The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 13: Politische Schriften, by Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Title: Sämtliche Werke 13: Politische Schriften
Author: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Editor: Arthur Moeller van den Bruck
Translator: E. K. Rahsin
Contributor: Dmitri Mereschkowski
Release Date: January 24, 2022 [eBook #67241]
Language: German
Produced by: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.
F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
Unter Mitarbeiterschaft Dmitri Mereschkowskis
herausgegeben von Moeller van den Bruck
Übertragen von E. K. Rahsin
Erste Abteilung: Dreizehnter Band
F. M. Dostojewski
Eingeleitet von den Herausgebern
R. Piper & Co. Verlag, München
R. Piper & Co. Verlag, München, 1917
Zweite Auflage
Drittes bis fünftes Tausend
Copyright 1917 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
Verlag in München
Herrosé & Ziemsen, G. m. b. H., Wittenberg.
Seite | |
Zur Einführung | |
Die politischen Voraussetzungen der Dostojewskischen Ideen. Von Moeller van den Bruck | VII |
Die religiöse Revolution. Von Dmitri Mereschkowski | XXIX |
Vorwort | LIII |
Erster Teil. Westeuropäisches | |
Gedanken über Europa | |
Republik oder Monarchie | 3 |
Parteimenschen | 15 |
Frankreich und Deutschland | 24 |
Frankreich und die Kultur | 26 |
Deutschland und Rom | 32 |
Frankreich, die Republik und der Sozialismus | 39 |
Katholizismus und Sozialismus | 47 |
Drei Ideen | 55 |
Die deutsche Weltfrage | |
Deutschland, die protestierende Macht | 65 |
Ein genial-mißtrauischer Mensch (Bismarck) | 72 |
Ärger und Macht (Papstmacht) | 79 |
Das schwarze Heer. Die Meinung der Legionen als neues Element der Zivilisation | 88 |
Ein ziemlich unangenehmes Geheimnis (Ausblicke) | 94 |
Die Lage Frankreichs | |
Unselige Pechvögel (Französische Republikaner) | 101 |
Ein merkwürdiger Charakter (Mac-Mahon. Französische Reaktionäre) | 109 |
Die katholische Verschwörung | 116 |
Österreichs gegenwärtige Gedanken | 129 |
Zweiter Teil. Russisches | |
Vom russischen Volk | |
Davon, daß wir gute Menschen sind. Die Ähnlichkeit der russischen Gesellschaft mit dem Marschall Mac-Mahon | 147 |
Von der Liebe zum Volke. Der unumgänglich notwendige Vertrag der Gesellschaft mit dem Volke | 153 |
Der Bauer Marei | 159 |
Einiges über den Krieg | 168 |
Mein Paradox | |
Das Paradox | 178 |
Das Ergebnis des Paradoxons | 187 |
Utopische Geschichtsauffassung | 190 |
Foma Daniloff, der zu Tode gemarterte russische Held | |
Foma Daniloff | 201 |
Die Versöhnungsmöglichkeit außerhalb der Wissenschaft | 210 |
In Europa sind wir bloß Landstreicher | 218 |
Eine der wichtigsten gegenwärtigen Fragen | |
Was sollen wir denn tun? | 225 |
Die brennende Tagesfrage | 233 |
Die Tagesfrage in Europa | 240 |
Die russische Lösung des Problems | 245 |
Ehemalige Landwirte – zukünftige Diplomaten | 252 |
Die Diplomatie vor den Weltfragen | 267 |
Niemals ist Rußland so mächtig gewesen wie jetzt, – eine nicht-diplomatische Auffassung | 272 |
Die römisch-klerikale Verschwörung in Rußland | 282 |
Russische Finanzen | 293 |
Die Meinung eines geistreichen Bureaukraten über unsere Liberalen und Westler | 324 |
Die Judenfrage | |
Vorbemerkungen | 334 |
Pro und contra | 340 |
Status in statu. Vierzig Jahrhunderte geschichtliches Dasein | 348 |
Doch es lebe die Brüderlichkeit! | 358 |
Die Beerdigung des Allmenschen | 363 |
Ein einzelner Fall | 367 |
Dritter Teil. Balkan und Orient | |
Idealisten oder Zyniker | 375 |
Früher oder später muß Konstantinopel doch uns gehören | |
Unser Verhältnis zum Orient | 383 |
Gedanken unserer Zeit | 390 |
Der Krieg | |
Wir sind die Stärksten | 400 |
Nicht immer ist der Krieg eine Geißel, zuweilen ist er sogar die einzige Rettung | 409 |
Rettet denn vergossenes Blut? | 414 |
Wie Rußlands „sanftester“ Zar die Orientfrage aufgefaßt hat | 420 |
Aus dem Buch der Weissagungen Johannes Lichtenbergers – aus dem Jahre 1528 | 422 |
Lüge sucht sich durch Lüge zu erhalten | |
Don Quijote | 429 |
Mollusken, die man für Menschen hält. Was ist für uns vorteilhafter: wenn man über uns die Wahrheit weiß, oder wenn man über uns Unsinn schwätzt? | 436 |
Zur Orientfrage | |
Lakaientum oder Zartgefühl | 445 |
Der größte Beweis unseres Lakaientums | 456 |
Ein ganz persönliches Wort über die Slawen, das ich schon lange habe sagen wollen | 463 |
Was man jetzt über den Frieden spricht. Muß Konstantinopel Rußland gehören, und ist das überhaupt möglich? Verschiedene Meinungen | 471 |
Vierter Teil. Asien | |
Die Asienfrage | |
Was ist Asien für uns? | 493 |
Fragen und Antworten | 501 |
Wir Russen sind ein junges Volk, wir fangen erst an zu leben, obgleich wir schon tausend Jahre alt sind: aber ein großes Schiff braucht auch ein tiefes Fahrwasser.
Dostojewski.
Die russische Politik ist immer wieder auf ihre byzantinische Grundidee zurückgekommen. Nur die Begründung dieser Idee hat durch die Jahrhunderte gewechselt. Und fast unterscheiden sich die einzelnen Zeitalter der russischen Geschichte wie die verschiedenen Formulierungen des byzantinischen Gedankens.
Diese Begründung war nacheinander machtpolitisch, kirchenpolitisch und panslawistisch, sie war zwischendurch bald das eine, bald das andere, oft mehreres zugleich – je nachdem, welche Persönlichkeiten und Gesichtspunkte, welche Kreise und Stimmungen die Begründung bestimmten. Macht verband sich freilich immer mit ihr. Es war für die Zaren eine besonders lockende Vorstellung, Selbstherrscher in der Stadt desselben Konstantin zu werden, der einst verkündet hatte, daß der Wille des Kaisers Kanon für das Volk sei. Ebenso fühlte sich die Beamtenschaft, die höfische und politische Bürokratie, schon durch ihre Gewaltneigungen zu der Stätte hingezogen, wo der Zeremonialstaat, aber auch der Polizeistaat entstanden war. In einem verwandten und nur geheiligteren Drange sehnte sich die Orthodoxie danach, wieder in die Stadt des ökumenischen Patriarchen einziehen zu können, in der vordem das erste Kyrie eleison erklang. Byzanz gab dem Russischen Reiche seinen theokratischen Stil. Wie die mittelalterlichen Deutschen aus Rom das Romanische herüberholten, so nahmen die Russen in Byzanz das Griechische auf. Während den Rumänen auf dem Balkan das freilich entartete und verkümmerte Erbe des Lateinertums zufiel, übernahmen die Russen für das Slawentum die reichere und stolzere Überlieferung des oströmischen Hellenismus. Byzanz wurde nach Rußland übertragen: und nicht nur in den Symbolen, sondern vor allem in den Instinkten und Prinzipien. Nach jener symbolischen Vermählung mit der letzten Palaiologin, die man Sophia hieß, wie die große Kathedrale von Ostrom, wurden Wappen und Herrschertitel, byzantinische Etikette, aber auch byzantinisches Patriarchat, Klerikalverfassung, Klosterleben, byzantinisches Recht, das an die Stelle des normannischen trat, nach Rußland hinübergeführt. Und so fest wuchs in Moskau die Autokratie mit der Orthodoxie zusammen, so sehr wurde das Byzantinische zur Grundlage des Reichsgefüges wie Volkstums, daß man es schließlich gar nicht mehr als Byzantinismus, sondern als autochthones, altheiliges, echtrussisches Gut empfand. Und schon diese kirchen- und machtpolitische Begründung begleitete ein nationalistisches Empfinden: Kyrill und die Slawenapostel, die Schöpfer des russischen Alphabets und der altslawischen Kirchensprache, vereinigten Russentum und Byzantinertum in einer slawophilen Gesinnung, die später, als Rußland in seine historischen Gegensätze zum europäischen Westen wie zum islamitischen Orient geriet, als panslawistisches Bewußtsein der russischen Politik ihr geschichtliches Ziel geben sollte: mit dem Besitz von Byzanz diese ganze Entwicklung abzuschließen.
Die Eroberung von Byzanz ist früh versucht worden. Es waren noch griechische Kaiser und bulgarische Zaren, die russische Großfürsten vom Balkan zurückschlugen. Dann kam die Zeit, in der die Mongolen über Rußland herrschten. Damals entschwand Byzanz völlig den russischen Blicken. Auf die Mongolen aber folgten im Süden von Rußland die Tataren und schoben sich trennend zwischen Moskau und den Balkan. Diesem Tatarengürtel, dem Khanat der Krim, das seine Macht um den nördlichen Rand des Schwarzen Meeres lagerte, verdanken die Balkanslawen heute, daß ihre Nationalität sich erhielt, die ohne diese Trennung vom Großslawentum in diesen Jahrhunderten der Russifizierung verfallen wäre. Als aber Moskau, als das Großrussentum, das im Großslawentum die politische Führung übernahm, wieder politische Bewegungsfreiheit erhielt und von neuem den Blick nach Byzanz hinüberwandte, da waren hier inzwischen große Veränderungen geschehen. Die Türken waren den Russen zuvorgekommen: Byzanz war mohammedanisch geworden. Kaum ließ sich in dieser Zeit das Schutzrecht über die Balkanslawen und Balkanchristen aufrechterhalten und wenigstens andeuten, das erst Peter der Große wieder gegen die Türkei ausgespielt hat, und das bis zum letzten russisch-türkischen Kriege von der russischen Politik bald mehr diplomatisch, bald mehr ideologisch ausgespielt worden ist. Es wurde früh Prinzip dieser Politik, Prinzip von Instinkten der Rasse, die ihre historischen Hemmnisse wie Möglichkeiten herauswitterte, sich immer auf der Linie des geringeren Widerstandes vorwärts zu bewegen: sinkender Staaten oder wilder, niederer, jedenfalls schwächerer Völkerschaften. Und vorläufig lag diese Türkei, der gelungen war, was Rußland versäumt oder verfehlt hatte, und die damals Ungarn, Polen, Wien bedrohte, entschieden nicht auf dieser Linie des geringeren Widerstandes, auf der die russische Politik ihre größten Erfolge erringen sollte. Vorläufig, in einer Zeit, als Europa in den Wirren der Religionskriege und Erbfolgestreite sich selber schwächte, als Österreich den Türkensturm auszuhalten hatte, die schwedische Politik zwischen Rußland und Polen als Gegner schwankte, Polen zerfiel, schien eher der Westen auf dieser Linie zu liegen. Und so füllte denn die russische Politik diese Zeit, in der sie vom Süden und Osten abgedrängt war, und in der abgewartet werden mußte, bis die Türkei schwächer wurde und sich allmählich jenes Prinzip des geringeren Widerstandes auch auf sie anwenden ließ, mit ihren Vorstößen nach Europa aus, die dem Russentum allerdings nur die Zwieschaften eines Westlertums in das Land und das Leben tragen sollten. Über der Gründung von Petersburg wurde die Eroberung von Byzanz vergessen. Doch blieb der Norden den Russen stets unheimlich, wie der Westen ihnen peinlich war. Nur Peter konnte wagen, den Norden zu zwingen. Peter war selbst ein nordischer Mensch, schon deshalb, weil er sich auch auf die unrussische Linie des größeren Widerstandes vorwagte, war ein letzter Waräger, im Temperamente vom Willensschlage und Schaffensdrange des Großen Kurfürsten, im Charakter mit strindbergischen Zügen grausamen Menschenmißtrauens. Aber sogar die Ostsee blieb den Russen immer fremd. Früh fühlten sie, daß das baltische Meer nie ein slawisches Meer werden würde, daß der Mensch der Steppe kein Mensch des Ruders ist. Im Kampf um die Ostsee wurde das Russentum nur an die Grenze des größeren Widerstandes abgedrängt, an der es schließlich Europa vor sich hatte, eine kulturelle und, aus ihr sich immer wieder ergebend, eine politische Überlegenheit, gegen die es nicht aufzukommen vermochte. Zwar suchte es die Grenze immer wieder zu überschreiten, aber nur, um neue Zwieschaften des Westlertums in sich aufzunehmen, die das Russentum auf Nachahmung stellten, und damit vor die Gefahr, sich von sich selber zu entfremden. Die Linie des geringeren Widerstandes konnte für Rußland immer nur in den Grenzenlosigkeiten von Osten und Süden liegen, dort, wo die slawische Welt sich einst mit der verfallenden antiken, jetzt mit der heraufgekommenen islamitischen mischte. Die russische Politik blieb daher, was sie war: eine Politik dieser Grenzenlosigkeit. Sie suchte die russische Herrschaft mit der Schrankenlosigkeit von Instinkten auszudehnen, die von der weiten Natur des russischen Landes in einem besonderen Maße gerechtfertigt, ja, herausgefordert zu werden schienen. Und ein einziges festeres, ein phantasmagorisches, freilich auch sehr realpolitisches Ziel in dieser orientalischen Grenzenlosigkeit, in deren Fernen die Wüste, Indien und Asien lag, war dann stets, bei europäischer Nähe und russischer Erreichbarkeit, die Stadt des Konstantin, von der aus Selbstherrschertum wie Rechtgläubigkeit einst in die slawische Welt gekommen war. Immer wieder, langsam, auf einem asiatischen Umwege, auf dem zuerst Kasan und Astrachan erobert, das Kaspische Meer erreicht wurde, und der sich noch im Bogen um das Schwarze Meer bewegte, fühlte deshalb das Russentum, zunächst im Kampf gegen das Krimtatarentum, in der Richtung auf die Türkei und Konstantinopel vor, in der sich, als Symbol seiner geistigen Selbständigkeit und geschichtlichen Sendung, der Kuppelberg der Agia Sofia erhob.
Schon Iwan der Dritte steckte die Grenzenlosigkeiten der russischen Ausdehnungsmöglichkeiten nach geopolitischen Prinzipien ab und wies der russischen Politik das Ziel: „Die Grenzen des Moskowitischen Reiches bis zu den von der Natur gewiesenen Marken hinauszurücken, das heißt, bis zum Uralischen Bergrücken, den Gestaden des Kaspischen Meeres, dem Kaukasus und dem Pontus.“ Und Iwan der Große, unter dem ohne sein Zutun die ungeheure kosakische Erwerbung von Sibirien geschah, leitete dann mit seiner persönlichen Politik die Umklammerung des Schwarzen Meeres ein, die schließlich zum Kampf gegen die Türkei führen mußte. Sogar Peter der Große, der durch die Geschichte mit dem Rufe des Westlers geht, und dem die russische Geschichtsphilosophie der slawophilen und panslawistischen Epoche später alle Zwiespälte vorwarf, die durch die Hinüberwendung nach Europa und die Abwendung von Byzanz in den russischen Volkskörper gekommen sind, hat den Ausgang zum Schwarzen Meere früher gesucht als den zum Baltischen Meere. Die ganze klimatische, rassengeographische und religionspolitische Einstellung Rußlands, die Ausdehnungspolitik, die er vorfand, und übrigens auch schon Verträge seiner Vorgänger mit Polen und Österreich, verwiesen ihn auf den Kampf im Orient. Gerade weil er den Westen bewunderte, wollte er nicht eher vor dessen Urteil treten, als bis er einen Ruhm mit seinem Namen verbunden hatte: Und dieser Ruhm ließ sich von Rußland aus nur im Osten erwerben. Die Eroberung von Asow und die Gründung von Taganrog im damals türkischen Mündungsgebiet des Don wurde deshalb seine erste Tat. Und dann erst beging er seinen genialen Fehler, der ihn in der Geschichte so groß gemacht hat, diesen „petrinischen Fehler“, den schon seine altrussischen Zeitgenossen erkannt, gegen den sie sich als das Verhängnis Rußlands gewehrt und dessen Rückgängigmachung sie Slawophilie und Panslawismus hinterlassen haben. Sein russischer Blick blieb nach Süden und Osten gerichtet: nach Byzanz, orientwärts, asienwärts. Aber daneben hatte Peter diesen kulturellen Blick, den er nicht wohl anderswohin wenden konnte als dorthin, wo die nächste überlegene Nachbarkultur war: nach Europa. Durch eine doppelte Politik, eine, die orientalisch und europäisch zugleich sein sollte, legte er die weitere Entwicklung des russischen Staatsgedankens in einer Zwieschaft fest, die das russische Volkstum aus seiner Ruhe, Verwurzelung, gewohnten Lagerung warf und den russischen Menschen an sich irre machte. Nun wurde, statt daß Konstantinopel erobert worden wäre, an ähnlich schicksalsvoller Stelle, gleichfalls zwischen Wasser und Land, aber ohne Heiligung durch Überlieferung, zwischen fremden Völkern, Bekenntnissen und Gesittungen, durch fremde Menschen und Arbeitsweisen, eine neue, eine künstliche, die befohlene Hauptstadt Petersburg gegründet. Schon bei Peters Lebzeiten wandte sich das Altrussentum von dem Geiste dieser Gründung ab: Peters eigener Sohn Alexei sollte das Werkzeug werden, um der eindeutigen, rechtgläubigen moskowitischen Partei wieder zum Siege zu verhelfen: der schlaffe Prätendent einer ewigen Idee, der erste Panslawist auf einem Throne, den er nie bestieg. Peter selbst wandte sich gegen Ausgang seiner Regierung wieder dem Orient zu. Die Ausdehnung, die er im Baltikum gegen die Schweden erreicht hatte, konnte ihn nicht für die Enttäuschung entschädigen, die er am Pontus durch die Türken erlitt. Asow, der Stolz seiner Jugend, war wieder verloren gegangen. Fast scheint es, als ob er bereit gewesen ist, seine nordischen Eroberungen, bis auf Petersburg, gegen Bezahlung wieder herauszugeben, wie dies unter seinem Vater schon einmal geschehen war. Aber jetzt wollte Schweden nicht und suchte eine Entscheidung, der es nicht mehr gewachsen war. Peters letzte Gedanken gingen nach Asien, Persien, China, Sibirien hinüber. Das machtpolitische Testament, das er hinterließ, geschrieben oder ungeschrieben, forderte die Zertrümmerung der Türkei. Das religionspolitische Testament forderte gar, in einer orthodoxen Wiederaufnahme der katholischen Kreuzzugsgedanken des Mittelalters, den Erwerb Jerusalems und der heiligen Stätte für Rußland. Und das beinahe mystische Testament, das er hinterließ, ging noch weiter und forderte die Eroberung Indiens, des weißen und heiligen Landes am Ganges, für das Volk des weißen und heiligen Zaren.
Nach Peters Tode schien zunächst das Altrussentum zu siegen, das im Grunde weder Petersburg noch Konstantinopel, nur sich selbst will, obwohl seine politischen Ideen noch am ehesten, schon aus religiösen Motiven, mit byzantinischen Tendenzen in Übereinstimmung zu bringen sind. Residenz wie Regierung wurden wieder nach Moskau verlegt, freilich auch wieder nach Petersburg zurück, hin und her. Auch Katharina die Große, dieser zweite universale Mensch auf dem russischen Throne, die zu organisieren hatte, was unter Peter pionierhaft abgesteckt worden war, sah sich in der europäisch-orientalischen Zwieschaft festgelegt, die er ihr hinterlassen. Doch ihre größten Unternehmungen hat auch sie gegen die Türkei gerichtet. Die Nordküste des Schwarzen Meeres wurde gewonnen. Aus den baltischen Häfen lief eine erste Flotte aus, um die Einfahrt in die Dardanellen, freilich schon damals vergeblich, zu erzwingen. Doch der entscheidende Friede von Kainardschi, den sie abschloß, und der Rußland sein Schutzrecht über die Balkanchristen und zugleich eine Meistbegünstigung seines Handels bestätigte, legte den Grund zu der ganzen künftigen russischen Orientpolitik. Und wie weitausschauend ihr Blick war, auch noch über dieses Ergebnis hinaus, das zeigte ihr Lieblingsplan, ein großes rumänisch-bulgarisches Schutzreich Dazien zwischen Rußland, Österreich und der Türkei zu schaffen, aus dem vielleicht einmal ein neubyzantinisches mit der Hauptstadt Konstantinopel werden konnte, und für das sie bereits ihren Enkel Konstantin taufen ließ. Und wie realpolitisch zugleich dieser Blick war, das zeigte ihr Lieblingswunsch, Ägypten zu erobern und zum mindesten schon Malta im Rücken der Türkei und an Stelle von Franzosen oder Engländern zu besetzen.
Doch erreicht wurde zunächst nur, unter den Nachfolgern Peters wie Katharinas: daß Zeit verloren wurde, und daß der richtige Anschluß verfehlt wurde. Rußland hat durch die petrinische Politik zwei Jahrhunderte verloren und manche Gelegenheit verfehlt. Jener halbe und eigentlich planlose Zustand kam auf, von dem Pozzo di Borgo als Minister Alexanders I. gesagt hat, daß die ganze neuere Politik Rußlands fast ausschließlich die Zerstückelung Polens zum Gegenstande gehabt habe; und das war zu wenig für Rußland; war eine kleine Politik; eine unrussische Politik.
Dafür haben freilich diese zwei Jahrhunderte das russische Volk in die unmittelbare Nachbarschaft und unter die nachhaltende Einwirkung des europäischen Westens gebracht, dessen Beispiele es zu seiner Entwicklung brauchte. Aber gerade dieses russische Westlertum, das sich bildete, mußte das autochthone Russentum, nachdem es einmal seine byzantinische Selbständigkeit in Moskau gefunden hatte, in seiner russischen Selbständigkeit in Rußland gefährden. Schon in der Zeit des falschen Demetrius hatte ein erstes Westlertum das Moskowitertum vorübergehend mit der Gefahr der Polonisierung und Katholisierung bedroht. Später wurden Deutsche, Holländer und Schweden die Lehrmeister, die Rußland brauchte, um sich in seiner künstlichen europäischen Stellung zu erhalten, und deren Einfluß es doch immer wieder zurückstieß, weil das natürliche russische Leben ihn nicht vertrug. Auf den deutschen Einfluß folgte dann der französische, und auf den französischen wieder der deutsche, auf den Einfluß Voltaires derjenige Friedrichs des Großen, selbst Josephs des Zweiten, später Herders, Schillers und Hegels. Aber gerade auf diesem Umwege über das Westlertum hat die russische Geschichtsphilosophie, die sich bildete, sich mit den volklichen Gegenbewegung der Slawophilie und des Panslawismus verbunden und ist von dem europäischen Gedanken auf den byzantinischen zurückgekommen. Die Verbindung mit dem Westen, die stets mehr enthusiastische als kritische Übernahme seiner Probleme, machte das Russentum schließlich selbst problematisch, brachte es in Widersprüche und Gegensätze aller Art, in Unvereinbarkeiten des Geistes wie des Staates. Es ist dabei durchaus eine Sache und Seite für sich, daß diese Problematik das Russentum zugleich schöpferisch machte: nicht nur in der Arbeit, die Peter und Katharina für Rußland leisteten, sondern auch in der Selbsterkenntnis aller der Mißverständnisse und Übertreibungen des Westlertums, die Gogol zur grotesken Drastik erhob, und in derjenigen seiner schweren seelischen Erregungen, Erschütterungen, Erkrankungen, die Dostojewski in dem realistischen Schattenreich einer russischen Apokalypse umgehen ließ. Dieses russische Schöpfertum verbindet uns heute mit der russischen Geistigkeit, die, nicht ein Teil, doch eine östliche Ergänzung unserer eigenen Geistigkeit ist – und zwar um so mehr, je weniger westlich, je echter russisch, slawisch, byzantinisch, je weniger liberal und je mehr konservativ sie ist. Politisch aber, ideologisch, geschichtsphilosophisch, in dem geistigen Sinne, den der Dichter und Menschenforscher wie der Politiker und Geschichtsdenker Dostojewski vertritt, mußte das Russentum sich von dem Westlertume, das seine Geschichte wie ein Verhängnis begleitete, frei zu machen suchen.
