerade seinen Höhepunkt erreicht. Die Matrosenkapelle konzertierte. Sie spielte laut und vergnügt wie in einem Badeort an der Ostsee, Warnemünde oder Arendsee. Das Glockenspiel des Beffroi klingelte seine fromme Weise bescheiden dazwischen. Der Platz wimmelte von Menschen, und der Waffelbäcker in seinem weißen Jahrmarktskarren machte glänzende Geschäfte. Plötzlich krachten die Kanonen in nächster Nähe. Es klang wie Kirchweihschießen, lustig und ermunternd. Unter dem grauen Gewölk, hoch oben, hing, kaum zu sehen, ein grauer Doppeldecker, mit direktem Kurs auf den Beffroi. Alle Gesichter wandten sich nach oben. Die Fenster füllten sich mit Köpfen. Aus den Haustüren, den Läden strömten die Leute und standen dicht gedrängt auf dem Platze; ganze Scharen von Kindern. Brügge bekam Besuch, und jedermann wollte sehen, wie er herankam über den Giebeldächern. Alles zappelte vor Neugier und Spannung. Die Neugier des Volkes ist immer größer als seine Angst. Aber es kam noch etwas andres dazu! Mehr oder weniger freundlich gesinnt, mehr oder weniger gleichgültig, mehr oder weniger feindlich, die Leute von Brügge waren im Herzen alle Belgier geblieben, und die da oben in der Luft waren Freunde von ihnen, Belgier, Franzosen, Engländer, einerlei. Man hatte sie nicht vergessen, da drüben, hinter dem Yserkanal, auf dem letzten Fleckchen belgischen Landes. Sie waren Boten, die man ihnen sandte. Mochten sie nun ein paar Leute, ein paar Bürger töten, darauf kam es nicht an. Es kam darauf an, daß sie mit der Absicht hierherkamen, dem Feinde zu schaden. Hätten sie es gewagt, so hätten sie dem Flieger zugejubelt, obwohl er sie töten konnte, denn er war einer der ihrigen! Die graue Maschine kam rasch näher. Die Kanonen krachten, Schlag auf Schlag. Ein Maschinengewehr kläffte wütend in die Höhe. Die Schrapnelle platzten rings um die graue Maschine, in einem Rahmen grauer Tupfen stand sie. Sie stieg höher, hinein in die Wolke, aber die Schrapnelle folgten ihr in die Wolke hinein. Es blitzte in der Wolke wie Büschel scharfer Messer, die sich gegen die Maschine zückten. Es knisterte. In all den Lärm hinein sang plötzlich das Glockenspiel seinen friedlichen, frommen Choral, unbekümmert um den Lärm der Welt, und es wird seine Weise singen, sollte einmal Brügge in Flammen aufgehen, was Gott verhüten möge. Da fiel mein Blick auf einen Mönch, der neben mir stand. Er hatte den Kopf halb in die Kutte gezogen und sah mit großen, warmen Augen zum Flugzeug empor. Im Schoß hielt er ein kleines Gebetbuch. Dieser Mönch verhielt sich zu den Leuten da oben wie der fromme Singsang des Beffroi zum Krachen der Geschütze. An Stelle des Gebetbuchs hielten sie Bomben im Schoß, und mit zusammengekniffenen kalten Augen fegten sie dahin. Es waren, wie gesagt, die Jahrhunderte, die sich hier auf der Grande Place von Brügge begegnen.
Nun aber wurde es Ernst! Er kam heran, so wütend auch das Maschinengewehr hämmerte. In ein paar Sekunden mußte er über dem Platze schweben. Wie der Tod auf Flügeln kam er daher.
Wie auf ein Signal rissen die Leute aus. Die Panik setzte ein, und die Menge explodierte. Nach allen Seiten, strahlenförmig, machten sie sich davon, die Kinder auf raschen, dünnen Beinen voran. Sie stürzten in die Gassen, in die Haustüren, in die Kaffeehäuser. Die Erde verschluckte sie, und die Köpfe verschwanden aus den Fenstern. So erstaunlich ihr Mut vor einigen Sekunden war, so komisch wirkte diese überstürzte Flucht. Mein Mönch? Er war wie weggeblasen.
Ich zog mich unter ein solides Portal zurück, und man kann mir glauben, wenn ich sage, daß ich das Portal vorher genau auf seine Konstruktion untersuchte.
Leer lag der Platz, wie reingefegt. Keine Seele weit und breit, kein Gesicht in einer Tür, einem Fenster. Es war wie Zauberei. Nicht einmal ein Hund war zu sehen.
Der Kampfplatz war dem Maschinengewehr, den Geschützen und dem Flugzeug unter den schmutzigen Wolken überlassen. Die Maschine schwebte eine Sekunde über dem Rande des Platzes, dann, gerade im entscheidenden Moment, bog sie scharf nach rechts aus. Es war ihr zu ungemütlich geworden. Sie stieg höher, verschwand in der Wolke und machte den Versuch, zurückzukehren. Aber eine Salve von Schrapnellen fuhr ihr entgegen, eine ganze Mauer grauer Wölkchen. Sie kehrte um.
Ein paar Minuten blieb der Platz leer, dann aber strömte das Leben wieder auf ihn zurück. Kinder, Mädchen, Hunde, der Waffelbäcker, Feldgraue und Lehmfarbene. Die Chauffeure, die ausgerückt waren, standen plötzlich wieder bei ihren Wagen.
Das Glockenspiel des Beffroi bimmelte wieder seine fromme, gottergebene Weise.
Nichts war geschehen. Das träumende Brügge war zusammengeschauert in seinem Traum. Das war alles.
4. Juni
Auf der Lorettohöhe, die gestern noch niemand kannte und die heute in aller Munde ist, stand eine Kapelle, die berühmte Kapelle von Notre Dame de Lorette. Nach einer französischen Legende sollte sie in diesem Kriege eine geheimnisvolle und wunderbare Rolle spielen. Die Kapelle existiert heute nicht mehr, sie ist ein Schutthaufen. Zusammenstürzend hat sie die Legende unter ihren Trümmern begraben.
Joffres zweiter, größter und wütendster Durchbruchsversuch ist gescheitert. Diesmal sollte es geschehen! Es handelte sich nicht um ein paar lumpige Gräben, es handelte sich um die Zerschmetterung der feindlichen Menschenmauer. Die Fahnen des französischen Marschalls flatterten bereits in Lille, in Valenciennes. Es ist nichts daraus geworden.
Sorgfältig und umsichtig, wohldurchdacht waren Joffres Vorbereitungen. Sie reichen bis in den April zurück. Truppenverschiebungen, Heranziehen der Reserven, das Herbeischaffen von Munition, jener Berge von Munition, die der Marschall brauchte, um uns zuzudecken. Das alles mußte so geheimnisvoll wie möglich geschehen, heute, wo die Augen der Heere hoch oben in der Luft hängen. Eine bedeutende Leistung! Eine Provinz wollte Joffre erobern, ein Riesenheer setzte er in Bewegung, ein paar Dörfer und Schützengräben hat er gewonnen. Sie kosteten ihn eine ungeheure Zahl von Menschenleben.
Und heute, nach beinahe vier Wochen, ist diese ungeheure Schlacht noch nicht zu Ende. Noch immer stampfen und pochen die Geschütze. Die ganze letzte Nacht hindurch schlugen sie. Aber es ist nicht mehr die Wut des Orkans, der ausbricht, es ist die hohe Dünung nach dem Sturm.
Vier Tage vor dem 9. Mai begann der Feind unsre Stellungen unter schweres Feuer zu nehmen. Am 9. Mai, dem Tage des Angriffs, in aller Frühe, eröffnete er, ganz wie im Frühjahr in der Champagne, ein beispielloses Trommelfeuer auf unsre Gräben. Er trommelte sie auf der ganzen Front ab, von Arras angefangen bis hinauf in die Höhe von Lille, eine Strecke von vierundzwanzig Kilometern. Es war die Hölle. Die Erde dort ist durchsiebt von Granaten. Dann gingen seine Kolonnen in dichten Staffeln vor. Aber das Unmögliche geschah: unsre Truppen hielten stand gegen die mehrfache Übermacht. Wir wollen sie nicht vergessen, die Leute von Ecurie, Neuville, Ablain, Carency und wie sie heißen! Was sie taten für uns, das wird die Geschichte später verkünden. Es war übermenschlich, mehr als Heldentum. Ein paar Gräben gingen verloren, Carency und Ablain mußten geräumt werden von uns, das war alles. Unbedeutende vorgeschobene kleinere Stellungen gaben wir freiwillig auf.
Zu gleicher Zeit, am 9. Mai, griffen die Engländer im Norden an. Südwestlich von Neuve Chapelle, östlich von Richebourg. Im Vergleich zu dem wütenden, heroischen und fanatischen Angriff der Franzosen war ihr Sturm matt. Nach einem aufgefundenen Befehl stand uns hier ebenfalls eine große Übermacht gegenüber. In drei Linien griffen die Engländer an. Das erste Regiment ging zurück. Ein zweites englisches Regiment, das vorgeworfen wurde, versagte gänzlich. Es streikte. Wie so häufig überließen die Engländer die schwere Arbeit den andern. Nun stürmten die Schotten vor, das Regiment Scotch Blackwatch. Es wurde durch unser Feuer fast gänzlich niedergemäht. Nach Aussagen von Gefangenen zählte man an diesem Tage achthundert Tote. Zwei Schotten, die bis an unsre Gräben gelangt waren, ergaben sich. Sie konnten nicht hereingenommen werden und lagen vor der Brustwehr von fünf Uhr nachmittags bis sechs Uhr früh, und unsre Leute mußten über ihre Körper wegfeuern.
Der wütende Ansturm kam zum Stehen. Unsre Heeresverwaltung ließ ihren Apparat spielen und warf Reserven und Truppenmassen ins Gefecht: Joffres Durchbruch war mißglückt.
Zu einem einheitlichen Angriff großen Stils fehlte dem Gegner seit dieser Zeit die Kraft. Indessen fanden Tag und Nacht größere und kleinere Teilangriffe statt. Der Erfolg schwankt hin und her. Zuweilen gelingt es dem Feind, in unsre Gräben einzudringen, er wird durch Handgranaten vertrieben. Ein Angriff ohne Artillerievorbereitung, den er am 12. unternahm, erstarb schon im Feuer unsrer Geschütze. Nahkämpfe, bei denen Bajonett, Kolben und Handgranaten arbeiten, sind alltäglich. Alles in allem zählte man sechsundvierzig Angriffe gegen verschiedene Stellungen unsrer Front, seit dem 9. Mai. Unter diesen sechsundvierzig Angriffen waren acht von größerer Bedeutung.
Wieder und wieder, hartnäckig und verbissen, läuft der Feind gegen Punkte unsrer Front an, die strategisch besonders wichtig sind. So gegen unsre Stellungen an der Straße Souchez-Aix-Noulette. Bei Ablain, das wir, wie erwähnt, geräumt haben. Gegen die Höhe nördlich Neuville. Im Dorfe Neuville selbst wird Tag und Nacht gekämpft, und hier werden die Kämpfe noch lange wüten. Vor einigen Tagen überrannte hier der Feind unsre Barrikaden, aber nach halbstündigem erbitterten Kampf wurde er wieder zurückgeworfen. Gegen den starken Riegel, den wir über die Lorettohöhe zogen. Die Trümmerstätte der Kapelle selbst ist in den Händen des Feindes. Gegen die Straße Ecurie-Roclincourt. Hier hatte der Feind bei La-Maison-blanche ungeheure Verluste, und die Erde trank das französische Blut in Strömen. Gegen unsre vorspringende Front nördlich von Ecurie. Hier fanden wiederholt wütende Angriffe statt. Unsre Geschütze legten einen Kranz von Geschossen vor unsre Gräben. So heftig war das Feuer, daß ein französischer Offizier überlief, er war fertig mit den Nerven. Das oft genannte Labyrinth bei Ecurie befindet sich noch in unsrem Besitz.
Die Engländer im Norden haben in der letzten Zeit größere Angriffe nicht unternommen.
Obwohl unsre Heeresleitung keine andre Absicht verfolgte als unsre Stellungen zu halten, sich also rein defensiv verhielt, haben wir in den letzten Kämpfen doch acht Offiziere und fünfzehnhundert Mann zu Gefangenen gemacht. Joffre gewann etwas Terrain. Auf einer Front von vier Kilometern rückte er achthundert bis fünfzehnhundert Meter vor. Dieser geringe und unwesentliche Geländegewinn steht in einem tragischen Mißverhältnis zu dem Aufwand an Kampfmitteln und den Verlusten. Wenn Joffre seine Toten beerdigt, so wird er finden, daß er einen Friedhof erobert hat.
Im Juni
Der Tag ist heiß, und die Schlacht wütet. Es ist immer dieselbe Schlacht, eine der furchtbarsten und größten dieses Krieges, die Schlacht bei Arras. Sie dauert schon Wochen, wird sie nie enden? In der schwülen Nacht polterten und schlugen die Geschütze, und sie poltern und schlagen in den heißen, glühenden Tag hinein. Die Kanoniere schlafen nicht mehr. Je näher der Wagen kommt, desto lauter krachen die harten Schläge der Kanonen.
Die Landschaft ändert sich. Aus dem Grün der Wiesen und Felder heben sich riesige, unförmige Aschenhaufen, grauschwarz und öde, die Schlackenberge der Kohlenzechen. Plump und häßlich liegen die Schutthalden da, unproportioniert, die Wohnstätten der Menschen, die grünen Baumwipfel überragend, unfruchtbar inmitten der fruchtbaren Erde. Sie sehen aus wie die Krater erloschener Vulkane. Hohe Kamine, Fördertürme, Backsteingebäude, Beton- und Eisenfachwerk. Hier vorn, in der Feuerzone, stehen die Zechen still. Weiter hinten rauchen Schlote. Im Norden, im Dunst der Sonne, steht auch die feine Rauchfahne der Zeche von Courrière, deren Unglück vor Jahren das Herz der ganzen Welt erschütterte. Damals eilten westfälische Bergleute herbei, um ihren französischen Kameraden Hilfe zu bringen. Es handelte sich um zwei- bis dreihundert Bergleute, die in der harten Schlacht um das tägliche Brot fielen, und die Welt brachte ihnen jene Summe von Mitgefühl entgegen, die im geraden menschlichen Verhältnis zu der Katastrophe stand. Man hat es vergessen. Viele tausend Jahre liegen zwischen der Schlacht von Arras und jenem denkwürdigen Tage, da deutsche Männer ihren französischen Kameraden im gleichen Landstrich zu Hilfe eilten! Heute handelt es sich um Hunderttausende, um mehr. Die Welt schweigt! Mehr als das: die ganze Welt arbeitet fieberhaft, um Material zu liefern, das die Legionen der Opfer vermehrt. Die Welt will leben, damit andre sterben. Das ist die Wahrheit.
Auch drüben beim Feinde rauchen die Schlote! Sie fördern sogar in der Feuerzone, sie brauchen Kohle. Selbst wenn hineingefunkt wird, stellen sie den Betrieb nicht ein. So ist der Krieg.
Das Auto biegt in einen Zechenhof ein. Es ist still hier und so sauber wie in einem Tanzsaal. Die Zeche steht still, sie ist längst ersoffen. Wo es früher rasselte und zischte, daß man sein eignes Wort nicht verstehen konnte, herrscht jetzt Feiertagsschweigen. Stille Leute sind hier eingezogen, Verwundete und Ärzte. Die Zeche ist ein Lazarett.
In dem großen Zechensaal liegen sie, die Tapferen, die für uns gekämpft haben, in langen Reihen. Der Saal ist hoch, luftig und rein und die Betten schneeweiß. Die Fenster stehen offen. Von dem Saal aus blickt man direkt in die Baderäume, die früher den Bergleuten dienten. Nichts fehlt, nichts ist vergessen, für alles ist hier wohl gesorgt. Ärzte und Pfleger bewegen sich zwischen den Betten, Schwestern gibt es hier außen nicht. Leichter oder schwerer verwundet, je nachdem die Schlacht sie losließ, liegen sie da und leiden heroisch, so wie sie vorher heroisch kämpften. Viele schlafen. Sie sind erschöpft, oder das Morphium hilft ihnen über die schlimmsten Schmerzen hinweg. Einzelne stöhnen im Schlaf. Einer hat das Gesicht mit einem Tuch bedeckt, und seine Hände zupfen im Schlaf leicht an der Decke. Es gibt hier blutige Verbände und viel Schreckliches, daß einem das Herz stehenbleibt, aber ohne Blut und Wunden gibt es keinen Krieg. Die meisten sind erst heute nacht und in den letzten Tagen eingeliefert worden. Einer hat den Kopf vollkommen eingewickelt, so daß er aussieht wie eine Wattekugel. Aber zwei frische und muntere Augen blicken aus den Binden hervor. Es gibt hier Gesichter von allen möglichen Farben. Ein gelbes Gesicht mit geweiteten Augen verfolgt mich lange. Der Mann war am Tode, aber der Arzt versichert mir, daß für ihn keine Gefahr mehr besteht. Die meisten Gesichter aber sind, so erstaunlich es ist, braun und frisch, es sind robuste Burschen, die etwas vertragen.
Einer sitzt in seinem Bett, der geschiente linke Arm ist hoch gelagert und an einem richtigen Strick aufgehängt. Mit der Rechten schreibt er eine Feldpostkarte. Ja, er schreibt an seine Frau, daß es ihm gut geht, und er hat keine Lust, sich lange stören zu lassen. Ein junger Unteroffizier lächelt mir mit roten Wangen und hellblauen Augen entgegen. Er ist achtzehn Jahre, blond und frisch, Zögling einer Unteroffizierschule. Er bekam einen Schuß in den Schenkel, wuchtig wie eine große Keule warf ihn die kleine Kugel nieder. Er hat keine Schmerzen, nein, zuweilen ein bißchen, morgen geht es in die Heimat, und bald kommt er wieder.
Aber es gibt hier viele, die nicht schreiben und nicht fröhlich plaudern, und hier gibt es manche, die ihre Heimat nicht mehr sehen werden.
Im Hof sind zwei Krankenautos vorgefahren. Eine Tragbahre steht auf der Erde, und darin liegt ein Kanonier mit verbundenem rechten Arm. Schmutzig und zerrissen, wie er aus der Schlacht getragen wurde, liegt er da, und sein Verband rötet sich langsam vom Blute. Die Stiefel hat man ihm ausgezogen. Sein Gesicht ist braun, fast schwarz und sein Blick stark. Ich sehe, daß er die Zehen in den Socken verkrampft. Die Mütze, eine runde, schirmlose, verstaubte und verknüllte Mütze, hat er noch keck auf dem Kopfe sitzen.
„Haben Sie Schmerzen?“ frage ich ihn und sehe, wie seine Zehen arbeiten.
Er schüttelt den Kopf. „Ein bißchen Schmerzen muß man schon aushalten, es schadet nichts. Ein Volltreffer kam in die Batterie, schweres Kaliber, drei Mann tot, fünf verletzt.“ Er spricht, als stünde er mit Granaten auf du und du. „Die andern sind im Wagen.“
Ich blicke hinein. Es stöhnt da drinnen. Ich gehe.
Im Zimmer des Zechenpförtners liegt ein Franzose. Er liegt allein, nicht weil er ein Franzose ist, sondern weil es schlecht um ihn steht. Seine Wunde ist zu furchtbar, als daß man ihm wünschte, durchzukommen. Er ist ein schöner junger Mann, vielleicht fünfundzwanzig. Sein schmales Gesicht ist bleich und still, seine Augen tiefbraun und noch voller Leben und Bewußtsein. Tagelang wird er noch unterwegs sein, bevor er sein Ziel erreicht.
Die beiden Krankenwagen fahren aus dem Hof, ein voller Wagen kommt herein. Herrlich ist die Hilfsbereitschaft und Unermüdlichkeit der Ärzte und Pfleger und Krankenträger. Es gibt viel zu tun in diesen Tagen.
Mit der Landschaft haben sich die menschlichen Wohnstätten und die Menschen geändert. Es sind keine anmutigen Dörfer mehr, es sind Arbeiterviertel, aus der Großstadt in die Landschaft geworfen. Rußige Backsteinhäuser, staubige Straßen, schmucklose Fenster mit ein paar Fetzen schmutziger Gardinen. Die Bewohner sind keine Dörfler und Bauern, es sind Städter aus den Kellerwohnungen, in billigen, verschlissenen Kleidern. Bleich, schlecht genährt und schwindsüchtig stehen sie untätig vor den Haustüren und starren dem Wagen mit stumpfen Blicken nach. Fahle, greisenhafte Kinder, mit einer Spur von Schönheit, die in den Geschlechtern verklingt, halbwüchsige Burschen mit kecken Mützen, die Zigarette zwischen den schmalen Lippen. Sie greifen an die Mütze, wenn man vorbeikommt, und strecken die Zunge heraus, sobald man vorüber ist. Nur ganz selten kann ich jenen schönen und helläugigen Typus des Arbeiters entdecken, den die Arbeit nicht vernichtete.
In das Industriedorf B. wird zuweilen hineingeschossen. Ein paar Dächer sind abgedeckt, ein paar Häuser zeigen Granatlöcher. Gestern kamen einige Granaten herüber und töteten eine Frau und zwei Kinder. Heute sitzen Weiber und Kinder schon wieder an der Straße, als sei nichts geschehen.
Gleich hinter diesem Dorf sinkt die Straße ins Tal, in die breite Talmulde hinab. Und drüben liegt sie ausgebreitet wie ein Panorama, die berühmte Höhe, die so viel Blut getrunken hat, die Lorettohöhe.
Sie sieht anmutig aus. Golden und grün steigt sie aus der grünen Talmulde empor, breit und sanft, ein flacher Höhenzug, von Hügelketten flankiert. Oben ist sie bewaldet, Laubwald, das Bois de Bovigny. Sie liegt in der glühenden Sonne, und Wolkenschatten ziehen darüber hin. Sie sieht aus wie eine sonnige Höhe in Franken oder in Thüringen oder irgendwo, es ist gar nichts Besonderes an ihr. Ein breiter, sanfter Höhenzug in der Junisonne, der Dunst der Hitze darüber und etwas Wald auf der Kappe, nichts sonst. Und doch ist diese anmutige, sonnige Höhe, die so friedlich aussieht, daß man glauben könnte, Schafe würden dort weiden und Kinder spielen in den Wiesen, heute nichts als ein großer Grabhügel, ein Riesengrab. Tausende und aber Tausende liegen dort, Freund wie Feind. Sie fielen im Herbst, im Winter, im Frühjahr. Viele konnten nicht begraben werden. Sie lagen monatelang in der Sonne, im Schnee, im Regen, und die Erde zerrte an ihnen und zerrte sie langsam in sich hinein. Des Nachts starrten sie aus ihren offenen Augen in die glitzernden Sterne empor, in jene Welt des Friedens und der Herrlichkeit, wo ihre Seelen jetzt wanderten, während ihre Leiber in der Hölle dieser Erde lagen. So furchtbar ist die Wut des Krieges, daß die Gegner sich nicht einmal die Zeit zur Bestattung ihrer Toten gewähren können, wie es Heiden und Wilde taten.
Man wird nun einsehen, daß die Anmut und Lieblichkeit dieser Höhe eine Lüge ist. Dort oben gibt es schauerliche Dinge, an die niemand gern denkt. Es gibt dort Sumpfstreifen, in denen die Toten langsam versunken sind, so daß heute nur noch ein Stiefel oder ein Ellbogen heraussieht. Es gibt Gräber voller Unheimlichkeiten, halb voll Wasser und Schlamm, und ein Schnurrbart sieht aus dem Wasser. Es gibt hier Dinge, die man nicht erzählen kann. Wenn der Bauer einst hier wieder pflügt, so wird er bei jedem Schritt auf Knochen stoßen, auf Stiefel und zerbrochene Gewehre.
Hier oben stand die oft genannte Kapelle von Notre Dame de Lorette. Sie ist heute ein Haufen Trümmer.
Hier oben hat jeder Quadratmeter Boden seine Kämpfe gehabt, seine Toten, sein Entsetzen. Die Erde ist zerfetzt von Granaten. Hier oben hat jeder Weg, hat jede Besonderheit ihren Namen, und an all diesen Namen hängt viel Blut und Heldenmut. Diese Namen werden weiterleben, und die Soldaten, die die Höhe freigab, werden von ihnen sprechen, wenn sie alt sein werden. Da ist die Kanzel, der Hohlweg, der Barrikadenweg, die Schlammulde, die Totenwiese. Diese Namen kehren wieder in den Gefechtsbüchern der Regimenter, die hier kämpften.
Hat jemand gewußt, welche Bedeutung diese Höhe in diesem Kriege hat? Niemand. Zuweilen wurde sie in kurzen Telegrammen genannt. Man wird anfangen, an sie zu denken.
Seit Wochen ist sie unter schwerem Feuer. Auch heute.
Sie raucht.
Auf den ersten Blick sieht es aus, als würden auf dem goldgrünen sanften Abhang der Höhe, über den still die Wolkenschatten ziehen, Feuer von Kartoffelkräutern abgebrannt, deren rostbrauner Qualm senkrecht in die heiße Luft steigt. Als ständen hinter der Höhe, hinter dem Bois de Bovigny, Reihen von Fabrikschlöten, die ihren Rauch emporwirbeln lassen. Aber diese dicken Säulen rostbraunen Qualms entstehen urplötzlich, ohne jede Vorbereitung, drei, vier fahren nebeneinander aus der Erde. Sie wechseln ebenso urplötzlich den Ort, bald stehen sie höher, bald tiefer, bald ein paar Kilometer rechts, bald links. Sie sind rostbraun und rostrot und zuweilen schwarz wie Ruß. Es sind die Einschläge der französischen Granaten, die unsere Gräben eindecken wollen. Die Gräben selbst kann man von hier aus nicht sehen, aber an den Einschlägen der Granaten kann man ihre Kurve verfolgen, die sich quer über den Fuß der breiten Höhe zieht. Auch hört man die Einschläge nicht, denn die Geschütze donnern und rollen ohne Pause.
Aus dem Bois de Bovigny wirbelt eine pechschwarze Rauchwolke empor, turmhoch, und in der nächsten Sekunde eine zweite, deren Qualm sich hoch oben mit dem Qualm des ersten Einschlages vereinigt. Deutsche Granaten. Die schwarzen Rauchfahnen hinter dem Wald wehen hin und her, sie steigen an verschiedenen Stellen zur gleichen Zeit in die Höhe, stehen minutenlang und nehmen die Form von Pinien an. Sie verblassen, und ein neuer Krater speit Schwärze und Finsternis in die Luft empor.
In der Talmulde, die so friedlich und sonnig aussieht, hinter den winzigen Häusern da unten, wälzt sich eine safranfarbene Wetterwolke. Sie schwankt schwer und unheilvoll am Boden, hebt sich hoch und steigt dick geballt in die Luft, einen Teil der Höhe verdeckend. Eine schwere Granate, die einer unserer Batterien galt. Wütende Abschüsse. Schlag auf Schlag, die Luft dröhnt. Hinter dem Bois de Bovigny, im Tal gegen Ablain zu, steigt eine schwarze Wetterwand in den blauen Himmel. Wir bleiben ihnen nichts schuldig!
Plötzlich kommt unten in der Talmulde eine rostbraune Granatwolke ins Laufen. Es sieht merkwürdig aus. Es ist ein spitzer Kegel, ein spitzer Wirbel von rostbraunem Rauch, der sich rasch dahinbewegt wie der Rauch eines Eisenbahnzuges. Es ist ein Auto, das da drunten auf dem staubigen Straßenfaden wie toll dahinfegt. Es fährt um sein Leben. Ein weißes Wölkchen steht urplötzlich über dem Auto im heißen Blau des Himmels. Ein Schrapnell. Zu hoch. Ein zweites. Das Auto läuft wie eine Maus, die Angst hat. Es ist toll, hier zu fahren! Droben im Bois de Bovigny sitzt der Franzose mit seinen Scherenfernrohren und sieht jede Katze im Tal. Es sind Offiziere, Befehlsüberbringer. Es muß sein. Durch!
Die Sonne brennt. Es ist drückend heiß, und der Schweiß läuft mir über das Gesicht.
Die Lorettohöhe blinzelt und blinkt. Ein unsichtbares wütendes Fabeltier stampft auf ihr hin und her und reißt den Boden mit den Hörnern auf und schleudert die Erde in die Höhe. Heiß, heiß wie die Hölle muß es dort drüben in den Gräben sein, wo unsere tapferen Jungen liegen. Der Himmel sei ihnen gnädig.
Im Juni
Erstickend heiß, staubig und lärmend waren die Straßen am Tage, und nun genieße ich es, in die sinkende Nacht hinauszufahren. Schon stehen die Sterne blaß am Himmel. Die Bäume rauschen, und die Luft ist lau und erfrischend. Die Dunkelheit erquickt die Augen, die entzündet sind von Staub und Schweiß. Es ist die Zeit, da die Kröten aus den Löchern kommen.
Auf all den dunkeln Straßen der flachen Landschaft wandert und knirscht und knarrt es. Aber es ist ein Lärm ohne Hast und Geschrei, ein Lärm wie im Frieden, wenn die Bauern auf den Markt fahren. Die Kolonnen sind unterwegs. An endlosen Wagenzügen fahren wir entlang, und die schweren Pferde strecken die Schenkel, sobald sie die Hupe hören. Große, vom Lichtschein erschreckte Pferdeaugen glotzen uns argwöhnisch von der Seite an. Es ist das Futter für die unersättlichen Schlünde der Kanonen. Langsam knarren die Wagen dahin. Sie haben keine Eile. Sie haben das Futter zur bestimmten Zeit gefaßt, sie sind zur bestimmten Zeit aufgebrochen, und sie werden auf den Punkt dort eintreffen, wo sie hin sollen. Keine Erregung, kein lautes Wort. Die Fahrer rauchen die Pfeife, sie haben sich behaglich und faul zurechtgesetzt, aber sobald der Wagen vorbeikommt, werfen sie mit einem kurzen Ruck die Nase in die Luft. Die Pfeife behalten sie dabei zwischen den Zähnen, aber niemand verlangt, daß sie hier außen die Pfeife aus dem Mund nehmen. Hier draußen ist vieles anders. Es geht auch so.
Zwischen den dunkeln stummen Pappeln marschiert ohne Tritt eine Kompanie. Auch sie traben gemächlich dahin, sie haben keine Eile. Auf den Punkt werden sie dort sein, und auf den Punkt werden sie im Graben stehen. Ihre grauen Helme wackeln hin und her, und die schweren Stiefel schlagen Staub aus der Straße. Junge Gesichter fliegen vorüber, bärtige, rasche, neugierige Blicke, ein Scherzwort. Sie sind gut ausgeruht, frisch gewaschen und gehen gleichmütig ins Gefecht, als gingen sie zur Arbeit. „Rechts getreten!“ Der Zug an der Spitze tritt zur Seite.
Wieder eine Munitionskolonne. Ein Zug Lazarettwagen kommt ihr entgegen. Wir müssen halten und uns an den muskulösen Schenkeln der Lastpferde vorbeidrücken. In den Lazarettwagen haben sie die Leinwand zurückgeschlagen, um frische Luft zu bekommen. Still und ergeben liegen sie in den Wagen. Einzelne, mit Binden um den Kopf oder mit Armschlingen, sitzen auf dem Bock. Auf der einen Seite ziehen sie hinaus, auf der andern zurück. So ist der Krieg. Neuville, die Zuckerfabrik, Souchez und die Lorettohöhe kosten viel Opfer. Tag und Nacht.
Überall wandert und trappelt es in der Nacht. Am Tag ist hier nicht viel zu sehen, ein paar Autos, ein paar Karren, fast keine Soldaten. Denn am Tage wimmelt es hier von Fliegern wie an keiner Stelle der Front. Am Tage ist hier Ebbe, aber in der Nacht kehrt die Flut zurück, um Gräben und Batterien da draußen zu speisen, und sie verschlingen viel. Nacht um Nacht ist es das gleiche, bei uns wie bei ihnen da drüben.
Achtung! Wir müssen zur Seite. Ein paar Autos kommen wie die Hölle angeritten. Es sind Befehlsempfänger, die von den Stäben zum Oberkommando jagen, und sie kennen keine Gnade. Die Mützen über den Schädel gestülpt, die Köpfe eingezogen im Luftzug, fliegen sie vorüber.
Ein schweres Geschütz, von sechs Pferden gezogen, kraucht durch die Nacht. Zur Front, wie alles. Es läßt den Kopf hängen und scheint auf der Lafette zu schlafen wie ein müdes ergrautes Walroß. Aber die Kanoniere da draußen werden es wachrütteln, und es wird seine Arbeit wieder aufnehmen wie in der letzten Nacht. Wird seinen grauen Kopf heben und zum Himmel emporbellen.
Ein matterleuchtetes Fenster. Ein Dorf. Der Posten tritt vor und mustert rasch Wagen und Insassen. Das Dorf ist stockfinster. Keine Lampe, nichts, keine Bewohner. Ein paar Soldaten sitzen in Hemdärmeln in den finsteren Haustüren. Wieder Chaussee. Wieder Kolonnen. Stille finstere Dörfer. Der Wagen biegt ab, passiert eine schnurgerade Straße schwarzer Arbeiterhäuser. Er hält bei einer Zeche.
In wenigen Minuten sind wir oben auf dem dunkeln, öden Schlackenhaufen. Ich hole Atem. Was ich sehe, ist ein nächtlicher Spuk.
Ich will versuchen, es zu beschreiben, obschon es unmöglich ist. Niemals aber werde ich imstande sein, mein Erstaunen auszudrücken, als ich es zum erstenmal sah: nicht mehr ist es und nicht weniger als ein Feuerwerk des Teufels.
Zuerst sehe ich nichts. Die dunkle Halde, der Zechenhof. Ein paar Fabrikschlöte, der Förderturm, dunkle Wände mit schwarzen hohen Kirchenfenstern. Schuppen, Bahngeleise. Die Dächer einer Arbeiteransiedlung, alle gleich hoch, gleich groß, wie Treibhäuser.
„Dort unten liegen zwei französische Spione begraben,“ sagt die Stimme des Offiziers an meiner Seite. „Dort bei den Schuppen. Vor dem kleinen Schuppen, ein paar Schritte nach rechts.“
Nun entdeckte ich den Grabhügel. „Waren es wirkliche Spione?“
„Ja. Zwei Offiziere. Sie hielten sich lange Monate in Douai verborgen. Dann verkleideten sie sich als Frauen, ein schmutziges Straßenmädchen nahmen sie noch mit. Aber sie wurden gefaßt.“
Ich bin ungläubig. Es klingt wie ein Märchen.
„Es ist wahr. Ich sah sie sterben. Sie leugneten gar nicht, sie gestanden es ein. Sie starben gefaßt und mit Würde, wie Offiziere. Es waren zwei mutige Burschen.“
Elend sieht dieser helle Fleck bei den Schuppen drunten aus. Mich fröstelt. Die Frösche quaken in den Wiesen, die dunkeln Baumwipfel bewegen sich. Die Kanonen brummen und pochen. Man gewöhnt sich daran; Tag und Nacht hört man hier nichts anderes, selbst wenn man schläft. Man hört nicht mehr hin, nur wenn eine schwere Batterie donnert und trommelt, wendet man den Kopf. Hinter den Arbeiterhäusern dehnt sich das mächtige Land, gespensterhaft durchsichtig im Licht der Sterne. Und aus dem fahlen Lande, am Horizont, steigen dunkle Höhenzüge empor, scharf abgegrenzt gegen den graublauen Nachthimmel.
„Das da links ist die Höhe von Vimy. In der Mitte, der breite Rücken, das ist die Lorettohöhe, und rechts davon, das sind die Höhen hinter Aix-Noulette.“
Plötzlich steigt hinter der Lorettohöhe ein weißer, sprühender Mond empor und bleibt minutenlang stehen. Kreidebleich ist ein Teil der Höhe. Der Mond sieht aus wie ein Leuchtfeuer, das auf das Meer hinaussprüht. Plötzlich aber sind es zwei, drei, sechs Monde, die über den Höhenzügen schweben, ein Viertel des Horizontes beherrschen sie. Hinter den dunkeln Höhen wetterleuchtet es unaufhörlich, ein Feuerstrahl, rot und flammend, dick wie ein Balken fährt schräg aus dem Wald auf der Höhe heraus. Die Monde sinken, ganz langsam, und verlöschen. Aber schon stehen neue über den Höhen. Weitab links blinzelt ein rötliches Feuer am Himmel, wie ein entzündetes Auge. Ein Blinkfeuer im Dunst. Im Norden antwortet eine grüne Kugel, die rasch steigt und rasch verlischt. Die Geschütze trommeln. Ein paar sanfte schöne Sterne versprühen, Schrapnelle. Aus der Lorettohöhe schießen, dicht nebeneinander, zwei Fühlhörner empor, mit glühenden Kugeln an den Enden. Blitze fahren über das Land und den dunkeln Himmel. Die Sterne verblassen. In der Ebene poltert und kracht es. Fahle Lichtgarben, stumpf wie Rasierpinsel, stehen in der Ebene: Einschläge von Granaten. Ein Rudel roter Leuchtkugeln. Ein gelber Halbmond, der traurig und trüb verglimmt, schauerlich wie über hoffnungsloser See.
Es ist wie ein toller Spuk, ein Traumgesicht. Das höllische Feuerwerk zuckt und spielt, jede Sekunde sprüht es anders, schöner, wilder.
Diese Lichtsignale sprechen zu den Batterien. Alles können sie lautlos in den Himmel emporsprühen. Und die Geschütze antworten, sie verstehen alles, sie antworten präzis und unerbittlich.
Früher dauerten Schlachten ein paar Stunden, höchstens ein paar Tage. In der Nacht standen sie still. Heute dauern sie wochenlang und der Tag ist zu kurz, in der Nacht wüten sie weiter.
Über der Lorettohöhe stehen nebeneinander, in gleicher Höhe, drei rote Monde und glühen zu uns herüber. Grüne Raketen fahren gespenstisch in die Höhe. Horch! Durch das Poltern und Trommeln der Geschütze hindurch, in den sekundenlangen Pausen zwischen den dumpfen Schlägen hört man deutlich das rollende Gewehrfeuer und das Knattern der Maschinengewehre. Es klingt, als würde ein Wagen voll Kohlen ausgeschüttet. Angriff!
Wieder greift Joffre an. Gestern nacht griff er an sechs verschiedenen Stellen an und dreimal an ein und derselben. Um zehn, um ein Uhr und um drei Uhr. Unsere Leute sind hart wie Stahl. Sie halten Unmögliches aus. Die Maschinengewehre mähen die französischen Kolonnen dahin, ganze Züge fliegen in die Luft, Lawinen von Leibern rollen über die Abhänge. Aber Joffre greift an! Man hat mir gesagt, wie hoch man seine Verluste schätzt, es sind irrsinnige Zahlen, ich wage sie nicht niederzuschreiben. Und doch wirft er Regiment um Regiment ins Feuer. Er erscheint mir wie ein nervös gewordener Spieler, der verloren hat und nun sein Geld aus allen Taschen reißt, Ringe und Uhr, und alles auf den Spieltisch schmeißt, um das Glück zu zwingen.
„Es ist bei der Schlammulde,“ sagt mein Begleiter.