Wie eine Erlösung wurde es in Rußland empfunden, als das neunzehnte Jahrhundert wieder den Willen zu einer großen russischen und nunmehr altrussischen Politik brachte und Petersburg sich erneut dem Orient zuwandte: denn im Mittelpunkte des Orients stand Konstantinopel! Die Befreiungskriege der Balkanslawen gaben den Anlaß, sich in die türkischen Angelegenheiten einzumischen: und dieser Anlaß wurde der ideologische Ausgangspunkt für die Slawophilie, als sie den byzantinischen Gedanken zum panslawistischen erweiterte. Doch nun zeigte sich politisch, daß der Besitz von Konstantinopel, nachdem die Türkei allerdings genügend zersetzt und geschwächt sein mochte, um von Rußland überrannt werden zu können, gar kein russisch-türkisches, vielmehr ein durchaus europäisches Problem geworden war. Wie ein Spiel ging es infolgedessen in den Kabinetten und auf den Kongressen um den einen Stadtnamen: Konstantinopel! Schon Friedrich der Große hatte auf die Frage geantwortet, warum er die Russen nicht nach Konstantinopel lassen wolle: „Weil sie dann am anderen Tage in Königsberg stehen.“ Und Alexander I. hatte Konstantinopel den „Hausschlüssel“ zu Rußland genannt, worauf Napoleon antwortete, daß es zugleich der „Schlüssel zu Toulon“ sei. Später schloß Skobeleff umgekehrt wie Friedrich der Große und meinte, daß der Weg nach Konstantinopel über Berlin gehe. Und von österreichischer Seite ist die schlagfertige Erwiderung auf die drohende Bemerkung eines russischen Geschäftsträgers bekannt, daß der Weg nach Konstantinopel über Wien führe: „Ja, und der nach Petersburg über Warschau!“ Wahr war an allen diesen Beziehungen und Anspielungen: daß für Rußland der Weg nach Konstantinopel allerdings nicht nur über die Türkei, sondern über Europa führte.
Immerhin wurde manches von Rußland erreicht. Nikolaus I. erlangte, was zuletzt Katharina verlangt hatte: die freie Durchfahrt durch die Dardanellen für russische Handelsschiffe und ihre Sperrung für fremde Kriegsschiffe. Aber er erlangte dies Zugeständnis um den Preis eines Bündnisses zwischen Rußland und der Türkei, durch das beide Staaten sich unter anderem zum wechselseitigen Schutze ihrer Völker und Bekenntnisse verpflichteten, der Mohammedaner hier, der Slawen dort. Und dieser Preis bedeutete ebenso einen Verzicht auf die alten macht- und kirchenpolitischen Ansprüche, wie eine Verleugnung der neuen panslawistischen Gesichtspunkte. Immerhin war Rußland nunmehr Selbstherrscher auf dem Schwarzen Meere geworden. Dafür warfen dann die Ergebnisse das Russentum um so weiter zurück. Im Pariser Frieden mußte Rußland auf seine Bewegungsfreiheit im Schwarzen Meere wie auf sein Schutzrecht über die Balkanchristen verzichten. Der Russisch-Türkische Krieg wiederholte dann den Versuch, nach Konstantinopel vorzudringen, noch ein letztes Mal, und wiederholte ihn nun auf der Grundlage und vor dem Hintergrunde eines großen und leidenschaftlichen Panslawismus, dem sich der größte und leidenschaftlichste Russe Dostojewski nicht entzog. Die „slawische Frage“ kam auf und drang, wie der große beschauliche Russe Tolstoi diese Zeit schildert, nachdem sie bis dahin nur die Gesellschaft beschäftigt hatte, mehr und mehr in das Volk ein. Fast wäre es erreicht worden, das große Ziel: die Russen vor Konstantinopel! und die Russen in Konstantinopel! Aber wie die Türken, nachdem sie vor Wien, nicht in Wien erschienen waren, nie wieder Wien bedrohen konnten, so mußten die Russen auf Konstantinopel verzichten. Nach dem Berliner Kongreß blieb nur die eine Möglichkeit einer veränderten politischen Taktik übrig: durch die autonom gewordenen Balkanslawen, durch Slawen und Bulgaren, auf dem Balkan zu herrschen. Und auch diese Möglichkeit sollte versagen. Schon Dostojewski mußte vertrösten: „Einmal wird Konstantinopel doch unser werden!“ Ja, einmal! Aber wann? Und schon Dostojewski wandte den Blick nach Asien hinüber, nahm die letzten russischen Waffenerfolge, die er noch erlebte, die Siege Skobeleffs in Mittelasien, zum Anlaß, um dem Prinzip von der Linie des geringeren Widerstandes, das sich bei ihm zuerst formuliert findet, eine andere Richtung zu geben, und beantwortete in einer sibirischen Übertragung und Auflösung des alten Gegensatzes von Westlertum und Altrussentum die Frage: „Was ist Asien für uns?“ mit einem: „Asien ist unser Amerika!“ „In Europa sind wir Sklaven. Nach Asien kommen wir als Herren. In Europa waren wir Tataren. Nach Asien kommen wir als Europäer!“ Byzanz blieb der Mittelpunkt seines politischen Denkens. Aber Asien wurde zum letzten Wort seiner russischen Hoffnung.
Byzanz war für Dostojewski mehr als ein Symbol, wie es für Rußland mehr als ein Symbol ist. Das russische Selbstherrschertum war ursprünglich eine barbarische Machtanmaßung, die zu ihrer Anerkennung der Heiligung durch das Recht und durch die Überlieferung bedurfte: Byzanz gab ihr beides. Durch Byzanz konnte das Zartum vertieft und vergeistigt, durch Verchristlichung gerechtfertigt, durch Mystifizierung erhoben werden. Ebenso sehnte sich der Panslawismus, den Dostojewski vertrat, nach Größe und Reinheit und Überschwenglichkeit, die in den russischen Volksgedanken kommen sollten. Dostojewski wollte die Macht in Gnade verwandeln und mit ihr die Massen, die Balkanbrüder und zuletzt alle Menschen beglücken. Ist nicht alle unsere Menschenmacht eine Anmaßung? Bedürfen wir nicht alle der Gnade? In Byzanz sah er das Urchristentum erhalten, während ihm der Katholizismus durch seine papale Verbindung mit Staatlichkeit, der Protestantismus durch seine humanistische mit Lehrhaftigkeit entartet erschien: ein Materialismus genau wie der Sozialismus, und ein Ausdruck des Westlertums und Europäertums, gegen das er sich in allen seinen Formen wandte. Dostojewski wollte die russische Nationalkirche zur Allerweltskirche erheben, von der noch einmal die Erlösung ausgehen sollte, die er persönlich, in der Lauterkeit seiner Absichten, für möglich und kommend hielt, während sie praktisch allerdings stets nur die Vergewaltigung der Völker und Bekenntnisse bedeutet hat. In dieser Verbindung von Staat und Macht, Volk und Kirche, Religion und Politik ist der Dichter Dostojewski mit dem Politiker Dostojewski verbunden. Als Politiker mußte er werden, was er als Dichter, als Volksfreund, als Mensch der Liebe zum Nächsten und als Enträtseler des gemeinsamen Schicksals im einzelnen, des einzelnen im gemeinsamen, war: der Slawophile, der Panslawist, der Konservative, der sich auf den Boden des patriarchalisch geschichteten Russentums stellte, um zu einem religiös gerichteten Menschentum zu gelangen. Der Konservative in Dostojewski: das war der Boden, der Unterbau, war Rußland mit seinem natürlichen, primitiven, altruistischen Sozialismus bäuerlichen Lebens. Und der Nihilist in Dostojewski, den er in sich überwand: das war der Mensch, der Europa und den Westen kannte, und der das einzige russische und allmenschliche Hemmnis auf dem ewigen Wege zu Gnade und Erlösung, in Europa im Liberalismus, in Rußland im Westlertum erkannte: als den Träger von Egoismus und Individualismus, als den Verbreiter jenes nur allzu russischen Nihilismus und den Bringer eines ganz unrussischen Industrialismus, Kapitalismus, Materialismus.
Der byzantinische Gedanke im russischen Geschichtsdenken ist heute entartet. Nachdem er durch die Jahrhunderte abwechselnd machtpolitisch, kirchenpolitisch und panslawistisch begründet worden war, wurde er wirtschaftlich. Im russischen Westlertum selbst folgte auf den französischen und deutschen Einfluß des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts der englische des zwanzigsten, folgte nicht geistig, weil er dies nicht wohl sein konnte, wohl aber gesellschaftlich und vor allem handelspolitisch. Ein neuer Menschenschlag kam in Rußland herauf: Industrielle und Großkaufleute, Liberale, die nunmehr auf russische Weise eine britische Wirtschaftspolitik machen wollten. Oder war es ein alter Schlag, der wieder durchbrach? War es der moskowitische Kaufmann, der tatarische Unternehmer, der an Stelle des Petersburger Verwaltungsbeamten in das Wirtschaftsleben des Russischen Reiches eingriff und mehr und mehr auch die Politik des Staates in die Richtlinie seiner Gesichtspunkte abdrängte? Eisenbahnen erschlossen die Steppe und Fabrikanfänge entstanden um die Städte. Vor allem aber fand die Aufhebung der Leibeigenschaft eine späte, doch breite Nachwirkung in der Landwirtschaft, in den Massen des Landes und in den Massen der Menschen. Die geplante Stolypin-Kriwoscheïnsche Agrarreform, die durch Aufhebung des Mir dem russischen Bauern erst volle Arbeitsfähigkeit, der russischen Erde erst volle Ertragfähigkeit geben wird, soll nun die Entwicklung vollenden. Schon ist das Verhältnis von Ausfuhr und Einfuhr zugunsten der ersteren völlig verschoben worden und hat Veränderungen für den Staatshaushalt mit sich gebracht, deren Reichweite sich noch gar nicht absehen läßt. Namentlich das südrussische Getreide, dessen Verschiffung durch den Schwarzmeerhandel erfolgt, wurde als das bequemste nationale Zahlungsmittel erkannt. Und wichtiger noch als die Eroberung von Konstantinopel erschien mit einem Male der Erwerb der Dardanellen, deren Öffnung dem russischen Handel den Anschluß an den Weltverkehr sichern sollte. Die Türkenkämpfe, die von dem russischen Staate bis dahin als Ausdehnungskampf betrieben, von dem russischen Volke als Glaubenskampf empfunden worden waren, wurden zum Wirtschaftskrieg. Es war das Neue der Zeit und das Neue in der russischen Geschichte, das der europäische Krieg nicht gebracht, doch offenbart hat: an Stelle einer autokratischen oder theokratischen, immer slawokratischen Geschichtsanschauung griff jener selbe europäische Materialismus, jene selbe westlerische Unheiligkeit, vor der Dostojewski durch eine religiöse Erneuerung des byzantinischen Gedankens das Russentum hatte bewahren wollen, auf Rußland über.
Es fragt sich nur, wie das russische Volk sich mit dieser Entwicklung abfinden wird, durch die der russische Konservatismus hinter einen russischen Liberalismus zurücktritt, wenn es dem russischen Staate nicht gelingt, diese unvermittelte Wendung mit dem Besitz von Konstantinopel wie dem der Dardanellen machtpolitisch abzuschließen? wenn Rußland vielmehr auf diesen Besitz verzichten muß? dauernd und endgültig? Für die russische Ideologie kann die wirtschaftliche, diese ökonomische, nicht mehr ökumenische Auffassung des byzantinischen Gedankens nur eine Entweihung sein, seine positivistische Entartung, sein tiefster, materialistischer Fall und Verfall. Die russischen Ideologen sind denn auch bereits in eine Gegenbewegung eingetreten, die sie von dem neurussischen Liberalismus, von Manchestertum, Opportunität und Skepsis abrücken und sich wieder dem altrussischen Patriarchentum und der Mystik annähern läßt. Aber sie selbst sind nur Epigonen großer Ideen eines Zeitalters, das die geschichtliche Möglichkeit, Byzanz zu besetzen und für Rußland zu besitzen, bereits verfehlt hat. Während die russischen Liberalen diese Möglichkeit in letzter Stunde noch nachzuholen suchten, nicht durch einen Kreuzzug, sondern durch einen Ausfuhrkrieg, gehen die russischen Ideologen noch einmal auf Dostojewski zurück, ohne freilich in den eigenen Ideen über ihn hinauskommen zu können. Die politischen Ideen Dostojewskis sind auch heute noch die geistige Plattform, auf der Rußland steht. Nur in den Formulierungen und Postulaten sind die ideologischen Epigonen der Dostojewskischen Dogmatik weicher und nervöser, aber auch einseitiger und extremer – schon weil sie in dem neurussischen Liberalismus denn doch einen anderen wirklicheren gefährlicheren Gegner haben, als es das flaue und faule kosmopolitische Westlertum war, gegen das Dostojewski sich wandte. Sie befinden sich dabei in der Zwangslage, heute, mitten im Kriege, diesen Gegner, das neue englische Westlertum, noch nicht bekämpfen zu können. Im Gegenteil, sie suchen, wenn auch rein dialektisch, mit allen Zeichen der Ausflucht und inneren Unvereinbarkeit, ihre geistigen Probleme mit den politischen des Krieges in eine Übereinstimmung zu bringen. Sie sprechen davon, daß das Bündnis mit den Nationen des Westens dem russischen Volkstum erst seine wahre Ausdehnung sichere, mit der staatlichen und wirtschaftlichen auch die künftige seelische, sprechen von einer wichtigsten Aufgabe der Weltgeschichte, die der Weltkrieg lösen und die in einem Zusammenfließen von Osten und Westen bestehen soll, über Deutschland hinweg. Aber die Gegnerschaft gegen Liberalismus und Westlertum im eigenen Lande ist da und lebt in der Sehnsucht der Seelen, die nicht Wirtschaft wollen, sondern Glauben, nicht europäische Ordnung, sondern russisches Chaos und russische Universalität. Die religiöse Revolution, deren Auslegung schon Mereschkowski gab, will Wirklichkeit werden. Der jüngere Ssolowjoff verkündet jetzt die religiöse Kultivierung der Welt und deren Ausbreitung durch die russische Kirche. Rosanoff verherrlicht die russische Trägheit und bringt sie in einen ewigen Gegensatz zu der modernen futuristischen Betriebsamkeit, die er in Deutschland zu verhaßter Gegenwart geworden sieht. Der alte politische Nihilismus kehrt als Mönchtum wieder, als Wunsch und Wille zu einer reinen und erneuerten Kirchlichkeit, hinter der sich, noch von ferne und undeutlich, der alte Gedanke einer russischen Allerweltskirche erhebt und zu neuen politischen panslawistischen und byzantinischen Schlußfolgen und Forderungen überleitet. Aber auch für Rußland selbst taucht in einer Verbindung alter demokratischer Neigungen des russischen Kirchentums mit der Abneigung des Liberalismus gegen die absolute Zarengewalt ein Gedanke auf, der nun freilich die Rückgängigmachung einer der wichtigsten staatsrechtlichen Errungenschaften Peters des Großen bedeuten würde: die Idee, wieder einen Patriarchen, jenes geistliche Oberhaupt, das Peter der Große abschaffte, weil es das politische Selbstherrschertum der Zaren hinderte, an die Spitze einer kirchlichen Hierarchie zu setzen. Im Patriarchentum lag einst ein erster russischer Sozialismus. Boris Godunoff hatte das Patriarchat und die Leibeigenschaft eingeführt. Dann hatte Peter das Patriarchat beseitigt und die Leibeigenschaft verschärft. Und später war es der noch absolute Zarenwille Alexanders des Zweiten, der die liberale Aufhebung der Leibeigenschaft verfügte. Nun kehrt die Entwicklung im Kreise von mannigfachen Abwandlungen und Umwegen zu ihren Ausgängen zurück und sucht Demokratisches und Autokratisches auf eine neue und doch alte russische Weise zu vereinen. Es sind geistespolitische Auseinandersetzungen, die bis zu einem Grade nur das innere russische Schicksal angehen, über diesen Grad aber auch uns, die wir in Deutschland die mitteleuropäische Grenzscheide, nicht nur von Westen und Osten, sondern auch von Atavismus und Modernität bilden und die Gegensätze von Konservatismus und Liberalismus, Überlieferung und Entwicklung, Ewigkeit und Zeitlichkeit in das Gleichgewicht einer neuen Wirklichkeit zu bringen haben. Wohin diese Auseinandersetzungen in Rußland führen werden, kann niemand voraussehen: sicherlich zu schweren seelischen Konflikten und Dilemmen, zu Problemen, deren schwerstes immer darin bestehen wird, daß Rußland durch Deutschland von Byzanz abgedrängt worden ist – bis Rußland dann eines Tages zu der Erkenntnis kommt, daß der innere Grund dieser Abdrängung im Russentum selbst liegt, in der russischen Geschichte, die Byzanz zu einer neuen europäisch-asiatischen Form längst in Rußland verwirklicht hat.
Darüber mögen Jahrhunderte vergehen. Aber auch Städte und heilige Stätten vergessen sich in der Erinnerung der Menschen. Schon heute hat Byzanz diese neue Bedeutung für Rußland bekommen, daß aus dem Machtproblem ein Wirtschaftsproblem geworden ist. Damit wird Rußland sich abfinden müssen. Und darüber werden, wie die Nachfahren der Kreuzritter längst Jerusalem, wie die Deutschen, die im Mittelalter das Erbe von Westrom tatsächlich besaßen und verwalteten, heute längst Rom vergessen haben, auch die Russen, die das Erbe von Ostrom antreten wollten, schließlich Byzanz vergessen.
Moeller van den Bruck.
Dostojewski starb am 28. Januar 1881. Es scheint eine ewige Vorbedeutung darin zu liegen, daß er gewissermaßen am Vorabend des 1. März 1881[1] starb, gerade vor dem ersten Donnerschlage jenes furchtbaren Gewitters, das jetzt bereits seit einem Vierteljahrhundert heraufzieht und sich immer dunkler über uns zusammenballt, – und daß die erste Gedächtnisfeier seines Todestages, am 28. Januar 1906, unter dem Getöse des endlich ausgebrochenen Sturmes stattfinden mußte. Dostojewski trug selbst den Anfang dieses Sturmes in sich, den Anfang der endlosen Bewegung, obgleich er die Schutzwehr der endlosen Unbeweglichkeit sein oder scheinen wollte: er war die Revolution, die scheinbar Reaktion war.
„Die zukünftige selbständige russische Idee ist bei uns noch nicht geboren, doch die Erde ist unheimlich schwanger mit ihr, und schon schickt sie sich an, sie unter furchtbaren Qualen zu gebären,“ schrieb er kurz vor seinem Tode. Dostojewski aber war der erste Schrei dieser Qualen.
„Ganz Rußland steht gewissermaßen an einem Endpunkte und schwankt über dem Abgrund,“ schrieb er im Jahre 1878. Immer wieder suchte Dostojewski sich von diesem Abgrunde abzuwenden, und krampfhaft klammerte er sich an den glatten Rand des Verderbens, an die vermeintlich festen Felsen der Vergangenheit – an Orthodoxie, Autokratie und Nationalität. Doch wenn er gesehen hätte, was wir heute sehen, würde er dann begriffen haben, daß Orthodoxie, Autokratie und Nationalität, so wie er sie verstand, nicht drei Felsen sind, sondern drei Abgründe auf den unvermeidlichen Wegen des heutigen Rußlands zum zukünftigen? Rußland ging dorthin, wohin Dostojewski es rief, ging zu dem, was Dostojewski für die Wahrheit hielt. Doch da haben wir nun die Früchte dieser Wahrheit! Rußland „schwankt“ heute nicht mehr über dem Abgrund, heute stürzt es bereits in ihn hinab. Die Autokratie stürzt zusammen. Die Orthodoxie ist gelähmter denn je. Und die russische Nationalität steht heute nicht mehr vor der Frage, ob sie einmal die erste in Europa werden kann, sondern ob sie sich überhaupt noch zu erhalten vermag. Auf welche Seite würde sich nun Dostojewski stellen: auf die der Revolution oder die der Reaktion? Oder würde er sich wirklich auch jetzt nicht um seiner großen Wahrheit willen von seinem großen Irrtume lossagen?
Dostojewski ist der Prophet der russischen Revolution. Doch, wie das häufig mit Propheten geschieht, ihm selbst war der wahre Sinn seiner Prophezeiungen verborgen. Ein unversöhnlicher Widerspruch klafft zwischen der äußeren Schale und dem inneren Wesen Dostojewskis. Von außen ist es die tote Schale zeitgebundenen Irrtums; von innen – der lebendige Kern ewiger Wahrheit. Wir müssen die Schale zerschlagen, um ihr den Kern entnehmen zu können. Als die russische Revolution vieles von dem, was bis dahin unzerstörbar-fest erschien, zerschlug, vernichtete sie auch den politischen Irrtum Dostojewskis.
Nicht wir werden ihn richten; das wird die Geschichte tun. Wir aber, die wir ihn liebten, die wir mit ihm untergingen, um uns mit ihm zu retten, werden ihn vor diesem furchtbaren Gerichte nicht verlassen: mit ihm werden wir verurteilt oder mit ihm freigesprochen werden.
Einmal in der Kindheit, als er an einem klaren Frühherbsttage ganz allein im Gestrüpp am Waldrande stand, hörte er plötzlich inmitten der tiefen Stille den lauten Schrei: „Ein Wolf kommt!“ – und außer sich vor Schreck lief er schreiend auf das Feld hinaus, geradenwegs zum pflügenden Bauer Marei; um im vollen Lauf nicht zu fallen, ergriff er hastig mit einer Hand die Pflugstange und mit der anderen den Ärmel des Bauern. Der beruhigte ihn: „... Geh doch! wo denn? Was für ’n Wolf soll denn – ... Ist dir ja nur so vorgekommen! ... Ich werde dich schon nicht vom Wolf rauben lassen ... Christus ist mit dir!“ Und „fast mütterlich lächelnd“ bekreuzte der Bauer „mit seinen erdigen Fingern“ den Knaben.
In dieser Erinnerung ist das ganze religiöse Leben Dostojewskis enthalten. Der kleine Fedjä wuchs auf und wurde zu einem großen Schriftsteller. Mit Fedjä wuchs auch der Bauer Marei zu einem großen „Gotträger-Volk“. Doch die geheimnisvolle Verbindung zwischen ihnen blieb. Seit der Zeit hörte Dostojewski oftmals den Schrei: Ein Wolf kommt! Das Tier kommt! Der Antichrist kommt! – und jedesmal stürzte er dann außer sich vor Schreck zum Bauer Marei, der ihn wieder beschützte und „mit fast mütterlichem Lächeln“ beruhigte, der „ich werde dich schon nicht von dem Wolf rauben lassen“ zu ihm sagte, ein „Christus ist mit dir!“ zu ihm sprach und ihn bekreuzte. Das war die wahre Taufe Dostojewskis – nicht in der Kirche, sondern auf freiem Felde, nicht mit heiligem Wasser, sondern mit heiliger Erde.
Worin liegt nun eigentlich die Kraft des Bauern Marei, der vor dem „Wolf“, dem Tier-Antichrist beschützen kann? In der heiligen Erde Gottes liegt sie, in der feuchten Muttererde, die sich dort, wo der Horizont sich hinzieht, mit dem heiligen Himmel Gottes vereinigt. In dieser letzten zukünftigen, noch nicht vollzogenen, jedoch möglichen Vereinigung des Bauerntums mit dem Christentum, der Wahrheit der Erde mit der Wahrheit des Himmels, liegt die religiöse Kraft des Bauern Marei. Er ist, gleich dem Recken Mikula Sseljäninowitsch in unseren alten Sagen, der Held der dunklen Tiefen unserer Erde, und zu gleicher Zeit der neue Sswjätogor, der Held der Berges- und Sternenhöhen. Er ist der heilige Georg, der „Besieger des Drachens, des uralten Wurmes“. Er ist – das russische „Gotträger-Volk“ selbst. Bauerntum ist Christentum, oder vielleicht ist es auch umgekehrt: Christentum ist Bauerntum. Doch nicht das alte, staatliche, byzantinische, griechisch-russische, wohl aber das junge, freie, volkliche Bauernchristentum ist – die „Rechtgläubigkeit“. Dies ist der Grundgedanke Dostojewskis. „Das russische Volk ruht ganz in der Rechtgläubigkeit. Die ist alles, was es hat. Doch mehr braucht es auch nicht, denn seine Rechtgläubigkeit ist – alles. Wer die nicht versteht, der wird auch von unserem Volke nichts verstehen; ja, der wird das russische Volk nicht einmal lieben können.“
In diesem Grundgedanken liegt zugleich der Grundirrtum Dostojewskis. Er nimmt Zukünftiges für Gegenwärtiges, Mögliches für Wirkliches, sein neues apokalyptisches Christentum für die alte historische Orthodoxie.
Das Bauerntum will Christentum werden, doch ist es das noch nicht geworden. Die Wahrheit der Erde will sich mit der Wahrheit des Himmels vereinigen, doch noch hat sie sich nicht mit ihr vereinigt: für das historische Christentum, die Orthodoxie, hat sich diese Vereinigung als unmöglich erwiesen. Und noch niemals ist das Bauerntum dem Christentum so entgegengesetzt gewesen wie in der jetzigen Zeit. Als das Christentum sich in den Himmel zurückzog, verließ es die Erde; und das Bauerntum, das an der Erdenwahrheit verzweifelte, ist jetzt bereit, auch an der Himmelswahrheit zu verzweifeln. Die Erde ist ohne Himmel, der Himmel ist ohne Erde; Erde und Himmel drohen, in ein uferloses Chaos ineinanderzufließen. Und wer kann wissen, wo der Boden dieses Chaos ist, dieses klaffenden Abgrunds, der sich zwischen Erde und Himmel, zwischen Bauerntum und Christentum aufgetan hat?
Aus diesem einen Grundirrtum ergeben sich auch alle übrigen Täuschungen oder Selbsttäuschungen Dostojewskis. Derselbe Irrtum, der in seiner Auffassung des russischen volkstümlichen Christentums liegt, liegt auch in seiner Auffassung der Beziehung dieses Christentums zur allgemeinen Aufklärung: er verwechselt das Zukünftige mit dem Gegenwärtigen, das Mögliche mit dem bereits Vorhandenen, das Apokalyptische mit dem Historischen. Worin besteht nun die Besonderheit der Orthodoxie oder, wie Dostojewski sagt, des „russischen Christus“?
Er gibt mehrere Definitionen der Rechtgläubigkeit, doch keine befriedigt ihn vollkommen.
„In der ganzen Welt gibt es keinen anderen Namen, denn seinen – den Namen Christi –, der uns erlösen kann,“ das wäre, wie er meint, die „Hauptidee der Rechtgläubigkeit“. Nur ist das eine viel zu allgemeine Definition: sie umfaßt nicht nur das orthodoxe, sondern auch das katholische und protestantische sowie überhaupt jedes christliche Glaubensbekenntnis; denn sie alle erkennen, ganz wie die Orthodoxie, den Namen Christi als den einzigen erlösenden an.
Schließlich aber fand er eine für seine persönliche Religion allerdings tiefere und genauere, für die Orthodoxie aber durchaus falsche Definition. Die östliche Orthodoxie sei, wie er meint, die universale geistige Vereinigung der Menschen in Christo; das westliche, römisch-katholische, päpstliche Christentum aber sei dem östlichen gerade entgegengesetzt. Er sagt: „Das römische Papsttum verkündete, daß das Christentum und seine Idee ohne die universale Beherrschung der Länder und Völker – nicht geistig, sondern staatlich – auf Erden nicht zu verwirklichen sei. Auf diese Weise ist das östliche Ideal: zuerst die geistige Vereinigung der Menschheit in Christo anstreben, und dann erst, kraft dieser geistigen Vereinigung aller in Christo, die zweifellos sich aus ihr ergebende rechte staatliche wie soziale Vereinigung zu verwirklichen. Nach der römischen Auffassung ist das Ideal dagegen das Umgekehrte: zuerst sich eine dauerhafte staatliche Vereinigung in der Form einer universalen Monarchie zu sichern und dann, nachher, meinetwegen auch eine geistige Vereinigung zustande zu bringen unter der Obrigkeit des Papstes, des Herrn dieser Welt.“
Hierbei fällt einem infolge des zweideutigen Gebrauchs des Wortes „Staat“ oder „staatlich“ eine gewisse Unklarheit auf. Zuerst ist der „Staat“ als Reich Gottes, als Theokratie aufgefaßt, d. h. als durchaus freies, nur auf Liebe begründetes Gemeinwesen, das jede äußere vergewaltigende Macht verneint und folglich allen bis jetzt in der Geschichte bekannten Staatsformen vollkommen unähnlich ist; im zweiten Fall aber versteht Dostojewski darunter eine äußere, vergewaltigende Macht, eine Herrschaft von dieser Welt, das Reich des Teufels – die Dämonokratie. Hätte nun Dostojewski diese Zweideutigkeit nicht zugelassen und die Entgegenstellung der brüderlichen, freien Vereinigung gedanklich zu Ende geführt, so hätte sich auch für ihn ein völlig unerwarteter, doch ganz unvermeidlicher Folgeschluß ergeben, und zwar: die vollständige Verneinung jeder äußeren staatlichen Macht, jedes Reiches, jeder Herrschaft auf Erden im Namen des Königs aller Könige, des Herrschers aller Herrscher: die volle Anarchie, – natürlich nicht die Anarchie im alten oberflächlichen, sozialpolitischen, sondern im neuen, viel tieferen, religiösen Sinne, eine universale Monarchie als Weg zur universalen Theokratie, die Herrschaftslosigkeit als Weg zur Gottherrschaft.
Es ist aber kaum anzunehmen, daß Dostojewski sich entschlossen haben würde, zu behaupten, die theokratische Anarchie sei das Ideal des östlichen und speziell des russischen Christentums, der Rechtgläubigkeit. Was aber nicht im religiösen Ideal ist, das ist natürlich auch nicht in der religiösen Wirklichkeit und kann es ja auch gar nicht sein: unbedingter Gehorsam allen weltlichen Machthabern, völliger Verzicht auf brüderliche und freie Gemeinsamkeit, vollständige Unterjochung der Kirche durch den Staat – das ist die historische Wirklichkeit der Orthodoxie. Im Westen kam es zum Kampf der geistlichen Macht mit der weltlichen, des neuen christlichen Ideals einer universalen Theokratie mit dem altrömischen, heidnischen Ideal einer universalen Monarchie; das römische Kirchenoberhaupt mußte sein anfängliches christliches Ideal verraten, um sich in einen römischen Cäsar verwandeln zu können. Im Osten ging die Verzichtleistung auf die christliche Freiheit im öffentlichen Leben, d. h. ging der Sieg des heidnischen Staates über die christliche Kirche ohne jeden Kampf vor sich und ohne jeden Verrat; denn es gab nichts, wogegen man hätte kämpfen müssen, bzw. was man hätte verraten können – aus Mangel an einer Idee einer allgemeinen Heiligkeit im Ideale der Rechtgläubigkeit selbst. Die historische Wirklichkeit ist dem historischen Schema Dostojewskis vollkommen entgegengesetzt: die Idee der universalen geistigen Vereinigung der Menschheit in Christo hat nur in der westlichen Hälfte des Christentums, im Katholizismus, existiert – wenn auch ihre Realisierungsversuche schließlich erfolglos geblieben sind, während die östliche Orthodoxie von dieser Idee sich nicht einmal hat träumen lassen. Hier im Osten ist der römische Cäsar, der Selbstherrscher im heidnischen Sinne, der „Erdengott“, der „Mensch-Gott“, auch im Christentum das geblieben, was er vor dem Christentum war. Und keine Vergewaltigung, keine Religionsspötterei, keine Willkür der autokratischen Macht hat es hier gegeben, die die orthodoxe Kirche nicht gesegnet hätte. Die letzte Grenze dieser Macht ist in der natürlichen Fortsetzung und Vollendung des Oströmischen Reiches, in der russischen Autokratie erreicht. Und wenn die staatliche Macht der Päpste Dostojewski eine Lossagung von Christus erscheint, so müßte ihm die russische Autokratie als der gerade und breite Weg zur Herrschaft des Antichrist erscheinen. Die Autokratie aber dem Papsttum als geistige christliche Freiheit der staatlichen heidnischen Vergewaltigung, als Theokratie der Demokratie gegenüberstellen, heißt das Schwarze weiß machen und das Weiße schwarz.
Schließlich begriff Dostojewski aber doch, daß man, wenn man auf dem Boden der Rechtgläubigkeit blieb, im „russischen Christ“ keine universale Bedeutung finden konnte. Da verließ er denn die Kirche und wandte sich der russischen Aufklärung, ihren zwei größten Repräsentanten, zu – Peter und Puschkin.
In den Reformen Peters findet Dostojewski „eine hervorragend synthetische Begabung, die Fähigkeit zur Allversöhnung, zur Allmenschheit“. „Der Russe kennt keine europäische Begrenztheit. Er lebt sich mit allem ein und lebt sich in alles ein. Allem Menschlichen, wenn es auch außerhalb seiner Nationalität, seines Blutes und Bodens steht, kann er nachfühlen. Sein Instinkt errät sofort den allmenschlichen Zug selbst in den schroffsten Sonderheiten anderer Völker: sofort vergleicht, versöhnt er sie in seiner Idee, und nicht selten findet er einen Einigungs- und Versöhnungspunkt in vollkommen entgegengesetzten feindlichen Ideen zweier ganz verschiedener europäischer Nationen.“
„... Dort, in Europa, lebt jede nationale Persönlichkeit einzig für sich und in sich; wir aber werden, wenn unsere Zeit anbricht, gerade damit beginnen, daß wir die Diener aller werden, um der allgemeinen Versöhnung willen. Und darin besteht unsere Größe, denn all das führt zur endgültigen Vereinigung der Menschheit. Wer der Erste im Reiche Gottes sein will – der werde der Diener aller. So verstehe ich die russische Bestimmung in ihrem Ideal.“
Dieselbe russische Besonderheit sieht Dostojewski auch in Puschkin: „Wir begriffen in ihm, daß das russische Ideal – Ganzheit, Allheit, Allversöhnung, Allmenschheit ist.“
Peter gab die staatliche, Puschkin die ästhetische Form der russischen „Allmenschheit“; Dostojewski war es vorbehalten, den religiösen Inhalt in diese Form zu gießen. Die Allmenschheit, als Übergang zur Gottmenschheit, die Vereinigung der Welt Christi mit der universalen Aufklärung ist nur möglich, wenn in der letzteren die Grundlage der Welt Christi enthalten ist: in der Allmenschheit – Gottmenschheit, die in ihrer ganzen Größe zu offenbaren eben der christlichen Erkenntnis bevorsteht. Doch braucht dabei das geringe Vorhandensein oder der völlige Mangel dieser christlichen Erkenntnis in der heutigen europäischen Kultur – in der Wissenschaft, Philosophie, Kunst, im öffentlichen Leben überhaupt – nicht zu beunruhigen: der Hauptunterschied der Allmenschheit, als Übergang und Mittel, von der Gottmenschheit, als Ziel, besteht ja gerade darin, daß in der ersten, in der Allmenschheit, das Menschliche mit dem Göttlichen noch nicht durch die religiöse Erkenntnis verbunden ist, während im zweiten, in der Gottmenschheit, die Vereinigung sich schon endgültig vollzogen hat. Dostojewski stand nun vor der Aufgabe, das Unvereinbare zu vereinigen, zu zeigen, daß die europäische Kultur außerhalb Christi und scheinbar sogar gegen Christus, dennoch zu Christus geht, vom gekommenen Christ zum kommenden Christ, und daß folglich die Wege Rußlands und Europas, trotz aller scheinbaren zeitweiligen Abweichungen, ein und derselbe ewige Weg sind.
In der politischen Tat fand Dostojewski, was er in der religiösen Anschauung nicht finden konnte, – die Definition der Rechtgläubigkeit.
Es könnte noch die Frage sein, ob Dostojewski selbst die Anschauungen seines Helden in den „Dämonen“ teilt, wenn er sie nicht in dem „Tagebuch eines Schriftstellers“ wiederholte: „Jedes große Volk glaubt und muß glauben, daß in ihm und nur in ihm allein die Rettung der Welt liegt, daß es bloß lebt, um an die Spitze aller Völker zu treten und sie zu dem letzten Ziele, das ihnen allen vorbestimmt ist, zu führen ... Der große Eigendünkel, der Glaube, daß man das letzte Wort der Welt sagen will und kann, ist das Unterpfand des höchsten Lebens einer Nation.“
So ist denn die Rechtgläubigkeit, ist das wahre Christentum nach Dostojewskis Meinung der „große Eigendünkel“ des russischen Volkes, der Glaube an sich selbst, wie an Gott; denn er sagt doch, daß der russische Gott, oder der „russische Christus“, nichts anderes sei als die „synthetische Persönlichkeit“ des russischen Volkes. Folglich kann man an die Stelle der früheren Formel: „das russische Volk ruht ganz in der Rechtgläubigkeit“, die umgekehrte Formel setzen: „die ganze Rechtgläubigkeit ruht im russischen Volke“. Nur dann, wenn Rußland mit seinem Gott, mit seinem Christ „alle anderen Götter und Christusse besiegt und aus der Welt vertrieben haben wird“, kann oder wird der „russische Christus“ zum Christus der ganzen Welt werden. Wenn aber Gott nur die „synthetische Persönlichkeit des Volkes“ ist, so ist nicht das Volk der Leib Gottes, sondern Gott der Leib, die Fleischwerdung der Volksseele; dann erhält nicht das Volk sein Dasein von Gott, sondern erhält Gott sein Dasein vom Volk. Dann hat nicht Gott das Volk geschaffen, sondern das Volk und überhaupt die Menschheit, d. h. der Mensch, hat Gott geschaffen, nach seinem, des Menschen, Ebenbilde. Das Volk ist absolut; Gott ist relativ. Folglich sind alle Religionen – nur Mythologien, nur scheingöttliche Ebenbilder der menschlichen Wahrheit. Also hat der Atheist Feuerbach recht, wenn er behauptet, daß der Mensch in Gott sich selbst so lange verehrt, bis er erkennt, daß er, der Mensch, selbst Gott ist und es einen anderen Gott außer ihm überhaupt nicht gibt.
Das schrecklichste ist ja, daß, wer an den „russischen Christus“, an den „russischen Gott“, glaubt, nicht an das wahre Gotteswort, an den universalen Christ glauben kann. Die vermeintliche Gottmenschheit, oder „Volkgottheit“, ist, ebenso wie die wahre Menschgottheit, der sichere Weg zur Gottlosigkeit. Die religiöse Tragödie Dostojewskis besteht darin, daß er, dessen wahre Religion nicht die Orthodoxie war, glaubte, ein Nicht-rechtgläubiger könne auch nicht Russe sein, aber aus Furcht vor dem ewigen Schrei: „ein Wolf kommt!“ den Bauer Marei nicht auf einen Augenblick zu verlassen wagte. Der kleine Fedjä täuschte sich: dieser ewige Schrei ertönte nicht neben ihm, sondern in ihm; es war der erste Schrei des letzten Entsetzens: „das Tier kommt, der Antichrist kommt!“ Vor diesem Entsetzen konnte ihn der Bauer Marei (das russische Volk) nicht retten; denn nachdem er der „russische Christ“ geworden ist, der Doppelgänger Christi, hat er sich in ein Tier verwandelt, in den Antichrist, denn der Antichrist ist der Doppelgänger Christi.
In der Autokratie vollendete sich für Dostojewski das, was bei ihm in der Orthodoxie begonnen hatte: die Verwechslung der Menschgottheit mit der Gottmenschheit.
Der Zar sei unserem Volk der Vater und das Volk verhalte sich wie ein Kind zu ihm. „Hierin liegt eine überaus tiefe, ursprüngliche Idee ... Der Zar ist für das Volk nicht eine äußere Kraft, nicht die Macht irgendeines Besiegers, sondern ist eine allvolkliche, allvereinende Kraft, die das Volk selbst begehrt, die es in seinem Herzen großgezogen, für die es gezittert hat; denn nur von ihr allein erwartete es seinen Auszug aus Ägypten. Für das Volk ist der Zar die eigene Fleischwerdung, die Inkarnation seiner Idee, seiner Hoffnungen und seines Glaubens. Das Verhältnis des russischen Volkes zu seinem Zaren ist der ureigenste Zug, der unser Volk von allen anderen Völkern Europas und der ganzen Welt unterscheidet ... Diese Idee enthält eine so große Kraft, daß sie natürlich unsere ganze weitere geschichtliche Entwicklung beeinflussen wird ... Ja, genau genommen haben wir in Rußland überhaupt keine andere Kraft, die uns erhält und leitet, als diese organische lebendige Verbindung des Volkes mit seinem Zaren, und aus ihr allein entsteht bei uns alles.“
Wie soll man nun die Behauptung Dostojewskis: „das russische Volk ruht ganz in der Rechtgläubigkeit, außer ihr hat es nichts und braucht es auch nichts, denn die Rechtgläubigkeit ist alles“, mit dieser neuen Behauptung: „das russische Volk ruht ganz in der Autokratie, die ist alles, was es hat, doch mehr braucht es auch nicht, denn die Autokratie ist alles“, vereinigen? Entweder heben sich diese Behauptungen gegenseitig auf, oder sie verbinden sich zu einer dritten: Autokratie und Rechtgläubigkeit sind in ihrem letzten Wesen ein und dasselbe. Die Autokratie ist der Leib und die Rechtgläubigkeit ist die Seele. Die Autokratie ist ebenso eine absolute, ewige, göttliche Wahrheit, wie die Rechtgläubigkeit. Und ebendies ist jenes „neue Wort“, das das russische „Gottträger-Volk“ der Welt zu sagen berufen ist.
Die Autokratie wie die Orthodoxie hat Rußland von Byzanz geerbt, vom zweiten christlichen Rom, das sie seinerseits vom ersten, dem heidnischen Rom, geerbt hatte. Auch im Heidentum war die Idee der Autokratie in ihrer letzten Tiefe keine bloß politische, sondern zugleich eine religiöse Idee. Die unumschränkte Macht des römischen Kaisers über das Imperium, die Macht eines Menschen über die ganze Menschheit, schien eine göttliche Macht, und der Mensch, der diese Macht besaß, schien kein Mensch sondern ein Gott zu sein, ein Erdengott, der dem Himmelsgott gleichkam. So ergab sich die Apotheose des römischen Kaisers: Divus Cäsar, göttlicher Cäsar, Cäsar-Gott, Mensch-Gott. Doch unter der Maske des Gottes verbarg sich das Gesicht des Tier-Nero, des Tiberius, des Caligula. Und in dem Augenblick, als auf dem strahlenden Gipfel des Imperiums in den Prunkgemächern der römischen Cäsaren der Mensch zum Gott wurde, da geschah es, daß zu Bethlehem in einer dunklen unterirdischen Höhle bei Hirten Gott zum Menschen ward – da ward Christus geboren. Nach Dostojewskis Worten geschah „der Zusammenstoß zweier denkbar entgegengesetzter Ideen, der entgegengesetztesten, die es überhaupt auf der Erde geben konnte: der Menschgott stieß auf den Gottmenschen, Apollo auf – Christus.“
Wodurch wurde dieser Zusammenstoß entschieden? Wer siegte? – Niemand. „Es ergab sich ein Kompromiß,“ antwortet Dostojewski. Ein „Kompromiß“, d. h. ein ungeheuerlicher Vertrag zwischen dem Gottmenschen und dem Tier-Gott. Solange die Autokratie noch heidnisch blieb, starben die christlichen Märtyrer lieber, als daß sie das Tier in der Person des Kaisers anbeteten. Als jedoch die Autokratie das „Christentum“ annahm, natürlich nur dem Namen nach, denn seinem Wesen nach kann die Herrschaft des Tieres nicht die Herrschaft Christi sein, da nahm die Kirche ihrerseits wiederum die Autokratie an, beugte sich vor dem römischen Cäsar und segnete das Tier mit dem Namen Christi. Dostojewski behauptet, dieses sei nur im Westen, im Katholizismus, geschehen, keineswegs aber im Osten, in der Orthodoxie. Doch diese Behauptung ist ein Irrtum oder ein Selbstbetrug Dostojewskis. Im Westen wie im Osten geschah ein und dasselbe, wenn auch in zwei entgegengesetzten Richtungen: im Westen verwandelte sich die Kirche in einen Staat, der Papst, der christliche Erzpriester, wurde zum römischen Cäsar; im Osten verwandelte sich der Staat in eine Kirche, die er verschlang, der russische Kaiser wurde zum christlichen Erzpriester, wurde das Kirchenoberhaupt, „der oberste Richter der Kirchenangelegenheiten“, nach den Worten Peters des Großen in dem Reglement des Heiligen Synod. Doch hier wie dort geschah die gleiche Verwechslung dessen, was des Kaisers ist, mit dem, was Gottes ist, nur mit dem Unterschiede, daß im Westen durch den – wenn auch mißlungenen – Versuch einer Theokratie, durch den Kampf der geistlichen Macht mit der weltlichen, der Päpste mit den Kaisern, die religiöse Idee des römischen Imperiums geschwächt wurde; während im Osten diese Idee, da sie auf keine Hindernisse stieß, sich entwickelte, auswuchs und schließlich ihre letzte universal-historische Vollendung in dem dritten Rom, in der russischen „orthodoxen Autokratie“ erreichte. Die alte heidnische Maske der Menschgottheit wurde durch die neue christliche Maske der Gottmenschheit ersetzt; doch das wahre Gesicht blieb dasselbe – die Fratze des Tieres. Und nirgendwo in der Welt ist die Herrschaft des Tieres so grausam, so gottlos und glaubenslästerlich gewesen wie gerade hier, in der russischen Autokratie.
Die rechtgläubige Kirche weiß selbst nicht, was sie tut, wenn sie die Nachfolger des römischen Tieres „Christen“, d. h. die „Gottgesalbten“, nennt. Sollte sie es aber einmal erfahren und sich dann doch nicht von der Autokratie lossagen, so könnte sie von sich dasselbe sagen, was der Großinquisitor Dostojewskis zu Christus von der römischen Kirche sagt.
„Wir sind nicht mit dir, sondern mit ihm (mit dem Teufel), das ist unser Geheimnis! ... Wir nahmen von ihm das, was du unwillig verschmähtest, jenes Letzte, das er dir anbot, als er dir alle Erdenreiche zeigte: wir nahmen von ihm Rom und das Schwert des Kaisers.“
Womit sonst, wenn nicht mit dem Schwert des Kaisers, muß nun die orthodoxe Autokratie Konstantinopel erobern und das letzte dritte Rom gründen – „die Erde mit Blut überschwemmend“? Daß in der auswärtigen Politik das Angesicht der Autokratie das Gesicht des Tieres ist, daran zweifelte, wie’s scheint, selbst Dostojewski nicht. Nur glaubte er gleichzeitig, daß das Gesicht des Tieres in der inneren Politik, also das zu Rußland gewandte, das Angesicht Gottes werden würde. Er versichert, daß bei uns die allergrößte bürgerliche Freiheit sich ausbilden könne, und zwar „gerade auf diesem selben unerschütterlichen Boden (auf der Autokratie) wird sie sich aufbauen. Nicht durch ein geschriebenes Gesetz wird sie sich bilden, sondern einzig auf Grund der kindlichen Liebe des Volkes zum Zaren, als zu seinem Vater; denn Kindern kann man vieles erlauben, was bei anderen Völkern, die nach Gesetzen leben, undenkbar ist; Kindern kann man so viel anvertrauen, wie es noch in keinem Staate erlebt worden ist, denn die Kinder werden ihren Vater nicht verraten.“ „Ja, zu unserem Volke kann man Zutrauen haben, denn es ist dessen würdig.“
Übrigens hat Dostojewski, wie es scheint, selbst gefühlt, daß etwas in diesen Gedanken über das Zutrauen des Zaren zum Volke nicht stimmte, etwas, das nicht so sehr jenem „unerschütterlichen Boden“ gleicht als jenem Abgrund, über dem der „Eherne Reiter“[2] mit seinem Zügelruck Rußland zum Aufbäumen gebracht hat.
„Ich bin der Diener des Zaren. Ich werde noch mehr sein Diener sein, wenn er wirklich glauben wollte, daß das Volk sich zu ihm wie ein Kind verhält. Woran mag es nur liegen, daß er, wie es doch scheint, noch immer nicht daran glaubt?“ schrieb er wenige Tage vor seinem Tode.
Warum glaubte er denn nicht daran, und wird er vielleicht niemals daran glauben? – das ist die Frage, die Dostojewski hätte beantworten müssen. Aber er kam nicht dazu, – er starb. Und kaum war er gestorben, da rollte auch schon der erste Donnerschlag der großen russischen Revolution durch die Welt. Ein Vierteljahrhundert zog das Gewitter herauf, doch erst jetzt, zur fünfundzwanzigjährigen Gedächtnisfeier Dostojewskis, beginnt es, sich zu entladen.
Alle Irrtümer Dostojewskis ergeben sich daraus, daß er die Widerstandskraft, die der Staat der Kirche entgegensetzt, überhaupt nicht beachtet. Diese Widerstandskraft kommt der ganzen Lebenskraft des Staates gleich: das Leben der Kirche – ist der Tod des Staates, das Leben des Staates – ist der Tod der Kirche.
„Glaubt mir, wir haben nicht nur einen absoluten Staat überhaupt noch nicht gesehen, sondern nicht einmal einen mehr oder weniger vollendeten. Alle blieben sie Embryos!“ Diese rätselhaften Worte, die Dostojewski kurz vor seinem Tode niederschrieb, weisen auf einen tiefen und verborgenen Gedankengang hin. Wenn es den einzelnen „Embryos“ bestimmt ist, sich zu einem einzigen zukünftigen „vollendeten und absoluten“ Staat zu entwickeln: ist dieser Staat dann nicht vielleicht das in der Apokalypse geweissagte „Große Babylon, die Mutter aller irdischen Greuel“ – jene universale Monarchie, die Pseudotheokratie, die Herrschaft als Kirche, mit der sogar Dostojewski zuweilen die wahre Theokratie, die Kirche als Herrschaft, verwechselt?
Dann aber, wenn dieser „absolute Staat“ historische Wirklichkeit wird, dann wird sich auch die „absolute Kirche“ verwirklichen, das absolute, religiöse Gemeinwesen, die geliebte Stadt. Und zwischen diesen zwei Herrschaften wird, wiederum hier auf Erden, zu Ende der universalen Geschichte, doch bis zum Ende der Welt, der letzte Kampf vor sich gehen.
„Der Antichrist wird kommen und sich auf die Anarchie stützen,“ sagt Dostojewski gleichfalls kurz vor seinem Tode. Das ist nicht ganz richtig. Der Antichrist wird kommen, wird aus der Anarchie hervorgehen, doch sich nicht auf die Anarchie, sondern auf die Monarchie stützen, nicht auf die Herrscherlosigkeit, sondern auf die Einherrschaft, die Selbstherrschaft. Der Antichrist wird der letzte und größte Selbstherrscher sein, der Namensusurpator Christi. Und in diesem Sinne sind alle historischen Selbstherrschaften, alle historischen Staaten nur kleine „Embryos“ des apokalyptischen Staates, der Selbstherrschaft des Antichrists.