Nichts ist mehr zu hören. Die Stimmen der Kanonen überbrummen alles, die Dunkelheit deckt alles zu, was dort geschieht und geschehen ist. Besser, es nicht zu sehen! Es mitzumachen ist möglich, es mitanzusehen, wäre unmöglich.
Feuerschein steht hinter der Höhe von Vimy. Er verblaßt. Es blitzt und wetterleuchtet, donnert und rumort. Feuerbalken fahren aus dem dunkeln Wald der Lorettohöhe wie ungeheure Stichflammen in die Nacht. Und ununterbrochen steigen Monde und fremde, nie gesehene Sonnen in die Nacht empor. Sie stehen da und dort, überall, bald sechs, acht zur gleichen Zeit, bald zwei, bald nahe, bald fern! Ein Mond sinkt herab und blinzelt im Fall, Scheinwerfer tasten: das Mündungsfeuer ferner Batterien. In der dunkeln Ebene tanzen fahle Lichtgarben. Grüne, rote Meteoriten, die hochfliegen und langsam sinken. Schwer und gewaltig schlägt eine deutsche Batterie da unten, sie saugt den ganzen Lärm auf und schlägt einen rasenden Wirbel. Und wieder steigt ein Schwarm gespenstischer leuchtender Bälle in die Nacht.
Es ist eine Gespensterküste mit hundert wechselnden und fremden Feuern, die sprühen und blinzeln, eine höllische Küste mit unverständlichen Signalen. Ich kann mir denken, daß ein Seemann, der ein Leben lang die Küsten aller Kontinente ansteuerte, im Fieber, im Wahnsinn eine Küste wie diese erblickt und verzweifelt vor diesen fremden, verwirrenden Feuern.
Ja, wohlverstanden, es ist die Küste eines fremden, geheimnisvollen Landes, und viele von denen, die da drüben kämpfen, werden noch in dieser Nacht, in dieser Stunde ihren Fuß auf das ferne, unbekannte Gestade setzen.
Im Juni
Was ist das Regiment? Das Regiment ist alles. Es ist Anfang und Ende, Offizier und Mann sterben dafür. Offizier und Mann gehören sich nicht mehr selbst, sie gehören dem Regiment. Ihre Ehre ist die Ehre des Regiments. Sie haben zu seiner Fahne geschworen, seine Fahne ist heilig, und die Eide werden besiegelt mit heißem Blut. Das Regiment will! Es geschieht. Das Regiment befiehlt! Es ist getan. Offizier und Soldat, sie können sterben bis zum letzten Mann, das Regiment stirbt nicht. Das Regiment ist ein Glaube, eine Religion, es ist alles. So war es, seit es Regimenter gab, und so muß es sein, solange es Regimenter gibt.
Hunderte stehen heute am Feind, Hunderte von Regimentern. Alle, Offizier und Mann, von all den Hunderten von Regimentern wissen wohl, was es bedeutet: das Regiment! Und die Kommandeure all der Regimenter, sie wissen es wohl. Sie sterben für die kleinste Faser der heiligen Standarte. So muß es sein.
Hier soll berichtet werden von einem tapferen badischen Regiment. Es ist nicht tapferer als andere, es ist ebenso tapfer wie sie, aber es hatte schwere Arbeit zu leisten in den ersten Maitagen, droben auf der Lorettohöhe, und deshalb will ich von ihm berichten.
Am 20. November bezog das Regiment die Stellungen auf der Höhe. Diese Stellungen! Mit ihren Gräben, Sappen, Verbindungsgängen und Horchstollen sehen sie auf der Karte aus wie das feine Geäder des Auges. Bei Ablain begannen sie, stiegen hinauf zur „Kanzel“, einer Kuppe, und zogen quer über den Ostabhang der Lorettohöhe, an der Kapelle Notre Dame de Lorette vorüber, hinab zur Schlammulde.
Im November lag etwas Schnee auf der kahlen Höhe, aber das Vergnügen dauerte nicht lange. Regen setzte ein, ein ganz verfluchter dünner grauer Regen, wie die Soldaten ihn nie erlebt hatten. Es regnete wochenlang. Der feine Nebelregen durchdrang alles, Haut und Haare, Kleider, Riemenzeug und Schuhe, es gab keine Rettung vor ihm. Wenn sie aus den Gräben kamen, so sahen sie nicht mehr menschlich aus. In der Schlammulde versank man im Morast. He, Kamerad! Zu Hilfe! Und man mußte ziehen, mit vereinten Kräften, um den Pechvogel zu befreien. Mancher Stiefel blieb im Dreck stecken. Na, das war natürlich nicht sehr schlimm, dieser Regen und Schmutz, davon nur nebenbei, es war das Allerleichteste. Nebenher wurde auch noch gekämpft! Es ging scharf zu, da oben, Tag und Nacht. Man brauchte sich nur zu rühren, schon knallte es. Alles buddelte, die Gräben rückten auf zwanzig, auf fünfzehn Meter heran. Es regnete Handgranaten und Minen. Du hockst im Graben, den Blick nach oben gerichtet, und lauerst. Nun kommt sie heran. Wohin wird sie fliegen? Fällt sie in den Graben, so heißt es verschwinden. Nägel und Schrauben und Fetzen von Eisen speit sie nach dir und spickt dich damit. Fällt sie in deine nächste Nähe, dann bleibt dir keine Wahl mehr. Du mußt ihr entgegengehen! Immer rasch, angefaßt und zurückgeschleudert, bevor sie explodiert. So ging es da oben zu, es war so, daß man sich in jeder Sekunde sagen mußte: diesmal –
Noch schlimmer war es oben auf der Kanzel. Von dieser Kuppe aus konnte man die Straße Souchez-Ablain einsehen. Fiel die Kanzel in die Hände des Feindes, so sah die Sache bös aus. Keine Katze konnte sich mehr auf der Straße zeigen, Zufuhr, Ablösung, alles in Frage gestellt. Nein, die Kanzel durfte er nicht haben! Das Regiment sagte es und das Regiment hielt die Kanzel! Die französischen Batterien standen bei der Topartmühle, im Bois de Bovigny, im Bois de la Haie. Sie beschossen die Gräben von vorn, von der Flanke und im Rücken. Täglich trommelten sie die Gräben auf der Kanzel ein. Nachts wurde fieberhaft gebaut, Sandsäcke, Brustwehren, Drahtverhaue, am nächsten Tag war alles wieder zum Teufel. Oft waren die Gräben verschüttet, sie hockten in Löchern, sie hockten in Granattrichtern, Angriff auf Angriff, aber das Regiment hielt die Kanzel.
So ging es also da oben zu. Wohlgemerkt und wohlverstanden: sechs Monate lang! Fast ohne jede Unterbrechung und Ruhe.
Anders ist die bewegliche, die fließende und flutende Schlacht. Sie rauscht dahin über die Felder. Gefahr und Tod, Rausch, Wut, Entsetzen, Schrecken und Triumph in ein paar Stunden gepreßt. Sie kann zwei, drei Tage, eine Woche dauern, einmal ist sie doch zu Ende. Atemholen, neue Quartiere, neue Abenteuer. Der Stellungskrieg zehrt am Mann. Immer das gleiche, aber immer die gleiche Gefahr, tagaus, tagein. Kein sichtbarer Erfolg, kein Abenteuer im großen Stil, keine neuen Quartiere, Gegenden und Menschen. Hier ist der Graben, und davor liegen die Toten. Übermenschlich muß die Energie des Mannes im Graben sein, übermenschlich seine moralische Kraft. So gewiß es ist, daß Offizier und Mann im Westen genau das gleiche leisten wie Offizier und Mann im Osten, so gewiß ist es, daß sie, du brauchst sie nur zu fragen, ohne zu zögern ihren Graben mit Polen, Karpathen und Rußland vertauschen würden. Augenblicklich, lieber heute als morgen. Trotz den Läusen und schlechten Quartieren. Denn Läuse gibt es auch hier und die Quartiere sind nicht viel besser, wenigstens in der Feuerzone.
Aber, es muß gesagt werden, unser Regiment hatte auch seine Abwechslung. Am 17. Dezember wies es Joffres Angriffe ab. Es ging blutig zu. Mitte Januar nahmen ihm die Franzosen ein paar Grabenstücke weg, aber das Regiment revanchierte sich und nahm seinerseits den Franzosen zwei ausgedehnte Gräben. Am 3. März ging es wieder vor. Das Regiment nahm die Gräben bei Notre Dame de Lorette. Die schlichte Kapelle auf der Höhe ging dabei in Trümmer, die Glocke, die frei in dem durchbrochenen Türmchen hing, stürzte in den Schutt. Die Arbeit am 3. war schwer, und schwerer noch war sie am 22. Die französischen Gräben waren angehäuft mit Leichen, und man begrub und begrub, es wollte kein Ende nehmen. Mit Schaudern sprechen sie davon.
Aber all das war nur Vorbereitung, eine Art Training!
Der 9. Mai kam heran! Offizier und Mann werden ihn nie mehr vergessen. Er kam heran, und nun mußte es sich zeigen, was eigentlich in ihm steckte, in dem badischen Regiment Nummer X! Nun mußte es sich zeigen, ob die Höhe, die blutgierige und verfluchte Höhe, das Regiment gestählt hatte in der halbjährigen harten Schulung oder nicht. Es mußte sich zeigen, ob das Regiment imstande wäre, sich selbst um das Doppelte und Dreifache, das Zehnfache zu überbieten! Darum handelte es sich, um nichts Geringeres. Joffre wollte die Höhe! Er wollte sie um jeden Preis! Über Souchez von unten, die Schlammulde von oben, über Ablain und die Kanzel von hinten wollte er vor. Zwischen Souchez und Schlammulde wollte er abdrosseln. Das war die Lage. Es ging ums Ganze, das Regiment mußte zeigen, was in ihm steckte.
Und das Regiment zeigte es!
Um sieben Uhr morgens fing es an. Die französische schwere Artillerie begann die vordersten Grabenlinien einzutrommeln. Wirbelfeuer, schwerstes Kaliber. Dieses Höllenfeuer dauerte bis elf Uhr dreißig Minuten.
Der Kommandeur des Regiments: „Als ich von unserem Beobachtungsstand aus das Feuer beobachtete, da dachte ich mir, es kann kein Mann mehr in den Gräben am Leben sein!“
Der Reservist aus Bretten: „Die habe uns die Gräbe hübsch zusammengewichst. So was war noch gar nicht da. Alles war schwarz!“
Die Drahtverhaue und Barrikaden waren niedergetrommelt, die vorderen Gräben existierten nicht mehr. Sie waren Granatlöcher. Die Kompanien lagen in den zweiten Gräben. Alles war schwarzer und gelber Qualm, glühende Rasiermesser zischten über die Gräben hin.
Halb elf wurde das Feuer weiter zurück, auf die zweiten Gräben gelegt. Was ist zu tun? Frage die Soldaten, die in diesen Gräben waren. Nichts kann man tun. Man liegt der Länge nach im Graben, den Kopf in die Erde gedrückt. Einer schreit auf, einer stöhnt. Was man denkt? Man denkt nichts, nichts, gar nichts! So ist es also, ohne jede Phrase. Es ist die Agonie. Punkt elf Uhr dreißig schweigt plötzlich das Feuer. Was noch kann, erhebt sich. Gewehre fertig. Ein Maschinengewehr ist noch intakt, ein einziges. Los! Schon kommen sie!
Sie kommen heran in dichten Kolonnen, mit unerhörter Bravur, bewundernswürdig. Nie vorher sah man Franzosen so stürmen. Das Maschinengewehr hämmert. Sie fallen, in Reihen. Schnellfeuer. Sie brausen näher. Ein Offizier an der Spitze, mit gezücktem Degen! Er überspringt den ersten Graben, will seine Leute mitreißen, allein, ganz allein stürmt er weiter. Er fällt. Nahkampf. Angriff erledigt! Aber was ist das? Sie sind im Rücken! Eine halbe feindliche Kompanie ist in die Verbindungsgräben eingedrungen und kommt in den Graben. Sandsäcke!! Nun gilt es. Der Offizier schreit, der Mann. Jeder einzelne Mann ist jetzt Offizier, Kommandeur, er muß handeln, rasch und klar. Sandsäcke! Handgranaten! Die Barrikade ist fertig, die Handgranaten fliegen in Schwärmen zum Feind über die Sandsäcke hinüber. Der Feind ist abgeschlossen. Aber neue Sturmkolonnen kommen heran, sie fliegen die Höhe herunter. Salvenfeuer, das Maschinengewehr schnarrt. Es sind ihrer zu viele, immer neue Kolonnen. Aber der Kommandeur hat seine Leute nicht vergessen und den kühlen Kopf bewahrt. Artillerie! Plötzlich schlagen Granaten in die feindlichen Sturmkolonnen. Fontänen von Leibern, Kleidungsstücken, Köpfen und Gliedmaßen fliegen hoch. Es ist zwei Uhr, schon nahen die Bataillone, die in Ruhestellung waren.
Nein, allein hätten sie es nicht schaffen können, gewiß nicht. Alle Regimenter, von Neuville bis hinauf nach Aix-Noulette, mußten mithelfen, mit gleicher Tapferkeit, alle Batterien, Munitionskolonnen, Telephonisten, Beobachter, Flieger, jeder einzelne Mann. Frage die Soldaten des tapferen badischen Regiments. Sie sprechen nicht von sich allein. Sie sagen: Souchez war unter Feuer, daß die Häuser auf die Straße flogen. Es waren Torpedogranaten, schwere Dinger, die sich tief einbohren und dann alles in die Luft schmeißen. Die Munitionskolonnen fuhren mitten durch Souchez! Eine Kolonne raste auf offener Landstraße dahin. Granaten rechts und links. Zur Batterie, abgeladen, weiter. Zurück denselben Weg. Ohne einen Mann, ein Pferd zu verlieren. Eine Batterie ist zusammengeschossen. Noch zwei Geschütze. Sie verfeuert noch rasch 1300 Granaten, immer hinein in die Sturmkolonnen, Verschlußstücke abgeschraubt und aus dem Staube gemacht ...
Nein, allein hätten sie es nicht geschafft, aber ihre Arbeit war mörderisch hart und schwer. Und sie hielten die Gräben, die Granatlöcher besser gesagt. In Abständen von fünf Metern lag der Feind eingegraben, fünf Metern! Fünfzehn und zwanzig Meter Abstände wurden gar nicht mehr für schwierig empfunden. Einen Tag und eine Nacht, und noch einen Tag und noch eine Nacht. Was sie mühsam zusammenbauten in den Sekunden, in denen die Leuchtkugeln sie nicht abblendeten, war in einer Stunde wieder zusammengeschossen. Angriff auf Angriff. Heroisch kämpfte der Franzose, wie nie zuvor.
Die Soldaten, die da oben kämpften, sprechen mit Ehrerbietung vom Feind.
„Und der Kommandeur?“
„Der Kommandeur kam jeden Tag zu uns herauf in die Gräben. Es war ein Wunder, daß es ihn nicht erwischte. Wir waren jedesmal erstaunt, wenn wir ihn heil wiedersahen.“
Dann kamen Reserven, Verstärkungen. Die Krisis war überstanden. Das Regiment war zurückgegangen auf seine zweiten und dritten Gräben, aber es hatte die Stellung gehalten. Joffre kam nicht durch, das war es! Frage nicht, wieviele des tapferen Regiments da oben fielen, es sind ihrer nicht wenige, aber das Regiment stand wie eine Mauer.
Der Kommandeur des Regiments, Major G., hat mich empfangen. Ein schlichter, gerader und einfacher Mann. Ein Soldat der Front! Ich kam zwei Stunden zu spät, aber das war ihm einerlei, er kümmert sich nicht um lumpige Formalitäten.
Major G. sagte: „Ich glaube wohl behaupten zu können, daß das Regiment seine Pflicht getan hat.“
Das glaube ich auch!
Hoch das Regiment!
Im Juni
Sie stehen in einer Reihe, wie die Orgelpfeifen, dicht neben dem Misthaufen des Bauernhofes. Der größte rechts, seine zwei Meter hoch, der kleinste am linken Flügel, immer noch gut einen Meter fünfundsiebzig. Es sind prächtige Burschen, wie man sie sonst nur bei Hagenbeck sieht. Sie stecken in graugelben Khakiuniformen, graue Wickelgamaschen, derbe Rohlederstiefel, alles ohne Tadel. Auf den schmalen Schädeln tragen sie Turbane, ein verblaßtes Zitronengelb, einzelne ein verstaubtes Blaugrau. Übrigens sind es keine faltenreichen, schwellenden Turbane, sondern Tuchstreifen, die eng um den Kopf geschlungen sind und den Turban nur noch andeuten. Ihre Gesichter sind scharf und fein geschnitten, von der edlen Färbung gedunkelten Elfenbeins. Die Sonne glänzt auf ihren Stirnknochen. Ihre Augen sind tiefbraun, glänzend und unergründlich wie Tieraugen. Die vollen Lippen sind bläulich und grau. Ihre langen, sehnigen, braungelben Hände liegen an den Hosennähten, Nase geradeaus.
„Was für Leute seid ihr? Regiment?“ – „Kiff, Kiff!“
„Französisch, spanisch, englisch? Was versteht ihr?“
„Kiff, Kiff!“
Kiff bedeutet eins – erstes Regiment.
„Français?“
Der blaßgelbe Turban schüttelt sich. Der Adamsapfel zuckt, ein Maul voller Zähne, eine rollende Zunge, die Kehle kracht und schnarrt: marrrroc – maroc. Eh bien, es sind Marokkaner. Sie verstehen keine Silbe Französisch, und es ist nichts aus ihnen herauszubringen. Wie Statuen stehen sie, Hände an der Hosennaht, Nase geradeaus, und es ist unmöglich, ihre Erstarrung zu lösen.
Sie sind Automaten. Die Zivilisation hat sie an ihre Brust genommen und ihnen beigebracht, wie man vor dem weißen Mann stramm zu stehen habe. Die Dressur erstreckte sich auf die Künste der Zivilisation, auf rechtsum und linksum, das Abfeuern des Gewehrs, und damit hatte die Zivilisation ihre Aufgabe erfüllt. Sie waren mechanische Puppen geworden, und nichts in der Welt konnte sie wieder in Menschen zurückverwandeln. Sie standen wie Säulen und wagten keinen Finger zu rühren, denn bei Gott, was konnte der weiße Mann tun, wenn sie es wagten? Er konnte sie mit einem Fußtritt auf den Misthaufen befördern, er konnte – ja, was konnte er nicht? Man sah es ihnen an, daß sie die Zivilisation des weißen Mannes begriffen hatten! Ihr Gott war der Korporal.
Dabei hatten sie Namen wie in den Märchen. Mohammed ben Abdel Kader! Jeder Name ein Fürst! Sie stammten aus Casablanca, Sous-Maroc, Mogador. Sie hatten keine Vorstellung, wo sie sich befanden, ihre Gehirne träumten, aber sie wußten, daß der weiße Mann sie hinschicken konnte, wohin er wollte, denn sie waren wilde Völker, Kiff, Kiff.
Um die Handgelenke, sehnig und edel wie die Fesseln von Tigern, trugen sie dünne Kettchen und daran hingen die Erkennungsmarken, Name, Regiment, Heimat, Nummer. Es waren kokette Armreife, anmutige Geschenke der Zivilisation, die sie, die Zivilisation, für ihre Register und Bücher nötig hatte, wenn man die gelben Kadaver in die Massengräber fegte.
Mitten in der Reihe der gelben Automaten stand ein Franzose. Auch er stand in militärischer Haltung, aber man sah auf den ersten Blick, daß er keine Maschine, sondern ein Mensch war. Seine Haltung war locker, frei und würdig. Sie waren Statisten auf dem Kriegsschauplatz, er war Soldat. Sein Kopf war rund wie eine Kugel, gespickt mit blonden Haarstoppeln, oben und unten, sein Blick blau und seine Backen rot. Er war ein guter Bursche, der typische bon garçon, Spaßvogel und pfiffiger Junge in einer Person. Noch war er ein wenig eingeschüchtert durch das Unglück, das ihn betroffen hatte, aber das würde sich bald wieder geben, keine Sorge.
Wieso er hierher käme? – Oh, ja, pardon – seine Hände lösen sich, denn er brauchte sie zum Sprechen – er hatte eben Pech! Nichts andres. „Que voulez-vous, monsieur?“ Er war Koch und arbeitete in der berühmten Zuckerfabrik zwischen Souchez und Ablain. Er steigt also vom Garten aus in seine Küche hinunter, um anzufangen. Zwei deutsche Gefangene sitzen da unten im Keller, sonst aber ist niemand zu sehen. Das ist ein bißchen merkwürdig, nicht wahr? Also steigt er die Treppe hinauf, und die zwei deutschen Gefangenen begleiten ihn, da sie ja nichts zu tun haben. Kaum aber stecken sie die Köpfe in den Korridor – na, was sagst du dazu: die Deutschen sind da! – Man kann es nicht leugnen, das ist solides Pech!
Der Koch zieht den Kopf zwischen die Schultern und breitet die Arme aus. „Eh, bien! Que voulez-vous ...“
„Können Sie sich denn mit diesen Gelben hier verständigen?“ Ein Blick, ein Ruck, ein verächtliches Achselzucken: „Mit diesen Gelben? Kein Wort, mein Herr!“ –
Man weiß, daß wir in diesen Kämpfen bei Arras fünfzehnhundert Gefangene gemacht haben. Heute sind es schon mehr. Das ist eine hübsche Anzahl, wenn man sich daran erinnert, daß wir uns rein defensiv verhielten, und für den Westen ist es ein großer Erfolg. Denn hier regnen die Regimenter nicht von den Bäumen wie in Rußland, sie hocken zäh in ihren Dachsbauten und jeder Mann muß sozusagen einzeln geholt werden. Die Fünfzehnhundert sind längst abtransportiert, aber heute nacht sind neue eingebracht worden, und ich besuchte sie in einem Nebenhofe der Kaserne. Im eigentlichen Kasernenhof exerzieren ein paar Kompanien unsrer Feldgrauen, und hier, drei Schritte davon entfernt, kauern sie, die gestern noch kämpften, und denen man die Waffe aus der Hand nahm.
Es sind ungefähr fünfzig. Sie sitzen und liegen in der Sonne, mit Schmutz und Blut bespritzt, so wie die Schlacht sie auslieferte. Einzelne starren bis hinauf zur Brust von trockenem Lehm. Der eine und der andre hat einen Verband, eine leichte Verletzung an der Hand, am Kopf. Einer sitzt mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, starrt zum Himmel und friert trotz der höllischen Hitze. Die meisten aber haben sich schon wieder zurechtgefunden, ihr Blick ist klar und ruhig. Nur zwei, drei rote Hosen sind darunter. Alle andern stecken in taubengrauen oder, wenn man will, taubenblauen, langen Röcken aus solidem filzartigen Tuch, die taubengraue Mütze auf dem Kopf. Es sind Elitetruppen.
„Die Leute über vierzig sollen vortreten!“ Sie kommen heran, sechs, acht, zehn. Aus fünfzig! Gott weiß, ob sie alle über vierzig sind, vielleicht denken sie, hier werden an ältere Semester Zigaretten oder Vergünstigungen, man kann es nie wissen, verteilt. Jedenfalls aber sind sie alle keine jungen Leute mehr, manche sind schon grau. Ich bin so überrascht, so erschüttert, daß ich keine Worte finde. Wie fürchterlich muß der Krieg unter Frankreichs Männern gewütet haben, daß sie hier stehen, zehn aus fünfzig, Familienväter, Ergraute und Gealterte. Sie sind alle gefaßt und wissen sich zu benehmen. Die meisten von ihnen sind Bauern und Handwerker. Ja es war furchtbar! Es war das furchtbarste Feuer, das man sich vorstellen kann. Sie wurden abgeschnitten von einem Riegel trommelnder Granaten. Sie haben genug! „Ja, mein Herr, man schlägt sich, man ist nicht gerade feige, man kämpft für sein Vaterland, das man liebt, wie Sie das Ihrige lieben, man schlägt sich bis zum letzten Atemzug – aber was zuviel ist, ist zuviel. Die menschlichen Nerven sind nicht berechnet für Explosionen dieser Gewalt. Nein, es war genug, genug, zuviel, zuviel. Ich war in der Champagne, im Frühjahr, bah, nichts gegen diese Kämpfe! Nichts! Ich kann Ihnen sagen – nein, es gibt keine Worte, um das zu schildern ...“
„Sie haben schwere Verluste gehabt?“
„Ho, ho, ho!! Schwere Verluste! Hatten wir nicht schwere Verluste? Ja, mein Herr, wir hatten fürchterliche – aber auch Sie, auch Sie hatten schwere Verluste, Sie können es nicht leugnen. Was für ein Krieg!“
Einer, ein Hagerer, Langer, mit krankem gelben Gesicht und entzündetem rechten Auge, schüttelt unausgesetzt verstört den Kopf. Furchtbares Feuer – er schüttelt den Kopf, schwere Verluste – er schüttelt den Kopf, genug, genug, er schüttelt den Kopf und hustet dabei. Ja, gewiß, genug, genug. Er ist noch ganz vernichtet. Er spricht nichts, aber er bestätigt, er unterstreicht. Er ist ein trauriges, melancholisches Echo.
Ein Granatsplitter fegte an seinem Gesicht vorbei, nahm ein Stückchen der Braue mit, ein kleines Eckchen des Lides und eine Spur des Nasenrückens. Ich beglückwünsche ihn, ein wenig tiefer und was wäre aus Ihnen geworden?
Aber er schüttelt den gelben Kopf und blickt mich mit seinen kranken Augen an. Ah, wozu? Für ihn gibt es keinen Trost.
Es ist nicht leicht, mit Gefangenen zu plaudern. Ein Wort, ein Blick, eine Änderung der Haltung und ihr Vertrauen ist wie weggeblasen. Sie stoßen einander an, sie starren auf den Sprecher, daß er verstummt, sie schweigen. Dann ist es vorbei, nichts kann mehr ihre Zunge lösen. Man muß es fühlen, wenn dieser Augenblick droht, und dem Gespräch eine neue, harmlose Wendung geben.
Die Geschichte mit den „schweren Verlusten“ war der kritische Moment. Der Sprecher hatte zuviel gesagt, obwohl er ja nichts verriet, sie fühlten es, und weil sie es fühlten, fühlte er es auch. Sie erkalteten.
„Ihr habt euch bewunderungswürdig geschlagen!“ sage ich. Sie rekeln sich, bescheiden, verlegen, sie schweigen.
Ich greife mir einen Mann heraus, der einen dünnen, schäbigen Leinwandkittel anstatt des Blaugrauen trägt.
„Et toi, mon ami, wie siehst du aus?“
Die Kameraden, die Blaugrauen und Eleganten lachen. Wie er sich schämt, es ist rührend. Er blickt auf sie, auf mich, er windet sich vor Feinfühligkeit. Er stellt mit der ausgebreiteten Hand eine Grenze her zwischen den Kameraden und mir: „Mein Herr!“
Ja, eine Granate hat ihn ausgezogen. Er flog in einen Granattrichter, sein Rock verbrannte und die Lumpen fielen ihm von den Schultern. Ebenso erging es seinen Pantalons. Es ist nur gut, daß es warm ist! Er deklamiert und seine Kameraden lachen.
„Sie sind ein tapfrer Soldat wie die andern. Es ist ja ganz egal, wie Sie aussehen.“
„Ja, aber es ist nicht schick!“
Das Mißtrauen ist verschwunden. Sie fragen, wohin man sie wohl bringen wird? Ob sie ihren Angehörigen Nachricht geben können? „Ich bin von Roubaix, kann ich nicht an meine Frau schreiben? Ich konnte ihr seit dem Herbst keine Nachricht geben.“ – Ich will mit dem Offizier sprechen.
Einen Trost, einen gewichtigen und wunderbaren Trost kann man Gefangenen immer geben: „Der Krieg ist für euch zu Ende!“
Ihre Blicke ruhen stumm und klar auf mir. Diese Blicke sollen sagen: Nennen Sie es einen Trost, gefangen zu sein? Wir sind Soldaten, viel lieber möchten wir für unser Land weiter kämpfen! Sie sind stolz, und sie möchten nicht, daß ein Fremder ihre Freude sähe, daß die Sache ein Ende habe für sie und daß sie – lebten. Aber sie nicken und ihre Mienen erheitern sich. Der Verstörte schwingt den gelben Kopf und stößt einen tiefen Seufzer aus, während er die Finger krampfhaft ineinander flicht. Ja, ja, ja ...
Aber der im Leinenkittel lacht über das ganze Gesicht und strahlt vor Entzücken: „Ja, Gott sei Dank, mein Herr, der Krieg ist für uns zu Ende!“
Im Juni
Seit vielen Wochen hat Douai Gewitter. Es sind Gewitter jeden Formats, fürchterliche, wovon die Stadt erzittert, und harmlosere, die nur leise knurren. Sie währen Tag und Nacht. Sie ziehen in Rudeln um die Stadt, prallen aufeinander, toben und poltern, im grauen Morgen rumoren sie ferner, mit jeder Stunde des Tages aber kommen sie wieder näher. Am Abend wüten sie am lautesten. Dabei ist der Himmel über den Dächern der Stadt blau und heiß.
Eines Nachmittags zog ein wirkliches, ein natürliches Gewitter über die Stadt herauf, aber es konnte nicht aufkommen gegen die Konkurrenz, es brummte ein bißchen und war wieder weg.
Die Kanonen von Arras, Loretto und Souchez aber schlugen weiter, dumpf und zornig, wie seit Wochen. Die Bewohner von Douai kennen es nicht anders, sie gehen mit Kanonenschlägen zu Bett. Wie der Müller erwacht, wenn das Rad stehen bleibt, so werden Douais Bürger einmal erschrocken auffahren, wenn der Geschützdonner plötzlich schweigen sollte.
Jeden Tag aber, einmal, zweimal und öfter, löst sich aus dem großen Gewitter ein kleines Separatgewitter los und erscheint direkt über der Stadt. Dann kracht und poltert es ganz in der Nähe, die Stadt selbst kracht. Douai bekommt Besuch. Der fällige Flieger erscheint, klein und golden wie eine Mistfliege, um nachzusehen, ob Douai noch steht, um seinen Landsleuten ein paar Bomben auf die Köpfe zu schmeißen und um nach Neuigkeiten in den Straßen und auf dem Bahnhof zu schnüffeln. Dann sieht man die Schrapnelle oben im heißen Blau des Himmels platzen. Man sieht die weißen Schrapnellwölkchen, während man seinen Kaffee trinkt, und man sieht sie, wenn man zufällig einmal den Kopf zum Fenster hinaussteckt. Der Flieger gehört hier zum täglichen Brot, wenn man so sagen kann. Einmal kamen sie in der Nacht und warfen achtundsechzig Bomben; sie warfen neulich fünfzig auf den Flugplatz bei der Stadt, ohne eine Katze zu treffen, sie warfen wiederholt auf den Bahnhof; man ist hier nie ganz sicher, ob nicht eine Bombe unterwegs ist. Vor drei Tagen warfen sie Zeitungen herunter, eine gutgemeinte Aufforderung an unsre Soldaten, nach Hause zu gehen, da ja nun auch Italien das Messer für sie wetze ...
Seit einigen Tagen kommen sie seltener, und wenn sie kommen, fliegen sie in Rekordhöhe. Sobald sie gemeldet werden, erscheint der deutsche Kampfflieger über der Stadt, der Luftpolizist. Er brummt hoch über den Dächern dahin, zieht weite Kreise um den Beffroi, dann stellt er den Motor ab und sticht wie ein Habicht in die Tiefe, um zu landen. Ein paar Minuten später ist er schon wieder oben und brummt. Zwei Franzosen hat er in den letzten Tagen ohne viele Umstände abgeschossen. Ich habe die Luftpolizisten gesehen und auch die Maschine. Sie haben mir ihre Schliche erklärt und den Apparat vorgeführt. Es sind reizende Leute, aber ich möchte ihnen nicht da oben begegnen, so in 2000 Meter Höhe.
Das große Gewitter aber grollt weiter, während die Abwehrkanonen knallen.
Douai ist eine mittlere Provinzstadt, mit einem rechteckigen Marktplatz, wie ihn alle französischen kleinen Provinzstädte hier im Norden haben. Ein paar Droschken stehen da, mit jämmerlichen Pferden, ganz wie in Berlin. Zum Glück haben sie nie etwas zu tun. Ein paar schöne alte Kirchen, ein hübscher Stadtpark mit ein paar modernen Denkmälern im Geschmack der Provinz, gewundene, nicht gerade breite Straßen – schon ist Douai zu Ende, und die Industrie, die Kohle beginnt. Es gibt noch prächtige Sachen hier zu kaufen: feinste, allerfeinste Kuchen, Orangen, Zitronen, Spargel, Artischocken, Konserven, Butter, Streichhölzer, Tabak, kurz alles, was ein Europäer nötig hat. Die Leute leiden keine Not. Unerschöpflich müssen ihre Vorräte und Reserven sein. Im November war ich hier, und aus dem Keller eines Händlers wurde ein großes Weinfaß gerollt und auf einen Wagen geladen. Heute sah ich aus dem gleichen Keller riesige Fässer rollen. Es ist mir unbegreiflich! Und doch wird hier nicht wenig getrunken, das kann niemand behaupten. In der Nähe des Rathauses hat sich eine deutsche Bierhalle aufgetan, aber fast immer hängt an der geschlossenen Türe ein Plakat: Ausverkauft! Nur einmal traf ich es glücklich, die Halle war geöffnet. Die Feldgrauen spülten sich den Staub hinunter, am nächsten Tage schon wieder: Ausverkauft. Wie wunderbar und rätselhaft ist dagegen der Weinkeller des französischen Händlers! Wenn ich das Faß im November nicht gesehen hätte, so würde ich gar nichts sagen, aber nun rollen sie hier schon monatelang Fässer heraus ...
Im Herbst zogen in Douai fünf Feldgraue ein, besahen sich die Stadt und verschwanden wieder. Ein paar Wochen später kamen mehr, und nun gingen sie nicht wieder fort. Die französischen Soldaten, die geflüchtet waren, verbargen sich in den Häusern und warfen Uniformen und Gewehre auf die Straße. Welche Angst, welch schreckliche Angst hatten die Leute von Douai anfangs vor den deutschen Soldaten. Aber es zeigte sich, daß alles Schwindel war. Les journaux! Nichts begeistert die Franzosen mehr, als sich tüchtig belügen zu lassen. Die Lüge ist Phantasie, Rausch, Genie, die Wahrheit ist allzu nüchtern. Kurz und gut, Douai setzte seine Papiergeldpresse in Bewegung und damit war die Sache im Gange. Unsre Verwaltung ist einsichtsvoll und der Bürgermeister ist vernünftig, also wurden größere Reibungen vermieden. Douai hat sein Schicksal, aber man muß gestehen, es trägt es mit Würde. Die Leute sind höflich und taktvoll, sie haben sich an die Feldgrauen gewöhnt. Ja, eines Tages, eines Tages werden sie ja doch wieder verschwinden. Es ist nicht für ewig.
„La guerre est triste, pour nous, pour vous, pour tout le monde!“ Jedermann gebraucht hier diese Redensart, der Kaufmann, die Verkäuferin, der Kellner. Sie leiern diese Phrase ohne jede Betonung und ohne zu denken herunter, wie einen Spruch, den man hundertmal am Tage hersagt.
Oder: „Oh, cette guerre, quand sera-t-elle finie?“ – Gott allein weiß es. (Origineller drückte sich ein Kellner aus: „Dieser Krieg ist eine internationale Schweinerei, mein Herr, ich bin Kosmopolit!“)
Mitte Mai hatte Douai seine großen Tage. Es war in der Zeit der wütenden französischen Vorstöße. Man buk Kuchen und band Blumensträuße. Auffallend viele Zylinder und schwarze Gehröcke erschienen in der Straße. Der Bürger schnupperte in der Luft. Man wartete! Joffre hatte gesagt (so erzählt man!), er hatte gesagt, er werde am 12. in Douai soupieren. In Lens wollte er frühstücken und am Abend des gleichen Tages, wie gesagt, in Douai soupieren. Er sagte nicht: ich komme, sondern er sagte ausdrücklich, er wolle am 12. in Douai soupieren, obwohl es doch eigentlich selbstverständlich ist, daß er speisen würde, wenn er käme. Wie, wo, wann und zu wem er es gesagt hatte, wußte niemand. Aber daß er käme, das stand fest.
Es ist begreiflich, daß sich in einer seit sechs Monaten besetzten Stadt die Nervosität bis zur äußersten Spannung steigern kann. Nun, Joffre kam nicht. Er kam nicht am 13., 14., 15. Die Zylinder verschwanden langsam, und heute habe ich nur noch zwei gezählt. Douai sank ermattet in seine Resignation zurück, und heute glaubt es nicht mehr, daß Joffre in der nächsten Zeit kommen werde. Nein, ich sah es Douai deutlich an.
Heute braust und donnert Douai vom kriegerischen Lärm eines Heeres, das Menschen, Material und Energie im Überfluß hat. Es ist eine der lautesten Städte Europas, und die Rue St. Jacques schlägt spielend die großen Pariser Boulevards in der Hochsaison. Die Gewitterstadt rasselt und bebt in einer Atmosphäre von Krieg. Lastautos poltern vorüber, Automobile schnarren, zwitschern und trompeten. Regimentsmusik, laut und breit. Zwei Bataillone Feldgrauer marschieren vorbei, frisch gewaschen, ausgeruht, mit hartem, tapfrem Tritt, der weder Erschöpfung noch Müdigkeit zeigt. Es sind jene Bataillone, die Joffre daran hinderten, in Douai am 12. zu soupieren, sie lagen oben auf der Lorettohöhe. Frisch und guter Laune sind sie – denn sie leben! Ein Auto schnarrt vorbei: zwei blaugraue Offiziere sitzen darin. Französische Fliegeroffiziere, die gestern bei Vimy abgeschossen wurden. Dann kommen Kolonnen, endlose Kolonnen, von schweren Bierbrauerpferden gezogen, die mit den Hufen Funken aus dem Pflaster schlagen. Sie nehmen kein Ende, und alle Fensterscheiben der Rue St. Jacques klirren. Tag und Nacht gibt es hier keine Ruhe.
Im Hotel du Cerf – ein vernachlässigtes, schmutziges, ödes Hotel, das ich hiermit verfluche! – spielen ein paar Kriegsfreiwillige, noch den Schmutz der Gräben an den Stiefeln, einen flotten Tango, in einer Nebenstraße marschieren Soldaten und singen ein fröhlich schallendes Lied. Plötzlich knallt es: ein Flieger.
In das ewige Getrappel der Pferde und Tuten der Automobile tönt getragene Musik. Der Chopinsche Trauermarsch. Ein Major wird zur letzten Ruhe geleitet. Wieder tuten und trompeten die Autos. Am Abend gehe ich selbst hinter dem Sarg eines gefallenen jungen Offiziers her zum Bahnhof. Ein Güterwagen nimmt den Sarg und die Blumen auf. Daneben steht eine Lore mit einem neuen Geschütz. Heute mittag passierte uns, nicht mir, eine äußerst peinliche Sache. Wir waren, ein paar Bekannte und ich, beim Delegierten des Roten Kreuzes zum Frühstück geladen. Wir wußten, daß ein junger Offizier gefallen war, der den Namen eines bekannten Sportmannes trug, aber wir wußten nicht, war es der bekannte Sportmann selbst oder sein Bruder. Ein Herr fragt bei Tisch: „Ist der bekannte Sportmann gefallen oder sein Bruder?“ Der Wirt sieht den Fragenden an und deutet auf einen anwesenden jungen Offizier: „Hier sitzt der Bruder des Gefallenen. Er ist der bekannte Sportmann.“
Ja, man soll hier außen nie derartige Fragen stellen.