Der Antichrist ist Usurpator, Pseudozar, denn der einzige wahre Zar ist – Christus. Im letzten Kampf des Staates mit der Kirche wird dann jener Kampf des Pseudozaren mit dem wahrhaften Zaren vor sich gehen, des Tieres mit dem Lamm, von dem gesagt ist: „Sie (die Selbstherrscher, die Diener des Antichrists) werden ihre Kraft und Macht dem Tiere geben. Sie werden Kampf führen mit dem Lamm, und das Lamm wird sie besiegen, denn Er ist der Herr der Herrschenden und der König der Könige.“
Entweder ist das theokratische Bewußtsein noch nicht geboren, und dann ist das „Also geschehe es!“ des Mönches Sossima und Dostojewskis vergeblich; denn es wird nur das sein, was gewesen ist – endlose Verwechslung der Kirche mit dem Staate. Oder dieses Bewußtsein ist schon geboren, und dann beginnt in ihm der letzte Kampf des Lammes mit dem Tier. Und die Spitze des Schwertes Christi, das zu diesem Kampfe erhoben ist, ist das erste prophetische Wort der großen russischen religiösen Revolution, das Wort, das nicht umsonst gerade von uns, den Schülern Dostojewskis, ausgeht: Selbstherrschaft ist vom Antichrist.
Wie konnte Dostojewski dieses Wort nicht aussprechen, wie konnte er seine größte Wahrheit unter dem größten Irrtum verbergen, seine religiöse Revolution unter politischer Reaktion, das Antlitz des heiligen Eiferers, des alten Sossima, unter der Maske des verfluchten Vergewaltigers, des Großinquisitors? Wie konnte er die Selbstherrschaft, die Herrschaft des Teufels, für die Herrschaft Gottes halten?
„Der Staat verwandelt sich in Kirche“ – und „das ist die große Bestimmung der Rechtgläubigkeit“, so führt der Bruder Païssij die apokalyptische Verheißung – „Also geschehe es!“ – seines Lehrers zu historischer Realität.
Dies ist der große Irrtum Dostojewskis, die Quelle der unüberwindlichen Furcht, die ihn veranlaßte, sein neues Gesicht unter alter Maske zu verbergen, seinen neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Er glaubte oder wollte glauben, seine Religion sei Orthodoxie. Doch seine wahre Religion war, wenn auch noch nicht im Bewußtsein, so doch in den tiefsten unbewußten Erlebnissen, keineswegs Orthodoxie, und auch nicht das historische Christentum, ja, war nicht einmal Christentum überhaupt, sondern das, was nach dem Christentum sein wird, nach dem Neuen Testament – war Apokalypse, das nahende Dritte Testament, die Offenbarung der dritten Person der Dreieinigkeit Gottes, war die Religion des Heiligen Geistes.
Das Christentum ist die Offenbarung der einzigen gottmenschlichen Persönlichkeit; dies ist der Grund, warum die wahrhafte christliche Heiligkeit eine vorzugsweise persönliche, innerliche, einsame, nicht gemeinsame Heiligkeit ist; und dies ist auch der Grund, warum alle Versuche, die Gemeinsamkeit in das Christentum einzuschließen, so fruchtlos geblieben sind, denn die Gemeinsamkeit ist die Basis der Vielheit und ihrem Wesen nach, wenn auch nicht ein Widerspruch, so doch das Entgegengesetzte der Grundlage der Einheit, der Grundlage der Persönlichkeit. Nicht in das Christentum, sondern nur in die Religion der Dreieinigkeit, aller drei – der göttlichen Vielheit, die sich in der göttlichen Einheit offenbart – schließt sich auch die menschliche Vielheit, die Gesamtheit der Persönlichkeiten ein: die heilige Gemeinsamkeit. Nur in die Religion der heiligen Erde schließt sich natürlicherweise auch die universale Vereinigung und Einrichtung der Menschen auf Erden ein – in die Kirche als Staat. Im Christentum ist die Kirche ein himmlisches Reich – ein erdenloses, geistiges, körperloses. In der Religion des Heiligen Geistes ist die Kirche das himmlisch-irdische, geistig-körperhafte Reich, nicht nur unsichtbar mystisch, sondern auch sichtbar, historisch-real. Das ist – die Erfüllung des Dritten Testaments, die Inkarnation der Dritten Person, der Dreieinigkeit Gottes. Denn ganz wie die Erste Person der Dreieinigkeit, Gott-Vater, sich in der Naturwelt inkarniert, in der vormenschlichen, – im Kosmos, und die Zweite, die des Sohnes – im Gottmenschen, so wird sich die Dritte Person der Dreieinigkeit, der Heilige Geist, – in der Gottmenschheit, in der Theokratie inkarnieren.
Das ist es, was für uns jene Prophezeiung Dostojewskis bedeutet: „Die Kirche ist in Wahrheit das Reich, und ihr ist bestimmt, zu herrschen, und zum Schluß wird sie kommen müssen als Reich der ganzen Erde.“
Dies ist das Antlitz und derart war seine Maske; das Antlitz ist der Maske entgegengesetzt. Die Maske ist: Orthodoxie, Autokratie, Nationalität; das Antlitz ist: Überwindung der Nationalität in der Allmenschlichkeit, Überwindung der Autokratie in der Theokratie, Überwindung der Orthodoxie in der Religion des Heiligen Geistes.
Zuweilen scheint es, daß derselbe Widerspruch zwischen Gesicht und Maske, wie bei Dostojewski, auch in ganz Rußland existiert, und daß die russische Revolution nichts anderes ist als das Abreißen der Maske vom Gesicht. Von diesem unaufgedeckten Gesichte, von dieser ungeborenen Idee spricht Dostojewski, wenn er sagt:
„Die zukünftige selbständige russische Idee ist bei uns noch nicht geboren, doch die Erde ist unheimlich schwanger mit ihr, und schon schickt sie sich an, sie unter furchtbaren Qualen zu gebären.“
Dmitri Mereschkowski.
Dostojewski hat bereits sehr früh Politisches geschrieben. Schon das Jahr 1861, das zweite nach seiner Rückkehr aus Sibirien, findet ihn in publizistischer Tätigkeit: er gab damals zusammen mit seinem Bruder Michail „Die Zeit“ heraus; und als diese von der Zensur infolge eines Mißverständnisses unterdrückt wurde, „Die Epoche“. Doch politisch bedeutend sind seine Leistungen erst später geworden. Und seine letzten kritischen Schriften schließen sein Lebenswerk wie ein intellektueller Rechenschaftsbericht ab.
Für eine deutsche Ausgabe seiner politischen Schriften kamen daher nur diese letzteren in Frage: 1. „Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre 1873“; 2. „Politische Artikel: Ausländische Begebenheiten aus den Jahren 1873 und 1874“; 3. „Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre 1876“; 4. „Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre 1877“ (mit einem Schlußteil vom Januar 1881, den er kurz vor seinem Tode, am 28. Januar 1881, geschrieben). Auch zwischen ihnen mußte noch geschieden werden. Die weit über tausendseitige Masse dieser Tagebücher, die Dostojewski in der zweiten Hälfte seines Lebens zusammengetragen hat, einfach abzudrucken, ging nicht an. Dostojewski hat nie nach einem bestimmten Plane kritisch gearbeitet; er hat immer nur an sehr aktuellen Ereignissen seine Ideen entwickelt; tagebuchartig trug er seinen Lesern seine Meinungen vor; als der bedeutende russische Mensch, der er war, nahm er Stellung zu den Tagesfragen, wie sie gerade auftauchten. Diese unsystematische, rein menschliche Art seiner kritischen Tätigkeit brachte von selbst mit sich, daß er sich, sobald er auf verwandte Fragen stieß, oft wiederholen mußte. Diejenigen Stücke, die solche Wiederholungen brachten, galt es daher auszusondern und im übrigen alle diejenigen zusammenzustellen, in denen Dostojewski selbst seine Ideen am reinsten herausgearbeitet hat.
Vor allem war eine Teilung in „Politische Schriften“ und „Literarische Schriften“ notwendig, wobei der Begriff „Literarischer Schriften“ im weitesten Sinne des Wortes genommen ist. Die Teilung war nicht ganz einfach, da Dostojewski, eben infolge seiner Abhängigkeit vom zufälligen Stoff, nicht nur ständig vom Literarischen aufs Politische und vom Politischen wieder aufs Literarische überspringt, sondern zwischendurch auch noch alle möglichen religiösen oder ethischen oder volkspsychologischen Fragen behandelt, bei denen es durchaus zweifelhaft sein kann, welcher von den beiden großen Gruppen die betreffenden Stücke angehören; finden sich doch sogar Novellen, die letzten, die er geschrieben hat, in die Tagebücher aufgenommen. Doch ließ sich die angegebene Teilung schließlich durchführen; nur einzelnes, so vor allem die Novellen, wurde anderen Bänden der Ausgabe zugewiesen. Immerhin schließt die Teilung, so wie sie geschehen ist, nicht aus, daß der Kenner des russischen Originals in den „Politischen Schriften“ vielleicht das eine oder andere vermissen wird, was er dann in den „Literarischen Schriften“ findet. Eine eindeutige Scheidung vorzunehmen, erlaubte das vorhandene Material nicht; und das einzige, was erreicht werden konnte, war eine gewisse Geschlossenheit in der Gesamtwirkung jedes einzelnen Bandes.
Für den Band „Politische Schriften“ wurden herangezogen: 1. „Politische Artikel: Ausländische Begebenheiten aus den Jahren 1873 und 1874“; 2. „Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre 1876“ und 3. „Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre 1877“ mit dem Schlußteil vom Januar 1881. Um dem deutschen Leser, der heute nicht mehr, wie einst der russische, eine Zeitchronik lesen, sondern Dostojewskis Gesamtanschauung kennen lernen will, dieses Material übersichtlich darzubieten, wurde es noch einmal abgeteilt, und zwar nach den sachlichen Gesichtspunkten a) Westeuropäisches; b) Russisches; c) Balkan und Orient; d) Asien. Aus dem gleichen Grunde größerer Übersichtlichkeit wurde es hin und wieder nötig, Untertitel anzubringen, die sich bei Dostojewski nicht finden. Es sind das die ganz allgemein gehaltenen: Republik oder Monarchie; Parteimenschen; Frankreich und Deutschland; Frankreich und die Kultur; Deutschland und Rom; Frankreich, die Republik und der Sozialismus; Katholizismus und Sozialismus; Bismarck; Papstwahl; Ausblicke; Französische Republikaner; Französische Reaktionäre; Vorbemerkungen; Unser Verhältnis zum Orient.
Die Aufsatzreihe „Gedanken über Europa“ ist Aufsätzen Dostojewskis aus den Jahren 1873/74 und 1876 entnommen.
Die Aufsätze „Russische Finanzen“, „Die Meinung eines geistreichen Bureaukraten“ und „Die Asiatische Frage“ stammen aus dem Jahre 1881.
Der gesamte Rest der Aufsätze, also fast der ganze Band „Politische Schriften“, stammt aus den Jahren 1876 und 1877.
E. K. R.
In Frankreich erleben wir heute[3] den Kampf zwischen Republik und Monarchie.
Die republikanische Partei hat zwar die meisten Anhänger, doch trotzdem glaube ich, daß das Ende der französischen Republik herannaht. Denn was ist schließlich solch eine Republik wie die eines Thiers? Das ist doch etwas durchaus Negatives. Thiers hat ja selbst von seiner Republik gesagt, daß sie eigentlich nur notwendig sei, weil keine einzige der anderen Regierungsformen, die die gegnerischen Parteien einführen wollen, in Frankreich zurzeit möglich wäre. Solch ein negativer Vorzug kann aber das müde Frankreich, das um jeden Preis Ordnung und eine sie erhaltende Kraft haben will und haben muß, unmöglich befriedigen – um so weniger als diese negative und, wie Thiers sagt, einzig mögliche Regierungsform im gegenwärtigen Frankreich die anderen Parteien keineswegs beseitigt, sondern sie durch ihre Negativität nur anspornt; denn jede der anderen Parteien ist überzeugt, daß sie etwas Positives bringen könnte. Die Republik so bezeichnen, wie es Thiers tut, heißt selbst an sie nicht glauben. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum alle Franzosen ihre Republik unwillkürlich als etwas Vorübergehendes, fast als ein mehr oder weniger unvermeidliches Übel betrachten. Solch eine schiefe Stellung ist auf die Dauer unerträglich, und so wird sich die Republik in Frankreich wohl nicht sehr lange halten können.
Wie steht es aber mit der rechtmäßigen Monarchie?
Nun, stellen wir uns vor, daß der Graf von Chambord[4] den Thron schon bestiegen hat, daß die Partei der Republikaner schon aufgelöst worden ist, daß das Land sich allmählich beruhigt, wenigstens dem Anscheine nach, und alles schließlich in Ruhe seinen Verlauf nimmt. – Versichern doch viele Legitimisten, daß der Graf von Chambord den Franzosen „mindestens 18 Jahre Frieden und Ruhe“ geben würde; schön, wir glauben ihnen gern, – wenn auch nicht gerade, daß es „mindestens“ 18 Jahre sein würden –. Die Frage aber: was dann? bleibt nichtsdestoweniger bestehen. Wodurch wird das Schicksal Frankreichs entschieden, selbst wenn der Graf sich längere Zeit auf dem Throne behauptet? Wodurch werden Europa und die Welt beruhigt?
Louis Veuillot[5] sagt: „Die ganze Kraft des Prätendenten besteht in der unbedingten Aufrechterhaltung seiner Prinzipien; denn nur, wenn er diese nicht um ein Atom verändert, behält er die Möglichkeit, Frankreich zu retten und zu beruhigen.“ Ja, aber was wird denn der neue König tun, um Frankreich zu „retten“? Und was bedeutet eigentlich das Wort „Möglichkeit“ in diesem Falle?
Das Wesen der Prinzipien des Grafen besteht erstens und hauptsächlich darin, daß seine Macht eine – rechtmäßige Macht ist; zweitens, ... ja, was dann folgt, ist so phantastisch, daß man nicht begreift, wie es so ideale Dinge in der Wirklichkeit überhaupt geben kann. Das heißt, wenn die Triebfedern, die jetzt die ganze legitimistische Partei veranlassen, die Monarchie zu proklamieren, auch äußerst verständlich und nichts weniger als ideal sind, so sind doch der Graf von Chambord und alle, die ebenso denken wie er – es gibt ja auch solche unter seinen Anhängern –, vollkommen phantastische Erscheinungen. Die Hauptsache ist aber nicht, daß der König von der Rechtmäßigkeit seiner Macht überzeugt ist, sondern, daß alle Franzosen gleichfalls an die Rechtmäßigkeit seiner Macht glauben; das aber ist doch in Frankreich ganz unmöglich. Sollte dies dennoch einmal geschehen, so würde ja Frankreich nichts mehr zu wünschen übrigbleiben: es würde dann wieder stark und zum erstenmal in unserem Jahrhundert wirklich zu einem Ganzen vereinigt, es würde frei und glücklich sein.
Napoleon III. war während seiner ganzen Regierungszeit gezwungen, alle seine Kräfte zur Befestigung seiner Dynastie zu verwenden. Wäre er von dieser verhängnisvollen Sorge befreit gewesen, so würde er vielleicht noch heute Kaiser sein, und Frankreich hätte vielleicht kein Sedan erlebt. So jedoch mußte er vieles unternehmen, was Frankreich unmöglich zum Vorteil gereichen konnte. Die Franzosen aber begriffen das sehr bald, und zwar sehr gut. Wenigstens liegt hier der Grund, warum sie sich während der ganzen Regierungszeit Napoleons III. trotz des Glanzes ihrer damaligen Macht und ihres großen Ruhmes in einer zweideutigen, unhaltbaren Lage fühlten. Wenn sogar der Kaiser nicht an die Sicherheit seiner Macht glaubte, um wieviel weniger konnte das dann das Volk tun! Sollte aber jetzt das Wunder geschehen, daß schließlich alle an die Rechtmäßigkeit der Macht des Grafen von Chambord glauben, dann – ja dann wäre doch alles erreicht. Weiß der König, daß sein Volk an ihn glaubt, so muß auch er an sein Volk glauben. Erst wenn er keine Verschwörungen oder sonst irgendwelche Anschläge gegen sich zu fürchten braucht, kann er seinem Volke die größten Freiheiten geben, sagen wir: Preßfreiheit, Freiheiten in der inneren Verwaltung und überhaupt im ganzen staatlichen und bürgerlichen Leben, kann, wenn er will, sogar den Kommunismus einführen, ... wenn diese Neuerungen nur nicht dem Ganzen schaden. Aber solch ein allgemeines Einverständnis ist doch ein unrealisierbares Ideal. Man denke doch nur an das in Frankreich eingewurzelte Vorurteil gegen die alte Monarchie, an die hundertjährige Entwöhnung der Franzosen von derselben und die schon hundertjährigen ganz neuen Gewohnheiten, an die fünf oder sechs Generationen, die seit dem Sturze der alten Monarchie aufgewachsen sind, – und schließlich an das Volk, an den Pöbel, der die alte Monarchie gänzlich vergessen hat, sich von ihr überhaupt keine genaue Vorstellung machen kann und heutzutage bestimmt nicht begreift, warum er sich einem Grafen von Chambord unterwerfen soll. Der Graf sagt, er könne sich nicht als König bloß einer Partei denken; das bedeutet, daß er von allen gewählt sein will. Darin aber besteht ja die ganze Phantastik seiner Auffassung Frankreichs, daß er, wie es scheint, von der Möglichkeit solch einer Wahl vollkommen überzeugt ist. „Ohne die Zustimmung aller Franzosen und ohne die rechtmäßige Macht des Königs kann Frankreich nicht glücklich werden,“ sagen die Legitimisten. Schön; – wie aber diese allgemeine Zustimmung erreichen? – wie diese hundert Jahre überspringen? Das ist doch eine Illusion, die sie sich da machen! Ich wiederhole: alle diese Monarchisten, die um jeden Preis die Monarchie proklamieren wollen, sind durchaus verständlich, doch der Graf von Chambord, der ernstlich glaubt, daß ihn alle wählen könnten, und daß er nicht ein König bloß seiner Partei sein würde, – dieser Graf von Chambord kommt einem denn doch, gelinde gesagt, etwas wunderlich vor.
Diejenigen Legitimisten, denen es nicht ausschließlich darum zu tun ist, daß ein König den Thron einnimmt – der legitime Klerus hat natürlich seine eigenen, besonderen Ziele im Auge –, die, meine ich, müssen doch irgendeinen vernünftigen Plan haben; denn sie können doch schließlich nicht auch an die allgemeine Zustimmung, die plötzlich fertig vom Himmel fallen soll, glauben? Was kann aber das für ein Plan sein? Es wird doch nicht genügen, nach Paris zu kommen, sich auf den Thron zu setzen, den Mac-Mahons gehorsame Bajonette umringen würden, und König zu sein. Man wird doch auch etwas tun müssen. Man wird irgendeine neue Idee bringen, ein neues Wort sagen müssen, doch eines, das wirklich die Kraft hat, mit dem bösen Geiste der Uneinigkeiten des ganzen Jahrhunderts, mit der Anarchie und den zwecklosen Revolutionen, den Kampf aufzunehmen. Nicht zu vergessen, daß dieser böse Geist einen leidenschaftlichen Glauben in sich trägt – also wirkt er nicht durch Lähmung der Verneinung, sondern durch die Verführung der positivsten Versprechungen: er trägt den neuen antichristlichen Glauben in sich, also neue moralische Grundsätze für die menschliche Gesellschaft. Er versichert, daß er fähig sei, die ganze Welt von neuem aufzubauen, alle gleich und glücklich zu machen und endgültig den ewigen babylonischen Turm zu vollenden. Diesem Glauben gehören Menschen der höchsten Intelligenz an, sowie alle Geringen und Verwaisten, alle Mühseligen und Beladenen, die da müde geworden, das Reich Christi zu erwarten, alle der Erdengüter Beraubten, alle Besitzlosen – und in Frankreich gibt es derer schon Millionen! Und diese drohenden Scharen stehen bereits vor der Tür! Also muß doch der Graf von Chambord etwas sagen und tun; denn sonst – warum kommt er denn überhaupt? – Was aber wird nach seiner Krönung in Wirklichkeit geschehen? Am wahrscheinlichsten ist, daß sich der Faubourg St. Germain wieder bevölkern wird, daß die Priester sich bereichern und Vicomtes und Marquis wieder große Rollen spielen werden, daß viele neue Moden aufkommen, und mit ihnen eine Unmenge neuer Bonmots entstehen; daß man in der Hofetikette etwas Besonderes einführt, das dann sofort eiligst an allen anderen europäischen Höfen nachgeahmt wird; daß man sich etwas Neues für die Bälle und Balletts ausdenkt, daß neue Horsd’oeuvres und Konfitüren berühmt werden. Hinzu kommt dann vielleicht noch, daß in der Kammer, der vielleicht eine kleine Macht zugestanden wird, von einer Seite Doktrinäre, von der anderen die kleinen Helden der Linken sich erheben werden, und die Linke in ihrer ungereimten Lage dann doch noch dümmer sein wird als die Rechte. Darauf wird dann langsam eine dumpfe, unbestimmte Unzufriedenheit im Volke aufsteigen. Der böse Geist, der zunächst noch sehr jung ist, wird wachsen und wachsen und immer drohender werden. Und dann, an einem wundervollen Morgen, wird der König irgendeinen Befehl erlassen: – Paris braust auf! Das Militär greift zu den Waffen und – der böse Geist klopft mit starker Hand an die Tür ...
Nein, bestimmt gibt es unter den Legitimisten auch schon Männer, und zu ihnen gehört sicherlich auch der Graf von Chambord – natürlich, der unbedingt, – die da ganz anders vorzugehen gedenken, Männer, deren Absichten viel tiefer und edler sind. Sie brennen geradezu darauf, mit dem bösen Geist den Kampf aufzunehmen und ihn zu besiegen. Das ist ihr Ziel, nur zu diesem Zweck tun sie alles, was sie tun. Doch Wunsch und Tat sind zwei verschiedene Dinge. Nur fragt es sich: womit den Kampf mit dem neuen, auflösenden Element beginnen? Mit klerikaler Gewalt und Arglist ist dabei nichts mehr zu erreichen. Die Antwort kann natürlich nur lauten: „Der erste Schritt zum Ziel – das ist die Wiederherstellung der Weltmacht des Papstes.“
Oh, umsonst werden die aufgeklärten Legitimisten diese Idee ableugnen! Umsonst wird der Graf versichern, so wie er bis jetzt versichert hat, daß er des Papstes wegen keinen Krieg beginnen wird, daß er mit seiner Regierung nicht zugleich das Gouvernement der Patres bringen will. Nun – diesen Weg einzuschlagen, werden sie nicht verfehlen können! Auf den wird man sie gar bald gezogen haben! Manche Beobachter erraten denn auch schon, daß diese ganze legitimistische Bewegung, die so plötzlich und mit solch einer Anspannung aller Kräfte in Frankreich ausgebrochen ist, vielleicht nichts anderes ist als eine klerikale Machenschaft, und daß die Losung dazu in Rom gegeben und das Ziel des Ganzen – die Wiederherstellung der Papstmacht ist. Die Klerikalen haben sich natürlich weder Chambord noch die Legitimisten ausgedacht, dafür aber haben sie sich – ihrer bemächtigt. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß es sich so verhält. Die römische Bewegung hat im letzten halben Jahre ganz Europa durchzogen. Zwei Prätendenten im äußersten Westen, der Graf von Chambord und Don Carlos; die römisch-katholische Agitation in Deutschland, die die Katholiken des Reiches mit gerechtem Unwillen gegen das neue Kirchengesetz erfüllte; die Versuche, in Frankreich, Deutschland und der Schweiz dem Volke mit einer neuen Erfindung – der Veranstaltung von Volksgottesdiensten – näherzutreten; einige bis jetzt unerhörte demokratische Ausfälle und Aufrufe der katholischen höheren Geistlichkeit in Deutschland: all das bringt auf den Gedanken von einer großen, überall gleichzeitig eingeleiteten Agitation des Klerus zugunsten des unfehlbaren, doch besitzlosen Papstes. Diese ganze klerikale Bewegung ist dadurch bedeutungsvoll, daß sie vielleicht der letzte Versuch des römischen Katholizismus sein wird, noch einmal, zum letzten Male, die Könige und Großen dieser Welt um Hilfe anzugehen. Seine Hoffnungen werden aber nicht in Erfüllung gehen, und Rom wird zum ersten Male in 1500 Jahren sich sagen, daß nun die Zeit gekommen ist, da es mit den Großen dieser Welt brechen und die Hoffnung auf die Könige fallen lassen muß! Man glaube mir – Rom wird es von da ab verstehen, sich ans Volk zu wenden, an dieses selbe Volk, das die römische Kirche bis dahin immer nur hochmütig von sich gestoßen und dem sie sogar das Evangelium Christi vorenthalten hat, indem sie verbot, es zu übersetzen. Der Papst wird es verstehen, barfuß zum Volk zu kommen mit seiner Armee von zwanzigtausend Jesuitenkämpfern, diesen alterfahrenen Seelenjägern. Werden Karl Marx und Bakunin diesem Heer standhalten können? Wohl kaum! Der Katholizismus versteht es zu gut, wenn es nötig ist, nachzugeben und alles zu versöhnen. Was kostet es ihn, das dunkle und arme Volk zu überzeugen, daß der Kommunismus dieses selbe Christentum sei, und daß Christus überhaupt nur von ihm gesprochen habe! Es gibt ja selbst jetzt schon kluge und geistreiche Sozialisten, die überzeugt sind, daß dieses wie jenes – ein und dasselbe sei, und die im Ernst den Antichrist für Christus nehmen.