An diesem Abend trafen wir in der Rue St. Jacques einen Dragoner, der in hohen Stiefeln dahinstampfte und lustig pfiff. Was pfiff er? Den Chopinschen Trauermarsch. Wir fragen: „Sagen Sie mal, was pfeifen Sie eigentlich da?“
Der Dragoner geschmeichelt, verlegen: „Es ist so ne neue Sache. Das Neueste, das man hat, von Berlin in den Theatern –“
Ein merkwürdiges Pflaster, dieses Douai! – Wenn die Sonne untergeht und die Lichter des Himmels verlöschen, versinkt die Gewitterstadt in Dunkelheit, in rabenschwarze Nacht. Die Estaminets, die kleinen Gastwirtschaften, die kleinen Cafés schließen. Kein Licht, kein Mensch, kein Hund. Der Beffroi, die Kirchen, Giebel, Bäume ragen schwarz und stumm zum Himmel empor. Eine verkohlte Stadt. Geht man über den Marktplatz, so schallt es, als käme eine Kompanie daher, und man erschrickt, solch einen furchtbaren Lärm zu machen. Man ist verloren und auf den „Cerf“ angewiesen. Hier ist wenigstens Licht. Aber es kommt vor, daß auch hier das Licht plötzlich ohne jede Warnung ausgeht und man eine Stunde im Dunkeln sitzt. Ein Flieger ist irgendwo. Die Wachen klappen auf ihren schweren Stiefeln draußen vorbei, Autos ohne Lichter schleichen dahin. Es knarrt von Rädern, Kolonnen, Transporte von Verwundeten. Douai ist tot. Aber horch!
Um so lauter und härter rollt der Donner der Geschütze. Wie die Brandung des wilden, nächtigen Meeres an einer schrecklichen, öden Küste.
Im Juni
Der Franzmann – so nennen die Frontsoldaten den Franzosen – der Franzmann versucht sein Heil an verschiedenen Stellen, die ihm einige Aussicht auf Erfolg zu bieten scheinen. Seit sechs Wochen trommelt er oben bei Arras, und am 16. und 17. Juni sah es dort aus, als wolle er Frankreich in Grund und Boden schießen. Er hat keine Zeit mehr zu versäumen, das weiß er recht wohl. Vorwärts, Regiment um Regiment wirft er gegen die Gewehre, jeder Schritt kostet ihm Tausende. Bei Arras verbiß er sich, er kam nicht weiter, und so versuchte er es an andrer Stelle. Bei Moulin-sous-Touvent, etwa zwanzig Kilometer nordwestlich von Soissons. Er wollte durch, er wollte zum mindesten Truppen und Geschütze fesseln, abziehen von da oben, und er ging mit großartiger Energie zu Werke. Es war umsonst. Er gewann einen Graben, aber er bezahlte ihn zu teuer, viel zu teuer. Man legt sich hundert Meter dahinter, und nun liegt man wieder mit geschliffenen Zähnen, die Maschinengewehre stehen an ihrem Platz, Gräben, Drahtverhaue, alles wie früher.
Die Kämpfe aber waren furchtbarer, als die paar Zeilen in den Wolff-Telegrammen es ahnen lassen. Sie waren ein kleines Arras, ein Stück Arras, es ging hier zu ganz wie da oben bei Souchez und Neuville. Aber die gleichen Leute wie bei Souchez und Neuville standen auch hier, und sie stehen überall an der Front, wo Joffre anklopft. Je näher man unsre Leute kennenlernt, desto mehr überraschen sie. Sie waren niemals weich, o nein, aber der Krieg hat sie stahlhart geschweißt. Sie sind braun und hart wie Erz. Sie waren tapfer, nun aber, nach langen Monaten, sind sie unüberwindlich. Jeder einzelne ist ein Panzerturm für sich, ein Graben mit Drahtverhauen ringsum, und jeden einzelnen Mann muß Joffre einzeln mit Granaten zusammentrommeln, anders geht es nun nicht mehr. Sieht man einen Kanonier in seinen schweren Stiefeln, so scheint er selbst wie ein Mörser zu sein, ein Mörser, mit dem nicht zu spaßen ist. Ein Schrapnell zerspritzt vor der Batterie, der Hauptmann schreit: „Weg da!“ Der Kanonier rührt sich nicht: „Wegen mir, Herr Hauptmann, da muß schon ne Lage kommen.“ Ja, Kerle sind sie, das muß man sagen!
Wären sie anders, dann wäre es bei Arras und Moulin-sous-Touvent nicht so gegangen! Hundert Meter zurück und alles wie früher, nein ... denn er, der Franzmann, ist ein Gegner, vor dem man den Degen senken muß. Im Friedhof zu Anizy-le-Château ruht ein französischer Batteriechef, der Kapitän Lerroy Beaulieu. Seine Batterie war zerschossen, die Mannschaft tot, ganz allein bediente er noch das letzte Geschütz, und dann feuerte er mit dem Revolver auf unsre stürmenden Grauen. Ein Hurra unsern Grauen, ein Hurra dem Kapitän Lerroy Beaulieu! Solche tapferen Leute haben sie viele da drüben. Nicht wir allein besitzen sie, es wäre falsch, das zu denken.
Ich habe einen Oberleutnant gesprochen, der bei Moulin-sous-Touvent in den letzten vierzehn Tagen ununterbrochen kämpfte. Er war lang und hager, sein Gesicht scharf und kantig gemeißelt. Seine Augen stahlhart, und immer zeigte er ein wenig die obern Zähne. Er war nicht gerade elegant, aber er legte auch keinen Wert darauf. Sein langer, grauer Mantel war an einzelnen Stellen abgeschliffen, voller Falten, und schimmerte von den Farben der Erde und des Grases und einem sonderbaren Rostrot. Die ganzen vierzehn Tage hatte er kaum ein Auge zugemacht, hier und da zehn Minuten, das war alles. Es ging nicht anders! Sie hockten in rasch aufgeworfenen Gräben, aber er hatte keine Zeit, an sich selbst und die persönliche Gefahr zu denken. Es gab zu tun. Die Truppe, nichts andres als die Truppe! Kein andrer Gedanke. Er ist der Kopf und das Herz der Leute. Man darf nicht vergessen, daß die Flagge, die schwarzweißrote Flagge des Reiches, unsichtbar all die vierzehn Tage und vierzehn Nächte über seinem Kopfe und seiner schiefen, verknüllten und staubigen Mütze knatterte, das darf man nicht vergessen – anders wäre es ihm und den andern wohl nicht möglich gewesen, die vierzehn Tage und Nächte auszuhalten.
So war es also bei Moulin-sous-Touvent, und so ist es zum Teil noch heute.
Am 5. Juni nachmittags begann der Franzose zu trommeln, und er trommelte volle drei Stunden lang. Am 6., am Sonntag, trommelte er weiter von sieben Uhr bis zehn, ein halb elf. Die Drahtverhaue müssen eingetrommelt sein, die vordersten Gräben, denn anders ist ein Sturm unmöglich, will man nicht, daß ein ganzes Regiment in den Drähten hängen bleibt. Dazu hielt er alle Zugänge und Verbindungswege unter Feuer, damit niemand vor und zurück konnte. So ist es jedesmal, die Taktik steht fest. Dieses Wirbelfeuer war das fürchterlichste, das mein Oberleutnant je erlebte. Und dann kamen die Schwarzen angefegt! Das Plateau ist eben, Gras und Halme, so kamen sie heran, die schwarzen Kugelfänger der Franzosen, die den ersten Regen von Geschossen mit ihren dicken Mäulern schlucken sollen. In einer Breite von zwölfhundert Metern, in mehreren Kolonnen, kamen sie näher. Erst die Granaten, dann die Schwarzen, es ist immer das gleiche Rezept. Der Franzose weiß wohl einen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß zu machen! O, ganz gewiß. Afrika brütet. Die dunkelhäutigen Mütter sind Tiere, die Junge werfen, und die dunkelhäutigen Mütter haben keine Augen, um Tränen zu vergießen. Nein! Dein schönes, edles Antlitz, Frankreich, auf das du so stolz bist, und das du so gern bewundern läßt, es ist geschändet. In deinen Salons und Parlamenten, in denen so viel gesprochen wird von Menschenwürde, Menschlichkeit und Gleichheit und ähnlichen Dingen, wird für ewig ein Gestank sein, der Gestank von hunderttausend schwarzen, faulenden Kadavern, die du in diesem Kriege zynisch geschlachtet hast. Nie, nie wirst du diesen Gestank mit deinen Parfümen ersticken können, niemals, du weißt es wohl! Wohlgemerkt, ich habe deinem tapfern Kapitän Lerroy Beaulieu ein Hurra gebracht, denn ich liebe und bewundere ihn, er ist das Frankreich von einst, aber ich verabscheue dich, wenn du, roh und schamlos, die Peitsche des Tierbändigers schwingst. Afrika wird dir nie vergeben, denke an mich! Es wird dir ja nicht gelingen alle Schwarzen abzuschlachten, und einige werden wohl oder übel zurückkehren in ihre Dörfer. Sie sprechen deine Sprache nicht, aber dort können sie sich verständlich machen, und man wird sie verstehen. Man wird dir die Rechnung vorlegen, und du wirst erbleichen, denke an mich! Sie werden deine Bataillone niedermetzeln und ihre Köpfe auf Spieße stecken. Dann wirst du schreien, sie sind Tiere, und das unwissende, belogene und verlogene Europa wird dir glauben, daß sie Tiere sind, und vor Empörung beben.
Kurz und gut, die Schwarzen müssen vor! Ein gerader, nicht mißzuverstehender Blick ins Auge, ein Griff an den Revolver – du verstehst mich wohl! – Maschinengewehre im Rücken, der Schwarze versteht. Er schnellt vor wie ein Tier, das um sein Leben läuft, Maschinengewehre voraus, Maschinengewehre im Rücken, der Todesschweiß glänzt auf den dunkelhäutigen Gesichtern.
So kamen sie heran bei Moulin-sous-Touvent in den heißen Stunden der Schlacht. Sie fielen wie Hammel, in die der Blitz schlägt. Dann erst fluteten die Wellen der französischen Infanterie heran. Die Übermacht war so groß, daß es Wahnsinn gewesen wäre, sie in zerschossenen Gräben und Granattrichtern zu erwarten. Man ging zurück. Aber die flankierenden Gräben standen wie Festungen und gaben Flankenfeuer. Verlängerungen wurden vorgetrieben, um die Flankenstellungen auszudehnen. Die Schlacht war im Gange. Reserven kamen blitzschnell heran, vorwärts, Sturm! Um sechs Uhr abends war der Feind wieder zurückgeworfen. Was er noch hielt, waren zwei zusammengetrommelte Gräben von etwa hundert Meter Tiefe. Die ganze Nacht hagelten die Granaten bis acht Uhr morgens. Die Kämpfe wogen hin und her. Die Gewehre peitschen, die Maschinengewehre hämmern, Minen, Handgranaten. Unsre Grauen hocken in rasch aufgeworfenen Gräben, Sandsäcke vor, es ist heiß, staubig und stickig. Sappen, Gräben, man beißt sich langsam durch die Erde näher. So geht es fort, ohne Pause, bis zum 14. Es ist immer das gleiche. Das heißt, es ist immer gleich furchtbar, gleich blutig, es erfordert immer den gleichen Mut, die gleiche Ausdauer, die gleiche unmenschliche Anstrengung!
Am 14. abends setzten wir zum Gegenstoß an und nahmen den Franzosen einen Graben weg. Unsre Geschütze trommelten nun ihrerseits. Die feindlichen Reserven wurden zugedeckt. Ein feindliches Bataillon in Reservestellung geriet, wie Gefangene aussagten, derart in die Zähne unsrer Haubitzen, daß der Kommandeur das Kommando: „Sauve qui peut!“ gab. So ging es hin und her. Am 16. machte der Franzose drei wütende Vorstöße. Den Tag leitete er mit Wirbelfeuer ein wie gewöhnlich. Um elf Uhr brach er nördlich von Moulin bei der Ferme Quennevie vor. Die kleinen Vorteile, die er dort errang, nahmen ihm unsre Grauen am Abend wieder ab, und somit war es wieder nichts. Ein Angriff etwas südlicher scheiterte. Um drei Uhr nachmittags griff er zum dritten Male an diesem Tage an. In dichten Kolonnen stürmte er vor, kühn und tapfer, aber der Sturm brach in unsrem Infanteriefeuer zusammen.
In den ersten Tagen des Angriffs hatte er schwere Verluste, am 16. aber ungeheure. Ein kleines Grabenstück, das nicht den geringsten Wert hat, war das Resultat der vierzehntägigen Schlacht, die, wie mir mein hagerer Oberleutnant versicherte, heißer war als die Schlachten bei Soissons und Vailly. Sie ist noch nicht ganz zu Ende, es flackert immer noch auf da oben – aber eines ist gewiß: so wenig es Joffre gelang bei Arras durchzubrechen, so wenig gelang ihm sein verzweifelter Versuch bei Moulin-sous-Touvent. Und er wird ihm nicht gelingen. Er mag anklopfen, wo er will, immer wird er auf die gleichen Leute stoßen wie bei Arras und Moulin-sous-Touvent – ob sie nun sächsisch sprechen oder bayrisch oder märkisch oder schwäbisch – es sind immer die gleichen. Es sind Kerle, braun und hart wie Erz.
Im Juni
Ich frage, was hat die Granate dort links mitten im Feld zu suchen? Sie kam heran, ohne besondern Lärm zu machen, und klang wie der Abschuß irgendeines der Geschütze, die hier in der Umgebung stehen und zuweilen in den heißen Morgen hineinfeuern. Unsern Ohren muß der Krach anscheinend aber doch nicht geheuer vorgekommen sein, denn instinktiv drehten wir alle den Kopf. Nun raucht sie in der grellen Sonne wie der Qualm eines Kartoffelkrautfeuers. Ein Reiter trabt auf seinem Pferd feldein. Er reitet in einer Mulde und ist vom Feind nicht einzusehen. Plötzlich stutzt er, hält das Pferd an und betrachtet den grauweißen Rauchklumpen im Felde, der sich langsam in die Höhe zieht. Er reitet weiter, hält wieder an, blickt auf den Rauch, den Himmel, das Feld ringsum und auf unser Auto. Er dreht bei, siehst du wohl, und macht sich langsam und in aller Ruhe davon.
Auf dem Felde ist nichts zu sehen, es ist unberührt, hier war nie etwas, weder ein Graben noch eine Batterie. Ohne Zweifel, die Granate galt uns, aber sie fiel zu kurz. Wir halten auf der weißen, sonnigen Landstraße, über das Feld ragen Höhenzüge empor, und dort sitzt der Franzose mit seinen Fernrohren. Der Hauptmann, der mich fährt, mager und geschmeidig wie ein Panther, spitzt die Ohren, horcht auf die Abschüsse und äugt durch das Monokel auf das öde heiße Feld, um den nächsten Einschlag zu beobachten. Nichts mehr. Sie wollten uns nur andeuten, daß sie immerhin noch da seien und alles sähen.
Wir fahren weiter. Es ist das Prinzip meines Hauptmanns „lieber etwas zu riskieren, als zuviel zu laufen“. So sagt er. Gestern schleppte er mich bei einer Höllenhitze quer über die Abhänge bei Vailly, und hier gab es Striche, die nackt vor den Franzosen dalagen. Mit dem bloßen Auge konnten sie uns sehen. Da hieß es dann trab, trab, eins, zwei, drei, hundert Schritte Abstand und hinüber. Zuletzt kamen wir auf eine kalkweiße Landstraße auf der leeren Höhe, von der wir uns wie Tintenflecke abhoben. Wir mußten schließlich in ein Rübenfeld hinein und durch die hochgeschossenen Samenstauden hindurch. Gelb, wie von Insektenpulver zugedeckt, tauchten wir wieder auf. Selbst das Monokel des Hauptmanns war gelb. Der Schweiß lief uns übers Gesicht. Das nannte mein Hauptmann „abschneiden“.
„Lieber ein bißchen riskieren, aber nur keine Umwege.“ So ist er also und nicht zu ändern.
Diese Felder ringsum, die in der mörderischen Sonne zittern, sind das Schlachtfeld von Soissons. Soissons? Es klingt schon, als wäre es in einem andern Krieg gewesen. So lange ist dieser Krieg! Hier gingen sie vor, im Januar ... Die Felder sind verlassen und öde. Die Rüben sind ins Kraut geschossen, der Weizen ist von selbst gewachsen und steht dazwischen in langen Halmen. Ein grellrotes Feld von Mohn. Verwildert und verwahrlost sehen diese Felder aus, kein Mensch, kein Tier. Wie ein verfluchtes Land, das kein Fuß mehr betritt. Die Hitze kocht darüber, und die Halme stehen regungslos, wie tot. Die Felder haben einmal den wilden Lärm gehört: Keuchen und Schreien, Röcheln, Kommando, Granaten und den lauten Fall von vielen Männern. Nun aber schweigen sie. Die Toten ruhen unter der Erde. Hier! Sie ruhen unter der Erde, ja, aber sie sind nicht vergessen! In der Sonne kann ich sie ja stehen sehen, im grellen, lichten Tage, die Mütter, Bräute und Schwestern, die hierhergekommen sind auf diese heißen Felder, ohne Regung stehen sie und weinen leise und können es noch immer nicht fassen, daß ihre Lieben unter dieser Erde ruhen. So stehen sie, die Frauen, ich sehe sie deutlich, und so werden sie noch viele Jahre stehen und leise weinen, bis sie selbst in die Erde sinken. Aber noch nach fünfzig Jahren werden einzelne hier stehen, bis es nach sechzig, siebzig nur noch eine einzige ist, und auch sie wird in diese Erde hineinsinken. Und auch dann sind sie noch nicht vergessen, die Toten von Soissons. Verflucht und verrucht wäre Deutschland, vergäße es sie je! Einer, nach tausend Jahren, schlägt ein Buch auf, und was schreit ihm entgegen? Schlacht bei Soissons, 11. bis 15. Januar 1915, Regimenter, Bataillone, Divisionen, Kommandeure und Generale, der Steinbruch, La Perrière, Crony, das Zuavenwäldchen – und er, der in einer glücklicheren Zeit lebt, der Kriege so fern sind wie uns Hexenverbrennungen, er wird der Toten von Soissons gedenken.
Die Gräben und Sappen sind überwuchert von Kräutern und blühenden Wicken. Sie sind heiß wie Backöfen. Hier ist der Steinbruch, Sandsäcke, Barrikaden, alles ist noch da. Selbst die Sturmleitern, acht Meter hoch und sechs Meter breit, stehen noch an Ort und Stelle. Hier mußten sie hinauf und vor! Hinein in das zischende Feuer. Hier ist der Verhau des sächsischen Scharfschützen, der vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht hier hockte und gar keine Zeit für etwas andres hatte, selbst das Essen ließ er sich bringen. Zerschmetterte Bäume. Ein Haus, durch das ein „großer Minenhund“ ging und es glatt zerlegte. La Perrière. Zerschossen und ausgestorben.
„Sehen Sie her, hier unten liegen die Schwarzen!“
Eine Schlucht wie ein tiefer, runder Brunnen. Ein breiter Erdhügel hebt sich daraus, nahezu hoch bis zur Straße, Sand, Erde, Schmutz, Moder. Darunter liegen sie. Man mußte sie aus dem Wege räumen und warf sie hinein, die Schwarzen, es waren viele. Chlorkalk und Erde darauf, und fertig war die Sache. Unten bei Berry-au-Bac sah ich an zweitausend Schwarze vor unsern Stellungen liegen. Sie waren noch unbeerdigt. So ist der Krieg. Eine Fliege kommt aus dem Brunnen und brummt mich an. Sie wohnt da unten bei ihnen. Ich fahre zurück. Grauen und Entsetzen trägt die schmutzige Fliege auf ihren kleinen Flügeln mit herauf. Sie ist die Seele der Schwarzen und kommt herauf, um Protest zu erheben dagegen, daß ich hinuntersehe. Fort mit dir! An meinem Schritt schon hat sie erkannt, daß hier ein Weißer kommt. Sie ist zornig und hartnäckig und treibt mich in die Flucht. Ich lasse die Schwarzen allein mit ihrer Fliege. Sie ist alles, was sie haben.
Gräber. Eine ganze Reihe. Es sind die Unsrigen. Die Granaten haben in letzter Zeit die Kreuze etwas zerzaust und schief geschlagen. Das ist den Toten einerlei. Die Höllenmaschinen dieser Erde können ihnen nichts mehr anhaben.
Dicht neben dem Friedhof hat sich ein Major eine Baude gezimmert. Die Decke, der Plafond besser gesagt, besteht aus zwei gehäkelten Bettdecken, die eine Art Baldachin bilden. Ein vergoldeter Sessel, Empire, sehr nobel. An der Wand ein Öldruck: Salut aux blessés. Französische Offiziere, hoch zu Roß, an einer Landstraße. Ein Trupp deutscher Gefangener wird vorbeigeführt. Die Gefangenen sind große, blonde Männer, verwundet, die Offiziere lüften das Käppi. Der Major ist ein Mann von Welt und zieht sofort eine Flasche auf. Leider kann er uns keine Zigarren anbieten. Sitzt er da gestern hier in seinem Sessel, sein Wachtmeister dort, auf dem Tisch stehen die Zigarren, kommt ein Granatsplitter angefegt und zerschlägt ausgerechnet die Zigarren. An der Wand sind Bretter und Stäbe zersplittert.
Mein Hauptmann entschließt sich nun doch, das Auto stehen zu lassen. Er kann schließlich nicht bis in die Gräben fahren. Es geht bergan. Wegweiser, Holzbrettchen mit Aufschriften: Batterie X, Geschütz Y, Beobachtungsstand Z. Dahin wollen wir. Auf Schleichwegen gelangen wir ans Ziel.
Der Beobachtungsstand Z. ist keineswegs so nobel wie die Baude des Majors unten. Er ist ein dunkles Erdloch. Eine Ruhebank, ein Stuhl, ein Telephonapparat, das ist die ganze Einrichtung. Zwei Schatten hausen in der dunklen Höhle. Ein Offizier und ein Soldat. Verbeugungen gegenseitig, ein Händedruck, wir sind zu Hause.
Hier ist es kühl und schattig.
Durch einen Spalt, einen knappen Meter lang und eine Spanne hoch, fällt das Licht des Tages. Vor dem Schlitz steht das Scherenfernrohr. Wie ein eleganter Teufel auf dünnen Spinnenbeinen, mit grauen, dicken Hörnern.
Und da unten, zum Greifen nahe, liegt Soissons!
Eine Stadt! Dicht aneinandergedrängt stehen Häuser und Giebel, schiefergrau und staubig rostgelb. Man blickt in Straßen hinein, kann an den Krümmungen der Giebelreihen das Gewimmel von Straßen, Gassen und Plätzen haarscharf erkennen. Aus der Stadt erheben sich Kirchen und Türme, auffallend hoch, denn selten sieht man eine Stadt aus der Höhe. St. Jean des Vignes, zwei spitze Türme, einer etwas niedriger als der andre, Gotik, alles ganz genau. Rechts davon die Kathedrale. Sie scheint einfacher gehalten zu sein. Der stumpfe Turm leuchtet in der Sonne. Oben rechts ein weißer Fleck. Ein Loch? Durch das Glas sieht man, daß eine Granate in den Kantenpfeiler gefahren ist. Es ist weiter nicht schlimm. Regierungsgebäude, langgestreckt und ehrwürdig grau, Schuppendächer beim Bahnhof, Fabriken. Mit bloßem Auge sieht man die einzelnen Fenster, mit dem Glas die Fensterkreuze. Die Stadt aber ist tot. Kein Fenster blinkt beim Schließen oder Öffnen, kein einziger der Kamine auf den Giebeln raucht. Auch nicht eine Spur von Leben, und doch hausen Tausende von Menschen in der stillen Stadt. Sie stellt sich tot, nur in der Nacht, wenn es ganz finster ist, kann sie ein wenig Atem holen. Die Vororte strahlen von ihr aus in das grüne Tal der Aisne. Neue Häusergruppen, Schuppen, Fabriken. Eine leuchtend gelbe Fabrik auf dem ansteigenden Hang hinter der Stadt, blendend in der Sonne wie ein Schloß.
Breit und sonnig liegt das Flußtal. Ein paar Krümmungen der Aisne blitzen in der Sonne. Erlengebüsche, Baumgruppen, Dörfer und die Hügel, grün, zum Teil bewaldet. Hoch oben und fern ein paar Häuser. Alles schweigt. Ein paar Geschütze feuern zuweilen, sonst regt sich nichts. Unten, in Deckung, hantieren Leute, so groß wie Fliegen. Es sind Feldgraue. Einer sägt Holz. Straßen, staubige Landstraßen, die sich aus Soissons emporwinden, ohne Leben. Ich streiche mit dem Scherenfernrohr die Hügel ab, die Landstraße, Hänge und Wäldchen, vielleicht sehe ich einen Menschen von Baum zu Baum huschen, oder einige – eins, zwei, drei und hinüber. Nichts.
„Sehen Sie denn nichts?“ frage ich den Offizier.
„Nein, gar nichts. Vor einer Viertelstunde sah ich einen Mann im Feld. Heute morgen hoch oben ein Reiter.“
Wo der Fluß blinkt, im Feld, sind die Gräben. Man sieht die gelben Striche mit dem bloßen Auge. Aber selbst mit dem ausgezeichneten Glas kann man keine Spur von Leben in den Gräben entdecken. Bei der Baumschule dort, an einer Telegraphenstange, hängt eine französische Flagge. Sie wurde heute nacht angebracht.
Plötzlich aber entdecke ich doch etwas! Aus einem grauen Dorf, gerade gegenüber, einem Vorort, steigt eine runde Wolke wie von Wasserdampf. Aber nichts regt sich, keine Seele. Das Dorf scheint verlassen. Die Wolke verdichtet sich, reckt sich höher, es kommt Leben in sie, Nahrung, die Granate hat gezündet. Fünf Minuten und sie wächst und wächst. Plötzlich aber wird sie rasch kleiner und kleiner: es sind also doch Menschen dort in dem toten Dorf! Französische Reserven liegen dort.
Es kracht in der Nähe. Abschuß! Eine Granate rauscht und gurgelt über unsre Köpfe hinweg, hinüber nach Soissons. Die Sekunden vergehen. Wo wird sie aufschlagen? Eine weiße Wolke, dort bei den roten, neuen Schuppen. Dann erst der scharfe Knall des Aufschlags. Die Schuppen sind die letzten Häuser des Vororts St. Paul. Nichts regt sich, kein Mensch erscheint, um nachzusehen, was die Granate hier bei den Schuppen will. Die weiße Wolke zerstiebt.
Abschuß! Mächtig schleift die Granate durch die Luft. Sie schlägt vor den Schuppen in eine Baumgruppe ein. Die Bäume rauchen. Plötzlich röhrt und rauscht es näher über dem Unterstand. Bekommen wir Antwort? Nein. Der Abschuß fiel mit dem Krach der einschlagenden Granate zusammen. Eine graue Wolke hängt über der Baumgruppe, ein gespenstischer, grauer Oktopus, der seine Fangarme langsam nach den Bäumen ausstreckt. Ein Schrapnell.
Soissons aber liegt und regt sich nicht. Wie die Gazelle vor den Augen des Tigers liegt es da.
Im Juli
Gegen sieben Uhr abends fahren wir, der Rittmeister v. B. und ich, in das Arbeiterdorf X. Y. ein. Wir haben hier zu tun. Der Rittmeister läßt halten, um nebenher einem Bekannten guten Tag zu sagen. Kaum ist er fort, so gibt es einen Knall. Was ist los? Ringsum schlagen die Geschütze, und ich beachte den Knall nicht weiter. Aber Leute und Kinder laufen zu einer Stelle neben der Straße. Oben brummt ein Motor. Ein Flieger hat eine Bombe geworfen! Sie fiel zweihundert Meter vor dem Auto nieder, und es ist gut, daß wir zufällig hielten. Ein Arbeiter wird weggeführt. Erschrocken und verstört sieht er aus. Ein Splitter hat ihn am Arm verletzt. Er rauchte gerade seine Feierabendpfeife ganz friedlich und dachte an nichts. Da kam die Bombe aus der Luft. „Ist die Verletzung schwer?“ frage ich einen Arzt. „Nein, nein, eine Kleinigkeit.“
Ein Rudel von Kindern hockt um das Loch herum, das die Bombe schlug. Sie graben mit ihren schwarzen Pfoten, hastig und gierig wie Hunde, ob sich nicht irgend etwas findet. Die Splitter haben Fetzen aus den geschwärzten Backsteinmauern geschlagen. Eine Mauer ist wie von scharfen Krallen zerkratzt. Man kann genau den Streuungskegel feststellen. In zwanzig Meter Entfernung schlugen die Splitter einen knappen Meter hoch ein.
Der Rittmeister kommt zurück. „Was ist los?“
„Ein Flieger hat eine Bombe geworfen.“
„Nicht möglich!“ Er lacht vergnügt und gleichmütig und blickt durch das Monokel zum heißen Himmel empor, wo eine Gruppe von Schrapnellwölkchen steht. Er hat nicht einmal den Knall gehört. Wir trennen uns. Ich will einen Regimentskommandeur besuchen, und der Rittmeister hat Geschäfte irgendwo in der Nähe. Die Kinder wühlen noch immer in dem Bombenloch. Ich bin keine hundert Schritte an ihnen vorbei, als mich ein Offizier anruft. „Nehmen Sie Deckung. Ein Flieger kommt. Er wird gleich werfen.“ Ah, schon wieder einer! Er hält direkten Kurs auf mich zu, ganz, als wolle er mich persönlich aufsuchen. Schon hört man seinen Motor summen, gleichmäßig und wundervoll brummen die hundert Pferde da oben! Aber ein Schrapnell platzt dicht vor seiner Nase, und er biegt aus. Dem Rittmeister indessen hat er, wie ich später erfuhr, eine Bombe in den Garten geworfen.
Dieses X. Y. ist ein Bombennest ersten Ranges. Ich wußte es, man hatte es mir erzählt, aber ich hatte nicht recht daran geglaubt. Weshalb gerade dieses Arbeiterdorf? Nun, überall bilden sich Gewohnheiten aus! Es liegt auf dem Wege Souchez-Douai, genau in der Mitte, und die Luftstraße geht darüber hin. Es bekommt seine Bomben, früh und abends, und die Bomben gehören zu X. Y., ganz wie der Geschützdonner und das Schnarren und Trompeten der Automobile. Wenn die Franzosen nach Douai fliegen, so werfen sie eine Bombe ab, und alles, was sie in Douai nicht an den Mann bringen konnten, aus irgendeinem Grunde, bekommt X. Y. auf dem Rückwege. Das schmutzige und schwarze Fabrikdorf hat im Grunde genommen nur eine einzige, schnurgerade Straße, die Chaussee. Diese Chaussee steuern die Flieger an, und wenn sie in genauem Kurs darüberliegen, so werfen sie den Vogel über Bord. X. Y. hat seine Bombe. Da man aber den Trick kennt, so nimmt man Reißaus, und infolgedessen passiert verhältnismäßig wenig. Freilich, wenn man seine Feiertagspfeife raucht und gemächlich auf der Chaussee herumstochert, so kann die Sache schlecht ausgehen.
Ich blieb eine halbe Stunde bei dem Regimentskommandeur, und als ich wieder auf die Straße trat, war eine wütende Knallerei ausgebrochen. Der ganze Himmel stand voll Schrapnellwolken. Was war geschehen? Ja, auf den ersten Blick konnte man es sehen: Während ich bei dem Kommandeur saß und plauderte, waren zwei Fesselballone hochgegangen und feindliche Flugzeuge griffen sie an. Der eine der Ballone stand etwa einen Kilometer weit entfernt, der andere aber stand nahezu über meinem Kopfe, etwas westlich vom Dorf. Er war drei- bis vierhundert Meter hoch, vielleicht höher, und leuchtete hell in der Abendsonne. Die Luftströmung hatte ihn herübergetrieben, ich sah zuweilen das schrägstehende Drahtseil aufblitzen, das ihn festhielt. Deutlich sah ich den Korb, und daraus kam etwas Rundes hervor, das war der Kopf des Beobachters. Da saß er nun hoch oben, beobachtete die Einschläge der Geschosse, telephonierte, dirigierte. Ganz wie er, saß drüben der andere, und beide lasen in den feindlichen Höhenzügen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Das war ihnen ein bißchen zuviel! Augenblicklich kamen ihre Flieger herbei. Zuerst sah ich nur einen. Winzig, wie eine goldene Libelle, kam er auf den entfernteren Ballon zugeflogen. Jeden Moment verlor ich ihn aus den Augen, so stand er im Licht. Die platzenden Schrapnelle, hoch oben, nicht größer als ein Kopf, zeigten seine Bahn. Es waren zwanzig, dreißig, er sollte auf keinen Fall herankommen und den Beobachter im Korb stören! Eine ganze Wiese von Schrapnellwölkchen stand da oben. Sie entstehen ganz urplötzlich am blauen Himmel, haarscharf ausgeschnitten, sind rund wie eine Kugel, aus der langsam der Rauch tropft, schimmern und opalisieren wie feinster Zigarettenrauch. Lieblich und unschuldig sehen sie aus, oft berauschend schön. Die goldene Libelle aber flog näher, unbekümmert und frech, in dreitausend Meter Höhe. Plötzlich, nahe über dem entfernteren Ballon angelangt, blitzte sie breit und golden auf. Sie hatte eine Kurve gemacht, stach in die Tiefe und schoß nun direkt auf unseren Ballon zu. Aber unsere Kanoniere schliefen nicht! Die Granaten fauchten über das Dorf hoch, eine hinter der anderen her, immer rascher und wütender, und ein Dutzend blitzender Messer und Dolche, wie von einer Kanone hochgeschossen, zuckten um die Libelle auf. In der nächsten Sekunde schon hatten sie sich in schöne, grünlich schimmernde Wölkchen verwandelt. Die Libelle wich nach Norden aus, überflog in rasender Fahrt, brummend und surrend, das Dorf und stieg in einer großen Spirale hoch. Die Dolche folgten ihr blitzend und funkelnd, sie stieg und stieg und nahm Reißaus. Plötzlich aber drehte sie bei und kam mit direktem Kurs zurück!
„Voilà un autre!“
Das ganze Dorf steht auf der Straße und sieht zu. Ein Arbeiter in Hemdärmeln, unter der Tür einer Kneipe, deutet in die entgegengesetzte Richtung. Seht an, ein zweiter! Ich sehe nur das Feld von Schrapnellwölkchen, ein Rudel, zu dem immer neue kommen, aber der Arbeiter hat die Maschine gefunden. Rechts neben dem Schlot, über den drei kleinen Wolken, die dicht beisammen stehen! Richtig. Klein und zart wie eine Schwalbe zieht sie näher. Sie hat es nicht auf unsern Ballon abgesehen, sondern auf den anderen. Sie bekommt Feuer von allen Seiten, und ein Streifen des blauen Himmels ist wie mit Lämmerwölkchen bedeckt. Sie kann nicht heran und zieht meilenweite Kreise. Unten an der Straße verschwinden die Leute in den Häusern: es sind Sprengstücke von den Abwehrgeschützen heruntergekommen.
Aber wir haben die Libelle ganz außer acht gelassen. Plötzlich steht sie wieder über dem Dorf. Sie ist von hinten heimtückisch wieder herangeschlichen. Unsere Kanoniere aber behielten sie wohl im Auge. Über dem Dorf bekommt sie Feuer und muß höher gehen. Sie biegt aus, kommt in einem kühnen Bogen zurück, und es gelingt ihr, unseren Ballon zu überfliegen. Aber in solch enormer Höhe, daß es sinnlos von ihr wäre, eine Bombe zu werfen. Das ist ja der Sinn der Beschießung. Trifft man sie auch nicht, so sollen sie wenigstens hochgehalten werden. Sie macht sich davon wie das erstemal, klein wie ein Punkt sieht sie jetzt aus, aber sie kehrt wiederum zurück.
Nach Süden zu, noch ferne, erscheinen ebenfalls Gruppen von Schrapnellwölkchen. Zwei Striche, ja nichts anderes als zwei feine Gedankenstriche untereinander, kommen heran. Ein Doppeldecker. In unerhört rascher Fahrt zieht er näher. In den heißen Luftschichten scheint er manchmal etwas höher und manchmal etwas tiefer zu stehen. Durch irgendwelche höllische Künste gelingt es ihm, sich streckenweise vollkommen unsichtbar zu machen. Unsere Geschütze legen eine Barriere von Schrapnellen vor ihn, aber das ist ihm ganz einerlei. Er kommt heran, unwiderstehlich und kühn, fliegt zwischen den Ballonen hindurch und fegt in abenteuerlicher Höhe über meinem Kopf hinweg. Über dem Dorfe macht er halt! Das heißt, er legt sich in die Kurve, daß er nahezu auf den Flügelkanten steht, und kommt, ehe die Geschütze sich neu einstellen können, den gleichen Weg zurück. Eine ganze Lage sitzt falsch! Er überfliegt unsern Ballon und stürzt sich auf den anderen. Man muß es zugeben, es sind Leute, die da oben in den Apparaten sitzen!
Nunmehr ist aber auch die Libelle zurückgekommen. Grau und unscheinbar sieht sie aus. Sie fliegt viel niedriger und scheint es nun ernst zu meinen.
Der Kampf geht weiter. Die Schrapnelle platzen, und die Geschütze speien ganze Kurven von blitzenden Dolchen in den blauen Himmel. Die Flugzeuge suchen ein Loch, um durchstoßen zu können, um ihre Bombe anbringen zu können mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Erfolg. Kühn und großartig versuchen sie es wieder und wieder, man muß es ihnen lassen.
Gleichgültig und stumpf stehen die Ballone währenddessen am Himmel, als gehe sie die ganze Sache nichts an. Sie rühren sich nicht. Sie sind wie fliegende Elefanten, denen es gegeben ist, an Ort und Stelle in der Luft stehen zu bleiben. Die Beobachter sitzen und telephonieren und dirigieren, während die Geschütze feuern. Sie würden sitzen und beobachten, wenn der Himmel über sie herabbräche. Es muß sein, und so tun sie es, ohne überhaupt ein Wort darüber zu reden.
Die Libelle scheint, wie ich sagte, nunmehr ernste Absichten zu haben. Sie steuert unseren Ballon kaltblütig und tollkühn an, in zweitausend Meter Höhe, trotz des wütenden Feuers. Plötzlich platzt ein Schrapnell unmittelbar rechts von ihr. Sie blitzt golden auf, wendet und zieht schnurstracks nach Hause! Sie ist getroffen. Ja, die Libelle ist fertig. Sie streckt die Flügel, so sehr es geht, aber es gelingt ihr doch nicht mehr, über unsre Linien zu kommen. Sie muß landen und ist gefangen.
Der rasche Doppeldecker und die kleine Schwalbe, die ich immer wieder aus den Augen verlor, setzen die Angriffe fort. Nur noch wenige Minuten, dann kommt ein neuer, sehr rascher Doppeldecker dazu. Er überfliegt in großer Höhe das Dorf, unsern Ballon – aber er bekommt kein Feuer. Es ist einer von uns, ein Kampfflugzeug. Die Franzosen haben ihn gesehen, er ist rascher und stärker als sie, es wäre Unsinn, sich mit ihm einzulassen. Zwei von den ihrigen hat er schon ohne viele Umstände heruntergeschossen. Ehe er noch nahekommen kann, geben sie Fersengeld. Sie entfliehen in einer Gabel, der Doppeldecker nach Westen, die Schwalbe nach Südwesten. Der Kampfflieger jagt in der Mitte hinter ihnen her, um einen, wenn möglich, abzuschneiden. Die Schwalbe wird zu einem dunkeln Punkt, der Doppeldecker zu zwei goldenen, feinen Strichen. Der Kampfflieger verblaßt.
Nun aber bekommt er Feuer, von der Lorettohöhe herüber. Schmutziggraue Tupfen stehen unter ihm. Es hat keinen Zweck mehr, er macht kehrt. In toller Fahrt, brummend und summend, fliegt er über das Dorf zurück. Wie eine Bulldogge, die ein paar Kläffer in die Flucht schlug und nun höchst zufrieden nach Hause galoppiert. Die Schrapnellwölkchen zerfließen am Himmel.
Im Westen, ferne, steht ein Feld safrangelber Schrapnelltupfen. Ein später Flieger, der Feuer bekommt.
Über die Lorettohöhe steigt die erste bleiche Leuchtkugel empor. Die Geschütze schlagen lauter. Die Nacht kommt.
Im Juli
„Ist der Schriftsteller hier? Er soll vortreten!“
Der Knäuel der Gefangenen kommt in Bewegung. Ein brauner, breitschulteriger Soldat in verstaubtem, blaugrauem Mantel tritt vor. Sein derbes Gesicht ist heiß und schmutzig, seine Hände sind hart und groß. Sein Blick ist fragend und fest auf mich gerichtet. Er sieht aus wie ein Soldat, ganz wie die anderen, keineswegs wie ein Mann der Feder.
„Sie sind Schriftsteller?“ – „Ja, mein Herr. Ich bin Journalist.“ – „Ich bin ein Kollege von Ihnen und möchte mit Ihnen sprechen.“ – „Zu Ihrer Verfügung.“
Die andern sind stumm und hingerissen vor Neugierde. Sie verlieren vollkommen ihre militärische Haltung und verwandeln sich in Bauern und Handwerker, die zuhören wollen und ihre Neugierde nicht verbergen. Sogar der mit dem verbundenen Kopf ist herbeigekommen und dreht neugierig den Hals, soweit es seine Verwundung erlaubt.
„Gehen wir ein wenig.“ Ich winke den französischen Kollegen heran, und wir gehen in dem heißen Hofe hin und her.
„Wann wurden Sie gefangengenommen?“ – „Gestern abend. Im Labyrinth. Wir waren in den deutschen Graben eingedrungen und wurden abgeschnitten. Wir konnten weder vor noch zurück. Es war nichts mehr zu machen.“ – „Wie haben unsre Soldaten euch aufgenommen?“ – Er sieht mich an. – „Sie haben uns als Soldaten behandelt, ganz wie es bei uns zu sein pflegt, wenn wir deutsche Gefangene machen.“
Da vorn, ganz vorn, wo Mann gegen Mann steht, lernt der Soldat den Gegner achten. Ich sprach einen Feldgrauen, von einem badischen Regiment, der vierundzwanzig Stunden in französischer Gefangenschaft war. Er wurde bei einem Patrouillengang abgeknüpft. Wie es ihm drüben erging? Es ging ihm glänzend! Die Aufnahme war die allerherzlichste. Man brachte ihn in einen Unterstand, gab ihm Zigaretten, Kognak, Kaffee und Suppe. Man hänselte ihn ein wenig, aber das kümmerte den Schwaben nicht, denn er verstand keine Silbe. Es war auch nicht böse gemeint, das konnte er sehen, alle lachten vergnügt. Ein Offizier fragte ihn, wie der Kommandeur seines Regiments hieß? Der Schwabe weigerte sich, es zu sagen. „Na schön,“ sagte der Offizier, „ein rechter Soldat verrät nichts, hier, rauchen Sie!“ Dem Schwaben ging es, wie gesagt, gut. Fußtritte und Faustschläge sind auf jeden Fall nicht die Regel.
„Waren Sie früher Soldat, oder wurden Sie erst im Laufe des Krieges ausgebildet?“ frage ich den Franzosen und reiche ihm meine Zigaretten hin.
„Danke!“ Er verbeugt sich leicht und sein warmer Blick trifft mich. Seine Hand, hart und derb von Gewehr und Spaten, zittert heftig. Mit der Wollust des Rauchers zieht er den Rauch in die Lunge und stößt ihn durch Mund und Nase heraus. „Ich wurde im Januar eingezogen, ich bin vierunddreißig Jahre alt. An der Front war ich vier Wochen. Soldat war ich nie gewesen, nein. Ich war froh, daß man mich seinerzeit nicht tauglich fand. Offen gestanden bin ich nie ein Freund von allem gewesen, was Militär heißt. Ich bin Sozialist.“
„Sie sind Sozialist?“
„Ja, ich schreibe für sozialistische Zeitungen und Revuen.“
„Vielleicht können Sie mir dann die Stellung erklären, die Ihre Kameraden und Parteifreunde diesem Kriege gegenüber einnehmen?“
„Das kann ich wohl, so in großen Umrissen natürlich nur. Es ist selbstverständlich, daß wir im Prinzip gegen jeden Krieg waren. Heute macht man uns Vorwürfe, ob mit Recht oder Unrecht, daß wir die Mittel zur nationalen Verteidigung beschnitten. Heute ist alles anders geworden, ohne Frage. Wer hielt diesen Krieg ernstlich für möglich? Niemand. Zwei Tage vorher lachte man noch darüber. Ich war im Süden, in Marseille, um die Sitten des Südens zu studieren. Nein, ich glaubte nicht daran. Wir kämpften gegen die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit. Wir taten alles, was in unserer Macht stand. Aber Sie, Sie rüsteten immer weiter.“
„Glauben Sie nicht, daß wir durch Ihr Bündnis mit Rußland und England dazu gezwungen wurden?“
„Unsere Bündnisse waren eine Folge – aber ich bin weit davon entfernt, Ihnen und nur Ihnen allein Schuld an dieser Katastrophe zuzuschreiben. Es wurden überall Fehler gemacht; bei allen beteiligten Völkern. Die Völker müssen noch viel lernen! Nachdem es zu spät war und die Katastrophe hereinbrach, waren wir natürlich verpflichtet, uns für unser Land zu schlagen, genau wie Sie es waren. Es war zu spät. Jaurès wurde ermordet. Aber auch er hätte das Unglück nicht mehr aufzuhalten vermocht. Ich wenigstens glaube es nicht. Nur ein Wunder, aber es gibt keine Wunder mehr in unserer Zeit! Alles ist fürchterlich.“
Er schweigt, und wir gehen stumm, jeder in sich versunken, über den heißen Hof. Müde und gebückt schlürft er neben mir einher, staubig und schmutzig, die zerknüllte Mütze unordentlich auf das schweißige Haar gedrückt. Seine Augen sind eingesunken und verquält. Plötzlich gähnt er. Lange und herzhaft. Und mit derselben erschöpften Miene und dem gleichen verquälten Ausdruck in den Augen sagt er: „Ich habe eine Frau und ein Kind. Ich werde sie wiedersehen.“ Nein, er atmet nicht auf bei diesem Gedanken, er, der die Hölle von Arras lebendig durchschritt, hat noch nicht die Kraft, sich zu freuen!
„Sie sind glücklicher als viele andere!“
„O ja, mein Herr, gewiß. Aber –“
Er findet, daß es zu wenig ist, was er aus diesem Leben gerettet hat, seine Frau, sein Kind – –
Ich beginne von gleichgültigen Dingen zu sprechen, um ihn abzulenken, von Marseille, von den südlichen Provinzen Frankreichs, aber in den nächsten Minuten sind wir von selbst wieder beim Krieg und der Politik angelangt. Es geht nicht anders. Unsere Debatte wird lebhafter. Langsam finde ich mich in seinen Zügen zurecht. Ich taste mich zu seinem früheren Gesicht durch, wie es aussah, bevor er mit Gewehr und Spaten arbeiten lernte. Es ist weniger das Gesicht eines außergewöhnlich klugen, als vielmehr eines aufrichtigen Menschen.
„Glauben Sie,“ frage ich ihn, „daß das Verhältnis zwischen dem deutschen und dem französischen Volk in absehbarer Zeit wieder freundschaftliche Formen wird annehmen können?“
Er schüttelt den Kopf und verzerrt die Lippen. „Nein,“ sagt er, „ich glaube es nicht, leider. Ich kenne Deutschland, ich war in Stuttgart, München, Dresden. Aber nein. Jahre, Jahre wird es dauern.“
„Veröffentlicht Ihre Regierung noch immer keine Verlustlisten? Wie kommt es, daß Frankreich sich so etwas gefallen läßt?“
„Man klagt viel darüber. Aber man hat sich damit abgefunden. Es ist ein Opfer wie manches andere, aber das französische Volk ist bereit, dieses Opfer zu bringen.“
„Und wie ist die Stimmung im allgemeinen? In Paris? Im Volk?“
Er bleibt stehen. „Die Stimmung? Paris? Ich bin seit dem Januar nicht wieder nach Paris gekommen. Seit ich an der Front bin, seit vier Wochen habe ich überhaupt nichts mehr gehört. Wir werden hin und her geworfen und sind seit Wochen ohne jede Verbindung mit der Heimat. Ich weiß nicht, was in den letzten vier Wochen vor sich ging, von rein kriegerischen Ereignissen abgesehen. Ich weiß nur, daß unser Volk mutig ist und unerhörte Opfer bringt, weil es sein muß. Auch bei Ihnen zu Hause wird die Stimmung ja keineswegs rosig sein, wir haben den Feind im Lande, wir leiden mehr unter dem Krieg, das ist nur natürlich. Dieser Krieg hat Frankreich sehr unglücklich gemacht, ich brauche Ihnen das nicht erst zu sagen. Die Stimmung bei uns, mein Herr, soweit ich urteilen und beobachten kann, ist – nun, sie ist keineswegs glücklich.“
Eine Viertelstunde später stehe ich vor einem gefangenen französischen Offizier. Er ist rasiert, gewaschen und gebürstet, ein schöner junger Mann mit edel gezeichnetem Gesicht und klaren, klugen Augen. Man erzählte mir, daß er sich hervorragend geschlagen habe.
Klar, ohne Pose, ohne den leisesten Verdacht von Hochmut und Provokation, im schlichtesten und natürlichsten Ton der Welt versichert mir dieser Offizier: „Die Stimmung in Frankreich ist ausgezeichnet. Nie war sie besser. Wir werden uns bis zum letzten Mann schlagen. Vergessen Sie nicht, mein Herr, daß unser Heer nicht mehr jenes vom Anfang des Krieges ist. Es ist reformiert, es wird besser mit jedem Monat!“
Im Juni
Ich habe sie gesehen und gesprochen, sie, die sich da draußen schlagen, in den Gräben von Souchez. Sie sind in Ruhe. Heute nacht müssen sie wieder hin. Die Straßen und Wege liegen nachts unter Feuer. Die Granaten krachen und flammen wie Höllengeister. Da müssen sie hindurch. Dann sind sie in Souchez. Was ist Souchez? Es ist ein Nest, ein Dorf, das niemand kannte und das nun viele nie mehr vergessen können. Es ist gezeichnet für immer, wie Gravelotte und Wörth. Wenn die Hölle Buch führt, so wird sie auch den Namen Souchez eingetragen haben, denn er kann sich sehen lassen neben den andern.
Souchez ist heute zusammengeschossen. Die Häuser verließen ihren Platz und sprangen auf die Straße. Man räumt die Trümmer zur Seite, aber es sind immer wieder neue Trümmer da. Durch Souchez fließt ein Bach, der Carencybach. Die Granaten haben sein Bett zerwühlt, durch das er hundert Jahre lang und länger friedlich rieselte und gluckste, sie haben die Ufer zerstampft, so daß er verzweifelt sein Bett verließ und sich einen neuen Weg durch die Granattrichter suchte. Trüb und lehmig ist er geworden. Er verbirgt seine Geheimnisse.
Sind die Grauen durch den Schlamm gewatet, so sind sie noch lange nicht da. Die Gräben liegen ein paar hundert Meter ab vom Dorf. Hier liegt ein Feuerriegel. Die Erde öffnet sich und speit haushoch Feuer und Qualm. Da müssen sie hindurch! Hier gibt es keine Annäherungsgräben, er da droben auf der Lorettohöhe läßt es nicht zu. Übers freie Feld heißt es hier und hinein in den Graben. Nun erst sind sie da!
Aber vorläufig haben sie noch ein paar Stunden Zeit und machen sich keine Gedanken. Sie sind alle sauber gewaschen und gebürstet, braun wie Nüsse, und die Hitze schält ihnen die Haut von Nase und Ohren. Ihre Uniformen sind eine Geschichte für sich. Sie waren alle einmal grau, nun aber sind sie verschossen, ausgewaschen und ausgeschwefelt. Bei Gott, man sieht es ihnen an, daß sie nicht in der Etappe saßen! Der rote Streifen der runden Mützen ist mit grauem Tuch vernäht, die Mützen sitzen alle tief in der Stirn, so gehört es sich. Es sind Grabenleute. Der Feldwebel aber sieht aus, als käme er gerade vom Schneider. Kein Flecken. Seine Hände sind gepflegt, und mit dem spitzen Nagel des kleinen Fingers zeigt er mir auf der Karte ihre Stellung. Vielleicht war er in seinem früheren Leben Lehrer oder Kaufmann, ich weiß es nicht. Er ist jetzt Soldat, und er ist so sehr Soldat, daß ich ihn zu fragen vergaß.
„Hier also ist unsere Stellung. Dieser Graben.“ Es ist ein rechter Winkel, und sein Fingernagel deutet auf den der Lorettohöhe zugewandten Schenkel. „Wir bekamen schweres Artilleriefeuer, Wirbelfeuer, den ganzen Tag über lag es auf dem Graben. Von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends. Achtundzwanziger! Der Graben sah aus, als wenn ein Dampfpflug ihn eingeebnet hätte. Wir sahen nichts mehr und wir hörten nichts mehr. Wir hatten natürlich Verluste. Anders geht es nicht. Zurück gibt es nicht! Eine 28er schlägt neben mir ein, jagt in die Höhe. Es ist nicht so schlimm. Der Graben ist zugeschüttet. Auch ich bin verschüttet. (Er war also verschüttet, aber keinem seiner Fingernägel hat es etwas getan!) Niemand glaubt, daß noch ein menschliches Wesen im Graben existieren kann. Um neun Uhr springt das Feuer zurück, hinter den Graben, damit keine Reserven herankommen können. Aha! Es geht los! Unser Leutnant, noch keine neunzehn Jahre alt, schreit. Es ist wie in einem Ameisenhaufen. Überall krabbelt es. Sie kommen alle heraus. Die meisten Gewehre sind unbrauchbar geworden. Also Handgranaten. Die Franzosen kommen heran. Es fällt hier ziemlich ab, und sie kommen rasch herunter. Die Handgranaten fliegen. Wir stehen hier, in den Granatlöchern, und der Rauch ist so dick, daß keiner den andern mehr sieht. Eine neue Kolonne stürmt. Sie denken, wir sind erledigt, aber wir, wir schreien Hurra! Wir brüllen und johlen, ja wir jodeln und lachen. Da stutzen sie doch. Nun aber sehe ich, daß sie von da her kommen, sehen Sie!“ Er deutet auf den Scheitelpunkt des Winkels. Hier stoßen die beiden deutschen Gräben zusammen, rechtwinklig, der Schenkel zur Lorettohöhe und der Schenkel gegen die Zuckerfabrik. Man darf aber nicht glauben, daß es mit dem Scheitelpunkt zu Ende ist! Dort ist eine Barriere, und dahinter setzt sich der Graben fort. Dieser Abschnitt gehört den Franzosen. So ist es hier! Aber, wie gesagt, aus diesem Abschnitt klettern die Franzosen heraus. Er sieht sie, im Rauch, wie sie herausquellen ...
‚Ein Mann vor mit Handgranaten!‘
Nun, ein Mann geht vor, zum Scheitelpunkt, und wirft Granate um Granate in die herausquellenden Franzosen.
„Wer war es doch gleich? Ist er nicht hier?“
„Ich war es.“
„Na, dann erzähle du!“
Es ist ein schlesischer Landwirt, ein Bauer, und seine Uniform ist olivengrün geworden da draußen.
„Ja, also, ich nehme den Arm voll Handgranaten und pfeffere hinein, wie es eben trifft. Sobald sie wiederkommen, schmeiße ich. Dann bin ich fertig mit den Handgranaten, und nun heißt es: fort! Ich laufe quer über das Feld, ohne jede Deckung. Sie schießen hinter mir her, sie treffen mich aber nicht. Ich springe hinten in den Graben.“
Gut hat er seine Sache gemacht, man muß es ihm lassen! Hoffentlich bekommt er das Kreuz! Er erzählt schlecht, er stottert, er schämt sich, zu berichten, was er tat, weil alle ihn ansehen und grinsen.
„Na, nun war nichts mehr zu machen. Nun kamen sie.“ Der Feldwebel mit den gepflegten Fingernägeln und blanken Augen blickt sich im Kreise um. „Wer hat übrigens das Grabenstück besetzt gehabt? War das nicht die –?“
„Wir!“ Ein junger Bursche mit runden Augen, knapp zwanzig, die Mütze bis zur Nasenwurzel, Flaum auf den braunen Backen, tritt vor.
„Warum habt ihr das Grabenstück geräumt? Ihr habt ja das Loch aufgemacht!“ Die Augen des jungen Feldwebels blicken vorwurfsvoll auf den Bauernjungen.
Der Bauernjunge bekommt einen roten Kopf. Er ist Soldat und hat seine Ehre. „Wir waren zusammengeschossen, Herr Feldwebel. Der Graben war – es war überhaupt nichts mehr da.“
Der Feldwebel wird spöttisch. „Aber das ist doch kein Grund zurückzugehen?“
„Wir waren nur noch zwölf. Wenn wir so viel waren.“
„Zwölf? Ja, wieviel glaubt ihr denn, daß wir waren? Wenn ihr natürlich gleich das Loch aufmacht –?“
„Wir hatten Befehl –“
„Na, schön. Bei uns gibt es das nicht. Also nun kamen sie, durch das Loch, das die da (!) aufmachten – nun kamen sie also. Sie kamen ganz langsam daher. Sie dachten, die Sache ist in Ordnung und es ist weiter nichts zu tun. Aber unser Leutnant sagt sich, na, wartet mal, ihr Kerle! Acht Mann mit Gewehr hinaus aus dem Graben! Hinaus aufs Feld. Sie klettern und rutschen also raus und schwärmen aus und setzen sich in Granatlöcher und fangen an zu feuern. Die Franzosen kommen in so dichten Reihen daher, daß jeder Schuß treffen muß. Eine Schwarmlinie und eine Sturmkolonne. Sie haben furchtbare Verluste, denken Gott weiß, wieviel da feuern, und gehen zurück. Ja, so wurde das gemacht. Bei uns verliert man nicht gleich den Kopf. Es waren also, wie gesagt, nur sechs oder acht Mann. Dann kamen ein paar mehr aus dem Graben. Unterdessen hielten wir aber den Angriff von vorn ab. Sie wären uns in den Rücken gekommen, ja, sie waren schon im Rücken ... Maschinengewehre bauten sie schon auf.“
„Na, also jetzt, weiter unten. Wie war es denn da weiter unten? Wer war da weiter unten?“
Er meint in dem Graben gegen die Zuckerfabrik, der sich weiter entfernt von dem durchbrochenen Grabenstück befand.
„Ich!“ Ein Polacke, Unteroffizier, mit grünen Augen tritt auf.
„Ihr habt den Graben gehalten?“
„Haben wir gehalten, Herr Feldwebel, jawohl. Haben wir bis zuletzt gehalten.
Haben wir Feuer gehabt, den ganzen Tag. Haben wir gesessen und gewartet. Graben ganz kaputt. Sind die Franzosen gekommen. Haben wir sie gesehen kommen durch den Rauch. Haben wir geschossen, bis Gewehr heiß war. Haben wir in Flanke geschossen. Haben wir Barrikade gebaut, daß Franzose nicht hereinkam zu uns. Haben wir Handgranaten geworfen. Hin und her. So sind sie geflogen, immerzu, daß Stiele in der Luft tanzen, so. Alles Rauch. Ist Morgen gekommen. Hat Franzose einen Graben gebaut, so, hier hat er gebaut, quer.“
Die Franzosen, heißt das, haben einen Graben vorgetrieben, der senkrecht stand zu dem Graben des Polacken, von dem eroberten Grabenstück aus, und im Rücken des Grabens lief, den der junge Feldwebel mit den blanken Augen hielt.
Der Polacke fährt fort: „Haben wir gesagt, Franzose hat Graben gebaut. Haben wir Handgranaten geworfen, immerfort. Wenn wir was sehen, daß Sand aufgeschüttet wird, warfen wir gleich. Plötzlich bekommen wir Feuer von Granaten. Ein paar Stunden lang, gleich furchtbares Feuer. Die Sandsäcke fliegen. Ich war gar nicht mehr zu sehen! (Grinsen ringsum!) Plötzlich bekommt auch er Feuer. Artillerie schießt in seinen Graben, wo er gebaut hat in der Nacht. Jeder Schuß mitten im Graben! Jeder! Habe ich gesehen! Französische Artillerie schießt auf unseren Graben, unsere Artillerie schießt auf französischen Graben. Wie weit? Nicht hundert Meter! Der Fähnrich wird verwundet. Sagt: Unteroffizier, übernehmen Sie den Zug! Wie komm ich dazu, den Zug zu übernehmen? (Grinsen ringsum!) Nu, gut, ich übernehme Zug. Ein Volltreffer nach dem anderen in französischen Graben. Die Franzosen kommen näher her zu uns. Wollen Schutz suchen. Ich steh ganz vorn. Jeden einzelnen seh ich. Peng! Weg! Sie flüchten vor deutschen Granaten, kommen näher. Peng! Seh ich einen, trägt Verwundeten auf dem Rücken. Peng! Beide fallen sie. Sandsäcke fliegen. Peng! Handgranaten. Franzosen kriechen aus dem Graben. Wir schießen. Kommt die Nacht. Schweres Artilleriefeuer auf uns. Seh ich in der Nacht Franzosen schleichen. Ganz deutlich. Leuchtrakete geht hoch, sehe ich sie kommen. Sie kommen nicht diesen Weg, diesen Weg kommen sie –“
Er deutet auf die Karte.
„Welchen Weg?“
„Diesen Weg!“
„Das ist ja Blödsinn!“ Man hört sofort, daß der nüchterne Feldwebel spricht!
Der Polacke wird unsicher, gibt nach. „Diesen Weg, ja. Wir schießen. Ich höre sie röcheln und schreien. Einer ruft. Ganz nahe. Ich verstehe nicht, was er will. Was soll ich tun? Soll ich hinaus, ihn holen? Ich denke, vielleicht macht er uns Schwierigkeiten (!) und werfe Handgranate. Am Tag sehe ich ihn, es war ein Schwarzer. Er war tot. Am Morgen wieder Granaten. Eine neben die andere. Wir müssen zurück –.“
„Was müßt ihr –?!“ Der Feldwebel, der das Zurückgehen nicht schmecken kann!
„Wir waren nur noch vier, Herr Feldwebel –.“
Wem gehörte nun der Graben? Den Franzosen oder den tapferen Grauen? Das ist die Frage. Die Wahrheit aber ist die: er gehörte niemand.
Ein anderer Grauer tritt vor, der zuweilen blinzelt und einen eigentümlichen scharfen Blick hat. „Ich bin heute nacht draußen gewesen,“ sagt er, „ich sollte nachsehen – Befehl. Ich kam durch den Bach und kroch über das Feld. Es ist nichts zu sehen und nichts zu hören. Ich steige in den zerschossenen Graben. Niemand ist hier. Tote. Sandsäcke und zerschlagene Gewehre. Aber kein Mensch. Ich gehe bis hinauf in die französische Sappe und hier liegt alles voller Leichen, kein lebendes Wesen. Der Franzose hat den Graben geräumt. Daraufhin haben wir ihn wieder besetzt.“ –
So geht es also dort zu, in den Gräben bei Souchez, wohin sie heute nacht wieder gehen müssen. Ich habe die tapferen Grauen selbst sprechen lassen, denn sie erzählen zehnmal besser, als ich es je könnte.
Im Juli
Der Oberst ist ein großer, breitschulteriger Mann mit ernsten, nachdenklichen Zügen. Er trägt die Verantwortung für viele tausend Männer, und das Gewicht auf seinen Schultern ist nicht leicht. Es könnte ja sein, daß einer, einer seiner Feldgrauen des Nachts im Schlafe zu ihm käme und fragte: Oberst, warum hast du nicht an mich gedacht? – Für jeden einzelnen der Grauen, die aus allen Teilen des Reiches stammen, muß er Sorge tragen wie ein Vater. Es ist fast zu viel für einen Mann, der sich der Größe seiner Pflicht klar bewußt ist.
Liebenswürdig begrüßt er mich in der Halle seines Quartiers, aber der Ernst weicht nicht aus seinem starken, wetterbraunen Gesicht. Er sagt: „Wir haben heute nacht angegriffen. Der Ausgang des Gefechts ist noch nicht bekannt.“
Es ist der Angriff auf den Kirchhof von Souchez. Es ist neun Uhr. Noch nichts bekannt? Wird noch gekämpft, wie fielen die Würfel? Nur wer weiß, wie es dort zugeht, was es mit diesen Grabenkämpfen bei Souchez auf sich hat, kann begreifen, daß noch keine Nachricht eingelaufen ist. Dort gibt es keine Gräben mit elektrischem Licht und einer Telephonleitung, durch die man ohne jede Mühe glatt mit Berlin sprechen kann. Die Drähte werden in jeder Nacht ein paarmal entzweigeschossen. Die Gräben sind zusammengetrommelt. Es kann sein, daß zehn Leute einen Granattrichter halten, mit einem Maschinengewehr, oder nur mit Gewehren, oder nur mit Handgranaten, daß sie, sage ich, dieses Erdloch halten, vierundzwanzig, achtundvierzig Stunden, bis Verstärkung kommt oder eine Sappe zum Trichter vorgetrieben werden konnte. So sieht es dort aus. Es ist unmöglich, den Kopf herauszustrecken, geschweige denn den Graben zu verlassen, um Nachricht zu geben.
Souchez ist eine böse Ecke. Unsere Stellungen umklammern es in weitem Bogen, und die Regimenter sind entschlossen, diesen Bogen, diesen Riegel, zu halten. Keinen Meter Boden soll der Franzose haben! Zudem böte der Besitz von Souchez den Franzosen noch größere Vorteile der Beobachtung, als sie sie jetzt schon mit der Lorettohöhe besitzen. Ich war oben im Fesselballon und habe es mit eigenen Augen gesehen: flach wie eine Pfanne läge die Ebene dann vor ihnen. Um jede kleine Bodenwelle wird dort gekämpft, um jedes Gebüsch, um jeden Straßengraben. Der Franzose weiß recht wohl, was er will, und macht einen Vorstoß nach dem andern. Es war ihm auf Tage gelungen, sich da und dort in unserm Bogen festzusetzen. Südlich von Souchez, gegen Givenchy zu, hatte er seine Stellungen vorgeschoben (das sogenannte große Franzosennest), im Kirchhof hatte er sich festgebissen und westlich von Souchez, gegen die Zuckerfabrik und Lorettohöhe, hatte er sich vorgewühlt (das kleine Franzosennest).
Hin und her geht der Kampf um zerstampfte Gräben und Granattrichter. Dieser Kirchhof von Souchez, wohlverstanden, ist über seine Ufer getreten, genau wie der Carency-Bach, seine Mauern sind gefallen und er wächst und wächst.
Zwischen dem 21. und 24. Juni wurde das „große Franzosennest“ ausgehoben. Es waren wütende Nachtkämpfe! Der Angriff wurde von allen Seiten durch Sappen vorgeführt und das tiefeinschneidende Franzosennest abgeschnürt. Damit war das große „Franzosennest“ erledigt. Ein großer Erfolg! Ein paar Tage später – ich spreche hier nur von größeren Kämpfen, gekämpft wird hier Tag und Nacht! – griffen die Franzosen wütend unsere Gräben bei der Zuckerfabrik an. Aber unsere Grauen warfen sie zurück, so oft sie kamen. Die Kämpfe wurden rasender und rasender. Am siebenten verschwanden unsere Grauen unter einem Hagel von Stahl. Es half nichts, sie mußten zurück und die Franzosen besetzten 800 Meter zusammengetrommelte Gräben. Am achten warfen unsere Grauen sie wieder hinaus, räumten Gräben und Sappen und Trichter bis auf ein Grabenstück von 150 Metern, das der Franzose halten konnte. Die Gräben waren Ketten von Granattrichtern geworden, man wußte oft nicht, saßen Franzosen im Trichter drüben oder die Unsrigen. Um die 150 Meter wird seitdem erbittert gekämpft, hin und her, Vorstoß auf Vorstoß. Zäh und toll schlägt sich der Gegner. Die Handgranaten fliegen hinüber, herüber ...
In der Nacht vom 11. auf den 12. kam der Kirchhof an die Reihe.
Ich habe im Tagebuch eines Gefangenen geblättert. Der letzte Eintrag lautet: „Heute ist mein Geburtstag. Wir liegen im Kirchhof von Souchez, die Granaten schlagen ein und die Kreuze und Marmorblöcke und Gerippe fliegen nur so in der Luft herum. Diesen Geburtstag werde ich nie vergessen, solange ich lebe.“ Ein hübscher Geburtstag, alle Wetter! Es ist ja immerhin schon merkwürdig, seinen Geburtstag auf einem Kirchhof zu verbringen, aber auf einem Kirchhof unter Granatfeuer, das ist eine Sache, die nicht oft vorkommt.
Es sind unsere Granaten, die, wie man aus dem zerweichten, verblaßten Tagebuch des piou-piou ersehen kann, den Tanz eröffnen. Sie kommen in ganzen Schwärmen an, in Schwärmen heulender und zischender Geister, die aus der Luft stürzen, auf die feindlichen Gräben. Sie krachen, der Kirchhof erbebt bis hinab zu den Särgen. Schwarze und rostbraune Wolken wälzen sich zwischen den Grabsteinen. Die Steine fliegen in die Luft, die Blechkränze und Holzkreuze. Es wird Ernst, kein Zweifel! Bis hinab zu den Särgen fressen sich die Granaten. Nun kommen die Bretter. Die Toten da unten hören nichts, sie liegen in tiefem, tiefem Schlaf. Aber dann kommen sie doch herauf, selbst die Toten erweckt dieser Lärm. Sie kommen herauf, um nachzusehen, was es gibt. Das Jüngste Gericht, ist das Jüngste Gericht gekommen? Konnten die Lebenden, diese Toren, die das Geheimnis und die Weisheit da unten unter der Erde nicht ahnen, konnten sie sich nicht einen andern Ort aussuchen, wenn sie etwas unter sich auszumachen hatten? Schrecklich, dreimal schrecklich eine Welt, in der man selbst im Sarge nicht zur Ruhe kommt! Die Gerippe, die sich zwischen den Grabhügeln und Blechkränzen aufrichten, zerstieben. Weg damit! Der Granate ist der Tote im Weg, sie sucht den Lebendigen und sie wiehert über die anmaßende Philosophie der Skelette. Weg, fort! Sie hat nur einen schrecklichen Willen: zu töten!
Gespenster aus der Erde, Geister aus der Luft, es ist kein Wunder, daß das Herz des tapferen Franzosen schlägt.
Seine Leuchtraketen steigen. Hilfe! Seine Granaten tasten nach unsern Gräben. Unsicher. Er kann das Feuer nicht mehr dirigieren. Es ist Nacht. Der Sturm bläst und die Bäume rauschen, bis die Granate sie zerschmettert. Seine Leuchtkugeln steigen verzweifelt. Hilfe, Hilfe! O, jawohl, seine tapferen Kameraden, glaubt es mir, sie würden nicht zögern zu kommen, wenn sie könnten. Aber sie können nicht! Der ernste und nachdenkliche Oberst hat alles mit schrecklicher Genauigkeit vorbereitet, denn er denkt für seine Söhne. Es liegt Sperrfeuer auf den Verbindungswegen der Franzosen, furchtbares Feuer, nicht einmal ein Engel, ein unverwundbarer Engel käme durch den Feuerriegel! Sie sind verloren. Hier gibt es keine Wunder. Hier herrscht die Granate, Stahl, Sprengstoffe, nichts sonst. Sie sind umzingelt.
Das Feuer schweigt. Hurra! Vier Kompanien gehen vor zum Sturm. Wie Furien kommen sie daher. Tod oder Sieg! Es gibt nichts anderes.
Der Franzose aber ist nicht tot. Es wimmelt zwischen den Sandsäcken, es wühlt in den Gräben. Maschinengewehre, ein Schwarm zischender Spitzkugeln. Der schwere Fall von Männern, Handgranaten. Geschrei und Taumeln. Pardon! Pardon! Hände strecken sich aus den Gräben und Gräbern. Wir ergeben uns!
Der Kirchhof ist genommen!
Die Gefangenen werden abgeführt. Die Verwundeten schleppen sich davon. Die Krankenträger tragen die Schwerverletzten. Der Tag graut. Nebel. Der ernste und nachdenkliche Oberst geht in seinem Zimmer hin und her und wartet auf Botschaft.
Der Kirchhof hat neue Gäste bekommen. Was sind dagegen die paar Toten, die in ihrer Ruhe gestört wurden!
Hier liegen tausend Franzosen, hier liegen Feldgraue, alle Söhne von Müttern – –
„Der Kirchhof von Souchez ist erobert.“ Eine Zeile. Die Leute sagen: Nun ist der Kirchhof von Souchez wieder genommen worden, Gott sei Dank! Sie denken sich nicht viel dabei, sie ahnen es nicht –!
Es ist möglich, daß die Franzosen wieder ein Regiment opfern, um den Kirchhof zurückzugewinnen, es ist sicher, daß wir ihn dann wieder stürmen werden. So ist es hier.
Wir haben den Riegel um Souchez vorgeschoben, wir haben ihn fester geschweißt, die Feldgrauen schweißten ihn fester mit ihrem roten Blut.
Die Gefangenen marschieren durch Souchez. Die Überlebenden aus dem Kirchhof! Auch das Geburtstagskind ist darunter, er hat Glück gehabt, diesen Geburtstag zu überleben. Schwerverletzt liegt der französische Kapitän auf der Bahre. Noch sind sie keineswegs in Sicherheit, denn die französischen Granaten fegen in das Dorf. Aber sie hoffen wieder. Die Sonne geht auf.
Ich treffe den ernsten Oberst wieder. Die Gefangenen stehen in Reih und Glied. Er mustert sie schweigend. Er spricht kein Wort. Wozu? Ich trete an ihn heran, grüße und beglückwünsche ihn zu seinem Erfolg.
Er nickt. Ein höfliches Lächeln. Aber sofort ist sein starkes Gesicht wieder ernst und voll schwerer Gedanken. Viele seiner Söhne, für die er sorgte wie ein Vater, sind nicht wiedergekommen, zwei seiner tapferen Kompaniechefs sind gefallen!
Im Juli
Die Tür öffnet sich und herein tritt ein französischer Unteroffizier in blaugrauer Uniform. Er klappt die Stiefel zusammen und legt salutierend die Hand an die Mütze. Ein junger Mann von vier-, fünfundzwanzig Jahren, mit blondem Schnurrbärtchen und blauen, blanken, flachen Augen, schlank und geschmeidig. Seine Haltung ist nicht preußisch stramm, nein, aber sie ist militärisch ordentlich und drückt ebensoviel Selbstachtung wie Respekt vor dem Offizier aus, der das Verhör leitet. Seine Kleidung ist sauber, und niemand käme auf den Gedanken, daß er aus einem zusammengeschossenen Graben kommt. Er gehört zu jener Klasse von Pedanten, die immerzu bürsten und kein Stäubchen sehen können, ohne krank zu werden.
Hinter ihm tritt ein gewöhnlicher Soldat ins Zimmer, gut ausgepolstert mit Wollsachen, dunkeläugig, mit schwarzen Haaren und einem dünnen schwarzen Bart ums Kinn. Auch er grüßt, aber er nimmt es nicht so genau. Er hat Fett angesetzt in den Gräben, blickt gutmütig und gleichgültig umher, und ich wette, daß er zum weitverbreiteten französischen Orden der „Jemenfoutisten“ gehört.
„Nehmen Sie, bitte, Platz!“ sagt der Offizier und ladet die Gefangenen höflich ein, sich zu setzen. „Sie wurden beide im Kirchhof gefangen genommen?“
„Ja, mein Offizier.“
„Der Kampf war sehr erbittert?“
„Er war äußerst heftig!“ Der Dunkle nickt nur und schiebt die Unterlippe bezeichnend vor. Ihm war der Kampf sicherlich heftig genug.
„Erzählen Sie, wie er vor sich ging.“ Der Blonde erzählt: „Trommelfeuer, heftige Teilangriffe, Umzingelung, zuletzt ein wütender Sturm der Deutschen.“
„Sie lagen da und da in Reserve, Sie gehörten zum X. Korps?“
„Ich weiß nicht, zu welchem Korps wir gehörten. War es das X.?“
Der Dunkle: „Ja, zum X. Korps.“ Er ist viel klüger und weiß, daß der verhörende Offizier über diesen Punkt genau orientiert ist.
„Haben Sie am 7. Juli Joffre gesehen?“
„Ja. Er war am 7. Juli in Caucourt und hielt eine Ansprache an die Truppen, in der er ihre Tapferkeit lobte.“ Zum Dunklen: „Haben Sie Joffre gesehen?“
„Nie in meinem Leben.“ Der Dunkle legt, wie man aus seinem Ton hören kann, darauf auch nicht den geringsten Wert.
„Welche Meinung hat die Truppe vom Generalissimus?“
„Man denkt, daß er sehr gut ist.“
„Sie schießen in der letzten Zeit weniger. Haben Sie Artillerie herausgezogen oder haben Sie Mangel an Munition?“
„Ich bin nicht im geringsten über die Artillerie unterrichtet.“
Auf eine Reihe von Fragen antworten sie ausweichend. Auf dem fleischigen Gesicht des Dunkeln liegt ein pfiffiges Lächeln.
Der verhörende Offizier dringt nicht weiter in sie. Er springt ab: „Welchen Beruf haben Sie?“
Der Blonde: „Ich bin cultivateur (Landwirt). Ich habe das Seminar besucht und dann den väterlichen Besitz übernommen.“
Der Dunkle: „Ich arbeite im Versicherungsgeschäft.“
„Welche Art Versicherungen?“
„Lebensversicherungen, Feuer, Unfall, Diebstahl, alles, was Sie wollen. Ich lebe in Paris.“
Ah, dachte ich es nicht gleich? Ich sehe ihn vor mir in dunklem Gehrock, den Zylinder auf dem pomadisierten Scheitel, das Bärtchen gewichst, die Mappe unterm Arm, ein bißchen verstaubt und verschwitzt, den kleinen Pariser Beamten. Wie er würdevoll und großartig in ein bescheidenes Restaurant tritt, an den Speisen herumkritisiert und über Zugluft klagt. Aus diesem Grunde ist er auch jetzt, im Sommer, so mit Wollsachen ausgepolstert.