Heinrich V. wird schon allein deswegen den Krieg für den Papst nicht vermeiden können, weil die nächsten Jahre vielleicht die einzige Zeit sind, da ein Krieg für den Papst noch populär sein kann und das Volk sich zu ihm noch sympathisch verhalten wird. Wäre Heinrich V. fähig, in einem Kriege mit Deutschland die Milliarden und die Erniedrigung zu rächen und ihm Elsaß und Lothringen wieder abzunehmen, so würde er sich dadurch zweifellos den Thron auf Lebenszeit sichern. Wollte er aber, wenn er König geworden, Deutschland ohne weiteres den Krieg erklären – so würde ihm doch kein einziger folgen, ja man würde ihn den Krieg einfach nicht erklären lassen: das wäre den Franzosen denn doch zu unheimlich und ein viel zu großes Wagnis! Der Papst jedoch, der von Deutschland Verfolgte, würde in kurzer Zeit Sympathie für die Idee zu gewinnen verstehen. Wer aber ist jetzt sonst der Gegner des „Unfehlbaren“, wenn nicht Deutschland? Die Wiederherstellung der Macht des Papstes hält Deutschland für die schwerste Zukunftsdrohung und wird deshalb mit allem Nachdruck für Italien einstehen. Allmählich geht es dann von den Unterhandlungen zur Spannung über, und von der Spannung zur Tat und – das Papstproblem wird, im Falle der Thronbesteigung des Grafen von Chambord, seine Lösung in dem großen und unfreiwilligen Kriege zwischen Frankreich und Deutschland ganz von selbst finden. Unmittelbar für das Elsaß gehen die Franzosen nicht in den Krieg; aber so nach und nach, ohne es eigentlich zu wollen, werden sie sich, wenn sie einmal für den Papst eintreten, gutmütig, wie sie nun einmal sind, hineinziehen lassen, und es ist möglich, daß der Krieg dann sogar populär wird. Nein, solch eine Gelegenheit wird der Graf von Chambord nicht unbenutzt vorübergehen lassen können.
Nun, nehmen wir selbst an, daß er als Sieger aus dem Kampf hervorgeht, daß Frankreich sich wieder mit Ruhm bedeckt, die Provinzen zurückerobert, und daß dann der Papst womöglich nach Paris zur Grundsteinlegung irgendeines Domes fährt, worum man ihn schon kürzlich gebeten hat. Was dann aber weiter geschieht? Nicht das ist wichtig, daß Heinrich V. nach seiner Heldentat vielleicht glücklich seinen Thron bis zu seinem Lebensende behält. Wichtig ist vielmehr einzig die Frage, ob sich mit dem Grafen von Chambord die rechtmäßige Monarchie als solche in Frankreich unangefochten für die nächsten Jahrhunderte festsetzen kann, und was sie dem Lande geben wird? Welch ein Glück? Ob sie es beruhigen wird? und den bösen Geist, der so nahe an der Tür steht, auf ewig vertreiben kann?
Was will es besagen, daß der Papst nach Paris kommt und der römische Katholizismus wieder mit neuem, noch nie geschautem Glanze die Herrschaft ergreift! Kann denn etwa der Papst, der triumphierende und „unfehlbare“ und nicht der „barfüßige“, den bösen Geist verjagen? Können das etwa seine Jesuiten, die so geschäftigen „Geistlichen“ mit ihrem status in statu, diese geriebenen, schamlosen, abgefeimten? Nein, der böse Geist ist stärker und reiner als sie! Nicht mit diesem Heer kann der Graf von Chambord sein neues Wort sagen. Wenn aber nicht mit diesem, – mit welchem dann? Unwillkürlich glaubt man ja jetzt, daß der Graf tatsächlich ein höheres Wesen sei, so ein gebotener König mit dem reinsten Herzen. Und sicherlich wird er in der Verzückung seiner Seele begreifen, daß sein ganzes neues Wort – gerade dieser Kampf für Christus mit dem furchtbaren emporsteigenden Antichrist ist, daß man Frankreich retten muß, indem man seine Klugen, seine Denker zu Gott bekehrt und in die Herzen der Millionen „Ungetaufter“ das Heil Christi gießt und sie zum erstenmal mit seiner Lichtgestalt bekannt macht. Wodurch könnte denn sonst der neue „allerchristlichste“ König sein Frankreich retten? Er sagt doch selbst, daß er es retten will, und er glaubt doch an den Erfolg. Er weiß doch, daß die erste der Schlachten zwischen der zukünftigen neuen Gesellschaft und der alten Ordnung der Dinge auf Frankreichs Boden stattzufinden hat. Er weiß aber auch, daß gerade davor die ganze französische Gesellschaft zittert, alle Reichen und mit Erdengütern Beschenkten, daß sie gerade deswegen so nach einer starken Regierung verlangen und suchen, wo die Kraft ist, die sie nicht finden können; daß sie einzig zur Abwehr dieses neuen emporsteigenden Feindes auch Napoleon III. auf den Thron haben steigen lassen; und daß sie, wenn sie sich jetzt für den Grafen von Chambord entscheiden, es nur in der Hoffnung tun, daß er vielleicht irgendeine neue Kraft mit sich bringen wird, die sie beschützen kann? Ist dem aber so, wo soll er dann die Menschen zu diesem furchtbaren Kampf hernehmen? Ist er auch selbst schon so weit und so reif, um ihn zu verstehen? Trotz seines guten Herzens – bestimmt nicht. Wie soll er obendrein vor solch einer schrecklichen Armut der Mittel, mit denen er handeln könnte, nicht zurückschrecken? Schrickt er aber nicht zurück, – wie soll man ihn dann in solch einem Falle nicht entweder für einen beschränkten, unwissenden Menschen halten oder aber für einen, der nicht weit vom Irrsinn entfernt ist? Wo bleibt nun die Antwort auf meine Frage? Zu guter Letzt also, wodurch, mit welchen Kräften kann denn der Legitimismus Frankreich retten und heilen? Da wäre doch selbst ein Prophet Gottes zu wenig, nicht nur ein Graf von Chambord! Und sogar der Prophet würde gesteinigt werden! Der neue Geist kommt, die neue Gesellschaft wird zweifellos triumphieren – als das einzige, das eine neue, positive Idee bringt, als der einzige, ganz Europa vorherbestimmte Ausweg, als das einzige Heil. Darüber kann kein Zweifel bestehen. Die Welt wird erst nach ihrer Heimsuchung durch den bösen Geist gerettet werden. Der böse Geist aber ist nah. Unsere Kinder vielleicht werden ihn schauen ...
Im übrigen habe ich nur sagen wollen, daß der Legitimismus für Frankreich nicht nur jetzt unmöglich, sondern überhaupt nicht nötig ist: niemals nötig war, noch in der Zukunft sein wird; denn er hat die geringsten Mittel, es zu retten.
Aber in Frankreich heißt es jetzt nun einmal: entweder Monarchie oder Republik, eine andere Regierungsform ist unmöglich. Mir jedoch will es scheinen, daß man auch der Republik in Frankreich müde und überdrüssig ist. Diese meine Worte zu rechtfertigen, damit man sie nicht etwa für ein Wortspiel oder eine absichtliche Leichtfertigkeit halte, werde ich in anderem Zusammenhange einmal versuchen.
Vor einem Monat hat in Versailles, im Trianon, der Prozeß des Marschalls Bazaine begonnen. Der Marschall ist des Verrates angeklagt. – Aber: des Verrats an wem? Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf diese Frage. Sie ist in Anbetracht der gegenwärtigen französischen Lage nicht uninteressant.
Zur Zeit der Regierung Napoleons III. zählte der Marschall Bazaine zu den fähigsten Generälen der kaiserlichen Armee. Als man vor jetzt anderthalb Jahren zuerst davon sprach, daß er vor ein Kriegsgericht gestellt werden würde, rief ein Marschall, einer seiner Kameraden, aus: „Wie? Einer der ehrlichsten Soldaten! Schade! Il était pourtant le moins incapable de nous tous!“ Dieser „am wenigsten unfähige“ Marschall hatte also das Kommando über die größere Hälfte der Armee in diesem unheimlichen Kriege mit Preußen erhalten. Einen Generalfeldmarschall hatten die Franzosen nicht; der Kaiser selbst nannte sich nicht einmal so, sondern begnügte sich damit, in den Gang der Ereignisse oftmals störend einzugreifen – doch das war schließlich noch nicht das schlimmste! Alle diese alten Generäle wie Canrobert, Niel, Bourbaki, Frossard, Ladmirault usw., die als Bazaines Zeugen vor Gericht geladen sind, äußern sich über ihn mit großer Hochachtung. Für ihre Aussagen interessiert sich das Auditorium am meisten. Hauptsächlich zeugen sie von der außergewöhnlichen Tapferkeit Bazaines – zum Beispiel in der Schlacht bei St. Privat, wo er persönlich, ungeachtet seiner Stellung als Schlachtführer, sich in erster Reihe unter die Kämpfenden gemischt hatte – „obgleich er die Bedeutung dieser Schlacht nicht begriff,“ fügte einer von den Marschällen hinzu. Ob er sie nun begriff oder nicht begriff: jedenfalls kam es in dieser Schlacht dazu, daß aus Mangel an Patronen die Soldaten aus ihren modernen Chassepots nur alle zwei Minuten eine Kugel abschießen konnten und der Hauptteil der Armee in den Kampf eintrat, ohne seit vierundzwanzig Stunden etwas gegessen zu haben. Aber nicht darin bestand das Unglück, obgleich, wie bekannt, die schlechte und ordnungslose Versorgung der französischen Armee mit Lebensmitteln und Gewehren ganz Europa in Erstaunen setzte. Der Kaiser versäumte, zur rechten Zeit mit seinem ihm nach schweren Schicksalsschlägen noch verbliebenen Heer nach Paris zurückzukehren, was für ihn die einzige Rettung gewesen wäre, die beste Ausflucht aus seinem damaligen Unglück. Aber mit ihm geschah das, was ich vorhin schon erwähnte, als ich von den charakteristischen und verhängnisvollen Zügen seiner Regierung sprach, daß er um der Befestigung und Verwurzelung seiner Dynastie willen gezwungen war, während der ganzen Zeit seiner Herrschaft ununterbrochen eine Menge Dinge zu unternehmen, die immer zum Unglück Frankreichs und nie zu seinem Glück ausfielen. Auf diese Weise war dieser mächtige Herrscher, im Grunde genommen, sogar auf seinem Throne – kein Franzose, sondern nichts als der Mensch seiner Partei, ihr Hauptführer sozusagen. Den Rückzug nach Paris, wenn auch mit einer geschlagenem so doch immerhin noch mit einer Armee – diese Armee hat Frankreich in der letzten Schlacht sehr große Dienste geleistet –, wagte er nicht: er fürchtete die Unzufriedenheit des Landes, den Verlust der Anhänglichkeit des Volkes, fürchtete Aufstand, Revolution, kurz, er fürchtete Paris und zog es daher vor, sich in Sedan zu ergeben und sein Schicksal und das seiner Dynastie der Großmut seines Feindes anheimzustellen. Zweifellos ist auch jetzt noch nicht alles, was zwischen ihm und dem preußischen König bei ihrer Zusammenkunft verhandelt worden, der Geschichte bekannt. Viele Geheimnisse werden wohl erst lange nachher aufgedeckt werden; aber es ist unmöglich, nicht zu dem Schluß zu kommen, daß Napoleon mit seiner Übergabe und der seiner Armee darauf gerechnet hatte, daß er seinen Thron behalten werde. Damit, daß er seine Armee übergab, damit gedachte er wohl die Kräfte seines Feindes zu schwächen – ich meine die Kräfte der Revolutionäre ... denn an Frankreich dachte dabei der Parteimensch in ihm nicht.
Ebenso dachte auch der Marschall Bazaine nicht an Frankreich. Eingeschlossen in Metz mit einer sehr bedeutenden Armee, ignorierte er vollständig die Regierung der Nationalversammlung, die sich nach der Gefangennahme des Kaisers in Paris gebildet hatte. Er zog es vor, sich gleichfalls zu ergeben, und nahm damit Frankreich seine letzte Armee, die, selbst wenn sie in Metz eingeschlossen war, dem Vaterlande doch noch äußerst nützlich hätte sein können – wenn auch, wie gesagt, nur dadurch, daß sie einen bedeutenden Teil der feindlichen Kräfte festlegte. Es ist ganz unmöglich, sich vorzustellen, daß der Marschall, als er sich in dieser Weise schnell und ohne rechten Grund ergab, nicht irgendwelche geheimen Bedingungen mit dem Feinde abgeschlossen, wenigstens nicht irgendwelche Versprechungen von ihm gefordert hatte ... die dann später nicht erfüllt wurden. Aber, wenn dem auch nicht so gewesen wäre, so ist es doch klar, daß der Marschall, ähnlich dem Kaiser, es vorzog, seine Armee den Preußen zu überlassen, anstatt sie für die Republik aufzusparen.
Der Marschall – wenn er auch jetzt vor dem Gerichte lügt und augenscheinlich die Absicht hat, bei diesem Verfahren zu bleiben – verheimlicht doch zum Teil seine damaligen Eindrücke und Empfindungen nicht. Er sagt geradeheraus, daß es in den Metzer Tagen eine gesetzliche Regierung nicht mehr gab, und daß er das damalige Chaos von Regierung in Paris als eine wirkliche Regierung nicht anerkennen konnte – das ist ungefähr der Sinn seiner Worte vor Gericht. „Wenn es für Sie damals keine Regierung gab – la France existait!“ rief darauf der Herzog d’Aumale, der Vorsitzende des Kriegsgerichtes, aus.
Und damit war der Punkt, von dem die Richter ausgehen werden, gefunden. Diese Worte des Herzogs machten auf das Publikum, auf ganz Frankreich, einen großen Eindruck. Dem schuldigen Marschall wurde damit klar zu verstehen gegeben, daß ihn jetzt nicht eine Partei richte, keine Republik, keine unrechtmäßige Regierung, die er, wenn er will, auch jetzt nicht anzuerkennen braucht – sondern Frankreich, das er um einer rechtmäßigen Regierung willen verkauft, das Vaterland, das er verraten aus Parteiinteresse.
Man kann einen Verräter seines Vaterlandes niemals entschuldigen. Sind aber hier auch die im Recht, die über den Verräter zu Gerichte sitzen? Das ist es, worauf ich hinweisen will. Sind nicht im Gegenteil Bazaines Richter ein Teil jenes Grundübels, das den Organismus dieser großen Nation zerstört und erschöpft hat; verkörpern nicht auch sie ein Unglück, das wie eine schwarze Wolke ständig über ihr liegt? Und verstehen sie dieses Unglück jetzt; sind sie fähig, es zu begreifen? Ist der Marschall aber nicht ähnlich dem altjüdischen Opferlamm, auf das die Sünden des ganzen Volkes gelegt wurden?
In der Tat, was konnte er damals von Metz aus erwarten? Angenommen, der Parteimensch in ihm habe dem Bürger in ihm einmal Platz gegeben beim Anblick des ganzen großen nationalen Unglücks; angenommen, er habe aufrichtig gewünscht, dem Vaterlande zu dienen: was konnte er aber in dem damaligen Paris erblicken? Es ist wahr, die triumphierende Revolution des 4. September nannte sich nicht Republik, sondern „Regierung der Nationalverteidigung“. Diejenigen aber, die an der Spitze dieser Volksregierung standen, konnten Bazaine, General und Parteimensch, wie er war, einem tätigen und energischen Menschen zugleich, nur Widerwillen einflößen. Dieser talentlose Maniak, der General Trochu, alle diese Garnier-Pagès, Jules Favre, sind, wenn auch als Menschen aller Hochachtung wert, doch schließlich erbärmliche, talentlose Mumien, Phrasenhelden der ersten Tage einer Pariser Revolution und – leider – immer noch nicht den Parisern langweilig genug geworden. Wie mußte das dem Marschall und seinem scharfen beobachtenden Menschenkennerblick in Metz erscheinen!? Aber – mögen sie auch talentlos gewesen sein! Mag auch jegliche Aufgabe, der sie nicht gewachsen waren, von ihnen verpfuscht worden sein, solange sie die Macht hatten! Sie waren doch wenigstens treue Bürger, Leute mit reinem Herzen, wahre Söhne des Vaterlandes! War dem nicht so? Aber nein, das waren ja wiederum auch nur Republikaner! La république avant tout, la république avant la France – das war und ist auch jetzt noch ihre Devise! Und darum hätte der Marschall, wenn er, um gleichfalls „Bürger zu werden“, sich von der Partei des Kaisers losgesagt hätte – und wär’s auch nur zeitweilig und scheinbar gewesen, zur „Rettung des Vaterlandes“ – sich doch nicht den Rettern des Vaterlandes, sondern wieder nur Leuten einer anderen Partei anschließen müssen. Aber diese Partei haßte er, und ihr zu helfen: dazu konnte er sich nicht entschließen! Einige Zeit nachher kam aus dieser lächerlichen Gruppe ein Mann, der im Luftballon Paris verließ, um in den noch freien Teil Frankreichs zu gelangen: Gambetta. Er erklärte sich selbstherrlich zum Kriegsminister, und die ganze Nation, die sich nach irgendeiner Regierung sehnte, ernannte ihn sofort zu ihrem Diktator. Er aber verlor darüber nicht den Kopf, sondern wurde in Wahrheit ihr Diktator. Dieser Mensch zeigte eine große Energie, er regierte Frankreich und stampfte ein neues Heer aus dem Boden. Einige beschuldigen ihn jetzt unter anderem, daß er unnütz Geld verschwendet hätte und mit diesem Geld fünfmal mehr für das Heer hätte tun können. Gambetta könnte freilich seinen Anschuldigern mit Recht erwidern, daß sie, wenn sie auch fünfmal mehr Geld gehabt hätten als er, doch nicht einen einzigen Soldaten hätten aufstellen können. Und siehe da, dieser kluge und energische Mensch, der wirklich viel für Frankreich getan hat, und mit dem zu arbeiten Bazaine sich nicht hätte zu schämen brauchen – besteht doch auch auf der Devise: „la république avant la France!“ Jetzt sagt er das freilich nicht mehr laut, schlau und geduldig wartet er, bis an ihn die Reihe kommt, und wenn es nötig ist, so unterstützt er mit Eifer sogar Thiers, der ihn schon vor drei Jahren ersetzt hat. Aber auch dessen Devise ist: „la république avant tout“, und auch er ist vor allem und zuerst der Mensch seiner Partei! Diese seine Eigenschaft ist den Republikanern offenbar die liebste.
Und so ist alles in Frankreich Partei und sind alle Franzosen Menschen einer Partei. Es ist wahr, in Frankreich tauchten zur Zeit des schwarzen Jahres auch einige beruhigende Erscheinungen auf. Die Bretagner, gebotene Legitimisten, erschienen mit ihren Führern, um für ihr Vaterland zu kämpfen, und sie kämpften tapfer! Mit ihrem Muttergottesbild auf der Fahne schlossen sie sich zeitweise der Regierung der Republikaner und Atheisten an. Auch die Orleansschen Herzöge kämpften in gleicher Reihe mit ihren Feinden in der neugebildeten französischen Armee. Kämpften sie aber fürs Vaterland? Das ist heute mehr als zweifelhaft. Wenn man zurzeit ihre Rolle in Frankreich beobachtet, ihre Verschwörung gegen Frankreich zugunsten eines „legitimen Königs“ – so ist es wohl erlaubt, daraus zu schließen, daß sie vor drei Jahren nur deshalb mitgekämpft haben, weil sie darin endlich eine Chance für ihre Partei, die schon so lange auf eine solche gewartet hatte, erblickten. Und sie haben sich nicht in der Möglichkeit einer derartigen Chance getäuscht: sie strömten in großer Anzahl bei den ersten Wahlen zur Nationalversammlung herbei und brachten es auch richtig zu einer Mehrheit.
Überall Parteien! Freilich: wenn man alle diese Parteien zusammenlegt, so ist die Gesamtzahl ihrer Anhänger – ausgenommen die Partei der Kommunisten – sehr gering, im Vergleich zu der Anzahl aller Franzosen, denn die übrigen Franzosen sind indifferent. Sie erwarten alle, geradeso wie damals vor dem Erscheinen Gambettas im verhängnisvollen Jahr – einen Diktator, damit er sie väterlich in seine Gewalt nehme und ihnen ihr Leben und Gut behüte. Ihre Devise ist das bekannte Sprichwort: „Chacun pour soi et Dieu pour tous“. Aber auch bei dieser Devise gehört der Mensch seiner eigenen Partei an und – was kann für solch einen Menschen das Wort Vaterland bedeuten?
Das ist das Grundübel Frankreichs: der Verlust einer allen gemeinsamen Idee der Einigung! Man sagt von den Legitimisten, daß sie diese Idee mit Gewalt wiedererwecken wollten. Aber sogar die besten ihrer Partei denken nicht an die Idee, sondern nur an den Triumph ihrer Partei. Die Allerbegeistertsten von ihnen denken noch nicht einmal an den Legitimismus. Der Triumph des Grafen Chambord ist für sie – der zukünftige Triumph des Papstes und des Katholizismus. Das ist dann schon wieder eine Partei in der Partei.
Und so richten jetzt die Menschen der Partei den Marschall Bazaine dafür, daß er – der Anhänger seiner Partei blieb! Ist er nicht wirklich dem altjüdischen Opferlamm ähnlich, mit dem ich ihn verglich? ... Es kommt in Frankreich noch so weit, daß jeder Verrat des Vaterlandes nicht mit ruhigem Gewissen gerichtet werden kann – aus Mangel an Richtern; denn alle sind sie Menschen bloß der Partei und nicht des Vaterlandes. – Wenn die Franzosen Bazaine verurteilen, werden sie dann wissen, was sie tun?
In Deutschland wird die Nachricht von den gescheiterten Hoffnungen der französischen Legitimisten[6] fast von der ganzen Presse, sogar einschließlich der offiziösen preußischen Organe, mit unverhohlener Freude aufgenommen. Die nächstliegendste Erklärung dieser Freude wäre wohl in der Befürchtung zu suchen, daß die Thronbesteigung des Grafen von Chambord den Versuch einer Wiederherstellung der Papstmacht von seiten Frankreichs nach sich gezogen haben würde. Nun, und auf diesem Wege wäre ein Zusammenstoß mit Deutschland unvermeidlich gewesen. Erklärt man sich aber so die deutsche Zufriedenheit – um wieviel auffallender ist es dann, daß in Deutschland selbst die ernsten Blätter an die Dauerhaftigkeit dieser Restauration haben glauben können. Die Deutschen vertrauen, scheint es, etwas zu sehr auf den Erfolg von „Blut und Eisen“. Ich glaube, daß in der gegenwärtigen französischen Krise – „der Gärung aller Geister und Wünsche“ – ein Staatsstreich in diesem Lande beinahe unmöglich ist: sie haben dort keinen einzigen, der ihn ausführen könnte! Das heißt, Liebhaber würden sich dazu schon finden, und (was am interessantesten ist) vielleicht gleichfalls eine außerordentlich große Anzahl Leute, die aufrichtig ihre eigene Vergewaltigung wünschen, und zwar: um der endgültigen Herstellung der Ruhe und Ordnung willen, sogar eine möglichst baldige Vergewaltigung herbeiwünschen. In diesem Lande aber genügt zu einer erfolgreichen Gewaltherrschaft nicht Kraft allein und selbst nicht einmal die Zustimmung der zu Vergewaltigenden. Dort bedarf die Gewalt unbedingt der Autorität: wenn es auch eine verhaßte und wenn es auch keine wahre Autorität ist, so muß es doch eine Herrscherautorität sein, eine, der man die Kraft der Macht wirklich zutrauen kann. Der Graf von Chambord nun hat nichts von solch einer Autorität, und selbst von seinen Anhängern werden wohl kaum alle glauben, daß er solch eine Kraft ist. Darum aber – ich wiederhole bereits früher von mir Gesagtes – wäre er zweifellos und sogar sehr bald wieder vertrieben worden. Doch selbst solch eine Wendung der Sache wäre für Frankreich vielleicht vorteilhafter gewesen als der jetzige chaotische Zustand – wenn auch nur insofern vorteilhafter, als es dann eine Partei weniger gegeben hätte und die Herrschaft der gemäßigten Republikaner somit wieder möglich gewesen wäre.