„Seit wann sind Sie im Felde?“
„Seit dem Anfang,“ erwidert er mit einem bedeutungsvollen Blick.
„Wünschen Sie Zigarren? Wünschen Sie Tee?“ fragt der Offizier.
Die Gefangenen stecken sich Zigarren an. Tee lehnen sie ab, da sie erst Kaffee getrunken hätten.
Zigarren? Tee? Ich sehe es zornrot werden, das feiste Gesicht des biedern Bürgers hinter seinem Schoppen. Zigarren, Tee!? Man sollte –!! O nein. Ich empfehle ihm vierundzwanzig Stunden Lorettohöhe, nicht mehr, vierundzwanzig Stunden, und er wird den rechten Ton finden! Ich sah einen General einen gefangenen Offizier grüßen. Er grüßte ihn mit besonderer Aufmerksamkeit und Achtung, er grüßte den tapfern Gegner in ihm, die französische Armee. Dieser Krieg wird mit solch unsäglicher Erbitterung geführt, man schlägt sich die Schädel mit Spaten ein und erlaubt einander nicht, seine Toten zu begraben, daß man diese Ritterlichkeit dem gefangenen Gegner gegenüber nicht hoch genug schätzen kann. Auch der Franzose wird ja nicht ganz seine Traditionen verleugnen! Übrigens, das nebenbei, gibt es in diesem entsetzlichsten aller Kriege selbst während des Kampfes noch Beispiele von Ritterlichkeit, bei uns und auch bei ihnen. Nur eines: der Gegner stürmt, der Sturm ist matt, die Hälfte ist im Graben geblieben, die andre Hälfte flutet im Feuer zurück. Ein Offizier stürmt ganz allein weiter. Plötzlich schweigt das Feuer. Der Offizier stutzt, sieht sich um, senkt resigniert den Degen und geht langsam, ganz langsam zu seinem Graben zurück. Keiner unsrer Grauen schoß, es bedurfte nicht erst eines Befehls. Also, mein Lieber, nicht: man sollte –! Laß sie nur machen, sie wissen schon, was sie tun müssen, denn, siehst du wohl, sie waren da oben auf der Lorettohöhe! – Doch das gehört nicht hierher.
Sie rauchen also und wir plaudern. Der Blonde liest „La Croix,“ eine katholische Zeitung. Der Pariser liest alles, was er in die Hand bekommt. Der Blonde ist der Ansicht, daß das religiöse Gefühl des Soldaten sich vertieft habe, aber der Pariser zweifelt daran, sehr stark sogar. Priester gibt es ja genug bei ihnen, das sei wahr, jedes Regiment habe seinen Priester, und die Priester kommen in die Gräben, bei stärkstem Feuer, trösten, beten und leisten Beistand, wo es nötig ist. Die Verpflegung ist ausgezeichnet, und die Post funktioniert glänzend, wenigstens jetzt funktioniert sie überraschend gut. Sie kommen viel in Ruhe. Jedes Regiment stürmt meistens nur einmal, dann hat es lange nichts Besondres zu tun. Über die Engländer wissen sie nichts. Sie tun ihre Pflicht, wenigstens wären alle Franzosen dieser Überzeugung. Von den Italienern hätten sie sich von Anfang an nicht viel versprochen. Lieber Friede als Krieg, natürlich, aber man schlage sich, solange es sein müsse. La guerre, oui, cette guerre, oh lala! Es sei kein Krieg mehr, sondern eine schreckliche Schlächterei, une terrible boucherie, möchte man sagen. Aber wie gesagt, man schlage sich, sie und wir, natürlich, solange es eben sein müsse, bis einer einmal sage: Halt! Sie bekämen alle Nachrichten sehr rasch. „Lemberg“ haben sie einen Tag darauf gehört. Sie glauben nicht an die monströsen Geschichten, die ihre Zeitungen ihnen auftischen, von geschlachteten Kindern und ähnlichen Dingen – nein, daran glauben sie nicht, denn, bei Gott! – Der Pariser lacht und hustet – sie haben ja jetzt die intime Bekanntschaft der deutschen Soldaten gemacht: fürchterlich im Kampf, aber sonst ein guter Bursche. –
Die Gefangenen löffeln im Schulhof die Abendsuppe. Der Hof ist klein, und sie müssen in zwei Schichten essen, wie im Speisewagen, wenn der Zug überfüllt ist. Es sind über zweihundert, die den Kirchhof lebend verließen. Die großen Kessel dampfen. Sie schöpfen, schlürfen und löffeln. Sie sind ganz bei der Sache und beachten uns nicht. In ihren blaugrauen weiten Rockmänteln, die trotz der neuen Farbe immer noch etwas an Maskerade erinnern, schlürfen sie mit den Suppennäpfen hin und her, die stille selige Gier in den Augen, sich zu sättigen. Das Regiment (Jäger) stammt aus einem südlichen Departement, und die Leute sehen vorzüglich aus, stark und gesund. Nur zwei, drei haben ergraute Schläfen, die meisten sind zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Der erste Hunger ist gestillt, sie plaudern und scherzen, ganz als ob sie noch da drüben wären. Sie kamen aus Gräbern und Särgen gestiegen, aus dem Tod, aber man merkt ihnen nichts mehr an. Die Überlebenden aus dem Kirchhof von Souchez sind äußerst vergnügt.
Die Posten stehen mit aufgepflanztem Bajonett. Keine Angst, sie laufen nicht weg! Wer diesen Feuergürtel zwischen den Gräben lebendig durchschritt, hat keine Lust mehr zurückzukehren.
Auf dem Fenstersims seines Zimmers sitzt mit gekreuzten Armen ein gefangener Offizier. Ein junger Mann von etwa vierundzwanzig Jahren, mit hübschem leichtsinnigen Gesicht und graublauen vergnügten Augen. Er strahlt vor Freude, daß die Sache ein Ende hat, und es fällt ihm gar nicht ein, uns etwas vorzumachen. Vor fünf Tagen noch war er in Lyon, auf Urlaub. Herrliche Tage und Nächte, er hat im Graben alles eingehend aufgeschrieben. Und sie, wie entzückend war sie! Nun also, so ist der Krieg, jetzt sitzt er hier auf dem Fensterbrett eines kleinen Schulzimmers.
Er trägt ein blaues Hemd, seine Brust ist offen, Kragen oder sonst eine Binde hat er nicht. Auf seinen dünnen braunen Haaren sitzt kokett ein blaugraues Barett, wie es die Pariser Studenten tragen, und vorn ist in Silber ein kleines Waldhorn gestickt.
„Sie hatten das Unglück, in Gefangenschaft zu geraten,“ begrüße ich ihn.
Er zuckt lächelnd die Achsel: „Was wollen Sie? Wir waren vollkommen abgeschnitten. Es war nichts mehr zu tun.“
„Sind Sie aktiver Offizier?“
„Ja, aktiver.“ Er spricht sogar etwas Deutsch.
Neben ihm taucht der rothaarige Kopf eines Sergeanten auf. Er blickt mit kalten, feindseligen Augen auf mich und erinnert mich an ein Eichhörnchen. Ich bin überzeugt, daß er die Schauergeschichten glaubt, die die französischen Schmutzblätter über uns schreiben.
„Wie lange wird Joffre die Sache bei Souchez und Loretto noch fortsetzen?“ frage ich den jungen Offizier. Ich weiß genau, was er antworten wird, aber man plaudert.
„Noch lange! Wir haben noch große Reserven.“
„Wie denkt man in Frankreich über einen zweiten Winter?“
„Man ist darauf gefaßt und bereitet vor.“
„Genau wie wir. Wir haben diesmal noch dickere Mäntel machen lassen, damit unsre Leute nicht frieren.“
„Glauben Sie nicht, daß eine Möglichkeit besteht, mit Frankreich einen Separatfrieden zu schließen?“
Der Offizier lächelt und schüttelt den Kopf. „Daran ist nicht zu denken. Je länger der Krieg dauert, desto mehr wachsen unsre Chancen.“
„Niemals!“ mischt sich das Eichhörnchen ein. „Niemals! Sagen Sie mir, wer hat diesen Krieg begonnen?“
Es ist sehr unhöflich, gleich das schwerste Geschütz aufzufahren. Der hübsche Offizier, Europäer und Gentleman, streift den Sergeanten mit einem nachsichtigen Lächeln. Ich sage: „Sie! Man hat Sie gefragt, Sie hätten ja aus der Sache bleiben können!“ Ich beachte das Eichhörnchen fortan nicht mehr.
Beim Abschied fragt mich der Offizier, wann sie wohl in Deutschland sein dürften. Ich erkundige mich. In vier, fünf Tagen.
„Schon! Dann kann ich wohl schreiben?“
„Natürlich.“
Freude fliegt über sein leichtsinniges, hübsches Gesicht. Ich weiß wohl, an wen er schreiben wird.
Im Juli
Der Ballon wird aus dem Stall gezerrt. Er ist tot, er schläft. Aber sobald er nur den dicken Schädel heraussteckt und die frische Luft schnuppert, kommt augenblicklich Leben in ihn, und seine Seele kehrt zurück. Das Wetter ist stürmisch. Bei jedem Windstoß rollt er den dicken Leib hin und her und schleift die Feldgrauen, die wie Trauben an seinen dünnen Fadenbeinen hängen, über den Rasen. Wie ein gutmütiger Betrunkener, dem es ein tolles Vergnügen macht, seine Begleitmannschaft ins Torkeln zu bringen.
„Langsam rechts einschwenken!“
Auf seinen Fadenbeinen schwankt er ins freie Feld. Er stampft auf und ab wie ein Schleppdampfer in hoher See, er begräbt die Ameisen, die an seinen Beinen zerren, unter sich, wälzt sich zum Spaß auf ihnen herum, reckt sich hoch und nickt, im Winde liegend, ein paarmal befriedigt mit dem Kopf.
Nun steht er da!
Ungeheuer komisch sieht er aus. Wie ein riesiger grauer Kofferfisch, prall und glatthäutig, vollgefressen bis zum Platzen, das runde Maul mitten im dicken Kopf. Unter dem feisten Leib hat er ein zweites, sackartiges Freßwerkzeug, und damit kaut er gefräßig und gierig die Luft. An den Seiten hat er kleine schmale Flossen und als Schwanz ein paar aufgespannte Regenschirme. So kunstvoll er gebaut ist, scheint er doch das primitivste Geschöpf zu sein, das sich an der Front herumtreibt. Ein Freiballon ist eine Kugel, ein Zeppelin ein Kriegsschiff in der Luft, aber er ist ein Tier, ein Fisch, von äußerster Gutmütigkeit und ohne jeden Verstand. So sieht er wenigstens aus.
Die Gondel wird unter seinem Leib befestigt, er erhält ein Drahtseil durch den Nasenring gezogen. Einsteigen! Wir turnen in den engen Korb, der Leutnant und ich.
„Ballon langsam hoch lassen!“ Der Hauptmann schreit.
Der Luftfisch springt mit einem Satz vom Boden hoch. Er bohrt den Kopf in den Wind, reißt am Seil und tummelt sich vergnügt, so daß der Korb schlingert. Dann aber gleitet er ruhig in die Höhe. Er ist in seinem Element.
Die Feldgrauen stieben strahlenförmig über das Feld, werden kleiner und winziger, und die sechs Pferde, die die Kabelwinde ziehen, werden zu einem Spielzeug. Das kleine Dorf wird zu einer Honigwabe. Wir steigen rasch.
Sonderbar, dieser Ballon, niemand versprach sich viel von ihm im Kriege. Er diente im Manöver dazu, das Signal: „Das Ganze halt!“ zu geben, das war so ziemlich seine Hauptrolle. Er war nur Statist. Die Flieger sollten die ganze Arbeit leisten. Er war eine veraltete Sache, die man nur, weil man sie hatte, ins Feld mitschleppte. Aber in diesem Kriege, in diesem Stellungskriege ist er zu ungeahnten Ehren gekommen. Überall, an der ganzen Front entlang, sieht man ihn am Himmel stehen! Wo Schneid und Intelligenz zusammengehen wie bei der Luftschifferabteilung, bei der ich zu Gaste bin, wird er zu einer furchtbaren Waffe.
Man steigt mit ganzen Kanonen von photographischen Apparaten hoch und photographiert die kleinste Falte im Antlitz des Feindes. Der Flieger rast mit hundert und mehr Kilometern dahin und hat nicht die Muße wie der Mann im Ballon. Der Ballon steht still. Er steht stundenlang da, tagelang, und wenn der Beobachter auch seekrank wird, er bleibt oben. Der Ballon ist das Auge der Artillerie, er beobachtet Kolonnen, Bewegungen des Gegners, das Aufblitzen feindlicher Geschütze, er dirigiert das Feuer der eignen.
Er ist, wie gesagt, eine ganz gefährliche Sache, und aus diesem Grunde hat er seine Feinde. Schrapnelle und Granaten tasten nach ihm. Gottlob treffen sie selten. Der Ballon geht tiefer oder höher, oder er reißt mit seinen sechs Pferden überhaupt aus. Sein kritischer Augenblick ist die Landung. Aber seine erbittertsten Gegner sind die Flieger, die Konkurrenz. Sie kommen in ganzen Schwärmen. Mein Begleiter, der Leutnant, wurde neulich von drei Flugzeugen gleichzeitig angegriffen, aber er riß nicht aus, fiel ihm gar nicht ein. Den Hauptmann besuchte neulich ein ganzes Geschwader, er bekam vierundfünfzig Bomben, aber er blieb oben in seinem Korb und beobachtete.
Es gehören Leute dazu!!
Wir steigen und steigen, und der Wind pfeift hier oben, daß mir das Wasser aus den Augen läuft. Die Landschaft wächst, die Welt ist plötzlich viel größer geworden.
Aber diese ganze Landschaft da unten, von Nordwest bis Südost, ist ein einziges riesiges Schlachtfeld, auf dem sich zwei Völker zerfleischen, weil das Schicksal es so will. Zwei Völker, die Kathedralen haben, Universitäten, Museen, Konzertsäle, Hospitäler, Sprachen, die den erhabensten Gedanken Ausdruck zu verleihen vermögen, die Männer hervorbrachten, die wie Fackeln über der Welt leuchten, zwei Völker, die Gedanken geboren haben, die die Welt regieren! – Nun liegen sie einander gegenüber in Erdlöchern, den Willen gespannt zum Töten, ihre Geschütze pochen und stampfen. Die Granatwolken wälzen sich in den Feldern, hier, da, dort, sie steigen aus den Dörfern, wohin man blickt. Und kein Mensch, kein Eisenbahnzug, kein Wagen ist zu sehen, keine lebende Seele weit und breit. Der Mensch hat sich vor dem Menschen verkrochen.
Das Licht ist kalt wie im September. Graue Wolken jagen dahin. Müde Sonne wechselt mit dunklen Wolkenschatten. Strichweise sieht die Landschaft aus wie durch ein gelbliches Glas gesehen, gealtert, zermürbt und zerknittert, müde des endlosen Mordens und Krachens der Granaten. Wie das Gesicht eines Schlaflosen. Strichweise friedlich und unbekümmert. Schornsteine rauchen in der Ferne, die Zechen, die der Franzose noch in Händen hat. Friedliche Weiler und Dörfer, von der schwachen Sonne beleuchtet. Aber plötzlich tanzt eine graue Wolke auf den Dächern, wieder eine, da, dort. Dörfer, die der Franzose befunkt, um seine Männer und Weiber zu töten. Lievin, Angres, Givenchy. Sie kauern geduckt neben Anhöhen in Wäldchen, aber die Granate findet sie doch.
In der Mitte liegt breit die Lorettohöhe, die verfluchte! Das Bois de Bovigny sitzt wie der Kamm eines Hahnes darauf. Der Wald ist dunkel, die Höhe selbst hell, gelbgrün wie Heide und unbestellte Felder. Von der Spitze des Waldes zieht quer über die Höhe eine breite lehmfarbene Schleifbahn bis hinab in die Talmulde, eine klaffende Wunde in der Höhe: das sind unsre Gräben, die der Franzose im Mai zusammenschoß. Weiter unten zieht, entlang der Talmulde, eine schmälere, neue Schleifbahn: das sind die heutigen Stellungen. Man erkennt sie sofort, denn graue und rostrote Granatwolken stehen darauf und wälzen sich im Winde.
„Sehen Sie das weiße Schloß?“ sagt der Leutnant. „In der Waldkuppe rechts von der Lorettohöhe. Dort! Das ist Schloß Noulette. Weiter hinten sehen Sie eine Ferme. Ferme Marqueffoes. In französischen Händen. Im Bois Bovigny sehen Sie zuweilen einen gelben Streifen. Der französische Annäherungsgraben. Auf dem Abhang dort neben der Baumgruppe stehen französische Batterien.“
Wir sehen alles, wir lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch.
Die Lorettohöhe wird flacher und flacher. Souchez erscheint, Rauch und Dunst liegt darüber, Ablain, die „Kanzel“, die unsre Grauen wie Teufel verteidigt haben. Das Hinterland taucht empor, Waldstreifen, Feldstreifen, ferner und ferner, bis zum Horizont.
Links versinkt die Vimyhöhe, die wir halten, und in der beschatteten Talmulde dahinter taucht ein Düster von Häusern auf mit einem fahlen zweitürmigen Dom in der Mitte: Arras! Es sieht aus wie ein Grab. Die Kathedrale wie der Schemen eines Domes. Sie geriet vor einigen Tagen in Brand, und ihre Turmspitzen sind zusammengestürzt. Sie erscheint nahezu weiß, aus welchem Grunde weiß ich nicht, wie der Geist einer Kirche steigt sie aus der toten, düstern Stadt empor.
Auch hinter der Vimyhöhe, bis gegen Arras stehen kleine Granatwolken, sie tanzen wie Gespenster an der ganzen langen Front entlang. Unter uns fährt aus der düstern Landschaft da und dort ein Feuerdolch: unsre Geschütze, die feuern.
Wir sind 400-500 Meter hoch und geben Flaggensignal. Langsam steigen wir herunter. Wie ein störrisches Pferd am Halfter muß der Ballon zur Winde gezogen werden. Über dem Boden wälzt er sich ein paarmal hin und her, dann steht er still.
Ich steige aus. Im nächsten Augenblick schon jagt er wieder mit dem Beobachter in die Höhe.
Im Juli
„Moi, je suis tombé dans un sale coin, je suis aux Argonnes.“
Aus dem Briefe eines Gefangenen.
Es regnet in Strömen. Das Wasser wird in Fässern aus den bleigrauen Wolken geschüttet, die niedrig über die Wälder ziehen. Die Bäume brausen im Wind und schütteln Wasserfälle aus ihren Kronen. Die Wege sind Lehm, Bäche stürzen über die Abhänge. In den Unterständen sind die Öfen geheizt.
Es ist der Argonnerwald, wie er leibt und lebt. Er verstellt sich nicht und zeigt sein wahres Gesicht. Es ist ein Wald wie der Spessart und die böhmischen Wälder, ein Wald für Köhler, Räuberbanden und Wildschweine. Der Wald hat seine Gegenwart, das ist nicht zu leugnen, der Wald hatte seine Vergangenheit, das ist sicher. Man ging hinein und verschwand, man schlug das Kreuz und war tot. Im Dickicht lauerte der Mörder. Es gibt hier Stellen, die sonderbare Namen tragen: la fille morte, l’homme mort. Es wird wohl seine Bewandtnis damit haben! Aber diese ganze düstere Räubervergangenheit des Waldes ist ein Idyll gegen heute, eine Schäferszene, das sage ich gleich! Welche Zeit könnte sich in diesen Dingen überhaupt mit der unsrigen messen? Wir haben alles glatt geschlagen ...
Wir steigen in einen Rollwagen, ein total zerweichtes Pferd mit einem total zerweichten Reiter darauf wird vorgespannt und wir rollen los, höher und tiefer in den Wald hinein. Der Regen strömt, Roß und Reiter verschwinden zuweilen in einer Wasserblase. Ich bin durchnäßt bis auf die Haut, dieser verfluchte Argonnenregen geht durch den Gummimantel, und friere wie ein Hund.
Dieser Wald ist kein Wald für Menschen! Er ist dreistöckig. Hohe Bäume, zumeist Eichen, vereinzelt, dann das Unterholz, junge Eichen, Buchen, Birken, Erlen, dicht beisammen, und unter ihnen Gestrüpp: Brombeeren, Dornen, Farnkräuter, Ginster, Schlingpflanzen, ein natürlicher Drahtverhau, wie er heimtückischer nicht angelegt werden könnte. Es ist ein Wald für einen haarigen, gorillaartigen Waldteufel, der mit einem Prügel in der Faust durchs Dickicht kriecht und Lehm frißt. Der Mensch betritt ihn mit Grauen im Herzen.
Das zerweichte Pferd streckt die glänzenden Schenkel, tastet durch Lehm und Wasser. Zuweilen wird es abgehängt, dann rollen wir mit eigner Kraft über wacklige Schienen hinunter. Dann geht es wieder bergan. Ist es möglich, daß es noch stärker regnet? Ja, bei Gott, es ist möglich! Wir fahren in einer Wasserhose. Vor uns kriecht eine Batterie von Gulaschkanonen, von Pferden gezogen wie wir. Kommt ein Taleinschnitt, so rollen alle vier Gulaschkanonen mit eigner Kraft hinab und wir hinterher. Wir begegnen einem Transport von leeren Minenkörben, meterhohen Zuckerhüten aus Ruten geflochten. Der Transport muß rangieren, damit wir vorüber können. Auf die Feldküchen klatscht der Regen. Die Leute haben Zeltbahnen um die Schultern gehängt, aber es hilft nicht viel. Station. Ein durchnäßter Grauer tritt an unsern Rollwagen und meldet: „Station Rixdorf, belegt mit zwei Telephonisten!“ Ordnung muß sein. Ein Transport kommt zu Tal. Sie stehen aufrecht im Wagen. Sie sind müde und erschöpft. Ihre Arme und Köpfe sind verbunden. Es sind Verwundete aus den Gräben da oben. Der Wald frißt, der Wald frißt, der Wald frißt täglich Menschen! Einer liegt, mit einer Pferdedecke zugedeckt. Man unterscheidet nur die Formen des Mannes. Der Regen fegt auf die Verwundeten herab, aber sie kümmern sich nicht darum. Und er, der unter der Decke, der liegt und sich nicht regt, ihm kann der Regen, alle Mächte der Hölle können ihm nichts mehr anhaben ...
Unser Pferd streckt die Schenkel. Es geht bergan. Nasse Zweige gießen ihr Wasser über uns aus. Der Wald poltert. Die einschlagenden Granaten krachen wie Donnerschläge.
Eine halbe Stunde währt die Rollwagenfahrt, eine Stunde. Wir steigen aus und schütteln uns wie Hunde, die aus dem Wasser kommen.
Wir gehen quer durch den Wald. Die Wege sind hier mit Knüppeln gepflastert, ein Knüppel hübsch neben dem andern, peinlich genaue Arbeit, anders wäre es nicht möglich, hier einen Schritt zu machen. Granattrichter. Zerschossene Bäume. Mannsdicke Eichen, die Granate traf sie in der Mitte, zerriß sie und warf sie aufs Gesicht. So liegen sie nun da und sterben. Hier gibt es sonderbare Hünengräber, mitten im Walde, Stein- und Erdhügel. Blickt man aber näher hin, so sind es Batterien. Die grauen Kanonen stehen darin, anständige Kaliber! Sie feuern glatt durch Laub und Zweige hindurch. Wir steuern ein Hünengrab an und steigen in die Erde hinein. Wir klopfen und treten ein. Hier brennt die Hängelampe, obschon es elf Uhr vormittags ist. Ein Mann in einer Wollweste empfängt uns. Hier hausen Pionieroffiziere, Leute von Welt. Sie haben gute Laune, Kognak und einen herrlichen heißen eisernen Ofen, der sofort zischt, wenn man ihm nahe kommt. Sie hausen hier schon – tuh, tuh, das Telephon tutet: ein Stollen im Graben so und so, wird gemacht – sie hausen hier schon seit Ende September! Unter der Balkendecke, zwei Meter Schotter darüber, ein paar Schlafkojen. Urlaub, nein, Urlaub nahmen sie noch nicht. Sie haben keine Lust, sie sind hier nötig. In den Gräben arbeiten sie, ganz vorn, in den Minenstollen. Was sie tun, davon will ich später einmal berichten. Ihre Gedanken, ihre Pläne, ihre Frauen – alles haben sie hingegeben, mag es kommen, wie es will, sie werden auf ihrem Posten stehen. Unvergeßlich sind sie, jung und stark und kühn.
Es gießt noch immer. Düster und unheimlich rauscht der Wald. Es ist ein Wald der Unterwelt, erfüllt von einem schauerlichen und nie gehörten Lärm. Er hustet, das furchtbare Husten eines Unholds, der in den Schluchten haust. Er lacht heiser und keuchend wie ein Teufel, dem etwas schrecklichen Spaß macht. Riesenspechte klopfen. Es kracht wie ein schwerer Schmiedehammer, den nicht Menschen, sondern Zyklopen bedienen. Sie fluchen zur Arbeit, rufen und poltern. Zuweilen nehmen sie die Axt und schlagen, eins, zwei in den eisenharten Stamm der Eiche, daß die Berge hallen. Die Eiche schlägt krachend hin. Man hört, wie die Zyklopen die Eiche zerknacken zwischen ihren Fäusten und ins Feuer werfen, daß es prasselt. Das alles hört man ganz genau, aber man sieht die Einäugigen nicht. Dann und wann streicht ein Gespenstervogel unsichtbar und klagend über die brausenden Wälder. (Eine Granate.) Ja, Gott stehe mir bei, dieser Wald ist keineswegs gemütlich.
Aus dem Dickicht tritt ein Mensch. Seine Stiefel sind voller Lehm, seine Kleider naß und schmutzig. Am Gürtel hängen Flaschen und Säcke und Ledertaschen, auf dem Rücken das Gewehr. Sein Gesicht ist schwarzbraun, schmutzig und verwittert. Die Augen stehen wie Lampen darin. Es ist ein Feldgrauer, der aus den Gräben da oben kommt. Die „Argonnentype“, wie sie leibt und lebt. Die Argonnentype grüßt, so nebenher, grinst beim Anruf und verschwindet im Regen. Sie sind es, die diesen höllischen Spektakel machen, keine Zyklopen, sondern kleine Menschen.
Plötzlich hört es auf zu regnen. Die Sonne bricht heiß durch die Wolken.
Wir treffen, bei seiner Batterie, einen Oberleutnant, Jurist, auch er lebt seit dem Herbst im Walde. Aber der Wald konnte ihm nichts anhaben, elegant sieht er aus und seine schmalen Hände sind gepflegt. Zusammen mit ihm klettern wir in den Wipfel einer Eiche empor. Die Eiche braust, und wir schwanken, oben angelangt, wie Äste hin und her. Wir blicken über den Wald!
Drüben liegt die Kuppe von Vauquois. Bis zum Kamm gehört sie uns. Dicht dahinter liegt der Franzose. Im Tal das Dorf Boureuilles. Mit bloßem Auge sieht man die Drahtverhaue der Franzosen, sie liegen im Tal hinter dem Dorf. Nach rechts aber, über dem Walde, liegt die berühmte Höhe 285, die unsre Tapfern vor acht Tagen stürmten.
Die Höhe ist braun und kahl! Es ist dem Menschen hier gelungen, den Wald weithin auszuroden, das muß man sagen. Die Bäume sind zerschmettert, liegen durcheinander, verkohlt und zerschossen, das Unterholz ist gänzlich verschwunden. Die Erde ist aufgewühlt. Gräben, Sappen, Sprengtrichter. Die Kuppe ist in hundert Risse geborsten. Ein Maschinengewehr bellt, die Gewehre husten. Ohne Pause wird da oben gekämpft. Ein schweres Geschütz feuert. Es kracht wie ein Donnerschlag, und das Echo poltert in den Schluchten.
Ziehe die Luft ein, riechst du es nicht? Es riecht wie in den Gängen eines Hospitals. Es riecht nach Chlor und allen möglichen Dingen. Diesen Geruch habe ich schon heute morgen verspürt, als wir uns dem Argonnerwald näherten. Dieser ganze Wald, trächtig von Feuchtigkeit, Erde und Wurzeln, hat diesen sonderbaren Geruch angenommen. Er stammt von den Gasbomben der Franzosen, von den Gasen der stündlich einschlagenden Granaten, von den Massengräbern, die mit Chlorkalk zugeschüttet sind.
Fürchterlich, dreimal fürchterlich muß es hier zugegangen sein! Der Wald hat seine Geschichte, und sie ist schrecklich wie die Geschichte wilder Meere. Heute noch findet man im Dickicht verstreut Leichen und Skelette. Man sieht in den Gebüschen einen Soldaten, das Gewehr im Anschlag, man ruft ihn an, er antwortet nicht. Er ist tot und in seiner letzten Stellung von den Dornen festgehalten worden. Man mußte sich den Weg bahnen wie in einem Urwald. Man bekam Feuer aus nächster Nähe. Man sah keinen Feind. Der Franzose saß auf den Bäumen, mit Maschinengewehren saß er oben. Man hörte den Gegner sprechen, die Offiziere Befehle erteilen, aber man sah nichts, rein nichts. Man grub sich gegenüber ein, schoß das Dickicht mit Maschinengewehren ab, um Luft zu bekommen, drang vor – der Feind zog sich zehn Schritt zurück, und es war die alte Sache. Es war ein Indianerkrieg und die Argonnen bilden ein Kapitel für sich in der Geschichte dieses Feldzuges. Hier gab es keine Pausen, keine Ruhe, hier wurde erbittert gekämpft, Tag und Nacht, viele Monate hindurch, und das Wasser in den Gräben stand häufig bis zur Hüfte. Man lag sich und liegt sich an manchen Stellen zehn Schritt gegenüber, ein lautes Wort bedeutet den Tod. Handgranaten, Minenstollen und Wurfminen.
In den letzten Wochen fanden hier wütende Gefechte und Schlachten statt, am 2. Juli, am 14. Juli – doch davon später. –
Ein Knüppelweg führt ins Tal hinab. An einer verborgenen Stelle wartet unser Auto. „Hat er hergeschossen?“ Nein – na, also los!
Wir fahren eine Strecke in Sicht des Feindes, wir jagen in eine zerschossene und zerstörte Stadt hinein. Sie erinnert an eine zerfallene italienische Ortschaft. Es ist Varennes. Jene Stadt, in der Ludwig XVI. mit seiner Gemahlin auf der Flucht erkannt und festgenommen wurde. Varennes ist ständig unter Feuer. Das Auto beginnt wie toll zu jagen. Es fegt eine schnurgerade Chaussee hinab in einem Höllentempo. Eile tut hier not, denn wir fahren in etwa 1000 Meter Entfernung an den feindlichen Stellungen vorüber, und es ist eine Anfängeraufgabe, uns hier abzuschießen. Die Höhe von Vauquois, die Kirche von Montfaucon, oben auf einem Berge in der Abendsonne. Ein paar Granatfahnen rauchen aus Apremont, während wir vorüberfliegen. Neben der Chaussee sind Serien von Granattrichtern. Sie sind ganz frisch, die Erde liegt noch locker und feucht. Der Abendsegen. –
Im Juli
„Les Argonnes, c’est l’enfer!“
Aus dem Tagebuch eines französischen Offiziers.
Am 20. Juni begann die Sache in den Westargonnen, am 2. Juli war sie zu Ende. 37 Offiziere gefangen, 2700 Mann! 100 Minenwerfer, 28 Maschinengewehre, 5000 Gewehre und 30000 Handgranaten! 1600 tote Feinde bestattet! Es ist ein Erfolg, der sich sehen lassen kann!
Man muß im Auge behalten, daß es sich hier um Waldkämpfe handelt. Der Franzose hat Erdwerke angelegt, Festungen unter der Erde. Er hat Blockhäuser in die Erde gerammt, jedes ein Fort. Die Dachkante ragt aus dem Boden, nichts sonst. Schießscharten, Maschinengewehre, Drahtverhaue vor den Gräben, eine Schlucht mit einem Wassergraben. Wenn ich sage, wie der Argonnenkämpfer stürmt, so wird man alles begreifen: den Stahlschild vorgehalten, Handgranaten am Gürtel, Handgranaten in der Faust, das Gewehr auf dem Rücken und die Gasschutzmaske vor dem Gesicht – so geht er vor! Es ist kein Spaziergang, o nein! Es ist keineswegs wie auf jener Photographie, die eine Berliner Zeitung kürzlich brachte und die einen „Sturmangriff in den Argonnen“ vorstellen sollte. Mit dem aufgepflanzten Bajonett läuft da eine Kolonne gegen einen idyllischen Waldrand an. O, hoho! Es ist mehr als kindisch, es ist eine Schmach. Der Argonnenkämpfer wird sich totlachen über den naiven Schwindel, wenn er das Bild zu sehen bekommt.
Am 20. Juni, wie gesagt, fing es an. Die Minenwerfer begannen ihre höllische Arbeit und deckten die französischen Gräben und Verhaue zu. Die Granaten hagelten herab. Los! Die Pioniere sind die ersten. Mit Drahtscheren gehen sie vor, mit Brückenstegen aus Knüppelholz gezimmert. Sie stürzen nieder, auf, die Stacheldrähte zerfetzen ihnen die Kleider, vorwärts! Der Kampf ist im Gange. Hier kämpft Gruppe gegen Gruppe, Mann gegen Mann, die Handgranaten krachen. Um jedes winzige Grabenstück, um jeden Granattrichter wird verzweifelt gerungen. Unsichtbar ist der Feind. Aus dem Dickicht schwirren die Geschosse eines Maschinengewehrs. Ein Trupp Württemberger stürmt hinein. Leutnant Sommer klettert mit ein paar Leuten auf das Dach eines versteckten Blockhauses, aus dem das Maschinengewehr feuert. Revolver, Handgranaten durch die Schießscharten, die Besatzung ist erledigt. Leutnant Sommer fällt. Er ist tot, aber er ist unsterblich! Einem andern Offizier, Leutnant Walker, gelingt es, in die Gräben der Labordère-Stellung einzudringen. Er ist abgeschnitten, umzingelt, aber er hält stand in einem höllischen Feuer, mit einer Handvoll Leuten, bis acht Uhr abends(!) Entsatz kommt. Zwei Leutnante, Spindler und Kurz, springen in den Graben und schlagen sich nach links und rechts, bis sie fallen. Sie sind tot, aber ihre Namen werden weiterleben! Es geht heiß zu, es geht verzweifelt zu.
Am Abend ist die Stellung genommen!
Es ist nur der Anfang. Die Franzosen trommeln auf die eroberten Gräben. Acht Tage lang machen sie einen verzweifelten Versuch nach dem andern, die Gräben zurückzuerobern. Vom 21. bis zum 29. Sie versuchen es mit allen Mitteln, Gasbomben und brennender Flüssigkeit.
Am 30. Juni geht es weiter. Niemals hat der Argonnerwald solch ein Feuer gehört! Die französischen Gräben werden zu Brei geschossen. Die Toten liegen wie das Getreide nach einem Hagelwetter. Ein Handgranatenlager fliegt in die Luft. Aber der Franzose kämpft wie ein Teufel. Im vordersten Graben fällt Mann um Mann. Niemand ergibt sich! In einer halben Stunde sind die Werke Central und Cimetière gestürmt. Unsre Grauen sind nicht zu halten. Eine Kompanie Grenadiere jagt bis ins Tal der Biesme vor. Auf dem östlichen Flügel der kämpfenden Linien liegen auf der sogenannten Rheinbabenhöhe die Grauen in den Gräben. Es wird gekämpft, sie halten es nicht mehr aus in den Gräben und greifen aus freiem Entschluß an. Württemberger Freiwillige nehmen die Reste des Labordère-Werkes.
Der Franzose ist geworfen, aber kleine Verbände wehren sich noch tollkühn in kleinen Grabenstücken und Blockhäusern. Ein Unteroffizier pirscht sich an ein Blockhaus, das wütend feuert, heran und wirft eine Handgranate hinein. Nun wird es drinnen still!
Es wird Nacht. Keine Ruhe, kein Schlaf, nein, daran ist nicht zu denken. Sie wühlen und graben die ganze Nacht durch, der Morgen muß sie bereit finden! Auch der Feind schanzt fieberhaft. Die Leuchtkugeln steigen. Die ganze vorgeschobene Gräbenkette der Franzosen ist in unsrer Hand: Labordère, Central, Cimetière, Bagatelle – aber dahinter hat er im Wald ein Verteidigungswerk, den „grünen Graben“, bezogen, die Fetzen der französischen Kompanien haben ihn besetzt und zu einer Festung ausgebaut.
2. Juli Angriff auf den „grünen Graben“!
Der 1. Juli ist kein Ruhetag, das darf man nicht glauben. Ohne eine Minute Pause wird gearbeitet. Die Leichen werden geborgen, schauerlichste Arbeit des Soldaten! Lebensmittel und Wasser herbeigeschafft, Munition, Handgranaten, Minenhunde. Die Minenwerfer schießen sich ein, die Artilleriebeobachter kriechen durch die Gräben und lassen ein paar Granaten zur Probe kommen. Fertig, alles bereit!
Am 2. Juli donnert der Wald und der Boden zittert. Bis fünf Uhr nachmittags hageln die Granaten auf den grünen Graben herab. Um fünf Uhr gehen die Grenadiere vor. Bis zur Dunkelheit wogt der Kampf hin und her. Er ist mörderisch. Hier wird nur mit Handgranaten und Kolben gekämpft. Wir gewinnen Boden, Schritt für Schritt. Der Feind schlägt sich bewundernswert, alle Grauen gestehen es ohne weiteres zu. Ein Bataillon bricht durch, in der Richtung auf das Dörfchen La Harazée. Es kommt dem grünen Graben in den Rücken. Von der Rheinbabenhöhe her, von St. Hubert stürmen unsre Truppen. Der grüne Graben ist nahezu umzingelt. Die Lage des Feindes ist hoffnungslos, aber er ergibt sich nicht. Da ist ein Major im grünen Graben, Major Remy, der wie ein Rasender ficht und seine Leute zum Äußersten anpeitscht. Er fällt. Der grüne Graben ist genommen!
Die Verwundeten werden fortgeschafft. Die Gefangenen abtransportiert. Die Toten liegen, wo sie liegen. Noch gibt es keine Pause. Denn der Graben muß sofort wieder zur Verteidigung eingerichtet werden. Er ist stellenweise bis zur Sohle eingetrommelt. Die Sandsäcke, die die Granaten durch den Wald schleuderten, werden zusammengeschleppt, aufgebaut. Die Stahlschilde eingerammt, die Maschinengewehre aufgestellt.
Kommt der Feind, so ist man bereit. Und er kam und man war bereit!
Es wird still. Es ist Nacht. Die erste Nacht seit Wochen, die ruhig ist, keine Granaten, keine Minen. Der Soldat schläft, tief und traumlos, wie die Kameraden, die da draußen liegen und alles vergessen haben.
Die Horchposten kauern im Gebüsch, die Wachen stehen im finstern Graben. Das Telephon ist schon wieder eingerichtet.