Nun aber will ein Teil der konservativen Presse Deutschlands der von der liberalen deutschen Presse angegebenen Begründung ihrer Freude über den Mißerfolg des Prätendenten nicht recht glauben; das heißt, will nicht glauben, daß die Furcht, Frankreich hätte den gefährlichen Weg der ultramontanen Politik einschlagen können, die Ursache dieser gegenwärtigen Freude wäre. Die „Kreuzzeitung“, zum Beispiel, erklärt unumwunden, daß die Liberalen der ganzen Welt sich solidarisch fühlten; daß im Radikalismus die Nationalitäten verschwänden, und darum sich auch die deutschen Radikalen für die französischen Radikalen freuten, wenn sie, wie hier, ihren Erfolg sähen. Es ist das vielleicht so unrichtig nicht. Merkwürdig nur, daß diese Bemerkung – die gewissermaßen wie ein Vorwurf und eine Befürchtung klingt – in einem Reiche gemacht wird, wo gerade in diesem Augenblick die nationalen Ideen so mächtigen Erfolg haben, wo nach dem kürzlichen Triumph über Frankreich das Gefühl der nationalen Selbstzufriedenheit sich bis zur Abgeschmacktheit gesteigert hat, wo sogar die Wissenschaft chauvinistische Züge aufweist. Sollte es wirklich wahr sein, daß der kosmopolitische Radikalismus auch in Deutschland schon Wurzel gefaßt hat? Daß auch dort schon die französische Lehre – der Kommunismus – an die Tür klopft? Wenn es fast seit dem Anfang des Jahrhunderts bei den europäischen „Geistern“ gang und gäbe ist, Rußland für einen „furchteinflößenden Koloß auf tönernen Füßen“ zu halten – während in Wirklichkeit, wenn es bei uns etwas besonders Gutes und Ganzes gibt, es gerade die Grundlage, das Volk ist, auf dem Rußland von jeher gestanden hat und auch hinfort stehen wird – so, sollte es dann, frage ich, vielleicht wirklich möglich sein, daß solch eine Annahme, wenn auch nur teilweise, auch von dem neuen germanischen Koloß zutreffend sein könnte?
Ein Pariser Telegramm berichtete unlängst aller Welt, daß ein gewisser Sir Henry Richard, eine ziemlich unbekannte Persönlichkeit, auf dem ihm zu Ehren gegebenen Diner in einer Rede über seinen Plan einer internationalen Vermittlerschaft unter anderem auch gesagt habe: „Keine einzige Idee kann sich verwirklichen ohne die Protektion Frankreichs, dem an Einfluß kein anderes Land gleichkommt, dessen Sprache und Literatur universal sind!“ ... Worte, die in Paris gierig aufgefangen und von den „erniedrigten“ Franzosen sofort allen sichtbar und hörbar gemacht worden sind. So hat man sie denn auch schon in Deutschland vernommen, doch haben sie dort, wie in Europa überhaupt, nur eine gewisse fragende Stirnfalte und mißbilligendes Kopfschütteln hervorgerufen. Nun, wir glauben natürlich an jedes Wort Sir Richards. Nichtsdestoweniger aber, – ist es nicht auffallend, daß man jetzt sogar in Paris solche Worte für ungewöhnlich hält? Wie lange ist es denn her, daß ähnliche Worte in Frankreich niemand bemerkt hätte, da sie wie schuldiger Tribut, wie etwas von der Art eines sine qua non, das zu erwähnen überhaupt nicht der Mühe wert ist, aufgefaßt worden wären?
Diese hochbegabte Nation, diese Erbin der Alten Welt, die 15 Jahrhunderte an der Spitze der romanischen Völker Europas gestanden und in den letzten Jahrhunderten fraglos erstrangigen Einfluß auf alle Nationen Europas gehabt hat, verlor vor nun bald hundert Jahren jene lebendige Kraft, die sie so lange bewegt und genährt hatte. Diese lebendige Kraft bestand in der Repräsentation des europäischen Katholizismus durch Frankreich – fast seit der allerersten Zeit des Christentums. Als darauf Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts mit der katholischen Idee vollkommen und bewußt brach, verkündete es sich laut über die ganze Welt hin als Erneuerin der Menschheit durch neue Grundsätze, deren Hauptträgerin und Beschützerin es allein sei. „Komm alle zu mir!“ rief es in pythischer Trunkenheit. Diese neuen und selbständigen Grundsätze der zukünftigen menschlichen Gesellschaft waren den Europäern bereits als die Grundsätze der von ihnen ausgearbeiteten Zivilisation bekannt –: die Wissenschaft und der Staat waren bereits einzig auf den Gesetzen der Vernunft begründet. Frankreich hat bloß die Selbständigkeit dieser Grundsätze revolutionär verkündet – ich meine ihre vollste Unabhängigkeit von der Religion. Dieses geschah zum erstenmal im Leben der Menschheit, und darin hat, behaupte ich, das eigentliche Wesen der Französischen Revolution bestanden. Über dieses ungemein wichtige Thema habe ich in diesen flüchtigen Zeilen nicht etwa deswegen einiges gesagt, um die vor hundert Jahren von Frankreich an der Spitze Europas verkündeten revolutionären Grundsätze zu untersuchen und sie ihrem Wesen nach zu beurteilen. Ich wollte nur bemerken, daß Frankreich, das für sich und die Menschheit so viel auf seine Schultern genommen – abgesehen davon, daß es diese Last, selbst wenn es gewollt, überhaupt nicht hätte ablehnen können –, von dieser Last doch noch niemals so zu Boden gedrückt gewesen ist wie in dem letzten, jetzt allmählich auslaufenden Jahrhundert seiner Geschichte: sie hat sich als viel zu groß erwiesen für die Kräfte des geistreichen Volkes. Die Führerin der Menschheit war nach ihrem letzten Unglück gezwungen, durch ihre besten Vertreter einzugestehen, daß sie die Grundlage des lebendigen Lebens fast ganz verloren hat, daß ihr Lebensquell versiegt und vertrocknet ist. Im gegenwärtigen Augenblick bietet das französische Volk ein sonderbares Schauspiel dar – was es auch selbst vollkommen begreift. Dieses Sonderbare besteht darin, daß der intelligente und politisch herrschende Teil dieser Nation sich wissentlich und wehmütig so gut wie von allen ihren einst so begeistert verkündeten Ideen entfernt hat und nun ohne Glauben, doch mit jener Angst um das eigene Sein, die Despotismus und Vergewaltigung nach sich zieht, wie eine Polizei über den anderen Teil der Nation wacht. Dieser andere Teil aber glaubt an seine Zukunft, glaubt, daß sie kommen wird mit der Verwirklichung der neuen Grundsätze in einer künftigen Gesellschaft, und, da er arm ist an Gütern des Lebens, da er lange gelitten hat, so ist er bereit, sich wie ein hungriges Tier auf seine glücklicheren Brüder zu stürzen und sie zu zerfleischen. Nachdem die Franzosen Baboeuf guillotiniert hatten, den ersten, der schon vor 80 Jahren den begeisterten Revolutionären gesagt, daß ihre ganze Revolution nicht die Erneuerung der Gesellschaft nach neuen Grundsätzen wäre, sondern nur der Sieg der einen mächtigen Gesellschaftsklasse über die anderen: nachdem sie diesen ersten lästigen Kritiker der Revolution beseitigt hatten, mußten die Führer der ganzen republikanischen und demokratischen Bewegung im neuen Jahrhundert allmählich einsehen, daß das ganze Leben Frankreichs sich mehr und mehr in eine erlogene Vorspiegelung verwandelte, in irgendein phantastisches Gebilde, und daß es jede Bedeutung eines lebendigen und notwendigen Lebens einbüßte. Alle diese Perioden seiner letzten Entwicklungsgeschichte – das Erste Kaiserreich, die Restauration, die Herrschaft der Bourgeoisie unter den Orleans, das Zweite Kaiserreich usf. – könnte man jetzt eher für Luftspiegelungen halten als für gewesene Wirklichkeit; jede dieser Erscheinungen hätte gewissermaßen gerade so gut auch nicht sein können, und die große Nation wäre vortrefflich auch ohne sie ausgekommem. Diese ganze vorübergehende Phantasmagorie hat der Seele der Nation, die sich immer nach lebendigem Leben gesehnt hat, nichts Wesentliches gegeben. Und darauf kam nun die Katastrophe dieses furchtbaren Krieges – mit dessen Ausgang in Frankreich alle diese Vorspiegelungen fast mit einem Schlage verschwanden und sich aller Augen öffneten. Diese Katastrophe sagte gleichsam jedem Franzosen: „Sieh, wie arm und blind, wie niedrig und nackt und nichtig du in deiner ganzen, phantasmagorischen Existenz warst – und das nun schon ein ganzes Jahrhundert lang!“
Wird nun die große Nation an der Aufgabe, die sie vor einem Jahrhundert auf sich genommen hat, und die sie doch zu einem Abschluß wird bringen müssen, mitsamt ihrem Genie zugrunde gehen, oder wird sie sich dieses Genie doch noch erhalten? Das ist die Frage! Wird ihr Genie solche Prüfung überstehen können? Oder wird vielleicht alles einstürzen und irgendeine neue, geniale Nation von Gott auserwählt werden, die westliche Menschheit zu führen? Das sind vom Standpunkt der vernünftigen und geschäftigen Leute aus selbstverständlich nur müßige Fragen, doch nichtsdestoweniger gab es und gibt es in ganz Europa viele Herzen und Gedanken, die angstvoll vor ihnen standen und noch stehen. In dieser verhängnisvollen Frage nach Leben oder Tod Frankreichs, nach Auferstehung oder Erlöschen seines großen, der Menschheit sympathischen Genies, liegt vielleicht die Entscheidung über Leben und Tod der europäischen Menschheit, – was auch immer die jungen Besieger Frankreichs, die Deutschen dazu sagen mögen. Wird denn Europa Frankreich überhaupt vermissen können? Ein Europa ohne Frankreich ist für viele sogar jetzt noch undenkbar, und nicht etwa nur für müßige Menschen, die unseres tätigen Jahrhunderts unwürdig sind. Einstweilen aber, nachdem ich die Frage gestellt habe, die natürlich ohne Antwort bleiben muß, sage ich noch bei der Gelegenheit, – meinetwegen in der Eigenschaft eines Reporters der Gegenwart, – daß es einige Anzeichen und Erscheinungen gibt, die von dem heißen Wunsch der geistvollen Nation zeugen, aus allen Kräften zu leben, und daß aus diesem Wunsch für Europa sogar in kürzester Zeit sehr viele Sorgen erwachsen können.
Vor einer Woche hat sich in Frankreich ein äußerst exzentrischer Zwischenfall zugetragen, der gar manchen Europäer belustigt haben dürfte. Als der Kriegsminister, General Dubarail, sein Budget der Versammlung unterbreitete, fiel man sofort von allen Seiten mit bitteren, heftigen Vorwürfen wegen der „Ärmlichkeit“ und „Nichtigkeit“ desselben über ihn her –: weil er so wenig Geld für den Ausbau des Heeres verlangte! Darauf soll man sogar die Regierung beschimpft und schließlich ganz ungewöhnliche Veränderungen vorgeschlagen haben. Erst nach einiger Zeit, sagt man, sei es dem General gelungen, die Versammlung zu beruhigen, und zwar nur durch die Erklärung, daß das Budget des nächsten Jahres sehr groß sein werde, daß allein die Veränderung des Armeematerials nicht weniger als 1380000000 Franken fordern würde. Diese Summe soll dann eine einigermaßen ernüchternde Wirkung auf die Gemüter ausgeübt haben.
Ich habe gesagt, daß diese große Nation leben will, – um jeden Preis! Doch, – ist es andererseits nicht wieder im höchsten Grade phantastisch, dieses „Leben der Vergeltung“, für das sie sich jetzt so einmütig entschließt, obgleich sie erst kürzlich fünf Milliarden an Deutschland gezahlt hat, indem sie sich einwandlos zu neuen Milliardenausgaben bereit erklärt – wenn nur dem verhaßten Feinde für die militärische wie moralische Erniedrigung heimgezahlt wird!? Also ist doch in dem moralisch so zerspaltenen Lande, das schon seit so langer Zeit wehmütig und skeptisch auf das Leben sieht, wo das allgemeine Gefühl bloß das allerbeschränkteste Gefühl der Selbsterhaltung und das „chacun pour soi“ die erste Regel ist, – also hat sich in diesem Lande doch plötzlich und unerwartet etwas gefunden, das sogar die feindlichsten Elemente vereinigen kann. Nein, der Quell des unmittelbaren Lebens versiegt in den Völkern doch nicht so leicht.
Das päpstliche Non possumus ist meiner Meinung nach so ernst zu nehmen, daß man in ihm überhaupt die Existenzfrage der Religion in Europa sehen kann. Lassen wir die protestantischen Glaubensbekenntnisse dabei ganz aus dem Spiel; denn wenn der römische Katholizismus fallen würde – wie sollten sich dann noch Glaubensbekenntnisse erhalten, deren Wesen der Protest gegen den Katholizismus ausmacht? Wenn nichts mehr vorhanden ist, wogegen es zu protestieren gilt, wozu dann noch ein Protest? Andererseits kann aber die römische Kirche in ihrer gegenwärtigen Form nicht weiterbestehen. Sie hat ja selbst erklärt, daß ihr Reich von dieser Welt sei, und daß ihr Christus sich „ohne Erdenreich auf der Erde nicht erhalten kann“. Die römische Kirche hat die Idee der römischen Weltherrschaft über die Wahrheit und über Gott gesetzt; zu demselben Zweck hat sie auch die Unfehlbarkeit ihres Oberhauptes als Dogma aufgestellt und hat das gerade in dem Augenblick getan, da die weltliche Macht schon an die Pforten Roms klopfte, um einzutreten: ein beachtenswertes Zusammentreffen, das vielleicht von dem „letzten Ende“ zeugt. Bis zur Stunde des Sturzes Napoleons III. konnte die römische Kirche noch auf den Schutz der Könige – und besonders der Könige Frankreichs, mit deren Hilfe sie sich so viele Jahrhunderte gehalten – rechnen. Kaum aber wurde sie von Frankreich verlassen – da fiel auch ihre weltliche Macht. Nun aber wird die katholische Kirche diese ihre weltliche Welt für keinen Preis, niemals und niemandem, abtreten und würde eher damit einverstanden sein, daß das Christentum vollkommen unterginge, als daß die weltliche Herrschaft der Kirche aufhörte. Ich weiß: gar manche klugen Leute werden meine Behauptung mit einem Lächeln aufnehmen, doch soll mich das nicht abhalten, sie mit allem Nachdruck zu verteidigen. Und so sage ich denn nochmals: Es gibt in Europa augenblicklich keine einzige Frage, die zu beantworten schwieriger wäre, als die katholische, und gleichfalls keine einzige politische, keine „soziale“ Schwierigkeit, mit der sich diese römisch-katholische Frage nicht vereinigte. Mit einem Wort: Das Schwerste, was Europa in Zukunft bevorsteht, ist die Lösung dieses Problems, wenn auch neunundneunzig Prozent aller Europäer augenblicklich vielleicht nicht einmal an dasselbe denken.
Ich habe bereits im Laufe des vorigen Jahres meine Gedanken über diese Frage mitgeteilt: – nach gewissen Anzeichen zu urteilen, kann man wirklich glauben, daß die katholische Kirche zur Wiederherstellung ihrer Macht bereit ist, sich mit dem niedrigen Volk zu verbinden und hinfort den Königen den Rücken zu kehren. – Allerdings haben die Könige sie zuerst verlassen. Doch ohne mich über diesen Punkt weitläufig zu verbreiten, will ich einstweilen nur sagen, daß von den europäischen politischen Begebenheiten des vorigen Jahres der Briefwechsel des Papstes mit dem Deutschen Kaiser zweifellos eine der wichtigsten war. In seiner Zuschrift erklärte ja der Papst, daß er der von Gott selbst eingesetzte Vater und Beschützer aller Christen sei, – gleichviel welch einem Bekenntnis sie angehören, und gleichviel, ob sie ihn für ihr Haupt anerkennen oder nicht, – wenn sie nur getauft sind.
Als die italienische Regierung dem Papst die Summe von drei Millionen Franken jährlich aussetzte und sie ihm anbot, da glaubte und hoffte sie natürlich doch, daß er dieses, übrigens sehr annehmbare Budget akzeptieren werde. Hätte der Papst das getan, so würde er sich mit dem Statuts quo einverstanden erklärt haben und – es wäre zu Ende gewesen mit dem römischen Katholizismus! An seiner Stelle aber hätte dann etwas ganz anderes, noch Unbekanntes begonnen. Doch der Papst nahm sie nicht an. Jetzt hoffen einige, der ihm folgende Papst werde es tun. Aber der 84jährige Greis weiß nur zu gut, daß auch sein Nachfolger, wer er auch sei, gleichfalls kein einziges Budget annehmen kann und allen und jedem, wie er es getan, erklären wird: „Non possumus.“
Abgesehen davon, daß der Deutsche Kaiser dem Papst gemessen und von oben herab geantwortet[7] hat, sieht man in Deutschland auf die gegenwärtige Lage der römischen Kirche denn doch etwas ernster, als die italienische Regierung es tut. Anderenfalls: womit könnte man sich sonst jene sonderbare Verfolgung des römischen – ultramontanen – Katholizismus in Deutschland erklären? Man könnte wirklich glauben, daß das kolossale neue Reich, in dem es so viel andere Schwierigkeiten und neue Fragen gibt, die römische Frage für die bedeutungsvollste von allen hält. Nun und –: das scheint auch in der Tat der Fall zu sein! Es ist natürlich kaum möglich, sich vorzustellen, daß solch ein mächtiges Reich und an seiner Spitze so mächtige Herrscher und Lenker plötzlich irgendwelche „lächerlichen“ ultramontanen Ansprüche eines „kraftlosen, armseligen Mönches“ fürchten könnten, und das noch in welchem Jahrhundert? – im neunzehnten, im Jahrhundert der Maschinen, der Philosophie und unserer Aufklärung! Zudem wäre es ein äußerst grober Fehler, in dem allgemeinen Indifferentismus durch die Verfolgung der Kirche den religiösen Fanatismus zu erwecken, was doch für solche Staatsmänner, wie Graf Bismarck einer ist, keinen Augenblick unklar bleiben dürfte. Wenn nun Graf Bismarck gegen die Kirche vorgeht – wie u. a. durch das Gesetz über die bürgerliche Ehe –, dann geht er scheinbar Hand in Hand mit den Feinden der Kirche, – nicht nur mit den Feinden der katholischen Kirche, sondern jeder christlichen Kirche überhaupt, – Hand in Hand mit den Atheisten und Sozialisten!!! Auf diese Weise werden zwei sich entgegengesetzte Fanatismen angefacht: der Fanatismus des Glaubens und der der Verneinung. Ist das aber geschickt von einem so großen Staatsmann, wie Graf Bismarck? Und folgt daraus nicht wiederum, daß die römische Frage von so weitsichtigen Staatsleuten für eine der wichtigsten zukünftigen Schicksalsfragen des Deutschen Reiches gehalten wird? Sonst würde man doch nicht zu ihrer Bewältigung so wichtige Interessen opfern! – Wie aber, wenn Graf Bismarck – oder, besser gesagt – wenn Deutschland seinen zukünftigen und dann wohl endgültigen Kampf mit Frankreich am ehesten für möglich hält – auf Grund der römischen Frage? Bedenken wir bloß eines: mag der letzte deutsch-französische Krieg auch als noch so „zufällig“ erscheinen, jetzt, nach seiner Beendung, können doch weder Deutschland noch Frankreich auf ihren stattgefundenen furchtbaren Kampf wie auf etwas Zufällig-Politisches, sozusagen bloß Napoleonisches sehen. Deutschland, das so viele Jahrhunderte hindurch alles gehabt: Reichtum, Zivilisation, Wissenschaft, und das nur eines, das Ersehnteste, nicht hatte – die politische Einheit –, mußte doch endlich begreifen, was es übrigens schon seit Jahrhunderten tat, daß es seine politische Einheit nicht erreichen konnte, solange an der Spitze Europas noch Frankreich stand; nun aber weiß es, daß es sich mit einer zweitrangigen Rolle, wie irgendein Italien, in Europa nicht begnügen kann, und daß doch wiederum zwei führende Mächte in Europa zu gleicher Zeit nicht möglich sind; daß es sich hier schließlich um die Frage des Geistes handelt, des Lebens und der Ideale; daß die Ideale der westlich-katholischen und der germanischen Kultur verschieden und unvereinbar sind – so daß denn der Deutsch-Französische Krieg schließlich nichts anderes gewesen ist, als der Zusammenstoß zweier europäischer Kulturen, der katholischen und der protestantischen, oder der französischen und der germanischen, der unvereinbaren und entgegengesetztem die sich schon seit Jahrhunderten zu diesem Kampf vorbereitet hatten. Andererseits muß Frankreich, der tausendjährige Repräsentant des westlichen Katholizismus, selbst jetzt noch, einsehen, daß es dieser Führer der katholischen Welt, sogar bei deren heutigem Zerfall, nur dann bleiben kann, wenn es dem Katholizismus und seiner Idee tatsächlich treu bleibt.
Ich will nur sagen, daß die Wiedererstehung des Katholizismus im Sinne der Grundidee der Nation in Frankreich vielleicht durchaus nicht so unmöglich ist, wie es viele glauben. Alles, was in Frankreich im letzten Jahrhundert, dem Jahrhundert der ununterbrochenen Schwankungen, vor sich gegangen ist, könnte in mancher Beziehung zur Bekräftigung solch einer Annahme dienen. In diesem letzten Jahrhundert haben alle die so verschiedenen Regierungen Frankreichs – die Könige, die Republiken, Napoleon III. – alle haben sie den Papst mit dem Schwert in der Hand unterstützt oder sind bereit gewesen, ihn zu unterstützen, wenigstens sind sie alle für Rom und seine weltliche Macht gewesen. Graf Bismarck aber muß doch vorausfühlen, wenn auch nur zum Teil, daß Frankreich sich niemals mit einem zweitrangigen Platz in Europa und einer solchen militärischen Niederlage zufrieden geben wird, daß dieses in seiner Art für Frankreich vielmehr gleichfalls ein Non possumus ist. Und warum soll er nicht auch voraussehen, daß dieses Frankreich, das noch nicht endgültig vernichtete, wohl aber so kürzlich noch vollkommen zu Boden geschlagene, das so plötzlich die ganze Welt durch seinen Reichtum und – vor allen Dingen – Kredit in Erstaunen gesetzt hat – was dem Grafen Bismarck so unerwartet kam –, daß dieses Frankreich den Kampf noch längst nicht aufgegeben hat, daß der Streit um die Vorherrschaft somit unvermeidlich noch einmal ausbrechen und es dann aber wirklich um Leben oder Tod der beiden Nationen gehen wird!? Wie sollte er es nicht begreifen, daß dieser Kampf eigentlich überhaupt erst anfängt, – geschweige denn, daß er beendet sei –? Und, da dieser Kampf schließlich der entscheidende und abschließende Kampf zweier so verschiedener europäischer Zivilisationen sein wird –, warum soll er da nicht annehmen, daß auch der entscheidende Zusammenstoß gerade dort stattfinden wird, wo das Wesen der beiden Zivilisationen liegt: auf dem Boden der Kultur, dort, wo Katholizismus und Protestantismus einander feindlich begegnen?
Diese Idee zu entwickeln, würde zu weit führen; lassen wir es genug sein, daß wir sie ausgesprochen haben. Ich wollte im übrigen bloß sagen, daß Graf Bismarck, wenn er den Katholizismus in seinem Zentrum angreift, vielleicht nur den jüngsten deutsch-französischen Krieg noch weiter fortführt und – sich zu einem neuen vorbereitet. Handelt er nun geschickt oder nicht – das mag vorläufig dahingestellt sein, jedenfalls aber handelt er mit einem scharfen Blick.
Bei uns sprechen jetzt[8] alle über den Frieden. Alle glauben an einen langandauernden Frieden, überall sieht man helle Horizonte, neue Bündnisse, neue Kräfte. Daß in Paris die Republik wiederhergestellt ist, darin sieht man eine Bürgschaft für den Frieden, und daß diese Republik von Bismarck wiedereingesetzt wurde – sogar darin sieht man eine Bürgschaft für den Frieden. Zweifellos sieht man sie auch in der Übereinstimmung der großen östlichen Mächte – und vielleicht erblicken nicht minder einige in den jetzigen Unruhen der Herzegowina unzweifelhafte Zeichen für die Dauerhaftigkeit des europäischen Friedens ... vielleicht auch darum, weil der Schlüssel zu dieser Herzegowinafrage sich in Berlin befindet, und wiederum in der Schatulle des Fürsten Bismarck? Aber am meisten freut man sich bei uns über die Französische Republik. Übrigens, warum ist Frankreich immer noch auf dem ersten Platz in Europa, und nicht das siegreiche Deutschland? Das allerkleinste Ereignis in Paris erweckt nach wie vor in Europa mehr Sympathie und Aufmerksamkeit als manches schwerwiegende Berliner Ereignis. Unbestreitbar deshalb, weil dieses Land immer das Land des ersten Schrittes, der ersten Probe und der Anregung von neuen Ideen war! Darum erwarten alle von dort den „Anfang vom Ende“. Und wer wird wohl auch von allen zuerst diesen verhängnisvollen und endgültigen Schritt tun, wenn nicht Frankreich?
Darum vielleicht haben sich die unversöhnlichsten Parteibildungen gerade in diesem, seit alters alle Neuerungen vermittelnden Lande entwickelt. Ein Friede ist da überhaupt nicht eher möglich, als bis es einmal wirklich zu jenem „Ende“, zu einem großen Zusammenbruch gekommen sein wird. Diejenigen in Europa, die die Republik bewillkommnen, sagen, daß sie schon deshalb für Frankreich und für Europa unumgänglich nötig sei, weil nur in ihr ein Revanchekrieg mit Deutschland ausgeschlossen scheint, und daß nur die republikanische Partei, von allen zur Stunde Ansprüche erhebenden Parteien, ihn nicht wagen wird, noch überhaupt unternehmen will. Indessen sind das nichts als Luftspiegelungen. Im übrigen ist auch die Republik eines Kampfes wegen ausgerufen worden, wenn auch nicht zu einem Kriege mit Deutschland, so doch mit einem viel gefährlicheren Gegner: dem Feind und Gegner von ganz Europa – dem Kommunismus und Sozialismus. Dieser Gegner erhebt sich viel leichter in einer Republik als unter jeder anderen Regierung! Jede andere Regierung würde sich mit ihm schließlich einigen, die Katastrophe vermeiden; nur eine Republik wird ihm nichts abtreten wollen, sondern ihn selbst herausfordern, ihn zum Kampfe zwingen. Und so mögen die guten Leute nur behaupten, die „Republik sei der Friede“! In der Tat, wer hat dieses Mal die Republik errichtet, wenn nicht die Bourgeoisie und die kleinen Rentiers? Wenn diese Leute wohl auch schon seit langem Republikaner waren, so fürchteten doch gerade sie im Grunde die Republik, sahen in ihr nur Unordnung und den ersten Schritt zum Kommunismus. Der Konvent der ersten Revolution teilte in Frankreich den großen Besitz der Emigranten und der Kirche in kleine Teile und verkaufte sie in Anbetracht der ununterbrochenen damaligen Geldkrisis. Dieses Verfahren bereicherte einen großen Teil Franzosen und gab ihnen die Möglichkeit, achtzig Jahre später fünf Milliarden Kontribution zu bezahlen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber wenn dieses Verfahren zurzeit auch den Wohlstand sehr hob, so paralysierte es doch die demokratischen Bestrebungen, indem es die Zahl der Besitzenden vergrößerte und so Frankreich dem grenzenlosen Besitz der Bourgeoisie in die Hände gab – die aber ist der erste Feind des Demos, des eigentlichen Volkes. Ohne dieses Verfahren hatte sich die Bourgeoisie in Frankreich nie so lange an der Spitze des Staates und an Stelle des früheren Beherrschers von Frankreich, des Adels, erhalten können. So jedoch erbitterte das Volk und ward unversöhnlich: die Bourgeoisie verdarb selbst den natürlichen Gang der demokratischen Bestrebungen und verwandelte ihn in einen einzigen Haß und einen einzigen Neid. Die Scheidung der Parteien ging so weit, daß der ganze Organismus des Landes endgültig zusammenbrach und jegliche Wiederherstellung unmöglich wurde. Wenn sich Frankreich bis jetzt im Ganzen noch immer aufrechthält, so tut es dies nur nach dem Gesetz der Natur, nach dem sogar eine Handvoll Schnee nicht früher als in einer bestimmten Zeit auftauen kann. Diesen Schein eines Ganzen nehmen die unglücklichen Bourgeois und mit ihnen eine Menge gutmütiger Menschen in Europa noch für eine lebendige Kraft des Organismus, betrügen sich mit der Hoffnung, und zu gleicher Zeit zittern sie doch vor Furcht. Im Grunde hat die Einheit sich bereits vollständig aufgelöst. Die Aristokraten haben nur den eigenen Nutzen im Auge, die Demokraten nur den der Armen. Um den allgemeinen Vorteil dagegen, den Vorteil Aller und des zukünftigen Frankreichs, kümmert sich niemand, außer den Schwärmern von Sozialisten und den Träumern von Positivisten, die von der Wissenschaft alles erwarten, alles, d. h. eine neue Einigung der Menschen und neue Grundsätze eines gesellschaftlichen Organismus. Aber die Wissenschaft, auf die alle so große Hoffnungen setzen, wird kaum imstande sein, sich mit der Angelegenheit gleich zu beschäftigen. Es ist schwer, anzunehmen, daß sie schon so gut Bescheid um die menschliche Natur wissen wird, um fehlerlos neue Gesetze des gesellschaftlichen Organismus aufzustellen. Da man aber hier weder schwanken noch warten kann, so stellt sich von selbst die Frage ein: Ist die Wissenschaft sofort zu dieser Aufgabe bereit, und geht diese Aufgabe nicht über die Kräfte ihrer zukünftigen Entwicklung? Ich bin sogar bis jetzt geneigt, zu behaupten, daß diese Aufgabe allerdings über die Kräfte der menschlichen Wissenschaft gehen wird, trotz ihrer, wie ich zugebe, großen zukünftigen Entwicklungsmöglichkeit. Da also die Wissenschaft diesem Anspruch an sie nicht gerecht werden wird, so ist es klar, daß die ganze Bewegung des Volkes, des vierten Standes, in Frankreich, wie überall in der ganzen Welt, von Schwärmern – und die Schwärmer wieder von allen möglichen Spekulanten – geleitet werden wird. Ja, und selbst in der Wissenschaft, gibt es denn da keine Träumer? In der Tat, die Träumer haben jetzt mit Recht die Führung der Bewegung ergriffen; denn sie allein kümmern sich in Frankreich um die sogenannte Einigung aller, um das Zukünftige; und es scheint, daß moralisch ihnen allein das Erbe Frankreichs zufallen wird, ungeachtet ihrer augenscheinlichen Schwäche und Phantasterei – wie denn das so ziemlich alle auch fühlen! Aber am furchtbarsten ist es, daß neben all dem Phantastischen ein Bestreben sich kundtut, daß das grausamste und unmenschlichste ist und schon nichts Phantastisches mehr an sich hat, sondern real und historisch unvermeidlich erscheint. Es drückt sich in folgenden Worten aus: „Ôte-toi de là, que je m’y mette!“ – Fort von dem Platz, damit ich mich hinsetze! Bei den Millionen des unteren Volkes – abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen vielleicht – kommt in der ersten Linie und steht zu Anfang aller Wünsche: das Plündern der Besitzenden. Man kann dabei die Besitzlosen nicht einmal verurteilen: die Besitzenden selbst hielten sie bis zu dem Grade in der Dunkelheit, daß all diese Millionen unglücklicher, elender und blinder Leute ohne Zweifel und auf die naivste Weise glauben, daß sie durch diesen Raub sich bereichern können, und daß darin die ganze soziale Idee besteht, über die sich ihre Führer streiten. Ja, und wie können sie denn auch die Träume der Führer oder irgendeine Prophezeiung der Wissenschaft verstehen? Nichtsdestoweniger werden sie siegen, und wenn die Reichen ihnen vor der Zeit nichts abtreten, so kann es noch zu furchtbaren Ereignissen kommen. Aber keiner wird zur rechten Zeit etwas abtreten – vielleicht auch deshalb nicht, weil schon heute die Zeit der Abtretung überschritten ist. Ja, und die Besitzlosen wollen jetzt selbst nicht mehr eine Verständigung mit ihnen, wenn man ihnen auch alles gewähren würde: sie würden doch nur glauben, daß man sie wieder betrügt und übervorteilt. Sie wollen selbst und allein bestimmen.
Die beiden Bonaparte hielten sich dadurch, daß sie die Möglichkeit eines Ausgleichs mit ihnen wenigstens versprachen; und sie machten auch mikroskopische Versuche dazu, wenn auch immer nur hinterhältig und unaufrichtig. Aber die Oligarchen fühlten sich enttäuscht durch sie, und der Demos glaubte ihnen erst recht nicht. Was die royalistischen Prätendenten (älterer Linie) anbetrifft, so können die dem Proletariat als Rettung im Grunde nur den römisch-katholischen Glauben bieten, von dem jedoch nicht nur das Volk, sondern auch die Mehrzahl der Intelligenz in Frankreich schon lange nichts mehr wissen will. Man spricht davon, daß unter dem Proletariat in letzter Zeit mit außerordentlicher Stärke der Spiritismus sich entwickelt hat, vor allen Dingen in Paris. Die jüngere Linie der Könige, die Linie Orleans, ist sogar der Bourgeoisie verhaßt geworden, obgleich man eine Zeitlang gerade an diese Familie glaubte und sie für den eigentlichen Führer in der französischen besitzenden Klasse ansah. Aber ihre Unfähigkeit wurde bald von allen erkannt. Nichtsdestoweniger mußte die Bourgeoisie sich retten, sie mußte durchaus und so schnell wie möglich sich einen Führer suchen für die große und letzte Schlacht mit dem furchtbaren, von unten heraufkommenden Feind. Die Erkenntnis und der Instinkt ließen sie auf ein richtiges Mittel verfallen, und sie wählten – die Republik.
Es gibt ein politisches Gesetz und sogar ein Gesetz der Natur, nach dem von zwei starken und einander nahestehenden Nachbarn, wie befreundet sie auch miteinander sein mögen, doch der eine den anderen vernichten möchte und früher oder später diesen Wunsch auch in die Tat umsetzt. „Von der roten Republik gibt es einen Übergang zum Kommunismus,“ – dieser Gedanke erschreckte bis jetzt die französischen Bourgeois, und es mußte viel Zeit vergehen, bis plötzlich die Mehrzahl von ihnen erriet, daß diese nächsten Nachbarn zu den erhärtetsten Feinden werden würden, schon allein aus dem Prinzip der Selbsterhaltung. In der Tat, ungeachtet der so engen Nachbarschaft der roten Republik mit dem Kommunismus – wer kann in Wirklichkeit feindlicher und dem Kommunismus radikaler entgegengesetzt sein als die Republik? sogar, wenn man will, als die blutige Revolution der neunziger Jahre? In der Republik handelt es sich vor allem um die republikanische Form: „la république avant tout, avant la France“. In der Republik ist die ganze Hoffnung: die Staatsform; und ob der Mac-Mahonismus an die Stelle Frankreichs tritt – es bleibt sich gleich, wenn er sich nur Republik nennt! Das ist das Charakteristische der jetzigen „Siege“ der Republikaner in Frankreich. So sucht man denn in der bloßen Form die Rettung. Von der anderen Seite dagegen, was geht den Kommunismus die republikanische Staatsform an, da er im Grunde jede Regierungsform verneint, und nicht nur jegliche Form einer Regierung, sondern auch den Staat an sich und die ganze zeitgenössische Gesellschaft? Dieses gerade Gegenteil, diese gemeinsame Antithese zweier Kräfte vermochte die französische Masse erst in achtzig Jahren zu erkennen, zuletzt erkannte sie sie aber doch und – errichtete die Republik: dem Feinde stellte sie endlich den allergefährlichsten und allernatürlichsten Gegner entgegen; denn um nichts in der Welt will die Republik im Kommunismus und Sozialismus untergehen. Im Grunde ist die Republik der natürlichste Ausdruck und die gegebene Staatsform der Bourgeoisie, ja, die ganze französische Bourgeoisie ist doch das Kind der Republik, für sie geschaffen und für sie organisiert in der ersten Revolution. Auf diese Weise ist die Scheidung vollständig erreicht. Man sagt, der Kampf der beiden sei noch weit. Ob er so weit ist? Vielleicht ist es besser, die Katastrophe nicht noch hinauszuschieben. Schon jetzt hat der Sozialismus Europa durchsetzt, und bis zu der Zeit wird er es noch mehr durchsetzt haben. Fürst Bismarck weiß es, aber er baut nach deutscher Art zu sehr auf Blut und Eisen. Was kann man aber da mit Blut und Eisen ausrichten?
Man wird sagen: Aber jetzt wenigstens, jetzt gleich hat man nicht den geringsten Grund, sich aufzuregen; alles ist hell und klar: In Frankreich ist der Mac-Mahonismus, im Osten die große Einigung der Mächte, die Kriegsbudgets werden überall und außerordentlich vergrößert – wie soll es da keinen Frieden geben!
Aber der Papst? Wenn der heute oder morgen stirbt – was wird dann werden? Wie sollte der römische Katholizismus einwilligen, gleichsam ihm zur Gesellschaft mit ihm zu sterben? Oh, nie noch dürstete es ihn so, zu leben – wie jetzt! Übrigens, unsere Propheten, wie sollten sie nicht über den Papst lachen? „Eine Papstfrage gibt es bei uns ja überhaupt nicht mehr!“ Indessen ist die Frage des Katholizismus zu bedeutungsschwer und der Katholizismus selber so voll von grenzenlosen Widersprüchen, daß er diese nie um des Friedens willen, nicht um der ganzen Welt willen aufgeben würde. Ja, für wen denn auch, und zu wessen Nutzen sie denn aufgeben? Um der Menschheit willen etwa? Der Papst hält sich schon lange für höher als die Menschheit. Er hat bis jetzt nur um die Starken der Erde gebuhlt und auf sie gehofft bis zum letzten Augenblick. Dieser Augenblick ist heute gekommen, und nun scheint es, daß der römische Katholizismus endlich sich von den Großen der Erde abgewandt hat, die ihm ja doch schon lange untreu geworden waren und in Europa jene Hetzjagd auf ihn geplant hatten, die wir in unseren Tagen erlebten. Und haben wir von dem römischen Katholizismus nicht bereits die unglaublichsten Überraschungen erlebt? Einmal, wenn es nötig war, hat er Christus für weltlichen Besitz verkauft und das Dogma aufgestellt, „daß das Christentum auf der Erde ohne die weltliche Herrschaft des Papstes nicht bestehen könne“, und so einen neuen Christus geschaffen, einen, der dem früheren in nichts mehr ähnlich ist, der verführt war durch die dritte teuflische Versuchung, die weltliche Herrschaft: „Alles das gebe ich dir, bete mich an!“ Oh, ich habe heftige Ableugnungen dieses Gedankens gehört: man hat mir versichert, daß der Glaube an Christus und sein Bild in den Herzen der meisten Katholiken noch in alter Wahrheit und Reinheit weiterlebe. Das kann durchaus wahr sein, aber ich behaupte trotzdem: die Hauptquelle ist trübe und auf ewig verschüttet; denn nicht umsonst verfiel Rom dieser teuflischen Versuchung, seine weltliche Herrschaft in der Form eines unerhörten Dogmas zu verkünden – eine Tat, deren Folgen wir heute noch nicht absehen können. Bemerkenswert ist nur, daß die Verkündung dieses Dogmas gerade in dem Augenblick erfolgte, als das geeinte Italien vor den Toren Roms stand. Viele von uns lachten und spotteten über den Papst: wüten kann er, aber machtlos ist er doch, sagte man ... Wer weiß, ob er so machtlos ist! Nein, solche Menschen, die fähig sind zu solchen Entschlüssen, können nicht ohne Kampf sterben. Man wird mir erwidern, daß es immer so im Katholizismus gewesen und daß in ihm überhaupt keine Veränderung vor sich gegangen sei. Möglich, aber es hat in ihm doch immer ein Geheimnis gegeben: es hatte viele Jahrhunderte das Aussehen, als sei der Papst mit seinem kleinen Besitztum, mit dem Lande des Kirchenstaates, durchaus zufrieden – ... aber alles das war dann doch nur Allegorie. Die Hauptsache in dieser Allegorie, das Samenkorn des Grundgedankens, war die immer gegenwärtige Hoffnung des Papsttums, daß aus diesem Samenkorn dereinst ein prächtiger Baum werden würde, bestimmt, die ganze Erde zu beschatten. Und siehe da, als man ihm die letzte Quadratmeile seines westlichen Besitztums nimmt, da erhebt sich der Beherrscher des Katholizismus, seinen Tod voraussehend, und erklärt der ganzen Welt das Geheimnis: „Ihr glaubt wohl, daß ich nur dem Titel nach Herrscher des Kirchenstaates bin? So wisset denn, daß ich mich immer als den Herrscher der ganzen Welt, aller Herrscher der Erde, der geistlichen wie der weltlichen, gefühlt habe, als ihren wirklichen Herrn und Imperator. Ich – ich bin der Zar aller Zaren und der Herrscher aller Herrscher, und mir allein auf der Erde gehören die Schicksale und die Zeiten: und das erkläre ich aller Welt jetzt im Dogma meiner Unfehlbarkeit.“ Nein, dort steckt noch eine Kraft, das ist erhaben, aber nicht lächerlich; das ist eine Auferstehung der alten römischen Idee der Weltherrschaft, die nie im römischen Katholizismus aussterben wird; das ist das Rom Julian Apostatas, das nicht von Christus besiegte, sondern das Christum besiegende, in einem neuen und letzten Kampf! Auf diese Weise hat sich der Eintausch des wahrhaftigen Christus gegen ein weltliches Reich vollzogen. Und im römischen Katholizismus vollzieht er sich in der Tat! Ich wiederhole es, diese schreckliche Armee hat zu scharfe Augen, um nicht endlich zu erblicken, wo jetzt die wirkliche Kraft ist, auf die man sich stützen kann. In dem Augenblick, da er seine verbündeten Großen verliert, wird er sich an das Volk klammern. Er hat zu seiner Verfügung zehntausend Verführer, kluge, gewandte Herzensbesieger und Psychologen, Dialektiker und Sophisten. Das Volk war und ist überall redlich und gut. Außerdem – in Frankreich wie auch an anderen Orten Europas – haßt das Volk den Glauben, verachtet ihn, ohne das Evangelium zu kennen. Alle diese Herzenskundigen und Seelenkenner werfen sich nun auf das Volk und bringen ihm den neuen Christus, einen der in, alles einwilligt, einen, wie er auf dem letzten römischen Konzil aufgestellt wurde. „Ja, unsere Freunde und Brüder,“ werden sie sagen, „alles, was ihr euch wünscht – alles das steht schon längst in unseren Büchern, und eure Führer haben es von uns gestohlen. Wenn wir euch früher noch nichts davon gesagt haben, so ist es nur deshalb nicht geschehen, weil ihr bis jetzt noch wie unreife Kinder waret, für die es zu früh war, die ganze Wahrheit zu erfahren. Aber jetzt ist die Zeit der Wahrheit für euch gekommen. Wisset, daß beim Papst die Schlüssel des heiligen Petrus sind – und der Glaube an Gott ist nur der Glaube an den Papst, der von Gott auf der Erde an Stelle Gottes eingesetzt worden ist. Er ist unfehlbar, und ihm ist göttliche Macht gegeben, er ist der Beherrscher der Schicksale und der Zeiten; er hat beschlossen, daß auch eure Zeit jetzt gekommen sein soll. Früher lag die Hauptkraft des Glaubens in der Ergebung, jetzt ist aber die Frist der Ergebung um, und der Papst hat die Macht, sie aufzuheben, da ihm alle Macht auf Erden gegeben ist. Ja, wir sind alle Brüder, und Christus selbst hat uns befohlen, Brüder zu sein. Wenn eure älteren Brüder euch nicht als Brüder anerkennen wollen, so nehmt Waffen, dringt in ihre Häuser ein und zwingt sie mit Gewalt, eure Brüder zu sein. Christus hat lange gewartet, daß eure älteren Brüder bereuen würden, aber jetzt hat er uns selbst befohlen: ‚Fraternité ou la mort!‘ – Sei mir ein Bruder oder stirb! Wenn dein Bruder zögert, sein Gut mit dir zu teilen, so nimm ihm alles; denn Christus hat lange gewartet auf seine Reue und Buße, jetzt schlägt die Stunde der Vergeltung und des Zornes. Wisset auch, daß ihr unschuldig seid an allen euren vergangenen und zukünftigen Sünden; denn eure Sünden kamen nur aus eurer Armut. Und wenn eure Führer und Lehrer das schon früher gesagt, und wenn sie euch auch die Wahrheit gesagt haben, so hatten sie nicht die Macht, es euch vor der Zeit zu verkünden; denn die Macht dazu hat nur der Papst von Gott selbst erhalten. Der Beweis dafür ist, daß diese Lehrer euch noch zu nichts Gescheitem gebracht haben, und daß all ihr Beginnen an sich unfruchtbar war; ja, und außerdem waren sie treulos; auf euch gestützt, erschienen sie stark, um sich dann für einen höheren Preis euren Feinden zu verkaufen. Aber der Papst wird euch nicht verkaufen, denn über ihm gibt es keine höhere Gewalt, er ist der Erste aller Ersten; nur glaubt an ihn, nicht an Gott, sondern nur an den Papst, und daran, daß er allein der Herrscher auf Erden ist, und sonst niemand, und daß alle anderen, wenn ihre Stunde kommt, verschwinden müssen. Freut euch jetzt, denn das Paradies auf Erden hat begonnen, alle werdet ihr reich sein und durch den Reichtum ehrlich und selig, weil alle eure Wünsche erfüllt sein werden und jeglicher Grund zum Bösen euch genommen wird.“ Diese Worte sind gleisnerisch, aber das Volk wird unbedingt den Vorschlag annehmen: es sieht in dem unerwarteten Verbündeten eine große vereinigende Macht, die auf alles eingeht, – eine reale, historische Macht an Stelle von verschwärmten Führern und Spekulanten, an deren praktische Fähigkeiten und auch an deren Ehrlichkeit die Menschen nicht mehr glauben. Dort ist der Stützpunkt gefunden und der Hebel in die Hand gegeben, jetzt heißt es, mit der ganzen Masse ihn umdrehen. Und zur Vervollständigung des Ganzen gibt man ihm wieder den Glauben und beruhigt mit ihm viele Herzen, denn viele von ihnen sehnen sich nach Gott ...
Ich habe schon einmal in einem Roman darüber gesprochen. Möge man mir meine feste Überzeugung verzeihen, aber ich bin sicher, daß alles sich einmal im westlichen Europa so zutragen wird, in der einen oder anderen Form, d. h. daß der Katholizismus sich der Demokratie zuwenden und die Großen der Welt verlassen wird, weil sie ihn verließen. Alle Macht in Europa verachtet ihn, denn er ist jetzt nach außen allzu arm und allzu überwunden. Und doch erscheint er lange nicht in einer so tragikomischen Lage, wie sich ihn gutmütigerweise unsere politischen Publizisten vorstellen. Indessen würde ein Fürst Bismarck ihn nicht so verfolgen, wenn er in ihm nicht seinen furchtbarsten und mächtigsten Feind der Zukunft sähe. Fürst Bismarck ist ein zu großer Mensch, um seine Kräfte an einen lächerlichen und machtlosen Feind zu verschwenden. Aber der Papst ist stärker als er. Ich wiederhole, daß das Papsttum vielleicht am stärksten den Weltfrieden bedroht. Und dem Frieden droht noch vieles sonst. Noch wie war Europa so angefüllt von feindlichen Elementen, wie in unserer Zeit: als wäre alles mit Dynamit unterlegt und wartete nur auf den zündenden Funken ...
„Ja, aber was geht das uns an? Das ist ja alles dort in Europa und nicht bei uns in Rußland!“ Nun, bei uns wird Europa dann anklopfen und uns anflehen, es zu retten, wenn die letzte Stunde seiner jetzigen Ordnung der Dinge schlägt. Und es wird unsere Hilfe verlangen, als ob es ein Recht darauf hätte: es wird uns sagen, daß auch wir Europa seien, daß auch bei uns diese „Ordnung der Dinge“ sein müsse, da wir es doch nicht umsonst zweihundert Jahre lang imitiert und uns gebrüstet hätten, Europäer zu sein, und daß wir, wenn wir Europa retteten, im Grunde nur uns selbst retten würden. Freilich wären wir vielleicht nicht sehr geneigt, diese Angelegenheit nur zugunsten der einen Hälfte zu entscheiden, denn diese Aufgabe wird auch über unsere Kraft gehen: und haben wir uns nicht schon längst entwöhnt, darüber nachzudenken, worin unser Unterschied von Europa als Nation und worin unsere wirkliche Rolle in Europa besteht? Wir verstehen nicht nur nichts von diesen Dingen, sondern wollen überhaupt solche Fragen nicht zulassen; und sie auch nur anzuhören, halten wir für rückständig. Wenn aber wirklich Europa bei uns anklopft und uns auffordert, hinzugehen und seine Ordnung zu retten, so werden wir vielleicht zum erstenmal und plötzlich begreifen, bis zu welchem Grade wir die ganze Zeit über Europa nicht ähnlich gewesen sind, ungeachtet unseres zweihundertjährigen Wunsches und unserer Träume, Europa gleich zu sein, wie sie sich manchmal bis zu den leidenschaftlichsten Ausbrüchen versteigen konnten. Übrigens, vielleicht werden wir das auch dann nicht einmal begreifen; denn es wird vielleicht auch dann schon zu spät sein. Wenn dem so ist, so werden wir freilich auch nicht verstehen, was Europa von uns haben will, und worin wir ihm in der Tat helfen könnten. Und würden wir dann nicht den Feind Europas und seiner Ordnung ebenso beruhigen wollen wie Fürst Bismarck –: mit Eisen und Blut? Nun, im Falle es dazu kommen würde, könnten wir uns allerdings als vollständige Europäer beglückwünschen.
Aber all das steht uns erst noch bevor und ist reine Phantasie – denn jetzt ist ja alles in Europa so klar, so klar, so klar!