Im Juli
Früher war sie grün. Das Unterholz war so dicht, daß man sich wie durch einen Urwald vorwärtsarbeiten mußte. Dazwischen standen mannsdicke Eichen und sonstige Bäume, vielleicht alle zehn Schritte ein hoher Baum. Wir lagen ihnen auf vierzig bis fünfzig Schritt gegenüber. Zu sehen war nichts. Sie hatten ein Labyrinth von Gräben angelegt, Blockhäuser und große Unterstände. Aber man sah nichts! Regte man sich, so pfiffen die Kugeln. Woher, das wußte man nicht, sie saßen irgendwo in den Bäumen. Sie waren oben, wir unten, also sehr im Nachteil.
Seit Ende September pfiffen hier die Kugeln. Die Bäume und die Stämme des Unterholzes wurden hundertfach durchlöchert, bis sie abstarben. Die Granaten knickten die Eichen, das Laub wirbelte. Es wurde allmählich, ganz langsam, lichter.
Man trieb Sappen vor und kam einander näher. Die Wurfminen flogen von Graben zu Graben. Man trieb Stollen vor, unter der Erde, wir und er. Die Sprengungen rissen die Bäume in die Luft. Es wurde immer lichter.
Als ich die Höhe 285 sah, war sie ganz kahl. Sie ist so groß, daß eine kleine Stadt darauf Platz hätte. Kein grüner Fleck. Zerschmetterte und zerfetzte Bäume, das ist alles, was geblieben ist. Ein Schutthaufe, auf den ein Wolkenbruch niederprasselte und Rinnen, Furchen, Gräben und krumme Schluchten wühlte. So sah sie aus.
Sie bot große Vorteile. Sie beherrschte einen Teil der Höhenzüge ringsum, das Tal gegen Boureuille; er konnte unsre Straßen einsehen, unsre Zufuhr unter Feuer nehmen. Das war keineswegs angenehm. Die Höhe 285 mit La Fille morte dahinter war, klar ausgedrückt, ein Dorn, der uns im Fleisch saß. Der Dorn mußte weg! Der Franzose mußte hinter die Höhe geworfen werden, weil er dann nichts mehr sehen konnte.
Es mußte sein und wurde vollbracht! Am 13. Juli.
Es war eine Höllenarbeit, denn er hatte sich eine vollkommene unterirdische Festung gebaut, in der er bombensicher eingedeckt lag. Nur bei gewissenhaftester Vorbereitung konnte der Sturm gelingen.
Tagelang vorher schleppten die Pioniere die zentnerschweren Wurfminen durch die engen Gräben in die Depots. Tausende von Handgranaten wurden herangeschafft, Munition aller Art. Die unterirdischen Gänge wurden ausgebaut, so daß man nur die Decke einzustoßen brauchte, und man war im Freien. Jeder Mann kannte seinen Platz und wußte, wohin er den Fuß zu setzen hatte, sobald er den Graben verließ. Im Kopfe hatte jeder Mann den Sturm schon vollendet, bevor die erste Granate krepierte. Er wußte, in welchen Graben er zu gehen hatte, wenn er verwundet wurde. Er wußte, durch welchen Graben die Gefangenen geführt werden sollten. Alles war vorher festgesetzt und besprochen. Die Reserven genau instruiert. Die Gräben sind ein Labyrinth, und nichts ist leichter, als sich darin zu verlaufen.
Noch eines: die vorderste Sturmkolonne muß formiert werden. Freiwillige vor! Da melden sich alle. Man verstehe recht: nach einem Jahr Krieg, nach Monaten von Argonnenkrieg, Monaten von Mühen, Entbehrungen und Gefahren! Woher schöpfen sie, die Grauen, diese Kraft? frage ich. Es mußte gelost werden.
Nun also gut, so war es, als der 13. tagte.
Die erste Granate kommt über den morgengrauen Wald und schlägt krachend auf der Höhe ein. Das ist das Signal. Die Geschütze, da hinten, stehen schon bereit, ausgerichtet, fertig zum Schuß. Hauptleute und Kanoniere sind auf dem Posten. Los! Der Wald ist ein einziges Donnern. Die Kanonen geben Schnellfeuer, ein Maschinengewehrfeuer von Granaten wirbelt auf die Stellungen des Feindes nieder. Die schweren Minenhunde rauschen durch den Morgen. Die Höhe ist eine einzige Staub- und Rauchwolke. Die Grauen stecken die Köpfe aus den Gräben, um die rauchende Hölle drüben zu sehen. Die Geschütze rasen.
Der Feind bleibt nicht müßig und antwortet mit wütendem Feuer.
Kaltblütig stehen unsre Artilleriebeobachter in den vordersten Gräben und dirigieren das Feuer, unbekümmert um Granaten und Minen, die ringsum krachen. Die Sturmkolonnen kauern dicht gedrängt in den Unterständen und warten auf ihr Kommando. Sie liegen in den Sappen bereit, mit Handgranaten am Gürtel und im Arm, soviel sie schleppen können. Sie kauern in den unterirdischen Stollen, die unter unsren Drahtverhauen hindurchführen.
Plötzlich schweigt das Feuer.
In der nächsten Minute stürzen die schlesischen Jäger vor. Aus Sappen, Stollen, Gräben. Der Feind legt einen Feuerriegel vor unsre Gräben. Hindurch! Ein Leutnant setzt mit einem Sprung über einen vier Meter breiten feindlichen Drahtverhau. In sieben Minuten sind die vordersten Gräben überrannt.
Ungeheuer sind die französischen Verluste! Seine Gräben wimmelten von Truppen, denn er hatte selbst einen Angriff geplant, und wir waren ihm um einen Tag zuvorgekommen. Eine Mine war in ein Lager von Handgranaten eingeschlagen und hatte furchtbare Verwüstungen angerichtet. In einem einzigen Unterstand fand man einhundertundfünf Tote. Seine Verbände waren zersprengt, aber noch keineswegs geschlagen.
Sie kämpfen wie Rasende.
Gräben, Sappen, Verbindungsgänge, Sprengtrichter und Granatlöcher, überall sitzen sie wie festgeschraubt und zerren so viel Feinde mit in den Tod, wie sie können. In einem Verbindungsgraben hat sich, mit zwei Gewehren, ein französischer Offizier eingenistet, der unaufhörlich feuert. Ein Soldat hockt neben ihm und ladet ihm die Gewehre. Es ist ein Einzelgefecht im großen Kampfe, bis es gelingt, den kühnen Gegner zu vernichten. Ein Hauptmann bedient einen verborgenen Minenwerfer, obschon seine Leute ringsum gefallen sind. Er kämpft mit äußerster Todesverachtung, bis ihn ein Schlesier niederschlägt.
Schon beginnt wieder das Dickicht. Tausendfach schwirrt der Tod durch den Wald. Ein Fort, ein eingegrabenes Blockhaus. Ein paar Pioniere heran, Sprengladung angebracht, fort! Das Blockhaus fliegt in die Luft. Der Feind läßt eine Mine hochgehen, Steine und Erde hagelt es aus der Luft. Im nächsten Augenblick sitzen unsre Grauen im Sprengtrichter und verteidigen ihn nach allen Seiten. Es sind rasche Teufel, man muß es zugeben!
Der Feind ist zersprengt, gefangen, geschlagen.
Die Argonnenleute sind nicht zum Stehen zu bringen. Sie jagen weiter, die Höhe hinunter. Sie stürmen ein französisches Lager, vernichten, was sie vernichten können. Für all diese Fälle sind sie schon vorbereitet. Sie haben Beile bei sich! Sie stürmen bis zu den feindlichen Geschützen vor und ringen mit den grauen Untieren, um sie wegzuschleppen, um sie auf die Höhe zu schaffen. Mit, alles mit, was mitgehen kann! Aber die Geschütze sind zu schwer, zu fest eingebaut – es ist menschenunmöglich, sie gefangenzunehmen und schon nahen französische Reserven. Kurzer Prozeß! Sie schlagen kaputt, was sich kaputt schlagen läßt, die Richtvorrichtungen, die Verschlüsse. Sie schieben den grauen Untieren noch rasch ein paar Handgranaten ins Maul, um sie zu zerstören.
Es ist höchste Zeit! Einer wirft noch rasch eine Handgranate in das Munitionslager und es fliegt in die Luft.
Zurück! In stehender Schützenlinie feuern sie auf die anrückenden Reserven ...
Der einzelne zählt hier, der einzelne Mann, er muß rasch, kühn, verwegen handeln.
Im Juli
In die Erde sind die Gräben eingewühlt, tiefe, krumme Rinnen. Sie laufen quer durch Felder und Wälder, Dörfer und Friedhöfe, sie nehmen keine Rücksicht. Vor den Gräben sind die Drahtverhaue, niedrige, kriechende Gestrüppe mit eisernen Dornen. Diese Dornengestrüppe sind Geschöpfe des Menschen von heute. Sie tragen keine Früchte, der Mensch stirbt in ihnen wie die Fliege in den Haarborsten der fleischfressenden Pflanze. Zwischen den Drahtverhauen, hinüber und herüber, schwirren die Gewehrkugeln. Aus dem wassergekühlten Lauf des Maschinengewehres stürzen sich die zischenden Schwärme. Die Granate kommt aus weiter Ferne herüber und tastet nach allem, was lebt. Mehr, noch mehr. Die zentnerschweren Wurfminen stürzen aus den Gräben heraus, in die feindlichen Gräben hinüber. Die Handgranaten fliegen. Das ist noch lange nicht alles! Wir, die wir in der Luft, im Wasser, unter dem Wasser, auf den Schneefeldern und in der Wüste kämpfen, wir kämpfen heute auch unter der Erde. Wo die Gräben sich einander nähern, kommt zum Grabenkrieg noch der Minenkrieg. Weiter geht es nicht.
Es ist der Krieg der Pioniere!
Erst waren sie hinten, Stege und Brücken, dann kamen sie vor, Unterstände, Gräben und Drahtverhaue. Und schließlich begannen sie ihren eigenen Krieg, auf ihre Weise. Heute sind sie vorn bei den Vordersten, und wo der Mann fällt, fällt der Pionier mit ihm.
Sie sind Teufelskerle und ohne sie geht es nicht mehr. Sie sind unentbehrlich, geliebt und bewundert.
Also sie kommen, Offizier und Mann, und betrachten sich die Sache. Sie zögern nicht lange, es ist nicht ihre Art, lange zu fackeln. Sie fangen an. Hinein in die Erde! Es ist ein Loch, ein Brunnen, ein Schacht. Ganze Stockwerke tief. Knüppelleitern und Leitern von Stricken führen hinab. Dann geht es vorwärts, unter den Gräben und Drahtverhauen hindurch. Von da aus geht es nach rechts und nach links. Der Stollen wächst. Eine Anzahl von Schächten wird in die Erde getrieben, und die Stollen strahlen von ihnen aus. Galerien und Korridore verbinden die Stollen unter der Erde. Da unten in der Dunkelheit sind neue Laufgräben entstanden. Spitzhacke und Spaten und Druckluftbohrer fressen sich durch Erde und Stein und es entsteht ein richtiges Bergwerk.
„Wir haben da und dort eine Mine gesprengt.“ Wer denkt sich etwas dabei? Niemand. Wer kennt die furchtbare Arbeit?
Sie suchen hier unter der Erde nicht nach Erzen, sie suchen nach dem Menschen, sie wollen ihn von unten fassen, da es von oben nicht genügt.
Schwer und hart ist die Arbeit des Pioniers. Acht Stunden lang schleppt er ununterbrochen Erde und Gestein durch die düsteren Stollen. Oben, im Licht der Sonne, schüttet er die Erde aus, und wenn der Feind sieht, daß neue Erdwälle entstehen, so schießt er augenblicklich mit Granaten hinein. Aber der Pionier? Nun, der Pionier tut seine Pflicht.
Mit Kompaß und Meßband wird hier unten gearbeitet. Es handelt sich um geringste Winkel, Gefälle und Steigung, um Meter und halbe Meter. Züge mit Grubenhölzern rollen heran, die Pioniere schleppen Tag und Nacht Holz und Balken durch die Stollen, um sie auszubauen, damit sie ihnen nicht über dem Kopf zusammenbrechen eines Tages. Das wäre eine hübsche Geschichte! Kilometerlang sind oft Gänge und Galerien unter der Erde. Aber niemand sieht sie, niemand kennt die Arbeit der Pioniere.
Es ist eine Arbeit von Wochen und Monaten, eine Arbeit von Schweiß, Überlegung und Mut.
Wie steht es? Baut auch er? Der Pionier lauscht drunten in seiner Nacht. Der Pionier lugt aus, ob nicht drüben bei ihm auffallend viel Erde aufgeworfen wird. Es regnet in Strömen, tagelang, und der Pionier horcht: Ja, seine Pumpen spielen! Er hat Wasser in die Stollen bekommen.
Natürlich baut er, der Franzose. Er hat den Anfang damit gemacht und ist Meister in diesen Dingen.
Mit List und größter Vorsicht wird dieser Krieg unter der Erde, in der Finsternis, geführt, viele Meter unter dem Boden. Eines Tages, in einer Stunde der Nacht, während draußen die Gewehre peitschen und die Leuchtkugeln alles taghell beleuchten, in einer glücklichen Minute hört man ihn schaben und scharren, ihn, der von drüben herübergekommen ist, in den Wochen, in den Monaten, und der, wie wir, versucht, den Feind von unten zu packen, weil es von oben nicht genügt. Der Pionier, der ein ganzer Kerl ist und seine Sache versteht, weiß genau, was er zu tun hat. Mit seinen feinen Ohren horcht er und sagt sich, es sind vier Meter, es sind sechs Meter. Ist er rechts, links, oben, unten, feine Ohren gehören dazu. Der Offizier liegt in seinem Unterstand auf seiner Pritsche und schläft, da tutet das Telephon: Es sind vier Meter, ich glaube, er ist über uns. Nun schön, sagt der Offizier, ich komme morgen in aller Frühe.
Nun heißt es handeln! Man muß arbeiten und schaben, damit er drüben nicht merkt, daß man ihn gehört hat. Es ist ja wahrscheinlich, daß auch er es gehört hat mit seinen feinen Ohren. Der große Augenblick ist gekommen. Es handelt sich um Minuten. Die Sprengladung wird herbeigeschafft. Sandsäcke, ganze Berge von Sandsäcken werden durch den Brunnenschacht hinunter in den Stollen getragen. Die Pioniere wimmeln wie Ratten in der Dunkelheit, aber die Leute vorn arbeiten weiter. Sie markieren die Arbeit, aber es muß verdammt geschickt gemacht werden. Die Art des Schlagens und Schabens, obwohl nur markiert wird, darf sich um nichts von der wirklichen Arbeit unterscheiden, denn er drüben in den Stollen ist listig wie ein Fuchs. Er wird sich in den Bart lachen und sagen: Sie markieren jetzt, aber fünf Minuten früher werde ich sprengen. Dann lebt wohl, Pioniere, Offizier und Mann!
Peinlich genau werden die Kisten mit der Sprengladung aufgebaut, mit Sprengkapseln versehen, aber währenddessen wird ohne Pause das Wühlen und Graben fortgesetzt, und er, der die Sache macht, muß ein Künstler sein, soll das Werk gelingen. Rasch, rasch!
Die Pioniere hocken im düsteren Stollen. Die Sandsäcke wandern in fieberhafter Hast von Arm zu Arm. Die Sprengladung muß eingebaut und ein meterdicker fester Wall davor gerammt werden. Sonst würde die Ladung unsre Stollen zerreißen und nicht hoch gehen. Die Säcke wandern rascher und rascher, und der Schweiß stürzt in Strömen über das Gesicht der Pioniere. Mann für Mann gibt sein Letztes her! Der vorderste arbeitet wie ein Besessener, stark und geschickt muß er sein, und baut die Mauer. Rasch, immer rascher muß es gehen. Er spürt seine Arme nicht mehr, wenn die Arbeit getan ist. Zurück! Die Leitungsdrähte werden sorgfältig durchgezogen, die Pioniere stieben rückwärts, rasch, rasch! Und der Offizier, der Offizier der Pioniere, sagt zu den Grauen in den Gräben: Also jetzt geht es los, Achtung! In drei Minuten wird gesprengt. Die Grauen verschwinden in den Unterständen und ziehen die Köpfe ein.
Der Boden wankt, die Mine fliegt hoch! Sie zerreißt die Erde, der Boden öffnet sich und Steine und Erde jagen Hunderte von Metern hoch. Ein Vulkan speit. Schwarz und grau steht turmhoch die Rauch- und Staubsäule. In dem Rauch jagen Sandsäcke und Menschenleiber in die Höhe und flattern Kleidungsstücke, die der Luftdruck von den Körpern riß. Achtung! Nun kommen sie herunter. Die Steine prasseln auf die Gräben herab.
Aber noch regnet es Steine und Trümmer und der Rauch steht noch undurchdringlich: da sind die Grauen schon aus den Gräben, schon vorn! Und ehe der Rauch sich verzogen hat, sitzen sie schon in dem Sprengtrichter, der groß ist wie eine Zirkusmanege. Alles war vorbereitet, sie hatten nur gelauert. Alles war bereit, Gewehre, Munition, Handgranaten, Maschinengewehre. Und mit den Grauen sind auch schon die Pioniere da, mit Sandsäcken, und beginnen wie die Ameisen zu bauen. Wälle, Schutzschilde, provisorische Unterstände: Nun mag er kommen! Und schon sind die Pioniere hinten an der Arbeit, um eine Sappe zu der neuen Festung vorzutreiben. Wir haben zwanzig Meter, dreißig Meter gewonnen, wir haben unsere Stellung verbessert, wir haben seine unterirdischen Stollen zerstört.
In den Zeitungen steht die Notiz: Da und dort haben wir eine Mine gesprengt. Aber niemand weiß, welche Arbeit, wieviel List und Kühnheit dazu gehört. Die Pioniere sind Leute, die nicht viel reden.
Das ist der Krieg unter der Erde, der neueste, der furchtbarste. Tag und Nacht wird gegraben und gewühlt. Eine Mine fliegt hoch, an dieser und jener Stelle der Front. Man treibt die Stollen bis unter die Gräben der Feinde, und ein Grabenstück mit allem, was da drinnen ist, geht in die Luft, Menschen, Munition, Kochgeschirre und Waffen.
Für den Sturm werden Stollen vorbereitet und fliegen auf in der Sekunde, in der es sein muß.
Wehe aber, wenn er zuerst sprengt, eine Minute früher: Offizier und Pionier, sie gruben ihr eigenes Grab. Aber sie wissen, was sie tun, sie wissen, wofür sie es tun.
Im August
Um sechs Uhr nachmittags verschwinden die Leute von Lille von der Straße. Um neun Uhr wird es Nacht und Lille ist tot. Nur vereinzelt ein erleuchtetes Fenster und Stimmen dahinter. Die Schritte hallen. Ein Polizeisoldat, ein Feldgrauer mit der schwarzweißroten Binde am Arm, schlürft an den verschlossenen, finsteren Häusern entlang. Eine Radfahrerpatrouille gleitet schweigend durch die nächtige Straße. Ein paar verspätete Offiziere. Man kann stundenlang durch Straßen und Boulevards wandern, keine Katze regt sich. Lille schläft.
Von draußen, aus der Nacht, dringt der Lärm des Gewehrfeuers. Man hört es ganz deutlich, jeden einzelnen Schuß. So nahe sind die Gräben! Es pocht, dumpf und hart, wie eine Negertrommel. Eine Reihe von Schlägen, dazwischen ein rollender Wirbel. Dann beginnt es zu prasseln und zu knattern, metallen. Die Maschinengewehre hämmern. Ein Nachtgefecht, ein paar Gräben sind lebendig geworden. Das Feuer wird lebhafter, es prasselt minutenlang ohne jede Pause. Aber Lille schläft. Es öffnet sich kein Fenster, kein Kopf lauscht hinaus in die Nacht. Kein Herz schlägt rascher, erregt von einer leisen Hoffnung. Nein! Sie wissen es jetzt. Seit Monaten, seit dem Herbst hören sie das Rollen des Gewehrfeuers in der Nacht, sie wissen, es bedeutet – nichts. Sie schlafen, sie halten sich die Ohren zu, um es nicht zu hören, lange genug haben sie sich betrogen mit Hoffnungen, Ahnungen, Gerüchten, sie glauben es nicht mehr. Morgen um fünf Uhr wird der Flieger, klein wie ein Punkt, über der Stadt erscheinen, und die Abwehrgeschütze werden krachen, aber sie wissen, auch das bedeutet – nichts. Das Quälendste für den Menschen ist das Warten, es tötet alle Kraft zu hoffen.
Nein, Lille schläft, es will nicht aufwachen!
Niemals war eine Stadt so still und so dunkel. Punkt drei Uhr kommt das Auto, das mich hinausbringen soll zu den Gräben, und wir machen uns auf die Reise.
Das Feuer hat aufgehört, die Stadt ist noch stiller geworden. Sie schläft nicht, sie liegt in einer Art von Totenstarre. Das Auto gleitet zwischen schwarzen Häusern dahin. Kein Schnarchen hinter den dunkeln Fenstern, kein Kinderweinen, stumm, alles stumm. Die große Stadt ist tot. Wir rollen durch finstere Straßen, über öde Plätze und leere Boulevards. Eine rote Lampe schwingt am Ende der Straße hin und her. Aus der Finsternis taucht ein massiges schwarzes Festungstor. Die Wache tritt vor und blendet mit der Lampe über Wagen und Insassen. Weiter!
Nun ist es plötzlich noch finsterer geworden. Die Lampe des Autos leuchtet wie ein Scheinwerfer in die Nacht hinein. Wir jagen an fahlen Baumstämmen vorüber, durch Grotten von bleichgrünem Laub. Alleen, Straßen. Der Wagen nimmt Erhöhungen der Straße wie ein Segelboot die Woge, er tanzt, in den Kurven fegt er haarscharf an den Bäumen entlang und die Zweige peitschen unsere Gesichter. Es ist kalt und die satte Luft der Nacht stürzt uns entgegen. Die Bäume rauschen und brausen im Wind. Aufgescheuchte Tiere, kalkbleich, huschen über den Weg und Funken stieben blitzschnell vorüber. Das sind Motten, vom Lichtkegel getroffen und vom Luftdruck zur Seite geschleudert. Tote, schlafende Dörfer. Kein Laut, kein Mensch. Der Motor donnert. Rote Backsteinhäuser flammen im Lichtschein auf und sinken augenblicklich wieder in die Finsternis zurück. Die erschrockenen Augen einer schneeweißen Katze. Ein Posten. Ein paar laute Rufe wehen vorbei. Weiter! Der Wagen fliegt. Herrlich ist die Fahrt. Über uns stehen glitzernd und klar die Sterne des Sommerhimmels. Wir schweigen. Jeder ist in seine Gedanken versunken.
Hier auf dieser Straße marschierten sie, die Kolonnen, Kompanien, Regimenter, im Herbst. In die Schlacht von La Bassée. Freiwillige, Studenten. Sie stürmten dahin, sie sangen, ihre Augen sprühten. Vorwärts! Viele kehrten diese Straße nicht zurück! An der Straße stehen seltsam geformte Büsche; wie Frauengestalten, die die Hände vor das Gesicht breiten, erscheinen sie in der Nacht. Hier, dort, überall. An der Straße stehen Steine, die aufleuchten, sich gespensterhaft neben der Straße emporrichten, wie Geister, die uns betrachten wollen, die alles sehen wollen, was diese Straße kommt. Kleine weiße Kreuze stehen an der Straße, man sieht sie weithin leuchten, wenn der Lichtkegel sie trifft. Und fliegen wir vorüber, so drehen sie sich mit einem Ruck uns zu. Der Herbst ist nahe und immer noch marschieren hier die Kolonnen, die Kompanien und Regimenter. In der Nacht wandern sie dahin. Sie singen nicht mehr. Wenn sie sängen, so kämen die Granaten. Dies ist der Grund, weshalb sie nicht mehr singen.
Von den Gräben her hallen Schüsse. Sie klingen näher und näher, denn wir sind rasch. Dann und wann schlägt dumpf ein Geschütz, irgendwo. Auch nachts kann es hier außen keine Ruhe geben. Seit Monaten lärmt hier der Mensch. Ein paar Furagewagen knarren die Straße entlang. Die Pferde schlafen im Gehen und fahren unruhig auf, sobald der Lichtkegel sie faßt. Die Kutscher reißen sich zusammen. Neben der Straße werden die Granattrichter häufiger. Viele sind ganz frisch. Der Wagen humpelt über Erde und Steine. Die Granate schlug mitten in den Weg. Vor ein paar Stunden war es hier keineswegs gemütlich. Zweige und Äste, das Laub noch grün und saftig, liegen auf der Chaussee. Baumkronen sind zerfetzt, Splitter hängen von den Stämmen. Plötzlich zieht der Fahrer mit einem Ruck die Handbremse an und hält. Ein Baum ist quer über die Straße gestürzt. Er ist gefallen wie ein Soldat und hingeschlagen. Die Granate schnitt ihn über der Wurzel glatt durch und warf ihn aufs Gesicht. Seine Zweige sind noch grün und rauschen im Wind, wälzen sich hin und her und wissen noch nichts. Der Motor brummt, die Räder springen in die Höhe, hinüber.
Ein Dorf. Der Posten winkt. Wir müssen die Lampe löschen. Durch die Dunkelheit tasten wir uns weiter. Die Gewehre knallen. Ein schweres Geschütz in der Nähe reißt laut krachend ab und die Granate rauscht in das Dunkel hinein. Kein Zweifel, die Nacht geht zu Ende. Draußen bei den Gräben steigt zuweilen eine Leuchtkugel empor. Bleich und sprühend, wie ein gleißender Mond steht sie über der nächtigen Erde. Die Gewehre lärmen aufgescheucht, dann wird es wieder still. Die Leuchtkugel sinkt erblassend, ganz langsam, zur dunklen Erde herab. Nun aber steht rechts, zwischen den Pappeln, ein funkelndes Leuchtfeuer, grellweiß und drohend. Wiederum kracht das schwere Geschütz, und die Granate nimmt fauchend und gurgelnd ihre Bahn über unsere Köpfe hinweg.
Die Sterne erblassen, die Landschaft wird fahl. Nebel steigt aus den Feldern. Das Auto fliegt. Wir haben Eile, denn die Straße liegt in Sicht des Feindes. Bevor es tagt, müssen wir an Ort und Stelle sein.
Aus dem grauenden Morgen heben sich die fahlen, verschwimmenden Umrisse einer Stadt: La Bassée. Ein paar Soldaten in Hemdsärmeln, fröstelnd in der Morgenkühle, stehen an der Straße. Leichenhaft erscheint La Bassée im frühen Licht. Kein Mensch, kein Tier ist hier zurückgeblieben. Von ein paar Wachen abgesehen, haust hier kein Soldat. Die letzten Einwohner mußten schon vor Wochen den Ort verlassen, denn La Bassée liegt ständig unter schwerem Feuer. Die Kirche ist ein Trümmerhaufen, ganze Häuser sind in die Luft geflogen. Granateinschläge überall. Die Stadt sieht aus wie von einem Erdbeben zerrissen. Erst schossen wir hinein, dann übernahm es der Engländer. Hunderte, Tausende von Granaten fielen auf La Bassée. Es gibt nur wenig Häuser, die unversehrt sind.
Der Musikpavillon aber steht noch auf dem Marktplatz wie im Frieden.
Das Auto biegt in eine schmale Gasse ein. Sie ist düster und voller Qualm. Ein Haus brennt, von einer Granate in der Nacht in Brand gesetzt. Niemand löscht, niemand kümmert sich darum. Laß es brennen! Die Flammen lecken aus den Fenstern, sie sind ganz allein, niemand stört sie, und sie arbeiten ruhig und langsam weiter. Qualm wirbelt durch das verkohlte Gebälk. Im Hause drinnen klettert das Feuer über eine purpurrote Tapete mit zarten Empiregirlanden. Die Scherben des geplatzten Spiegels funkeln. Hier lebten einst Menschen.
Wir tasten uns durch den ätzenden Rauch, der Chauffeur flucht. Wir fahren weiter, hinaus zu den Gräben.
Im August
Der Kommandeur ist frühzeitig aufgestanden. Fix und fertig angekleidet kommt er aus seinem Unterstand geklettert. Sein Gesicht ist gerötet von der Frische des Morgens. Ein kleiner, rührender Friedhof mit Kreuzen auf den Gräbern und Blumen, Granattrichter und ein Haufe zusammengestürzten Mauerwerks, das ist seine Aussicht. Das Regiment liegt hier seit Monaten, aber der Kommandeur sieht aus, als sei er auf weitere Monate eingestellt. Er ist in seinem Dachsbau zu Hause, und was die Aussicht anbetrifft, so ist ihm das vollkommen gleichgültig.
Er telephoniert seinen Offizieren, daß sie uns einen Führer durch den Annäherungsgraben entgegenschicken sollen, damit wir uns nicht verirren, und wir steigen in den Graben.
„Fünf Uhr dreißig Minuten werden unsere 21er die neuen englischen Gräben eindecken. Seien Sie bis dahin zurück, denn es ist wahrscheinlich, daß er antwortet. Alles Gute!“
Wir trollen zwischen den Lehmwänden und Sandsäcken dahin. Eine Viertelstunde sind wir unterwegs, Geschütze pochen, da pfeift und saust es in der Luft, ein sonderbares und nicht zu verkennendes Pfeifen. Wir ducken uns zusammen. Mit einem höllischen Sang, böse zischend, fährt die Granate über unsere Köpfe weg. Kaum ist sie vorüber, kommt die zweite angefegt, in der nächsten Sekunde die dritte und dahinter die vierte. In einem Höllentempo jagen sie dahin, eins, zwei, als wollten sie einander einholen. Im Bruchteil einer Sekunde sind sie vorüber, man sieht sie nicht, aber in meiner Vorstellung haben sie die Gestalt von Schlangen angenommen, von höllischen Vipern, die langgestreckt zischend durch die Luft fahren. Die Einschläge klingen nahezu wie ein einziger Krach, als würden ein paar schwere Eisentüren fast gleichzeitig ins Schloß geschmettert.
So! Aber wir haben uns kaum von dem Schrecken erholt, als die zweite Lage pfeifend und fauchend angefegt kommt und uns über die Köpfe zischt. Eins, zwei, drei, vier und Schluß. Das war die Begrüßung.
„Es sind Flachbahngeschosse,“ sagt der Hauptmann, „sie zischen so blödsinnig!“
In den Gräben ist man schon munter. Die Gewehre peitschen, und die Spitzkugeln fahren summend und singend über uns dahin. Die Engländer haben die Morgenarbeit aufgenommen und knallen, um vollends wach zu werden. Sie passen verflucht auf. Sobald man die Mütze über die Sandsäcke streckt, kommt eine Kugel herüber. Draußen ist nichts zu sehen: Drahtverhaue, eine verwilderte Wiese, ein Erdwall, hinter dem es sich zuweilen bewegt. Das ist alles.
Unsere Grauen sind auf dem Posten. Die runde Mütze in die Stirn gedrückt, stehen sie und lugen durch Schießscharten und Spiegelapparate. Sie rücken die Gewehre, tasten hin und her, setzen ab, zielen von neuem. Plötzlich erstarrt das Gesicht auf eine Sekunde: Schuß! Sie spaßen nicht, o nein, sie nehmen es verdammt ernst und gewissenhaft. Sie sind ganz bei der Sache. Alle paar Schritte steht ein Grauer und lauert.
So stehen sie von der Nordsee angefangen bis hinunter zur Schweiz. So stehen Hunderttausende, Tag und Nacht, seit zehn Monaten, jetzt und in dieser Sekunde. So stehen sie, bis die tausendste Kugel kommt und sie in den Graben wirft. Wer sie gesehen hat, die Treuen, muß immer an sie denken: wie sie stehen, lauern, zielen, feuern, unermüdlich.
Eine unheimliche Spannung herrscht zwischen den beiden Labyrinthen der Gräben. Wie zwischen zwei Gewitterwolken. Sie verdichtet sich, die Kugel blitzt hinüber, herüber.
Die andern frühstücken. Sie trinken Kaffee aus Blechbüchsen, streichen sich Butterbrote, schneiden Fleisch aus den Dosen. Über ihren Köpfen die Ballen von Sandsäcken, die Maschinengewehre, das Gespinst der raschen Kugeln. Andre liegen in ihren kleinen Nischen, die schmutzigen Stiefel unter den Mantel gezogen, und schnarchen. Sie liegen schlafend mitten im Graben, und man muß über sie hinwegklettern. Sind sie tot, leben sie? Man kann es nicht sagen.
Ein Teil der Gräben ist zusammengetrommelt und wird instand gesetzt. Die Sandsäcke sind durcheinandergeschleudert, aufgeschlitzt und gelb von den Schwefelgranaten, die der Engländer feuert. Ich greife rasch nach einer Zigarette. Hier stinkt es grauenvoll! Der unsagbare Gestank wirft mich nahezu um. Schon beim Gedanken an diesen Gestank wird mir übel. Es ist der penetrante Geruch von Raubtieren, verhundertfacht, vermischt mit allerlei Unsagbarem und Scheußlichem, es ist die Pest, es ist der verwesende Mensch. Die Engländer faulen hier!
Arme Schufte, für ein paar Schillinge die Woche –. French jagte sie hier in den Tod.
Der Engländer schont seine Regimenter. Er spart Soldaten. Gott weiß, ob er sie nicht einmal gut gebrauchen kann, so gegen den Schluß zu, wenn der Partner genug hat? Dann ist es immer eine herrliche Sache, ein paar frische und nagelneue Divisionen an der Hand zu haben, die im Hintergrund in Paradestellung verharren, während man mit dem Partner in aller Höflichkeit über die Bedingungen verhandelt. Aber von Zeit zu Zeit ist es unbedingt notwendig, so zu tun, als mache man ernsthaft mit. Dann opfert French ein paar Regimenter, um den Franzosen seine Verlustlisten unter die Nase halten zu können. In erster Linie gibt er den Kanadiern, Irländern und Indern Gelegenheit, Beweise ihrer Loyalität zu geben. Siehe Ypern, Neuve Chapelle. Wird es Ernst, so zieht er gern seine englischen Regimenter aus den Gräben und wirft Überseeische und Farbige nach vorn. Man muß zugeben, er versteht seine Sache! Aber sie allein können ja nicht alle schwere Arbeit verrichten, das ist natürlich.
Als die Franzosen sich bei Arras und Souchez verbluteten, konnte er nicht ganz müßig bleiben. Es galt Truppen und Artillerie abzuziehen. Er entschloß sich, anzugreifen, und es muß gesagt werden, er meinte es diesmal bitter ernst! Trommelfeuer, Angriff auf Angriff. Erbitterte Grabenkämpfe. Die Toten liegen in Haufen vor unsern Drähten. Unsere Grauen wanken und weichen nicht.
Gegen die Gräben, durch die ich mich jetzt winde, gegen die sogenannte Trichterstellung, warf er drei Divisionen. Er faßt Fuß, aber eine Stunde später fliegt er wieder hinaus. Der Angriff war furchtbar, er wurde trotz der Übermacht abgewiesen. So geht es nicht.
Er versucht es von neuem. Er versucht es ohne Artillerievorbereitung. Er will uns überraschen. Seine Sturmkolonnen fluten heran. Aber die Grauen sind auf dem Posten! Innerhalb von 30 Sekunden (dreißig Sekunden) legt unsere Artillerie einen Feuerriegel vor die Gräben, daß den Engländern Hören und Sehen vergeht. Sie müssen zurück, ungeheuer sind ihre Verluste.
Es ging auch so nicht. Nicht einen Meter haben sie gewonnen.
Sie haben genug, sie haben den Franzosen gezeigt, daß sie es ernst meinten – aber es ging nicht. Sie geben es auf. Aber sie werden die Gräben von Givenchy und Festubert nicht vergessen. –
Nun liegen sie in den Massengräbern, die unsere Grauen schaufelten, und verwesen. Hier sind einige Wassertümpel voll einer gelben dicken Jauche, und auch diese Tümpel strömen denselben furchtbaren Gestank aus. Niemand wagt zu denken, wie es da unten aussieht! – Unsere Grauen aber frühstücken, schneiden Fleisch aus den Büchsen und schmieren sich dicke Butterbrote. An alles gewöhnt sich der Mensch.
Wir überschreiten auf einer Planke die gelbe Tümpelkette. Hier gibt es keine Deckung, und so rasch es geht huschen wir hinüber. Einer hinter dem andern. Aber die Schufte haben uns doch gesehen. Ein paar Minuten sind wir in der Sappe unterwegs, da weint es in der Luft und die Granate schlägt krachend ein. Wir machen uns aus dem Staub. Granate um Granate segelt daher. Vorsichtig lugen wir aus dem Graben und sehen die Einschläge rauchen. Weitab! Aber plötzlich kommen sie wieder näher und schließlich müssen wir die Beine strecken. –
Punkt fünf Uhr dreißig Minuten, auf die Sekunde, nehmen die 21er das Feuer auf. Die Granate winselt hoch über uns durch die Luft. Drei Sekunden Stille, dann ein Krachen, als stürze ein Haus aus Eisen zusammen. Der Boden bebt unter unsern Füßen. Schon kommt die nächste Granate angeweint. Sie braucht eine unendlich lange Zeit, bis sie ihre Bahn durchfegt. Einschlag auf Einschlag! Es ist wie ein schweres Gewitter mit harten Donnerschlägen. Der Engländer antwortet. Er sucht aufgeregt und wütend unsere Haubitzen. Geradeaus, am Horizont, stehen die Rauchfahnen seiner Granaten, schwarz und schiefergrau.
Wir sitzen im Bataillonsunterstand und trinken Kaffee. Die Granaten weinen über uns hin. Die schweren Geschütze erschüttern die Luft mit ihrem Gebrumm.
„Fragen Sie telephonisch an, wie es steht.“
Das Telephon tutet. Von den Gräben kommt die Antwort zurück: „Der Erfolg ist überraschend günstig.“
Es ist ein Morgen wie jeder andere. Ein Duell zwischen ein paar Batterien, nichts sonst. Die Berichte bringen nicht eine Silbe darüber.
Im August
In den Argonnen riecht es nach Chlor, in den Gräben nach Verwesung und schrecklichen Dingen, aber hier außen, in der Gegend von La Bassée – ist es nicht sonderbar? – duftet es wohlriechend wie in den Gemächern einer verwöhnten Dame. Es riecht nach Parfüm, nach Flieder, Veilchen und anderen schönen Dingen. Seit dem Herbst liegt dieser zarte Parfümgeruch über dem Lande, einmal schwächer, einmal stärker, je nach dem Winde. Dieser Duft stammt von den Parfümfabriken in Illies, die im Herbst zerstört wurden.
Das ist aber auch alles, was aus einer Zeit herrührt, da man noch an eine Verschönerung des Daseins dachte. Heute handelt es sich für Millionen darum, das Leben zu retten, das nackte Leben ohne alle Zusätze.
Die ganze Gegend bei La Bassée ist jammervoll. Leer, elend. Gräber, Granattrichter, zersplitterte Bäume. Die Felder verkommen und verwildert. Wo sind die Menschen? Sie sind längst geflohen vor den englischen Granaten! Sie wurden zerrissen in ihren Bauernbetten, die Granate zerschmetterte sie, während sie Futter für ihre Ziege holten. So blieb ihnen nichts anderes übrig, den Unglücklichen, die sich verzweifelt an ihre Scholle klammerten. Sie hielten es wochenlang, monatelang aus. Im Herbst sah ich oben bei Illies in einem Dorf eine alte Frau vor ihrem Häuschen sitzen und Kartoffeln schälen, während das Dorf (ich glaube Herlies) unter schwerem Feuer lag. Es gab bleiche Gesichter unter den Soldaten, aber die Alte schälte inmitten des Geschützgewitters ihre Kartoffeln ruhig und gleichmütig, und zu ihren Füßen spielte ein sechsjähriges Mädchen. Sie wollte lieber sterben, als das Stück Erde verlassen, das sie seit sechzig Jahren bewohnte. Viele starben so. Dorf um Dorf beschoß der Engländer; um einen Soldaten zu töten, tötete er drei Franzosen, aber es waren ja keine Engländer, auf die er feuerte. Die Dörfer leerten sich, eines ums andere, und heute sind sie ausgestorben.
Dörfer, Städtchen, Weiler und Gehöfte, wie mit einem großen Hammer zerschlagen sehen sie aus. Sie sinken zusammen, täglich etwas mehr, die Granate frißt sie auf. Sie sind nur noch Gespenster und Gerippe von Wohnstätten, aber der Engländer funkt täglich in die Ruinen, bald wird keine Mauer mehr stehen. Es ist ein billiges Vergnügen und kostet ihn keinen Pfennig. Sind es etwa seine Dörfer und Häuser? Oh, by Jove, no! Er wird eines Tages seine Kanonen zusammenpacken und nach Hause fahren, und der Franzose kann bezahlen. Man soll ihm nicht nachsagen können, er habe nicht gearbeitet. Von der Nordsee bis südlich La Bassée hat er alles kurz und klein geschossen. –
Die Sonne blendet durch die zerfetzten, zerfallenen Häuser. Kein Mensch weit und breit. Granatlöcher größten Formats, viele ganz frisch. Ein zertrümmerter Wagen. Die Granate packte ihn und warf ihn ins Feld. Ein Schild: Violaines. Das Dorf ist ein Grab, mich fröstelt trotz der heißen Sonne.
Wir verlassen die Straße und wandern querfeldein, um nach La Bassée zurückzukehren. Die Geschütze brummen.
Plötzlich weint es böse in der Luft, eine, zwei Sekunden, und mit lautem, hartem Krach schlägt die Granate in das letzte Haus von Violaines, das wir soeben verlassen haben. Die Dachziegel fliegen durch die Luft wie ein aufgescheuchter Taubenschwarm, und schwarz wälzt sich die Wolke aus dem Hause. Wir sehen einander an. Was nun? Wieder schlägt dumpf ein Geschütz. Wir horchen. Schon kommt sie näher, sie weint und klagt, mit hoher Stimme, krach! Panzerplatten, die gegeneinanderschlagen. Grauschwarz, mit böse gekräuselten Rändern, wie Hagelwolken sie haben, brodelt die Wolke empor. Es sind schwere Schiffsgeschütze, Kaliber 28. Nun machen sie Ernst! Das Geschütz schlägt, unser Geschütz, wir kennen nun seine Stimme.
Wir schwingen die Beine. Aber sobald die Granate da oben weint und winselt, bleiben wir stehen und horchen. Qualm wirbelt aus einer Scheune in die grelle Sonne. Der nächste Einschlag ist gottlob ferner. Ein schwefelgelber Rauchklumpen, der braungelb verweht, liegt im Felde und reckt sich. Eine Schwefelgranate. Das Feuer zieht sich nach La Bassée hin. Dazwischen kracht es scharf und hart: ein Schrapnell. Es streckt seine grauweißen Fangarme gierig in die leere Luft. Wir stoßen auf eine Batterie, die im Feld eingegraben ist.
Die Kanoniere, sechs an der Zahl, stehen hinter den Geschützen, die Arme verschränkt, in Hemdärmeln, lachend und vergnügt, als fingen sie 28er Schiffsgranaten mit der bloßen Hand auf. Sie haben nur eine kleine Mauer aus Sandsäcken aufgebaut, die ihnen den Rücken decken soll, wenn sie an den Geschützen arbeiten. Neugierig lassen sie uns herankommen. Sie stehen keineswegs in Deckung, sie stehen im freien Felde, wie es sich für einen Kanonier gehört.
Meine Begleiter sind hohe Stabsoffiziere, aber das kümmert die Kanoniere wenig. Sie sind die Herren dieses Feldes, das ist offenbar, und es ist schon eine große Freundlichkeit, wenn sie uns passieren lassen.
„Guten Morgen!“
„Gut’ Morg’n!“
Sie wackeln ein bißchen mit den Beinen, rücken die Stiefel zusammen und bringen die Hände flüchtig in die Gegend der Hosennaht. Große Umstände machen sie nicht mit uns. Offizier und Mann, sagen sie sich, hier außen ist das schon so ziemlich eine Sache.
Es sind ganz prachtvolle Burschen. Kaltblütig und ruhig stehen sie hier, während ein paar hundert Meter entfernt die schweren Granaten einhauen und jederzeit eine Granate abschwenken kann.
Ein langer, der größte von ihnen, blinzelt belustigt. „Dicke Luft!“ sagt er und freut sich. Die Mütze sitzt ihm keck auf dem Ohr, die nackten braunen Arme hat er über dem offenen Hemd verschränkt. „Dicke Luft,“ sagen die Grauen, wenn es etwas lebhaft zugeht.
„Kann man quer durchs Feld nach La Bassée gehen?“
„Das kann man schon!“ antwortet der Lange.
„Übernehmen Sie die Garantie?“
„Jawohl, die übernehme ich. Aber bleiben Sie bei der Fabrik dort nicht stehen. Da schießt er immer hin!“ Keck und forsch ist der Lange. Seine Kameraden sollen sehen, daß er nicht gleich die Fassung verliert, wenn ein paar Stabsoffiziere kommen. Das wäre noch schöner.
Wir sind keine zwanzig Schritt gegangen, da ruft uns der Lange nach: „Immer ein bißchen fix, sonst garantiere ich für nichts.“ Sie lachen. Ich drehe mich um und sehe, daß sie die Mäuler vor Vergnügen aufreißen. Es amüsiert sie, daß wir durch die „dicke Luft“ hindurch müssen, während sie es so behaglich bei ihrem Dutzend Sandsäcken haben. Kleiner und dünner werden sie im Feld, aber ihre roten Gesichter sind immer noch auf uns gerichtet. Sie wollen sehen, wie wir hinüberkommen.
Die Granate singt und pfeift, hoch oben, und schlägt links in die Fabrik. Hat er es nicht gesagt, der Tausendsasa? Rechts liegt das Feuer auf La Bassée und links auf der Fabrik. In der Mitte müssen wir hindurch, denn wir haben unser Auto in La Bassée eingestellt. Die englischen Granaten haben eine unserer Batterien aufgeweckt, und nun kracht sie dazwischen. Fegt die Granate hinüber, herüber? Es ist schwer zu sagen.
Das ist eine hübsche Sache geworden, alle Wetter! Wir gehen hintereinander und pflügen uns den Weg durch Kräuter und Stauden. Die Sonne brennt, und der Schweiß steht auf unseren Gesichtern. Alle paar Augenblicke müssen wir über Telephondraht klettern. Und wieder schlägt unser Geschütz. Wir hören es deutlich aus dem Brummen und Pochen in der Ferne heraus. Nun haben sie abgerissen und die zwei Zentner auf die Reise geschickt. Die Granate fegt ihre Bahn. Es dauert viele Sekunden, bis sie herankommt. Sie weint, sie klagt, als sei sie in der Klemme und nicht wir. Näher, immer näher. Was in der nächsten Sekunde geschehen wird, wissen wir nicht. Sie ist vorüber. Einschlag – dort!
La Bassée kommt näher, ganz langsam.
Es ist ein großer Unterschied, ob man selbst feuert und zusieht, wie etwas beschossen wird, oder ob man persönlich dabei engagiert ist, ohne Frage.
Bei den ersten Häusern kommt eine Granate angewinselt, näher und näher, aber plötzlich ist sie wie weggeblasen. Ein Blindgänger.
Nun, da sind wir. Wir atmen auf. Die Häuser geben ein Gefühl der Sicherheit. Gegen einen Volltreffer ist nichts zu machen, natürlich, aber gegen Splitter ist man immerhin einigermaßen gedeckt.
Die erste Straße ist ganz leer. In der zweiten sehen ein paar Feldgraue gemütlich aus dem Fenster. Sie sind unbekümmert und sorglos wie die Kanoniere draußen im Felde. Ja, sonderbare Burschen sind diese Grauen, das muß man sagen!
„Was macht ihr hier?“
„Wache!“
Sie rauchen und haben es sich in der Stube behaglich gemacht. Daß ein bißchen geschossen wird, das kümmert sie nicht. Stürzt das Haus zusammen, so ziehen sie eine Tür weiter.
In der leeren Straße will ein Fuhrwerk umwenden. Es ist mit zwei starken Pferden bespannt, und die Stränge sind in Unordnung gekommen. Vor, zurück, die schweren Pferde drängen gegen die Deichsel. Ärgerlich steigt der Fahrer vom Bock, und Mann und Kutscher fluchen. Es ist schließlich kein Vergnügen, in einer Stadt, die unter Feuer ist, stecken zu bleiben. –
An den Hauswänden der toten, zerfetzten Stadt wandern wir entlang, und sobald die Granate pfeift, nehmen wir Deckung.
Auto. Wir fegen mit Vollgas davon.
Lebe wohl, La Bassée!
Es passieren aber doch die sonderbarsten Dinge! An einer Wegkreuzung halten wir. Ein General, hoch zu Roß, kommt des Weges. Exzellenz befinden sich auf dem Morgenritt.
„Geht es hier nach La Bassée?“ fragt der General.
„Jawohl, Exzellenz.“
Der General reitet weiter. Wir sehen einander verblüfft an. Nun, Exzellenz werden heute wohl den Morgenritt abkürzen!
Im September
Draußen in den Gräben von La Bassée und Violaines hörte ich plötzlich seinen Namen wieder. Von einer berühmten Batterie war die Rede. Als die Engländer einen Überfall ohne Artillerievorbereitung ausführen wollten, legte die Batterie innerhalb von dreißig Sekunden ein Höllenfeuer vor unsere Drähte, der Überfall brach kläglich zusammen. Dreißig Sekunden nach dem telephonischen Anruf krachte der erste Schuß! Ich verstehe nichts von Artillerie, aber ich begreife, daß es etwas ganz Unerhörtes ist. Laden, richten, Schuß! Und darauf Wirbelfeuer. Überhaupt diese Batterie! Man brauchte nur anzuklingeln und hatte die Granaten gerade da, wo man sie haben wollte, Tag und Nacht, es war ganz einerlei. Die Offiziere priesen die Batterie, ein Kanonengenie, Hauptmann H. heißt er.
Ich kenne ihn. Plötzlich erinnerte ich mich auch, daß er, der mich durch sein ganzes Wesen bestach, so daß ich ihn nicht mehr vergessen werde, daß er mir sagte, er stehe gegenwärtig bei Violaines. Seht an, er war es also!
Ich fuhr mit ihm im Zuge, und er erzählte. Er fuhr in Urlaub, seit Kriegsbeginn zum erstenmal. Er hatte Glück, es gab viel Arbeit, und eigentlich war es gerade jetzt unmöglich abzukommen, aber er hatte, wie gesagt, Glück. Er hatte keine Batterie mehr, und aus diesem Grunde konnte er nach Hause fahren. Auf ein paar Tage.
Keine Batterie mehr?
Ja, sie hatten ihm ein paar Geschütze kaputt geschossen in den letzten Tagen, schweres Kaliber, englische Schiffsgeschütze, und das übrige Zeug, das er hatte, war total ausgeschossen. Das Dreifache, Vierfache hatte er gefeuert, was man normalerweise einem Rohr zumuten dürfe, in Friedenszeiten, aber schließlich sei es eben doch mit den Rohren zu Ende gegangen. Nun also müsse er neue Geschütze haben, denn es ginge einfach nicht mehr, und diesem Umstand verdanke er seinen Urlaub.
Er trauerte seinen Geschützen nicht nach! Er war in bester Laune.
Mein lieber Hauptmann, denke ich mir, Sie haben Ihre Batterie verloren und sind nicht im geringsten niedergeschlagen? Am Ende verstehen Sie Ihre Sache doch nicht recht?
Aber es war ihm ganz einerlei, was ich dachte. Er war seiner Sache sicher und guter Dinge.
Übrigens sah ich außen an der Front nie einen Offizier, der so viele Auszeichnungen trug. Alle Knopflöcher hatte er voll und das Eiserne Erster auf der Brust. Das machte mich immerhin stutzig. Denn er war sehr jung, kaum fünfunddreißig. Er sah gut aus und war von jener seltenen Männlichkeit, die es sich leisten kann, anmutig und liebenswürdig zu sein, ohne feminin zu wirken. Er glich Theodor Körner, er war schön. Einmal nahm er die Mütze ab, und da sah ich, daß er hellblondes Haar hatte, das sich in Locken legte wie bei Knaben. Seine Augen waren hellblau und heiter.
Und doch war er (wie ich später erfuhr!) der berühmte Batteriechef H. – Trommelfeuer in dreißig Sekunden, auf telephonischen Anruf, usw.
Er sprach sehr laut, er schrie, wie Leute, die immer in freier Luft leben und ein lärmendes Handwerk betreiben.
Er erzählte hundert Dinge im Gespräch durcheinander, aber was ihn als Batteriechef beleuchtet, das will ich hier wiedergeben.
Er war an vielen Stellen der Front während des Krieges. Wo es besonders heiß herging, da war er dabei. Zeitweise war er eine reisende Batterie, die Gastspiele gab. In den schweren Tagen von Ypern wurde er hinauf in die Gegend von Langemark geworfen. Es ging toll zu, und er mußte augenblicklich eingreifen. Er fuhr auf und feuerte los! Ja, seine Kanoniere, was sind das für Burschen! Ehe man sich umdreht, versinken die Geschütze in der Erde, eins, zwei und weg sind sie! Sie werden eingebaut, daß sie sich nach dem Schuß kaum regen, und das neue Einstellen geht blitzschnell. Das alles machen sie, ohne daß er ein Wort zu sagen hätte, sie verstehen es viel besser, als er es je verstehen könnte, es ist gar nicht zu sagen, was sie im Laufe des Krieges gelernt haben. Es sind Kerle! Richten also ist kaum mehr nötig nach dem Schuß. Ja, Donnerwetter, was für Richtkanoniere er aber auch hat. Und dann geht es los, wie gesagt. Granate eingeschoben, Verschlußstück zugeschraubt, ausgerichtet und Schuß! Sie haben die Sache nun heraus. Die Granaten wandern blitzschnell über Arme und Hände, es ist richtiges Schnellfeuer, und niemand hielt es früher für möglich, so rasch zu feuern, dreimal rascher als zu Anfang des Krieges; einfach unglaublich. Rasch, immer rasch! Sie kümmern sich Tod und Teufel um die Granaten, die herüberkommen, sie feuern.
Ja, bei Langemark, alle Achtung, da wurden sie schon nach einer halben Stunde zugedeckt. Es wimmelte von Fliegern in der Luft. Abrücken! Im Feuer! Ein Geschütz geht zum Teufel, ein paar Leute bekommen etwas ab und zwei Pferde bleiben liegen. Weiter!
An anderer Stelle haben sie mehr Glück. Sie feuern, bis sie umfallen. Befehl, abends: da- und dorthin. Verladen in der Nacht, am nächsten Morgen sind sie schon wieder in Stellung. Hier steht Rad an Rad, die guten Plätze sind besetzt, Flieger oben, schon sind sie entdeckt. Abrücken. Strahlenförmig spritzen die Geschütze mitten im Feuer übers Feld. Doch nichts geschieht. Haha, ja es war wirklich eine tolle Geschichte.
Nun haben sie es aber gut getroffen. Sie liegen ein paar Wochen unentdeckt. Hundert Meter von der Batterie steht ein zerschossenes Gehöft, und so oft ein Flieger erscheint, machen sie Rauch in dem Gehöft, und die Engländer feuern wütend in die Ruine. Am Abend und in der Nacht lassen sie einen Feuerstrahl aus dem Gehöft fahren, bei jedem Schuß, den sie abgeben, und der Engländer schießt das Gemäuer in Grund und Boden. Und die Kanoniere lachen, es macht ihnen heidenmäßigen Spaß. Wochenlang denselben Scherz, sie lachen bei jeder Granate, die in das Gehöft fährt, denn sie haben Sinn für Komik. Überhaupt, was für Leute!
Der Hauptmann rückt begeistert die Mütze über das blonde Haar.
Dann kamen sie zur Lorettoschlacht in eine ganz windige Ecke. Später nach La Bassée hinauf. Im Herbst waren sie in Lothringen. Vom ersten Tage waren sie dabei. Er, der Hauptmann, fast täglich vorn in den Gräben zur Beobachtung. Fesselballon, Flugzeug. In Lothringen, seinerzeit, gelang ihm eine glänzende Sache. Es kamen da plötzlich ganz schwere Dinger auf die Gräben geflogen. Alle Welt staunte, was war das? Flieger gingen hoch. Nichts zu finden. Der Franzose mußte ein außergewöhnlich weittragendes Geschütz aufgestellt haben. Aus den Gräben kam die Meldung, daß man die Granaten kurz vor dem Aufschlag ankommen sehe. Sofort ist der Hauptmann draußen. Es gehören Nerven dazu, den Kopf gerade in dem Augenblick aus dem Graben zu stecken, da so ein „alter Herr“ ankommt und einschlägt. Erst zuckt der Hauptmann zurück, aber es muß sein. Jawohl, man sieht sie kommen. Er schneidet die Kurve an, berechnet und findet auf diese Weise ungefähr Richtung und Standort. Flugzeug! Immer höher und weiter. Nichts regt sich, aber in der Nähe des berechneten Standortes kommt dem Hauptmann ein Wäldchen verdächtig vor. Dahin dirigiert er das Feuer seiner Haubitzen. Am andern Morgen fliegt er wieder darüber: das Wäldchen ist zerschossen. Das weittragende Geschütz ist seither verstummt.
Und so geht es weiter. Haubitzen, Granaten, Beobachtungsstände, Sprengstoffe, Flugzeuge, Trommelfeuer. Die helle Stimme des frischen, jungen Hauptmanns mit den vielen Bändern klingt und schmettert. Die Batterie, ja, er liebt seine Batterie, er liebt es, darauf loszufeuern, er liebt seine Leute. In acht Tagen wird er ganz neue Geschütze haben, dann kann es wieder losgehen. Zwölf Monate lang macht er die Sache schon mit, zwölf Monate ohne Unterbrechung lacht er dem Tod ins Gesicht. Seine Kanoniere fielen, seine Kameraden sanken in die Erde, Tausende von Feinden hat er vernichtet, er, der Herr der Haubitzen. Ich suche in seinem jungen Gesicht nach irgendeinem kleinen Zug von Ermüdung, Nervosität, Leid – nicht eine Spur ist zu finden. Hut ab vor dem Hauptmann!
Neulich aber wäre es ihm bald übel gegangen. Er hatte sich da seinen Beobachtungsstand in ein zerschossenes Haus aufs Dach gebaut, plötzlich kam eine Granate und schlug ausgerechnet in das Haus. Im nächsten Augenblick stürzten sie, sein Unteroffizier und er, mit Balken und Brettern vom Dachfirst in das Erdgeschoß hinab. Sie fielen durch eine rote qualmende Wolke und waren ein paar Minuten betäubt. Nichts geschehen, ein paar Schrammen, das war alles. Der Unteroffizier aber sagt: „Ich muß hinauf, Herr Hauptmann und den Batterieplan holen!“ –
Der Hauptmann lacht. Ein kerniges und gewinnendes Lachen.
„Hat er ihn geholt?“
„Natürlich! Das ist ja ein prachtvoller Kerl, dieser Unteroffizier, den sollten Sie kennen – haha!“
Ich steige aus. Der Hauptmann fährt weiter. Morgen nachmittag um sieben Uhr wird er in Starnberg sein, bei seiner Frau. Sie weiß nicht, daß er kommt. Er will sie überraschen.
Wie eine Granate kommt er aus La Bassée in das stille Haus am Starnberger See geflogen.
10. September
Am Vorabend des Kampfes erlebe ich den Angriff in allen seinen Phasen auf der Karte. Ich bin Gast bei Exzellenz, dem Kommandierenden, und seine Offiziere erklären mir die geplanten Operationen. Sie sprechen sachlich und klar, mit der Ruhe von Leuten, die ihrer Sache sicher sind. Weiß zieht und gewinnt, matt in drei Zügen. Auf dem Papier sieht es aus wie eine Schachpartie, aber nur auf dem Papier. Unsere Figuren sind aus Fleisch und Blut, und Regeln und Gesetze gibt es in dieser blutigen Partie nur so lange, als man die Kraft hat, sie dem Gegner vorzuschreiben.
Aus den Argonnen dröhnt dumpf Geschützdonner, aber es ist das normale Abendfeuer, und niemand hört es mehr, so sehr sind sie daran gewöhnt. Die Karte liegt auf dem Tisch unter der elektrischen Lampe, und mein Instruktor, der Jäger, treibt mit den feinen gepflegten Händen die Regimenter vor bis zur Linie, die sie erreichen sollen. Er läßt die im Wald und in den Bergkuppen stehenden Batterien feuern, die Minenwerfer, er trommelt die feindlichen Gräben ein, umgeht, flankiert starke Stellungen. Ich sehe den ganzen Sturm vor Augen.
Das Telephon klingelt. Herr Major. „Jawohl, die und die Batterie feuert soundsoviel Schüsse, zu der und der Zeit. Das ist das Zeichen, jawohl. Guten Abend!“ Trotz aller Ruhe schwingt eine leise Erregung im Hause. In den Argonnen bin ich nicht mehr fremd. Ich finde mich auf der Karte leicht zurecht, ich kenne zum Teil das Terrain und unsere Stellungen. Hier ist Four de Paris, nahe am Tal der Biesme. Die Gräben klettern von hier aus über die Hubertushöhe. Dann werden sie unterbrochen von der Schlucht des Charmesbaches, setzen sich fort über die Höhe, die den sonderbaren Namen Eselsnase trägt, bis hinüber zur Houyettemulde. Zum großen Teil sind dies die Stellungen, die die Argonnenleute dem Feinde im Juni und in den ersten Tagen des Juli wegnahmen. Jene Barre aus Stacheldraht, Maschinengewehren und Minenstollen, die sich Cimetière, Bagatelle, Grüner Graben, nannte.
In diese Stellung hinein ragt bogenförmig ein neues starkes französisches Werk, eine Festung aus Stollen, spanischen Reitern, Drahtbarren, Minengängen, Schluchten und Blockhäusern und unterirdischen Forts, eine Festung, aus der der Tod in hunderttausendfältiger Gestalt springt, wenn man sich ihr nähert: das Werk Marie-Thérèse.
Morgen soll es in unserer Hand sein. Morgen Punkt acht Uhr werden die Batterien einen Hagel von Eisen auf das Werk werfen, sie werden es in Stücke zerreißen, morgen um elf Uhr werden wir es stürmen!
Ob ich alles verstanden habe? Jawohl, alles. Nichts ist einfacher, klarer. Nichts ist verwickelter und unverständlicher. Es ist ein Schachspiel, in dem der Zufall eine mächtige Rolle spielt. So scheint es mir. Der Jäger zu Pferd telephoniert an die verschiedenen Stellen, die Uhren müssen genau gerichtet werden. Ein paar Minuten Differenz können zum Verhängnis werden. Jede Kleinigkeit ist besprochen, alle Vorbereitungen sind bis in die kleinsten Details getroffen. Minenstollen, Munition, Handgranaten, Gasmasken, Granaten, Wasser, Nahrungsmittel. Jede Kompanie weiß genau, was sie zu tun hat, jeder Zug, jeder Pioniertrupp, jeder einzelne Mann. Sobald er den Fuß aus dem Graben setzt, folgt er einer Reihe genau gegebener Befehle, – wenn er nicht fällt. Was moderne Kriegskunst vermag, ist geschehen. Der Angriff ist schon gelungen, Marie-Thérèse gehört in Wahrheit schon uns, – obwohl noch kein Mann die Gräben verließ. So muß es sein.
Wir begeben uns in den Gesellschaftsraum und sitzen in Sesseln um den Kamin. Vom Angriff wird nicht mehr gesprochen. Die Politik und ein schwarzgefleckter weißer Terrier treiben das Gespräch. Aber die Unterhaltung wird nie lebhaft und laut. Das Telephon klingelt häufig. Frühzeitig geht man zur Ruhe.
In meiner Dachkammer habe ich Muße nachzudenken. Dann und wann schlägt im Walde dumpf ein Geschütz. Es grollt in der Nacht und poltert irgendwo in der Ferne. Unsere Grauen, die jetzt in den Gräben draußen im Walde liegen, sie wissen es ganz genau. Sie wissen, daß er auf unser Feuer antworten wird, und um elf Uhr, Punkt elf Uhr, werden sie aus dem Graben klettern. Sie bereiten sich vor auf den Sturm, so und so. Viele Herzen schlagen rascher, und viele schlafen heute nicht in ihrem Lehmloch. Wenn sie den Kopf über den Graben strecken, so pfeift der Tod daher, springen sie in die feindliche Sappe, so kann es sein, daß sie dem Tod in die Arme springen. Offizier und Mann, sie wissen nicht, wie es morgen abend sein wird. Sie sind Soldaten und sie kämpfen. Marie-Thérèse ist alles, nicht ihre eigene Person!
Aber sie, drüben in Marie-Thérèse, sie wissen nichts, sie ahnen nichts. Nun, so schlafen sie wenigstens noch diese eine Nacht ohne Qual. Marie-Thérèse ist vieler Grab, morgen um diese Zeit. Der Jäger zu Pferde rechnet nicht mit dem Zufall. Wie aber, wenn der Franzose heute nacht angriffe? Wenn er in einem Nachbarabschnitt morgen im Morgengrauen vorginge? Aus dem Wald grollt das Rollen eines schweren Geschützes. Es feuert fast ohne Pause. Ich horche. Beginnt es zu trommeln? Nein, es ist ein Bursche, der nebenan in der Bodenkammer schnarcht. Übrigens soll ich morgen um vier Uhr hinaus in die vordersten Gräben der Eselsnase, um mir das Werk Marie-Thérèse in der Nähe zu betrachten.
Um vier Uhr morgens ist es bitterkalt in den Argonnen. Wir fahren, in unsere Mäntel eingehüllt, in die stockschwarze Nacht hinein. Die Sterne glitzern groß und kalt wie im Winter. Ich bekomme einen bitteren Geschmack im Mund, wenn ich die Sterne betrachte. Es ist keine Zeit für die Sterne. Wir sind in die Erde gesunken, ohne jeden Zweifel und haben keine Zeit mehr, die Sterne zu betrachten. Geschütze schlagen dumpf. Auch in der Nacht muß hier gearbeitet werden. Das Feuer ist normal, mit Befriedigung stellen wir es fest. Er hat nichts gemerkt, er bereitet nicht an irgendeiner anderen Stelle etwas vor. Ein zerschossenes Dorf. Im Wald wird die Straße morastig. Es hat hier seit acht Tagen nicht geregnet, aber die Straßen sind zerweicht, und das Auto rutscht wie ein Schlitten durch den Schmutz. Ein Fuhrwerk begegnet uns, wir biegen aus, kommen ins Schlingern, der Chauffeur geht auf den zweiten Gang, und wir mahlen uns aus dem Dreck. Hier gibt es Löcher und Granattrichter, so daß wir nur langsam vorwärts kommen.
Wir durchqueren den Wald, die schwarzen Bäume rauschen, die Sterne blitzen durch die Wipfel, es ist schön, trotz des schlechten Weges. Ein zerschossenes Dorf. Menschen tauchen auf. Eine Sanitätskolonne in Marschbereitschaft. Sind sie jetzt schon auf den Beinen? Die Leute in den Gräben da oben sind noch gesund und munter, aber hier stehen schon die Leute, im grauen Morgen, die sie verbinden sollen. Wir löschen die Lampen. Wieder ein zerschossenes Dorf. Wir gehen zu Fuß weiter. Es wird langsam Tag. Nebelgestalten huschen an der Wegseite, Feldküchen, Krankenträger, Reserven. Wir steigen bergan. Ein Weg, der gangbar gemacht wurde dadurch, daß man Baumstamm an Baumstamm reihte. Das Holz der Stämme ist abgeschabt und zermahlen durch die vielen Räder und Stiefel, die hier bergan und bergab gingen. Der Wald wird plötzlich lichter. Es wird Tag. Die Schlucht erweitert sich, und vor uns liegt eine zerschossene kahle Bergkuppe. Wir steigen in die erste Zone ein. Die erste Zone, das sind die Gräben, um die im Winter gerungen wurde. Die hohen Bäume sind vernichtet, aber das Unterholz grünte wieder. Diese Zone hat das Aussehen eines Weinberges, einer Hopfenpflanzung. Gräben, Schutt, Granattrichter. Dann aber kommt die zweite Zone, der Berg selbst. Wie sieht er aus? Unnatürlich, ohne jeden Vergleich! Man denke sich einen wild erregten Ozean mit zornigen, dichtgedrängten Wellen, das wilde Meer bei Sturm. Aber dieses Meer ist aus Lehm und plötzlich in einer Sekunde erstarrt. Ich übertreibe nicht. So und nicht anders sieht der Berg aus.
Wogen, Zacken, Abgründe. Das erstarrte Meer wälzt sich gegen die Höhe. Dazwischen stehen Stumpen toter Bäume. Von Tausenden von Gewehrkugeln wurden sie durchlöchert, bis sie wie ein Sieb waren und ein Windstoß sie zu Boden warf. So sieht es hier aus, es ist das Trostloseste und Schrecklichste, was die Phantasie erdenken kann. Gräben, Sprengtrichter an Sprengtrichter, viele Meter tief und breit. Diese erstarrten Lehmwogen sind das Ergebnis der Kämpfe von vielen Monaten. Es riecht hier nach Leichen und schrecklichen Dingen. Teile menschlicher Körper ragen aus den Lehmkrusten, Tuchfetzen, zerschlagene Blechgeschirre liegen in den Löchern. Um jeden Granattrichter wurde hier gekämpft. Langsam, Schritt für Schritt, mußten unsere Truppen sich zur Höhe emporkämpfen. Sie standen bis an die Hüfte im Wasser. Es gibt hier einen Weg, der den Namen „Selbstmörderweg“ trägt. Ein Annäherungsgraben, der nur flach ausgehoben worden war, und den die feindlichen Maschinengewehre bestrichen. Die Leute wollten lieber das Leben riskieren, als ewig im Wasser waten! Tausende haben diese erstarrten Lehmwogen verschlungen, Freund wie Feind. Nun schweigen sie.
Früher trug diese Wüstenei Namen: es sind die berühmten Werke Central, Cimetière, Bagatelle, die im Juni und Juli genommen wurden.
Rot und dunstig steigt die Sonne über das tote Lehmmeer empor, das in seiner höchsten Wildheit erstarrte. Granaten winseln durch die Luft, Einschläge krachen. Ein schweres deutsches Geschütz schießt. Dumpf und fern klingt der Abschuß, als gehöre das Geschütz einem anderen Teil der Kampflinie an. Aber mächtig rauscht die Granate über uns dahin, und ein paar Sekunden später kracht der Berg. Drei Granaten feuert es herüber, dann schweigt es. Aber andere Geschütze schlagen. Eine Granate singt doppelstimmig durch die Luft, ein Querschläger. Das hört sich drollig an. Vereinzelte Gewehrkugeln summen über den Lehmberg dahin, ein Maschinengewehr bellt heiser. Plötzlich kommt eine ganze Horde feindlicher Granaten durch die Luft getrillert, eine hinter der anderen, in wahnsinniger Eile. Es kracht, daß die Erde zittert. Der Franzose schleudert Wurfminen.
Es ist die gewöhnliche Morgenarbeit, ganz „normales“ Feuer. Alles geht gut.
Durch den Annäherungsgraben kommen die Leute aus den Feldküchen hinter uns her. Immer zwei tragen an einer Stange auf den Schultern einen schweren eisernen Kessel. „Bringt ihr Kaffee?“ – „Nein, Suppe, es muß heute früher gegessen werden.“ – Heute! Ja, heute ist ein besonderer Tag.
Die Sonne scheint, zum erstenmal treffe ich im Argonnenwald schönes Wetter, aber die Grabenwände strömen eisige Kälte aus.
In den Gräben auf der Eselsnase ist schon alles munter. Zuerst kommen wir zu den Württembergern, dann zu den Reichsländern und Preußen. Draußen, fünfzig Meter, dreißig Meter entfernt liegt hinter einer Barre von Stacheldrähten das Werk Marie-Thérèse. Eine blaue Rauchmauer steht darüber, der Rauch von den Granaten und Minen der „Morgenarbeit“. Granaten winseln und schlagen ein. Die schweren feindlichen Wurfminen krachen wie Donnerschläge. Die Posten stehen am Gewehr, die Maschinengewehre lauern. Handgranaten, Minenwerfer mit Munition, alles ist bereit. Kupferdrähte führen hinaus in eine Sappe: um elf Uhr soll die Mine hochfliegen! Überall ist man geschäftig, in aller Ruhe, denn man hat Zeit. Ausfallstufen werden gegraben. Ernst und still sind die Leute, etwas stiller als sonst, denn sie wissen, was der Tag für sie bedeutet. Spricht man sie an, so reißen sie sich zusammen, entschlossen und kühn blicken ihre Augen.
„Macht eure Sache gut, heute!“ – „An uns soll’s nicht fehlen! Heute hau’n wir sie wieder zusammen.“
Sie machen auch Witze.
Die Offiziere kriechen aus ihren Unterständen und begrüßen uns. Hauptleute, Leutnants. Sie sind zuversichtlich und frisch. Sie erteilen uns Ratschläge, Warnungen, sie! Ein paar böse Ecken, wo sie Handgranaten schmeißen, Minen. Ach, und ein paar Stunden später waren einige der prächtigen Leute schon tot!
Wir gehen weiter. Minen krachen wie einstürzende Häuser. Ein Grauer schaufelt; eine Mine hat ihm Erde in den Graben geworfen. Plötzlich ist der Graben zugeschüttet. Ein paar Leute graben. „Was gibt es?“ – „Unsere Offiziere sind eben verschüttet worden!“ – Mit Schaudern sah ich es, mit Schaudern spreche ich davon, aber es ist Krieg, das darf man nicht vergessen. Die Mine hatte den Graben vollkommen eingedeckt. Ein Armstumpen ohne Hand ragte aus der Erde. Um die Ecke – – nein! Neben mir kauerte mit angezogenen Knien ein Toter, sein Kopf hing auf die Brust herab. Er sah nicht aus wie ein toter Mensch. Über und über mit grauer Erde eingestäubt, Kopf, Gesicht und Kleider, erschien er wie die Statue eines Schläfers mit angezogenen Knien, die man ausgegraben hatte. Sie alle, zwei Offiziere und vier oder fünf Mann, waren gefallen vor dem Sturm beim alltäglichen Morgenkampf. Ehre euch und Ehre dir, kleiner grauer stiller Schläfer!
„Achtung!“ Eine Mine kam durch die Luft und schlug hinter uns krachend ein. Der Jäger zu Pferd, dessen Augen so grün sind wie seine Uniform, prüfte, ob wir über den verschütteten Graben wegrutschen könnten. Aber es war unmöglich. Dreißig Meter querab lauerten die französischen Gewehre.
Wir mußten zurück. Aber nun kamen die Minen, eine nach der anderen. Bald mußten wir rechts, bald links ausweichen. Eine schlug vor uns ein, das heißt nicht in den Graben, sondern draußen, ganz nahe, aber sie explodierte nicht. In solchen Momenten ist man ganz ruhig. Man zittert nicht, und das Herz schlägt nicht rascher. Man ist längst über die Zone der Angst hinaus. Man weiß, daß man vollkommen in der Hand des Schicksals ist, und damit fertig.
Hoch oben durch das Blau des Himmels zieht die Wurfmine. Sie erscheint nicht größer als ein Habicht. Deutlich sind ihre Flügel, ihre Schwingen zu erkennen, die ihr den ruhigen Flug verleihen. Sie rast eilig dahin, in herrlicher Kurve, und sieht wundervoll aus. Wir stehen und folgen ihr mit den Blicken. Plötzlich sticht sie wie ein Habicht herab, wird mit jeder Sekunde größer, häßlicher und – gefährlicher. Achtung!
Der Teufel hat diese Minen erfunden.
Auf dem Heimweg in der Sappe begegnen wir wieder den Suppenträgern und zwängen uns an den Kesseln vorbei. Sobald sie den dumpfen, unscheinbaren Abschuß des Minenwerfers hören, lugen sie aus. Züge von Feldgrauen schieben sich an uns vorüber, Gewehre, Handgranaten, Gasmasken. Einzelne schleppen große Stahlschilde. Einer trägt auf dem Gewehr ein paar Feldpostpakete. Die Gräben werden aufgefüllt. Immer näher kommt die Stunde –
Wir überqueren das erstarrte Meer aus Lehmwogen. Das Morgenfeuer wird ruhiger.
Der Jäger zu Pferde zieht die Uhr.
„Noch fünf Minuten!“
In fünf Minuten ist es acht. Da soll es losgehen.
Punkt acht Uhr ging es los.
Mit der Sekunde feuerte ein Geschütz schweren Kalibers, und die Argonnen krachten. Die Wälder horchten auf. Das schwere Geschütz gab eine Salve krachender Schüsse ab. Pause. Dann begann es von allen Seiten. Ja! Die Kanoniere standen schon überall bereit, glühend vor Kampfbegierde. Die Granaten steckten schon in den Rohren, die Geschütze waren gerichtet und nun rissen sie ab! Die Hölle tobte, krachte, lachte, rasselte. Es fauchte, zischte, heulte in der Luft, es pochte, stampfte, rumpelte und knurrte. Zuweilen klang es, als ob ein Riese, groß wie ein Berg, mit einem Hammer auf eine Stahlwand losschlage, wütend und betrunken. Die Kanoniere, ja diese Kanoniere mußten arbeiten wie verrückte Teufel! Die Granaten mußten von selbst in die heißen Rohre springen, eine hinter der andern, Schuß, laden, Schuß, laden. Der Schweiß läuft ihnen übers Gesicht, aber so lieben sie es. Immer hinaus, was die Rohre hergeben können.
Links oben von mir, an meinem linken Ohr, feuert mit harten, zornigen Schlägen eine schwere Batterie, daß der Boden zittert. Die Geschosse rauschen und klirren durch die Luft wie ein Eisenbahnzug, der über eine Eisenbahnbrücke hämmert. Rechts oben, an meinem rechten Ohr, knallt eine Batterie, und die Granaten gehen mit einem Zischen hinaus, wie wenn eine Lokomotive mit Überdampf die Ventile löst. Dazu das Krachen und Knattern der Einschläge, das wir deutlich hören, denn wir sind ja nicht weit davon entfernt. Es ist ein Rauschen in der Luft, wie wenn ein Zug ein Tal, eine Schlucht passiert. Zuweilen kommen Schreie und Winseln von oben, wie wenn Menschen von Dämonen entführt würden und verzweifelt klagten.
Das ist der Anfang. Drei Stunden, drei volle Stunden, bis elf Uhr, soll dieses Feuer dauern!
Es ist nur die Eröffnung. Das Schachspiel, das mir der Jäger zu Pferde gestern abend auf dem Papier erklärte, es setzt sich in die Wirklichkeit um. Mudra spielt! Es ist die Eröffnung Mudras, und bei Gott, ich möchte nicht mit ihm diese Partie spielen!
Ich sehe auf die Uhr. Es ist acht Uhr zwölf Minuten!
Alles ist auf die Straße gelaufen, wenn man so sagen kann. Die Straße ist ein erbärmlicher Knüppelweg im Walde. Nebenan liegt der Verbandplatz. Ärzte, Krankenträger, Ordonnanzen, Feldbäcker und Chauffeure, alles steht auf der Straße, um sich das Feuer anzuhören und anzusehen, obschon es nichts zu sehen gibt. Es rauscht und schleift in der Luft, das ist alles. Alle sind in erregter und begeisterter Stimmung. (Niemand denkt an Marie-Thérèse!!) Ich weiß recht gut, daß eine Beethovensche Symphonie etwas anderes ist, aber das Feuer hat etwas Berauschendes an sich! Es ist die Musik feuerspeiender Berge und Urgewitter.
Wie sieht es droben in den Gräben aus, von denen ich eben komme? Sie ducken sich hinter die Erdwälle, so furchtbar zischen die Granaten. Wie sieht es in Marie-Thérèse aus, das ich eben sah? Die blaue Rauchmauer ist ein dicker, gelbgrauer Wall geworden, und nichts Lebendiges ist zu sehen. Fontänen von Erde jagen in die Höhe.
Es ist acht Uhr dreißig Minuten.
Der Franzose antwortet. Er kommt nur langsam in Gang. Er feuert verwirrt. Es sind Granaten, die er gerade bei der Hand hat, es sind Batterien, die noch nicht – nach der Morgenarbeit – frühstücken gingen. Telephondrähte sind zerschossen. Die Batterien warten auf Befehl. Das ist eine elende Situation. Mudras Eröffnung war zu unregelmäßig. Erst acht Uhr dreißig Minuten kommt System in das französische Feuer. Nun rauschen seine Lagen herüber –
Ein deutscher Flieger brummt über dem Wald.
Neben dem Verbandplatz treffe ich den Divisionär, Exzellenz Graf v. Pf. Der Divisionär steht unter dem Schleifen und Rauschen der Granaten, gleichmütig und ruhig, als ob er zu Hause wäre. Und doch kann jeden Augenblick eine Granate hereinfegen, daß die Späne fliegen. Die Granate ist blind und hat keinen Respekt vor gestickten Kragen.
„Es ist das Inferno!“ sagt der Divisionär gelassen, mit einem leisen Unterton von Verwunderung und Bedauern.
Ja, in der Tat, trüge ich nicht ganz klare und festgefügte Vorstellungen aus einer Zeit des Friedens und einer Welt ohne Kanonen in mir, Vorstellungen, die die schwersten Kaliber nicht erschüttern können und die dieses grausige Völkergewitter meinem Bewußtsein als ein blutiges, aber vorübergehendes Kapitel einreihen, wäre es nicht so, sage ich, so würde ich jetzt kapitulieren und bekennen, daß diese Erde, auf der wir leben, schon die Hölle ist, von der die Pfarrer immer sprechen.
Das Geschützgewitter kracht in den Bergen.
„Nun wird er lebhaft,“ sagt der Divisionär in aller Ruhe, „es wird nicht lange dauern, da schießt er hierher.“
Eine Granate saust über unsere Köpfe dahin wie eine blitzschnelle bösartige Riesenbremse, und auf der Waldhöhe, dicht gegenüber, steigt urplötzlich eine schwarze Riesenpinie aus Dreck und Rauch empor, höher als die höchsten Eichen. Eigentümlich, die schwarze Einschlagsäule stand schon im Wald, während das Ohr noch das Zischen des Geschosses aufnahm. Ein grauer Rauchklumpen zerstäubt zwischen den Bäumen. Dann kommen ein paar Granaten mit Brennzünder. Er tastet nach unseren Batterien.
„Na, was sagte ich!“ sagt der Divisionär und lacht. „Da kann er lange hinschießen.“
Und unsere Haubitzen krachen, daß der Boden bebt.
Zwischen den Eichen, wo eben die Granaten einschlugen, klettert ein Soldat den Wald herunter. Zum Teufel, was hat er da zu suchen?
Der Divisionär erzählt aus seinen Feldzugserlebnissen, von den Argonnen, von seinen prachtvollen Truppen. (Ja, das sind sie!) Er erzählt, daß er einen Fonds für die Hinterbliebenen seiner Division gegründet habe, der schon die Höhe von über dreißigtausend Mark erreicht habe. Wir plaudern, als säßen wir irgendwo behaglich bei einer Zigarre.
Nebenan, im Verbandplatz, ist schon alles bis aufs letzte vorbereitet. Hier führt ein freundlicher Arzt den Oberbefehl. Er sprüht von Leben und Arbeitseifer und steht sicherlich auf dem rechten Platze. Welch eine Wohltat muß es sein, verwundet aus dem Gefecht unter diese Hände und Augen zu kommen! Operationstisch, Verbandzeug, Instrumente, alles ist bereit, blitzblank sind die kleinen Kammern. Die Ärzte warten.
Der Jäger zu Pferde führt mich durch den Wald hinauf zu einer kleinen Baude. Hier haust während des Kampfes der Brigadegeneral v. K. mit seinem Stabe. Der General heißt mich willkommen und erlaubt mir, zu bleiben, solange ich will. Freundlicher wurde ich selten aufgenommen wie bei den Leuten im Argonner Wald.
Hier in dieser Baude wird fieberhaft (und doch mit welcher Ruhe!) gearbeitet. Der Adjutant, Hauptmann B., sitzt dauernd am Telephon. „Geben Sie mir diese und jene Stelle, rufen Sie Herrn Soundso! Wie? Das Feuer liegt vorzüglich. – Bei den Franzosen hat man eine Explosion beobachtet. Es wird ein Munitionslager in die Luft gegangen sein. – Teilen Sie Herrn X. Y. mit, daß die Batterie Z. glänzende Resultate hat. Ein Flieger hat es gemeldet. Erster Schuß saß sofort in Harazée (ein kleines Dorf), ebenso erster Schuß in Vienne-le-Château. Jawohl, danke schön. – Ich werde jetzt auf diesen und jenen Punkt feuern lassen. Es liegt Meldung vor, daß der Franzose versucht, da und dort Verstärkungen vorzuschieben.“
Das Telephon tutet. Ohne Pause geht es so fort.
Das kleine Fenster der Baude rasselt bei jedem Geschützschlag. Draußen scheint die Sonne. Die Granaten rauschen mächtig dahin. Zuweilen summt es in der Luft oder es klingt klirrend, wie wenn eine Stahlseite zerspringt, es pfeift: Sprengstücke, verirrte Kugeln, die durch den Wald fliegen.
Das Feuer hat um etwas nachgelassen, aber es ist noch immer ein infernalisches Dröhnen und Krachen.
Das Telephon tutet. „Jawohl?“ Das Regiment X. meldet, daß unser Feuer zu kurz liegt und die eigenen Gräben gefährdet. – „Das ist unmöglich,“ antwortet der Adjutant. „Es werden feindliche Einschläge sein.“ Er bekam recht. Ein paar Minuten später geht die Meldung ein, daß zwei feindliche Flieger in der Luft sind und das Feuer der Artillerie auf den betreffenden Graben lenken. „Ich werde einen Flieger hochschicken!“ antwortet der Adjutant. Eine andere Stelle muß schon Meldung gemacht haben, denn fünf Minuten später brummt ein deutscher Doppeldecker hoch oben über den Wäldern.
Wir essen zu Mittag: „Denn essen muß der Mensch, trotz allem.“ Der Adjutant sitzt in der engen Stube mit dem Rücken gegen das Telephon, um nur die Hand nach dem Hörer ausstrecken zu müssen. Dutzendmal wird er unterbrochen, aber doch findet er noch Zeit, mir zuzureden und nachzusehen, ob mir auch ja nichts fehlt.
Gegen elf Uhr schwillt das Feuer wieder zur früheren Raserei an. Die Geschütze taumeln vor Grimm. Immer hinaus, was die Rohre hergeben können! Dann kracht der Wald von furchtbaren Explosionen: die Minen wurden gesprengt. Die Erde zittert.
Und nun ist es elf Uhr. Jetzt müssen sie aus den Gräben! Es sind Minuten der größten Spannung.
Ja, nun steigen sie aus den Gräben! Auf der ganzen Linie von zwei Kilometern.
Über die Ausfallstaffeln klettern sie empor, durch die Sappen stürzen sie sich gegen den Feind. Handgranaten am Gürtel, Rauchmasken, Schutzschilde, eine Handgranate in der Rechten, fertig zum Abreißen, das Gewehr über der Schulter, bereit zum Schuß, bereit zum Zuschlagen. Die Kugeln schwirren.
Ein Mann fällt, während er sich aus dem Graben schwingt, ein Mann fällt auf den Grabenwall, ein Mann fällt nach drei Schritten – aber die Kameraden stürmen weiter, mit Hurra und Geschrei, hinein in Dunst und Rauch.
Der Gegner ist zusammengetrommelt, aber keineswegs erledigt. Aus Grabenlöchern feuert er, aus Granattrichtern, mitten in Schutt und Erde richtet er das Maschinengewehr, das noch intakt ist. In einer Sappe hat er sich zusammengedrängt, die Handgranaten krachen, weiter! Es fällt der Mann im Dunst, im Rauch. Ein paar Grenadiere bringen ein feindliches Maschinengewehr in Stellung. Sie fallen. Weitab sind schon die Kameraden. Vorwärts! Es fällt der Offizier.
Auf einer Linie von zwei Kilometern branden sie so vor. Heiß ist der Nahkampf. – –
Unsere Gedanken sind oben bei ihnen, unsere Wünsche, unsere Hoffnungen und unsere Angst. Die Spannung schmerzt, im Herzen, im Gehirn. Wird es gelingen? Im ganzen Umfang? Und wird es mit geringen Opfern gelingen?
Es ist ganz still in unserer Baude.
„Wollen wir hören, ob viel Infanteriefeuer hörbar ist. Denn das bedeutet nichts Gutes,“ sagt der General, und wir treten hinaus.
Es ist fast gar kein Infanteriefeuer vernehmbar. Es steht gut! Die Geschütze krachen und wettern ohne Pause. Sie schießen nun natürlich nicht mehr auf Marie-Thérèse, sie feuern auf die feindlichen Batterien und Zugangswege. Die feindlichen Einschläge krachen in den Wäldern. Aber durch die kurzen Pausen des Krachens hindurch lauschen wir gespannt nach oben. Nur vereinzelte Schüsse. Da beginnt ein Maschinengewehr hohl zu klopfen.
„Ein französisches Maschinengewehr! Das ist schrecklich!“ sagt ein Offizier leise vor sich hin.
Aller Herzen sind oben bei ihnen, die jetzt kämpfen für die deutsche Sache.
Es kommt die Meldung, daß alles gut stände. Wir atmen auf.
Elf Uhr dreißig Minuten trifft die erste bestimmte Meldung ein. Das Regiment X. hat zwei Gräben genommen, gegen hundert Gefangene. Es geht gut vorwärts.
Der Adjutant sitzt am Telephon, und sobald er eine Meldung entgegengenommen hat, teilt er sie uns mit.
Elf Uhr vierzig Minuten. Das Regiment Y. hat ein paar Gräben überrannt, eine Anzahl Gefangene, Maschinengewehre, Minenwerfer. Es sind die Leute von der Eselsnase, bei denen ich heute morgen war. Das Regiment ist berühmt und gefürchtet beim Gegner.
Ein anderes Regiment meldet, daß es infolge starken Artilleriefeuers nur mühsam aus dem Graben kam, jetzt aber rasche Fortschritte mache. Leider einige Offiziere gefallen. Kompanieführer X., Leutnant Z. – Vor ein paar Stunden sprach ich noch mit ihnen.
Der General blickt vor sich hin und holt tief Atem.
Es ist Krieg, Krieg, man darf es nicht eine Minute vergessen.
Meldung um Meldung. Das Regiment Z. meldet, daß es einhundertundfünfzig Gefangene gemacht habe. Punkt erreicht. Anschluß an Nachbarregiment.
Die Meldungen lauten alle gleich günstig. Hundert Gefangene, zweihundert, dreihundertfünfzig – kein Zweifel: der Angriff ist geglückt. Wir haben gewonnen!
Um zwölf Uhr meldet der Bursche: „Herr General, die ersten Gefangenen!“
Wir sehen einander erstaunt an. „Schon,“ sagt der General, und wir gehen durch den Wald, hinüber zum Knüppelweg.
Da stehen sie. Drei Stück. Verschwitzt und bestaubt kommen sie aus den Gräben. Sie machen einen jämmerlichen Eindruck. Einer trägt ein Käppi. Er ist ganz grau, Bretone, einundvierzig Jahre alt. Seine schmutzigen groben Hände zittern vor Erregung. Die beiden anderen sind junge Burschen, gegen zwanzig, klein, schwarzhaarig, mit runden schwarzen Glotzaugen. Sie tragen blaugraue Stahlhelme auf den runden Köpfen, Helme, die den alten Sturmhauben des Mittelalters ähneln und ganz neu sind. Die Burschen gefallen mir nicht. Und als ich anfange, sie auszufragen, bekommen sie auch sofort Streit. Einer wirft dem andern vor, sich im Unterstand versteckt zu haben. Sie hatten es eilig, in Gefangenschaft zu geraten, das kann ich sehen. Es sind Leute aus Toulouse.
„Was wird man mit uns tun?“ fragt einer der Tapferen mit dem Stahlhelm mit einem ängstlichen Blick.
„Man wird euch in ein Lager nach Deutschland schicken,“ antworte ich. Er ist befriedigt. Was dachte er denn –??
Nun aber wimmelt es auf dem Waldweg. Eine Feldbahn führt in der Nähe vorüber. Darauf laufen Karren, von vier Krankenträgern geschoben, und auf den Karren sitzen und liegen die Verwundeten. Auf einer Karre hockt oben ein junger Franzose und jammert und stöhnt in gleichen Zwischenräumen. Sonst hört man nur selten einen Schmerzenslaut.
Eine Bahre wird vorübergetragen. Ein Feldgrauer liegt ausgestreckt darin.
„Wo fehlt’s?“ fragt der General.
„Beinschuß!“
„Nun, immer rasch zum Verbandplatz.“
Eine zweite Bahre wippt auf den Schultern der Träger vorüber. Bleich und still liegt darin ein Franzose.
Leichtverwundete kommen allein an. Der General hat für jeden ein ermunterndes Wort, einen freundlichen Zuruf. „Was ist mit Ihnen?“ fragt er einen Grauen, dessen rechte Hand in blutigem Verbandzeug steckt. „Granatsplitter.“ – „Na, es wird nicht so schlimm sein. Wissen Sie den Verbandplatz? Gleich da drüben.“ Wie ein Vater spricht der General seinen Leuten zu. „Wie steht es oben?“ – „Wir haben drei Gräben genommen, Herr General!“ – „Na, das ist prachtvoll. Immer rasch zum Verbandplatz.“
Bahren, Karren.
Ein Grenadier mit verbundenem Arm, gestützt von einem Krankenträger, kommt festen Schrittes, stolz und aufgerichtet des Weges, obschon ihm Schmerz und Schrecken im Gesicht sitzen. Ein Lob des Generals läßt seine Miene aufleuchten.
Auf einer Karre sitzt ein Verwundeter. Sein Kopf ist nichts als ein weißes Knäuel mit blutigen Flecken. Aber er sitzt mit verschränkten Armen, ganz behaglich.
So strömt es unaufhörlich vorüber, und die Granaten rauschen und zischen ohne Pause über den Wald.
Ein Grauer, mit blutigem Kopfverband, tritt an den General heran und schlägt die Absätze zusammen.
„Wo kann ich Herrn Major Soundso sprechen? Ich habe eine Meldung zu machen.“ Das Blut tropft dem Tapferen übers Gesicht.
„Was soll es sein?“
„Das Regiment hat drei Gräben genommen und über zweihundert Gefangene.“
„Ich werde es bestellen lassen. Aber nun schauen Sie, daß Sie sich mal erst ordentlich verbinden lassen.“
Der Graue klappt mit den Stiefeln. Ab. Ja, was für Leute das sind!
Ein anderer kommt vorbei, den Kopf verbunden. Er war schon vor dem Sturm verwundet worden, machte aber noch den ganzen Angriff mit.
Die Gefangenen fluten in dichten Zügen heran. Sie werden aufgestellt und gezählt. Fast alle tragen diese blaugrau angestrichenen Stahlhelme. Vereinzelte nur tragen Käppis oder haben sich ein Schnupftuch um den Kopf gebunden. Sie sind schmutzig, verwildert, zerfetzt und verstaubt, stumpf, bleich und erschöpft und kleinlaut, wie alle Soldaten, die aus der Schlacht kommen und in Gefangenschaft gerieten. Aber sie machen einen weitaus besseren Eindruck als die ersten drei. Es sind Leute teils aus den nördlichen Departements, Bretagne, teils aus dem Süden, Toulouse, Nîmes, Marseille. Manche rauchen schon wieder ihre Pfeife oder den Zigarettenstummel. Einer trägt einen halben Laib Brot, einer eine Decke. Sie zeigen die Photographien ihrer Frauen und Kinder und fragen, ob sie sie behalten dürfen. Natürlich dürfen sie das! Zuweilen schütteln sich ein paar die Hand, die sich hier wiederfinden. Es ist ein langes, bedeutsames Händeschütteln!
Manche sind verwundet und tragen Verbände. Einem ist die Hand zerschmettert, dem anderen hat eine Kugel den Arm durchschlagen.
Der General steht und läßt die Augen über die Kolonnen schweifen. Sobald er einen Verwundeten sieht, läßt er ihn herankommen, fragt, forscht: „Ulan, bringen Sie den Mann zum Verbandplatz.“ Aus jeder Kolonne scheidet ein Trüppchen Verwundeter aus und hinkt, humpelt und taumelt hinter den Führern her.
Aber der General hat seine Augen überall. Er sieht auch, was hinter den Kolonnen vorbeikommt, ruft, ermuntert, lobt.
Da kommt auch mein Grenadier mit den zwei Postpaketen am Gewehr zurück. Heute morgen sah ich ihn in die Gräben hinaufgehen. Da ist er wieder. Eine Handgranate hat ihn leicht am Gesicht verletzt. Er hatte gar nicht Zeit, seine Paketchen zu öffnen.
Es werden immer mehr Gefangene. Es sind ganze Züge und Kompanien – und auf der anderen Seite des Berges soll es auch in die Hunderte gehen!
Der General kann unmöglich alle übersehen, und so gehe ich die Kolonnen entlang und suche die Verwundeten heraus. – „Herr General, hier ist ein Mann mit einem Armschuß.“ – „Ulan, zum Verbandplatz.“ – Väterlich sorgt der General für den Feind. Sein Ton ihnen gegenüber ist freundlich und schlicht.
Ein Gefangener fragt mich, ob er nicht ebenfalls verbunden werden könnte. Ich sehe ihn an, er sieht etwas erschrocken aus, aber ich sehe keine Verwundung. Er hat Schüsse da unten, sagt er. Augenblicklich läßt er die Hose herunter, und ich sehe, daß er einen Schuß im rechten Oberschenkel und einen über dem Gesäß hat.
Ich führe ihn zum General. Auch hier will er sofort die Hose herunterlassen, aber der General glaubt ihm so.
„Nehmen Sie den Mann da noch mit, Ulan. Stützen Sie ihn, so, immer vorwärts.“
Kolonnen um Kolonnen ziehen vorbei. Jetzt, um ein Uhr, sind schon eintausendvierhundert Gefangene gemeldet. Im ganzen wurden es zweitausend. Immer neue strömen aus dem Wald. Karren, Bahren, Verwundete. Nie werde ich diesen Weg im Argonnerwald vergessen.
Vor dem Verbandplatz liegen und stehen die Verwundeten herum. Sie sind ruhig und fühlen sich geborgen. Die Ärzte sind drinnen an der Arbeit. Ich sehe, wie der freundliche, lebenslustige Chefarzt ernst und hingegeben einen blutigen Lappen mit der Schere abtrennt.
Das ist die Kehrseite von Hurra und Siegesjubel. Es ist Krieg, man darf es nicht vergessen.
Die Geschütze dröhnen, die Einschläge krachen, die Granaten gurgeln und pflügen durch die Luft. Verirrte Kugeln und Sprengstücke surren und klirren. Zwischen den Bäumen wandern wie eine blaugraue Schlange die Gefangenen.
Droben in den Gräben aber geht es weiter, heiß und blutig. Die eroberten Gräben müssen instand gesetzt, Schutzschilde und Sandsäcke auf die andere Seite gebracht werden. Die Gewehre peitschen, Maschinengewehre hämmern, der Kampf geht weiter. Bis die Nacht kommt, und auch in der Nacht wird es keine Ruhe geben.
Wir fahren los und jagen quer durch die Argonnen, um zu hören, wie es auf der anderen Seite des Berges ging.
Auch auf der anderen Seite des Argonnerwaldes war alles nach Wunsch gegangen. Wie auf der Eselsnase waren die Tapferen auf der Hubertushöhe aus den Gräben geschnellt und hatten den Feind geworfen. Bis jetzt, nachmittags, hatten sie über achthundert Gefangene gemacht. Das ist eine hübsche Anzahl im Grabenkrieg!
Die krumme bucklige Straße des armseligen Argonnendorfes ist überschwemmt von blaugrauen Franzosen. Und oben erscheint schon eine neue Kolonne. Ein ganzes Bataillon ist hier versammelt. Die Bewohner des Dorfes stehen vor den Haustüren und begaffen ihre Landsleute. Zuweilen habe ich in dem und jenem Orte gesehen, daß Frauen weinten, wenn Gefangene vorübergeführt wurden. Hier nehmen sie es gelassen. Hunderte und Tausende sind schon aus den Wäldern herunter in ihr Dorf gekommen.
Fast alle tragen den blaugrau gestrichenen Stahlhelm, der tief über den Kopf gestülpt ist, so daß sie gerade noch geradeaus blicken können. Einzelne haben ihn verloren oder fortgeworfen und sich Sacktücher über den Kopf gebunden. Einer trägt nur das Lederfutter des Helmes. Der Helm gibt ihnen allen ein ungewohntes und leise komisches Aussehen. Ich bin sicher, daß es drüben bei ihnen großes Gelächter und Scherzen gab, als die ersten mit diesem Möbel anrückten. Viel Wert kann der Helm nicht haben. Dafür ist er zu dünn. Gegen Splitter, Steinschlag höchstens, aber das würde auch der Schädel aushalten. Immerhin ist er schwer genug, um dem Mann das Schwitzen beizubringen. Sie schwitzen alle jämmerlich, die armen Burschen.
Sie sind zumeist erschöpft und abgestumpft vom Kampf. Groß, klein, Grauhaarige, halbe Knaben, ernste Männer und unreife Bengel, schwarzäugig, blauäugig, hager und rund, Bärte, Milchgesichter, alle verschieden groß. Die blaugrauen Rockärmel voller Lehm und Schmutz, die Schuhe zerweicht, die Wickelgamaschen zerrissen. Sie kommen aus der Schlacht, das muß man festhalten, die Ausrüstung ist jedenfalls gut. Einzelne tragen rote Wollschärpen um den Leib, andere Wollwesten, einer steckt in einem blauen Arbeiteranzug. Die Verwundeten sind schon alle ausgeschieden. Einzelne nur haben Verbände an Hand oder Kopf, leichte Schrammen. Sie kauen, rauchen, kramen die paar Habseligkeiten aus der Tasche, die sie aus der Katastrophe retteten. Manche lachen schon wieder. Sie sind eine etwas zusammengewürfelte Gesellschaft, ohne jeden Zweifel. Zumeist vom Süden. Sie sollen sich indessen wacker geschlagen haben.
Abseits stehet ihr Bezwinger: der Kronprinz und der Kommandierende, und betrachten sie und tauschen Beobachtungen aus.
Der Kronprinz tritt an zwei junge Burschen heran, die sich aus den Tabakresten ihrer Hosentaschen Zigaretten drehten und kein Feuer haben. Er reicht ihnen seine Streichholzschachtel und spricht sie an. Nun, besonders gute Manieren haben die zwei jungen Bengel nicht, es sind Hafenarbeiter aus Toulouse. Sie plaudern lebhaft, paffen und lachen. Sie sind froh, aus der Sache heraus zu sein, sie machen kein Hehl daraus. Aber der Kronprinz spricht mit ihnen, freundlich und schlicht, wie er mit seinen eigenen Soldaten redet. Sie haben sich geschlagen für ihr Land, der Tod ging da oben hundertfach dicht an ihnen vorüber, es kommt also hier nicht so sehr auf die Manieren an.
Links, ein paar Schritte abseits von den dichtgedrängten Reihen der schwitzenden, schmutzigen Gefangenen, steht eine Gruppe gefangener Offiziere. Ihre Haltung ist würdig. Die Uniform ist einfach, weit und bequem geschnitten, es ist nahezu die Uniform des gemeinen Mannes. Keine Dekorationen, keine Abzeichen. Am Ärmelaufschlag zwei schmale, drei Zentimeter lange wagrechte verblaßte goldene Borten, das ist alles. Für die Eitelkeit ist diese Uniform nicht geschaffen, das kann niemand behaupten. Sie tragen blaugraue Käppis. Wohin ist die prunkvolle Maskerade des französischen Heeres gekommen?
Ernst und nachdenklich sehen sie vor sich hin. Qualvoll und demütigend ist ihre Situation, obschon jedermann bestrebt ist, ihre Gefühle zu respektieren. Ein Offizier, der äußerste, ist blaß wie eine Wand und vollkommen erschöpft. Sein Blick geht ins Leere. Neben ihm steht ein junger Leutnant, keine vierundzwanzig, mit vornehm geformten energischen Zügen. Die Muskeln seines Gesichtes zucken, er blickt zum Himmel empor, zur Erde herab, er nagt an der Lippe, er kämpft mit den Tränen.
Sie alle leiden. Aber ihre Leute fangen an, sich mehr und mehr mit der Lage abzufinden. Sie schwatzen und lachen. Sie sind allzu eifrig, mir zu erklären, daß „sie sich beglückwünschen“, aus der Sache heraus zu sein. Jeder beglückwünscht sich. Je me félicite –! „Ja, da oben ging es schlimm zu, große Verluste. Ich wurde verschüttet, grub mich aus, mit Hilfe eines Kameraden. Da waren die Deutschen schon da, überall, wir sehen einen Trupp Gefangener und laufen hin. Ihr Angriff war gut gemacht, chic! Ich beglückwünsche mich, offen gestanden.“
Ich nehme einen jungen, intelligent aussehenden Burschen zur Seite, gebe ihm eine Zigarette und plaudere mit ihm. Er stammt ebenfalls aus dem Süden. Er war in einer Sappe, die zugeschüttet war, die Deutschen warfen Handgranaten hinein, sie selbst schossen heraus, Geschrei, Rauch, schon war er gefangen. Er breitet die Arme aus und deutet auf die Landschaft: „Ich sehe mein Land, ich sehe alles in bester Ordnung. Ich sehe hier das Dorf und die Leute, es ist alles sauber, die Felder sind bestellt, Vieh gibt es hier. Und man hat uns gesagt, daß die Deutschen alles plündern und niederbrennen. Ich traue meinen Augen nicht.“ Gleich darauf beglückwünschte auch er sich.
Ich gebe ja jedem Soldaten das Recht, sich zu freuen, daß er lebendig aus der Schlacht kam, denn selbst der Tod fürs Vaterland ist schwer, so leicht er auch vielen Leuten erscheint, die nie eine Granate sausen hörten – allein, es ist schließlich nicht nötig, daß er die Gefangenschaft als die beste Lösung preist. Es ist auch nicht nötig, daß sie mir erzählen, ihre höheren Offiziere hätten Reißaus genommen, denn es ist nicht wahr, das weiß ich von anderen.
Ich habe schon bessere französische Regimenter gesehen.
Immer neue Gefangene strömen ins Dorf. Über den Wäldern wird ein feindlicher Flieger beschossen. Die Geschütze krachen und pochen noch immer wütend. Gegen Abend steigert sich das Feuer mehr und mehr, und in der Nacht rollt es pausenlos und zornig. Trommelfeuer.
Am Morgen sehe ich die Gefangenen abmarschieren. Ein langes blaues Band schlängelt sich ins Tal. Der junge Offizier hat sich gefaßt und schreitet still und ergeben wie ein Leidtragender in einem Trauerzug hinter den blauen Stahlhelmen her.
Eine Stahlhaube ist neben einem Baum liegen geblieben.
Da eilt ein französischer Hauptmann aus dem Dorf hervor. Er hat sich verspätet. Sein Kopf ist verbunden, ich habe ihn gestern nicht gesehen. Er geht eilig auf den Jäger zu Pferde zu und schüttelt ihm die Hand, erschüttert, gebrochen, verzweifelt, wie man in schwerem Leid einem Freund die Hand schüttelt, sicher seines Verstehens, Vertrauens, Glaubens. Es gibt Beziehungen zwischen den Völkern, die alle Diplomatie, mangelhafte und perfide, nicht zerstören kann.
„Trösten Sie sich,“ sagt der Jäger zu Pferde, „es ist der Krieg!“
Der Hauptmann antwortet nichts, er schüttelt gebrochen den verbundenen Kopf, und mit verzweifelten großen Schritten stürzt er seiner Truppe nach. –
Die Schlacht ist zu Ende, die Schlacht ist gewonnen. Zweitausend Gefangene, große Beute, auf einer Front von zwei Kilometern der Feind zurückgeworfen. Es ist ein großer Erfolg. Nehmt den Hut ab vor den Argonnenkämpfern!
Aber wie erstaunt war ich, im französischen Bericht zu lesen, daß es wieder einmal nichts war. Die Armee des Kronprinzen hatte überhaupt keinen Erfolg errungen. Zwei mißglückte Angriffe – unser Bericht enthalte phantastische Zahlen, es sei klug, diese Zahlen in derartigen Fällen immer durch zehn zu dividieren. – –
Großes Frankreich, dein Erbe ist in bedenkliche Hände geraten. Dein Geist ist bei deinen Erben zur Phrase geworden und die Phrase zur Lüge.
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
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Die Geschichte einer Sehnsucht. (Fischers Romanbibliothek.)
Gebunden 1 Mark, in Leinen 1 Mark 25 Pfennig.
Die Geschichte einer Sehnsucht ist es, die der Verfasser erzählt – einer zarten, zitternden, tastenden Sehnsucht. Einer so verzehrenden, wahnwitzigen, ungeheuerlichen Liebessehnsucht, wie sie nur ein Dichter, ein Auserwählter unter den Menschen, zu einem auserwählten, seltenen, wundervollen Weibe empfinden kann. – Wunderbar ergreifend ist der Schluß. Ein Dichter hat dies Buch geschrieben. Ein wirklicher Dichter. Mit sanfter, zagender Hand sind die letzten Hüllen von menschlichen Seelen gezogen. Und doch erscheint alles wie durch zarte Schleier, von einem seltsamen matten Glanz umsponnen. Letzte Menschlichkeiten werden aufgedeckt. Feines, Leises wird gegeben, wie mit dem Silberstift gezeichnet.
(Königsberger Allgemeine Zeitung)
Ingeborg
Roman. 30. Auflage. Geheftet 4 Mark, gebunden 5 Mark.
Ganz trunken von Schönheit und Schmerz ist das Buch. Es schlägt Töne an, die man schwer vergißt ... Selten ist etwas Glühenderes und Sanfteres geschrieben worden wie die Schilderung dieser Liebe. Eine erhobene Sprache geht durch die Blätter des Buches, ohne doch uns der Erde zu entrücken ... Wenig und einfach ist, was geschieht, aber die Feinheit und Intensität der Schilderung macht es zu einem Äußersten als Seelenerlebnis sowohl wie als Kunst.
(Der Tag, Berlin)
Frauen und Jünglinge, leset dies neue Buch – Ingeborg – diesen zweiten Roman von Bernhard Kellermann. Die Liebe lebt darin und die Romantik. Und der Wald lebt darin und alle Jahreszeiten. Jung ist es, ganz jung-jung, und das Blut macht es unruhig, es fiebert von Liebe. Mit einer kindlich zarten und zugleich unerhört verfeinerten Gabe wird hier von den heiligsten und besten Dingen gesprochen. Von Gott, von der Liebe, vom Wald ... Ich will mich mit diesem Buche nicht allein freuen. Jedem möchte ich es in die Hände drücken, der überhaupt noch einen Roman lesen kann.
(Die Zeit, Wien)
Der Tor
Roman. 14. Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark.
Die Leser von „Ingeborg“ werden ihren Dichter in diesem Buche wiederfinden, aber er wird ihnen als ein Größerer begegnen, reifer und reicher geworden in den wenigen Jahren, die zwischen den beiden Werken liegen. Sein Blick hat sich von den wolkengleich umrissenen Gestalten der Liebeslegende tiefer erdenwärts gewandt und schaut jetzt den Kreaturen des täglichen Lebens zu, wie sie, gehämmert, zerstoßen und verkrümmt von der Unerbittlichkeit der Verhältnisse, ihr Dasein zu Ende führen. Der Tor ist ein junger, reiner Mensch, der in einem Städtchen auftaucht, um das Unrecht zu sühnen, das Menschen an einer Verstorbenen geübt haben. Bald sieht er ein, wie vieles es im kleinsten Kreise gutzumachen gibt, woran die Menschen keine Schuld haben, und sein Drang weist ihm den Weg zu den Hütten der Elendesten, Bejammernswertesten. So ist auch dies Buch ein Buch der Liebe geworden, aber der Liebe des einen zu allen.
(Hannoverscher Kurier)
Das Meer
Roman. 18 Auflage. Geheftet 4 Mark, gebunden 5 Mark.
Es ist ein Werk, das man mit Ehrfurcht und Freude aus der Hand legt, im sicheren Bewußtsein, einen Schatz gefunden zu haben, von dem man immer wieder gern genießen wird. Ein kulturmüder Mann lebt einen Sommer hindurch auf einer bretonischen Fischerinsel. Er versinkt ganz in dem kräftigen, urwüchsigen Dasein dieser einsamen Welt. Trinkt, flucht, liebt und haßt wie die Bewohner der Insel, die gleich abgeschlossen ist von den Moralbegriffen wie dem Rechtsempfinden der Welt da draußen ... Manchem wird die wilde Schönheit unverständlich bleiben, manchen wird auch die feinste Sprachkunst nicht darüber hinwegsetzen, daß es immer wieder nur das Meer ist – und nur das Meer, von dem er lesen muß. Wer sich aber in dies Werk ernstlich vertieft, dem wird es seine Mannigfaltigkeit wohl erschließen. Und er wird meine Freude darüber teilen, daß auch einem Deutschen der Entdeckerflug in die unbekannten Reiche der Natur gelungen ist, der bisher Männern wie Kipling oder Loti vorbehalten schien. Nur daß Kellermanns Empfindung wärmer, seine Anschauungskraft stärker, seine Sehnsucht tiefer ist.
(B. Z. am Mittag, Berlin)
Der Tunnel
Roman. 120. Tausend. Geheftet 3 Mark 50 Pfennig, in Leinen gebunden 4 Mark 50 Pfennig, Geschenkband 6 Mark.
In diesem Buch rollt der Donner ungeheuerer moderner Maschinen. Weite und Welthorizonte sind in ihm. Aber alles wirbelt und tanzt und dreht sich, und man sieht nur große Konturen, sieht nur Massen, zusammengeballt und mit fortgerissen in der rasenden Bewegung dieser Zeit. Man spürt das unerhörte Tempo der Gegenwart, der heutigen Epoche, während man dieses Buch liest. Man spürt gleichsam die Erde ringsum vibrieren, als erbebe sie bis in ihren Grund unter der zugreifenden Gewalt des Menschen. Man spürt das Fiebern, Keuchen, Wüten und geniale Delirieren der unermeßlichen Arbeit, die rund um uns her verrichtet wird. Und das ist zuerst ein beklemmendes Gefühl, dann aber ein befreiendes Glücksbewußtsein. Man wird niedergedrückt und gleich darauf angefeuert, hoch emporgehoben und wie berauscht von Mut, von Entschlußfreude und Zuversicht und von Seligkeit, dieses schäumende Leben von heute mitleben zu dürfen.
(Neue Freie Presse, Wien)
Im gleichen Verlag ist erschienen:
Aage Madelung: Mein Kriegstagebuch
7. Tausend. Geheftet 2 Mark, in Leinen 3 Mark.
Die Schilderungen Madelungs zeichnen sich durch schmucklose, anschauliche Schlichtheit aus. Nicht immer ist der Krieg eine unerbittliche Trennung; hier ereignet es sich, daß ein germanischer Nordländer begeisterte, glühende Liebe zu einer ihm fernstehenden Nation faßt. Madelung wird enthusiastisch, sowie er von Ungarn und den Ungarn spricht.
(Wiener Zeitung)
Aage Madelung:
Jagd auf Tiere und Menschen
5. Tausend. Geheftet 4 Mark, gebunden 5 Mark.
Ein Urwaldmensch und ein Raffinierter. Welch seltsamer Widerspruch! Und ebenso widersprechend: in Sumpf und Moor ein wilder, weidlüsterner Jäger, und dann, am einsamen Reisigfeuer, ein vor sich hingrübelnder kosmischer Philosoph. Diesen Menschen muß man näher kennen lernen. Man findet seinesgleichen nicht alle Tage.
(Neue Freie Presse, Wien)
London und Paris im Krieg
Reiseerlebnisse in Kriegszeit von Norbert Jacques
17. Tausend. Geheftet 1 Mark 50 Pfennig, gebunden 2 Mark.
Das Buch ist Impressionismus in bestem Sinn; das gibt ihm einen hohen dokumentarischen Wert in alle Zukunft für den franko-englischen Gemütszustand im allgemeinen und für das französische Delirium im speziellen.
(B. Z. am Mittag, Berlin)
Sammlung von Schriften zur Zeitgeschichte
Jeder Band gebunden 1 Mark
1. | Band: | Aus den Kämpfen um Lüttich. Von einem Sanitätssoldaten. |
2. | Band: | Weltwirtschaft und Nationalwirtschaft. Von Franz Oppenheimer. |
3. | Band: | Der englische Charakter, heute wie gestern. Von Theodor Fontane. |
4. | Band: | Preußische Prägung. Von Lucia Dora Frost. |
5. | Band: | Friedrich und die große Koalition. Von Thomas Mann. |
6. | Band: | Die Fahrten der Emden und der Ayesha. Von Emil Ludwig. Mit 20 Abbildungen. |
7. | Band: | In England – Ostpreußen – Südösterreich. Von Arthur Holitscher. |
8. | Band: | Der deutsche Mensch. Von Leopold Ziegler. |
9. | Band: | Russischer Volksimperialismus. Von Karl Leuthner. |
10. | Band: | Die Flüchtlinge. Von einer Reise durch Holland hinter die belgische Front. Von Norbert Jacques. |
11. | Band: | Zwischen Lindau und Memel während des Kriegs. Von Paul Schlenther. |
12. | Band: | Deutsche Kunst. Von Karl Scheffler. |
S. Fischer · Verlag · Berlin
Anmerkungen zur Transkription
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