Ich habe unlängst folgenden Satz geschrieben: „Alle unsere russischen Spaltungen und Sonderbestrebungen sind fast immer auf Grund von Zweifeln und Bedenken entstanden, und zwar auf Grund von solchen, zu denen eigentlich gar keine Veranlassung vorlag.“ Und heute[9] kann ich wiederholen, daß in der Tat alle unsere Streitigkeiten und Zerwürfnisse einzig aus dem Irrtum des Verstandes, nicht aber aus dem Irrtum des Herzens entstehen. In dieser Definition liegt das ganze Wesen unserer Uneinigkeiten und Zwiespälte – doch ist dieses Wesen an sich deshalb noch nicht so unerfreulich. Irrtümer und Zweifel des Verstandes verschwinden schneller und spurloser als die Irrtümer und Zweifel des Herzens; aufgehoben aber werden sie nicht so sehr von gelehrten Diskussionen und Disputen, als von der unabweisbaren Logik der Ereignisse des lebendigen Lebens, die nichts weniger als selten den richtigen Ausweg in sich tragen und auf den geraden Weg weisen, wenn auch nicht plötzlich, nicht im ersten Augenblick, so doch jedenfalls in sehr kurzer Frist, zuweilen sogar, ohne die nächste Generation abzuwarten. Anders ist es mit den Irrtümern des Herzens. Der Irrtum des Herzens wiegt schwerer: er bedeutet, daß der Geist, oft schon der Geist der ganzen Nation, an irgend etwas erkrankt, von irgend etwas angesteckt ist, und nicht selten führt diese Erkrankung, diese Ansteckung solch einen Grad von Blindheit mit sich, daß die ganze Nation nicht mehr geheilt werden kann – wieviel Rettungsversuche dem zunächst auch widersprechen und auf den richtigen Weg weisen mögen. Im Gegenteil, diese Blindheit entstellt die Tatsachen, wie es ihr gefällt, verändert sie nach den Wahnbildern des kranken Geistes, und es kommt sogar vor, daß eher die ganze Nation dem Untergange entgegengeht, im vollen Bewußtsein dessen, was sie tut, d. h. sogar nachdem sie ihre Blindheit eingesehen, als daß sie einwilligt, sich heilen zu lassen – denn nun will sie bereits nicht mehr geheilt werden. Möge man nicht im voraus über mich lachen, daß ich umgekehrt die Irrungen des Verstandes für leicht und schnell wieder gutzumachen halte. Und am lächerlichsten wäre es wohl für einerlei wen, für jeden, nicht nur für mich allein, in diesem Falle die Rolle des Ausgleichers zu spielen, der fest überzeugt ist, mit Worten durchdringen und die Tagesüberzeugungen in der Gesellschaft umkehren zu können. Alles das sehe ich vollkommen ein; doch nichtsdestoweniger darf man sich nicht seiner Überzeugungen schämen, und wer ein Wort zu sagen hat, der sage es.
Es will mir scheinen, daß jetzt eine Zeit gekommen ist, in der sich alle möglichst offen aussprechen müssen, ohne sich der naiven Nacktheit manches Gedankens zu schämen. Tatsächlich erwarten uns, d. h. ganz Rußland, vielleicht ungewöhnliche und große Ereignisse. „Es können plötzlich gewaltige Fakta dasein und unsere intelligenten Kräfte überraschen, und dann, – wird es dann nicht zu spät sein?“ habe ich damals gefragt. Ich dachte dabei nicht nur an die politischen Ereignisse der nächsten Zukunft, wenn sie auch heute derart sind, daß sie die Aufmerksamkeit selbst der kläglichsten, selbst der verjudetsten, d. h. der sich sonst um nichts, als nur um sich selbst kümmernden Geister in Anspruch nehmen. In der Tat, wer kann es wissen, was der Welt im nächsten Vierteljahrhundert bevorsteht, oder vielleicht schon in diesem Jahre? Europa ist unruhig. Aber ist es nicht vielleicht nur eine jähe vorübergehende Unruhe? Keineswegs: man fühlt, es ist die Zeit für etwas Tausendjähriges, für etwas Ewiges gekommen, für das, was sich auf der Erde seit dem Anfang ihrer Zivilisation vorbereitet hat.
Drei Ideen erheben sich vor der Welt und formulieren sich, scheint es, endgültig.
Von einer Seite – am Rande Europas – die Idee des Katholizismus, die, schon längst verurteilt, nun in großen Qualen und Zweifeln nicht weiß, was ihrer harrt: Sein oder Nichtsein, Leben oder schon – Sterben? Ich spreche nicht nur von der katholischen Religion, sondern von der ganzen katholischen Idee, und dem Los derjenigen Nationen, welche unter dem Joch dieser Idee seit einem Jahrtausend gelebt haben und ganz von ihr durchdrungen sind. In diesem Sinne ist Frankreich die vollkommenste Verkörperung der katholischen Idee im Verlaufe von Jahrhunderten gewesen, ist das Haupt dieser Idee, die es schon von den Römern und in durchaus römischem Geiste übernommen hat. Dieses Frankreich, das jetzt sogar jegliche Religion, man kann wohl sagen, verloren hat – Jesuiten und Atheisten sind dort ein und dasselbe –, das schon mehrmals seine Kirchen geschlossen und einmal sogar Gott selber der Ballotage einer Versammlung unterworfen hat, dieses selbe Frankreich, das aus den Ideen von 1789 seinen eigenen französischen Sozialismus entwickelt hat, d. h. die Pazifizierung und Organisation der menschlichen Gesellschaft ohne Christus und außerhalb Christi, ganz so wie sie der Katholizismus in Christus organisieren gewollt, doch nicht gekonnt hat: dieses selbe Frankreich ist und fährt fort, wie in seinen Revolutionären des Konvents, so auch in seinen Atheisten, seinen Sozialisten und seinen modernen Kommunisten – immer noch im höchsten Grade eine katholische Nation zu sein, bis ins Kleinste durchdrungen vom katholischen Geist und Buchstaben. Durch den Mund seiner bekannten Atheisten verkündet es „Liberté, Egalité, Fraternité – ou la mort,“ also auf ein Haar so, wie es der Papst selbst ausrufen lassen würde, wenn er genötigt wäre, liberté, égalité, fraternité zu proklamieren – ganz in seinem Stil, ganz in seinem Geist, in dem echtesten Geist und Stil der Päpste des Mittelalters. Selbst der heutige Sozialismus – scheinbar ein heftiger, verhängnisvoller Protest aller Nationen gegen die katholische Idee, aller Menschen, die sie gequält und erstickt hat, und die um jeden Preis leben wollen, aber leben ohne Katholizismus und ohne seine Götter, – selbst dieser Protest, der offiziell am Ende des vorigen Jahrhunderts begonnen hat, in Wirklichkeit aber viel früher, – ist in Frankreich nichts anderes als die treueste und geradeste Fortsetzung der katholischen Idee, ihre endgültige Vollendung, ihre verhängnisvolle Folge, von Jahrhunderten ausgearbeitet! Denn der französische Sozialismus ist nichts anderes als die gewaltsame Vereinigung der Menschen – eine Idee, die noch aus dem alten Rom stammt und sich unversehrt im Katholizismus erhalten hat. Auf diese Weise hat sich die Idee der Befreiung des Menschengeschlechtes vom Katholizismus gerade hier in die allerengsten katholischen Formen gehüllt, in Formen, die dem Herzen des katholischen Geistes, seinem Despotismus und wohl auch seiner Moral entlehnt sind.
Von der anderen Seite erhebt sich der alte Protestantismus, der nun bereits neunzehn Jahrhunderte lang gegen Rom und die römische Idee protestiert, gegen die alte heidnische, wie gegen die erneute katholische Idee, gegen Roms Weltgedanken, den Menschen auf der ganzen Erde zu beherrschen, moralisch wie materiell, gegen Roms ganze Kultur – der bereits seit den Tagen Armins und des Teutoburger Waldes protestiert, protestiert und immer wieder protestiert. Das ist der Germane, der blind glaubt, daß nur in ihm die Erneuerung der Menschheit liegt und nicht in jener katholischen Kultur. In seiner ganzen geschichtlichen Entwicklung hat er ja von seiner Einheit nur geträumt, hat er nach ihr gelechzt nur, um sie verwirklichen zu können, seine stolze protestantische Idee! Sie aber hat sich schon im Luthertum selbst stark ausgeprägt und in gewisser Weise auch bereits abgeschlossen. Und jetzt nach dem Sturze Frankreichs, der ersten, wichtigsten und „allerchristlichsten“ katholischen Nation – jetzt ist der Germane überzeugt von seinem Triumph und gleichfalls davon, daß niemand an seiner Stelle der Führer der Menschheit werden wird und ihr die Wiedergeburt bringen kann. Daran glaubt er fest, er glaubt, daß es etwas Höheres als germanischen Geist und Wort in der Welt nicht gebe, und daß Deutschland allein fähig sei, der Welt dieses Höchste zu geben. Es kommt ihm lächerlich vor, selbst nur anzunehmen, daß auch anderswo in der Welt irgendeine besondere Idee – meinetwegen nur im Keime – leben solle, eine Idee, die das zur Führung der Welt bestimmte Deutschland nicht gleichfalls haben könnte. Währenddessen wäre es jedoch alles andere als überflüssig, zu bemerken, daß Deutschland in all diesen neunzehn Jahrhunderten seines Daseins nichts anderes getan hat, als eben nur protestiert, und daß es selber sein eigenes neues Wort überhaupt noch nicht gesagt, sondern die ganze Zeit über nur der Verneinung seines Feindes gelebt hat, so daß in Zukunft vielleicht etwas überaus Seltsames geschehen kann: daß nämlich, wenn Deutschland dereinst alles zerstört haben wird, wogegen es neunzehn Jahrhunderte lang protestiert, es plötzlich geistig selbst wird sterben müssen, unmittelbar nach seinem Feinde, einfach, weil es dann keinen Grund mehr haben wird, zu leben; denn es wird ja nichts mehr geben, wogegen es protestieren kann! Doch möge das bloß eine Schimäre von mir sein – dafür ist Luthers Protestantismus um so mehr ein Faktum: der aber ist eben ein kritisierender und damit bloß verneinender Glaube, der dann, wenn der Katholizismus von der Erde verschwindet, nach ihm bestimmt auch verschwinden wird, da er, wenn er gegen nichts mehr zu protestieren hat, sich eben in reinen Atheismus verwandeln und damit sich selbst aufheben wird. Doch auch das ist vorläufig bloß eine Schimäre von mir.
Die slawische Idee wird von dem Germanen ganz ebenso verachtet wie die katholische, nur mit dem Unterschied, daß er die letztere immer als starken und mächtigen Feind geschätzt hat, die slawische Idee dagegen nicht nur für nichts wert hält, sondern sie sogar überhaupt nicht anerkennt, überhaupt kaum kennt. Erst seit ganz kurzer Zeit fängt er an, mißtrauisch zu den Slawen hinüberzusehen. Wenn es ihm auch jetzt noch lächerlich erscheint, anzunehmen, daß auch die Slawen irgendein Ziel oder eine Idee haben könnten, irgendeine Hoffnung, gleichfalls „der Welt etwas zu sagen“, so hat sich einstweilen nach dem Sturze Frankreichs sein mißtrauischer Verdacht doch verstärkt, und die Ereignisse des vorigen Jahres[10] haben ihm dieses Mißtrauen natürlich nicht nehmen können. Augenblicklich ist Deutschland sogar beinahe besorgt. In jedem Fall, sagt es sich, und vor allen etwaigen Orientgedanken, muß es erst seine Arbeit im Westen beenden! Wer aber kann da leugnen, daß Frankreich in diesen fünf Jahren nach seinem Zusammenbruch den Deutschen gerade dadurch beunruhigt, daß dieser es 1870/71 nicht total zertrümmert, zerstampft, vernichtet hat. 1875 erreichte diese Unruhe in Berlin einen sehr hohen Grad, und Deutschland würde sich bestimmt von neuem auf seinen uralten Feind gestürzt haben, um ihn, solange es noch Zeit ist, endgültig zu erwürgen, wenn nicht einige äußerst wichtige Umstände es daran gehindert hätten. Jetzt aber, in diesem Jahre, schreckt Frankreich, das seine Position mit jedem Tage verstärkt hat, Deutschland noch weit mehr als vor zwei Jahren. Deutschland weiß, daß sein Feind nicht ohne Kampf sterben wird, daß er vielmehr, wenn er sich ganz erholt hat, womöglich selbst zum Kampf rufen wird, so daß es nach drei, nach fünf Jahren für Deutschland schon zu spät sein kann. Und nun, in Anbetracht dessen, daß der slawische Osten Europas so ganz von einer eigenen, plötzlich entstandenen Idee durchdrungen ist und jetzt genug bei sich zu Hause zu tun hat, kann es sehr, sehr leicht geschehen, daß Deutschland, sobald es seinen Rücken gesichert sieht, sich zum letztenmal auf seinen westlichen Feind stürzt und sich von diesem quälenden Alb befreit. Und das können wir schon in allernächster Zukunft erleben. Im allgemeinen jedoch kann man sagen, daß, sobald die Dinge im Osten ein wenig heikel oder gespannt sind, Deutschland in einer fast noch unvorteilhafteren Lage ist. Beinahe muß es dann noch mehr Befürchtungen und Sorgen haben, ganz abgesehen von seinem über die Maßen stolzen Ton – das könnten wir doch wenigstens etwas mehr beachten.
Währenddessen aber ist im Osten tatsächlich die dritte Weltidee großartig aufgegangen, sie, die slawische Idee, die Idee von morgen – vielleicht die dritte aufsteigende Möglichkeit einer Entscheidung über das Schicksal der Menschheit und Europas. Es ist schon heute allen klar, daß mit der Lösung des Orientproblems in die Menschheit ein neues Element dringen wird, eine neue Macht, die bis jetzt passiv dagelegen hat, und bei der es ganz ausgeschlossen ist, daß sie auf das Schicksal der Welt nicht stark und entscheidend wirken wird. Was aber ist das für eine Idee, was wird die Vereinigung aller Slawen mit sich bringen?
All das ist heute noch viel zu unbestimmt; doch daß wirklich etwas Neues gesagt werden muß – daran zweifelt jetzt wohl niemand mehr. Und alle diese drei mächtigen Weltideen drängen fast zur selben Zeit zu ihrer Entscheidung. Das sind keine Launen mehr, kein Krieg um irgendeine Thronfolge oder wegen der Zänkereien irgendwelcher hochgestellten Damen, wie im vorigen Jahrhundert. Hier ist etwas Allgemeines und Endgültiges, und wenn auch durchaus nicht alle Menschenschicksale Entscheidendes, so doch zweifellos etwas, das den Anfang vom Ende der ganzen früheren Geschichte Europas mit sich bringt, – den Anfang der Entscheidung über unsere ganze Zukunft, die in Gottes Hand steht, und die der Mensch nicht vorauswissen, wohl aber ahnen kann.
Die Frage, die sich nun jedem denkenden Menschen unwillkürlich stellt, ist: Können solche Ereignisse in ihrem Laufe stehen bleiben? Können sich Ideen von solcher Größe kleinlichen, jüdischen, drittklassigen Erwägungen unterordnen? Läßt sich ihre Entscheidung hinausschieben, und wäre das überhaupt wünschenswert? Zweifellos muß die Weisheit die Nationen beschützen und verteidigen und der Nächstenliebe und der Menschheit dienen, doch gewisse Ideen haben ihre gewaltige, alles fortreißende Macht. Die abgebrochene und fallende Spitze eines Felsens hältst du mit der Hand nicht auf! Wir Russen haben dabei zweierlei für uns, zwei Kräfte, die da allen anderen in der Welt zusammengenommen gleichkommen, das sind: die Ganzheit, die geistige Unteilbarkeit der Millionen unseres Volkes und dessen unlösbare Verbindung mit dem Zarentum. Es ist das natürlich etwas ganz Unbestreitbares, doch unsere „Klugen“ verstehen nicht nur nicht die russische Volksidee, sie wollen sie noch nicht einmal verstehen.
Sprechen wir jetzt[11] einmal von Deutschland, über seine jetzige Aufgabe, diese ganze verhängnisvolle und auch alle anderen Völker angehende deutsche Weltfrage.
Was ist das nun für eine Aufgabe? Und warum hat sich diese Aufgabe denn erst jetzt für Deutschland in eine so schwierige Frage verwandelt, warum nicht schon früher, warum nicht schon längst, sondern erst vor einem Jahr, was sag’ ich, erst vor zwei Monaten?
Diese Aufgabe Deutschlands, seine einzige, hat es auch früher schon gegeben, hat es gegeben, solange es überhaupt ein Deutschland gibt. Das ist sein Protestantentum: nicht allein jene Formel des Protestantismus, die sich zu Luthers Zeiten entwickelte, sondern sein ewiges Protestantentum, sein ewiger Protest, wie er einsetzte einst mit Armin gegen die römische Welt, gegen alles, was Rom und römische Aufgabe war, und später gegen alles, was vom alten Rom aufs neue Rom und auf all die Völker überging, die Roms Idee, seine Formel und sein Wesen übernahmen, der Protest gegen die Erben Roms und gegen alles, was dieses Erbe ausmacht. Ich bin überzeugt, daß viele Leser über das, was ich soeben geschrieben, mit den Achseln zucken und lachen werden: „Wie kann man nur im neunzehnten Jahrhundert, im Jahrhundert der freien Ideen und der Wissenschaft, noch über Katholizismus und Protestantismus reden und streiten, ganz so, als ob wir noch im Mittelalter wären! Es gibt ja allerdings noch religiöse Leute und sogar Fanatiker, aber die haben sich doch nur noch wie archäologische Raritäten erhalten, die verdammt und verlacht und von allen verurteilt in weltfernen Winkeln sitzen, ein armseliges, klägliches Häuschen rückständiger Leutchen. Wie kann man sie bei einer so großen Frage, wie es die der Weltpolitik ist, überhaupt nur erwähnen?“
Ich aber meine nicht den „Protestantismus“, noch denke ich dabei an die zeitweiligen Formeln der altrömischen Idee, noch an den ewig gegen sie gerichteten germanischen Protest. Ich nehme nur die Grundidee, die schon vor zweitausend Jahren geboren wurde und seit der Zeit nicht gestorben ist, obgleich sie sich fortlaufend in verschiedenen Formeln verkörpert hat. Und heute ist es die Erbin Roms, die ganze westeuropäische Welt, die sich in den Geburtswehen einer neuen Umgestaltung dieser übererbten alten Idee windet und quält. Das ist für denjenigen, der zu schauen versteht, schon dermaßen augenscheinlich, daß es für ihn weiter keiner Erklärungen bedarf.
Das alte Rom war die erste Macht, die die Idee einer universalen Vereinigung der Menschen hervorbrachte, und die erste, die da glaubte und fest überzeugt war, sie praktisch in Gestalt einer Weltmonarchie verwirklichen zu können. Diese Formel jedoch fiel vor dem Christentum, – die Formel, aber nicht die Idee. Denn diese Idee ist die Idee der europäischen Menschheit, aus ihr bildete sich deren Kultur, für sie allein lebt sie überhaupt. Es fiel bloß die Idee der universalen römischen Monarchie, und sie wurde durch das neue Ideal einer wiederum universalen neuen Vereinigung in Christo ersetzt. Dieses neue Ideal zerspaltete sich in das östliche, das Ideal der vollkommen geistigen Vereinigung der Menschen, und das westeuropäische, römisch-katholische des Papstes, das dem östlichen durchaus entgegengesetzt ist. Diese westliche, römisch-katholische Verkörperung der Idee vollzog sich auf ihre Art, ohne den christlichen, geistigen Ursprung der Idee ganz zu verlieren, und indem sie diese Idee mit dem altrömischen Erbe verband. Das römische Papsttum verkündete, daß das Christentum und seine Idee ohne die universale Beherrschung der Länder und Völker, – nicht geistig, sondern staatlich, mit anderen Worten: daß es ohne die irdische Verwirklichung einer neuen universalen römischen Monarchie, deren Haupt nicht der römische Imperator, sondern der Papst sein würde – nicht verwirklichbar wäre. Und da begann dann wieder der Versuch einer universalen Monarchie – ganz und gar im Geiste der altrömischen Welt, aber doch schon in einer anderen Form. Auf diese Weise ist das östliche Ideal: zuerst die geistige Vereinigung der Menschheit in Christo anstreben und dann erst, kraft dieser geistigen Vereinigung aller in Christo, die zweifellos sich aus ihr ergebende rechte staatliche wie soziale Vereinigung verwirklichen. Nach der römischen Auffassung ist das Ideal dagegen das umgekehrte: zuerst sich eine dauerhafte staatliche Vereinigung in der Form einer universalen Monarchie zu sichern und dann, nachher, meinetwegen auch eine geistige Vereinigung zustande zu bringen unter der Obrigkeit des Papstes, des Herrn dieser Welt.
Seit der Zeit hat dieser Versuch in der römischen Welt immer Fortschritte gemacht und sich ununterbrochen verändert. Mit der Entwicklung dieses selben Versuchs ist dann der wesentlichste Teil der christlichen Grundsätze gänzlich eingebüßt worden. Als aber die Erben der altrömischen Welt schließlich das Christentum geistig verwarfen, da verwarfen sie mit ihm auch das Papsttum. Das geschah in der Französischen Revolution, die im Grunde nichts anderes war wie die letzte Gestaltveränderung oder Umverkörperung dieser selben altrömischen Formel der universalen Vereinigung. Doch die neue Formel erwies sich als ungenügend, die neue Idee verwirklichte sich nicht. Es gab sogar einen Augenblick, da alle Nationen, die die altrömische Bestimmung übernommen hatten, fast verzweifelten. Oh, versteht sich, der Teil der menschlichen Gesellschaft, der 1789 für sich die politische Suprematie gewonnen hatte, – die Bourgeoisie – triumphierte natürlich und erklärte, daß weiter zu gehen nun nicht mehr nötig sei. Dafür aber schlugen sich alle die Geister, die nach den unvergänglichen Gesetzen der Natur zur ewigen Beunruhigung der Welt bestimmt sind, zum Suchen neuer Formeln des Ideals und des neuen Wortes, wie sie beide unentbehrlich sind, – sie alle schlugen sich zu den Erniedrigten und Umgangenen, zu denen, die von der neuen Formel der allmenschlichen Vereinigung, die von der Französischen Revolution 1789 proklamiert worden war, nichts erhalten hatten. Diese Geister verkündeten nun ihr neues Wort, gerade die Notwendigkeit der Allvereinigung der Menschheit, und zwar nicht mehr in der Absicht, Gleichheit der Lebensrechte für etwa einen vierten Teil der ganzen Menschheit zu verschaffen und die übrigen bloß als Rohmaterial und auszunutzendes Mittel zum Glück dieses Viertels bestehen zu lassen, sondern im Gegenteil: um die Allvereinigung der Menschen auf den Grundsätzen der allgemeinen Gleichheit zustande zu bringen, mit der Teilnahme aller und jedes einzelnen an der Nutznießung der Güter dieser Welt, welcher Art sie auch sein mögen. Zur Verwirklichung dieser Lösung aber beschlossen sie, sich jedes Mittels zu bedienen, d. h. also durchaus nicht nur mit den Mitteln der christlichen Kultur vorzugehen, sondern vor nichts mehr zurückzuschrecken.
Was hat nun das alles in diesen ganzen zweitausend Jahren mit Deutschland und den Deutschen zu tun gehabt? Der charakteristischste, wesentlichste Zug dieses großen, stolzen und besonderen Volkes bestand schon seit dem ersten Augenblick seines Auftretens in der geschichtlichen Welt darin, daß es sich niemals, weder in seiner Bestimmung noch in seinen Grundsätzen, mit der äußersten westlichen europäischen Welt hat vereinigen wollen, d. h. mit all den Erben der altrömischen Bestimmung. Es protestierte gegen diese Welt diese ganzen zweitausend Jahre hindurch, und wenn es auch sein eigenes Wort nicht aussprach – und es überhaupt noch nie ausgesprochen hat, sein scharf formuliertes eigenes Ideal, zum positiven Ersatz für die von ihm zerstörte altrömische Idee – so, glaube ich, war es doch im Herzen immer überzeugt, daß es noch einmal imstande sein werde, dieses neue Wort zu sagen und mit ihm die Menschheit zu führen. Schon mit Armin begann es, gegen die römische Welt zu kämpfen. Darauf, zur Zeit des römischen Christentums, kämpfte es mit dem neuen Rom mehr denn jedes andere Volk um die Vorherrschaft. Und endlich protestierte es in der mächtigsten Weise, indem es die neue Formel des Protestes aus den geistigsten, elementarsten Gründen der germanischen Welt zog. Die Stimme Gottes tönte aus ihm und verkündete die Freiheit des Geistes. Die Spaltung war furchtbar und allgemein, – die Formel des Protestes war gefunden und ging in Erfüllung, – wenngleich es noch immer eine negative Formel blieb, und das positive Wort noch immer nicht gesagt wurde.
Und siehe, nachdem der germanische Geist dieses neue Wort des Protestes gesprochen – erstarb er geradezu für eine Zeitlang, und zwar geschah das parallel mit einer ebensolchen Erschlaffung der früher scharf formulierten Einheit der Kräfte seines Gegners. Die äußerste westliche Welt suchte, unter dem Einfluß der Entdeckung Amerikas, der neuen Wissenschaften und der neuen Grundsätze, sich in eine andere „neue Wahrheit“ umzugebären, gleichfalls in eine neue Phase einzutreten. Als der erste Versuch dieser Umgestaltung zur Zeit der Französischen Revolution gemacht wurde, da war der germanische Geist in großer Verwirrung und nahe daran, seine Individualität zu verlieren, mitsamt dem Glauben an sich. Er konnte nichts gegen die neuen Ideen der äußersten westlichen europäischen Welt sagen. Luthers Protestantismus hatte seine Zeit schon längst hinter sich, die Idee aber des freien Geistes, der freien Forschung war bereits von der Wissenschaft der ganzen Welt angenommen worden. Der riesige Organismus Deutschlands fühlte mehr denn je, daß er keinen, sagen wir, Körper und keine Form für seinen Ausdruck hatte. Und damals war es denn, daß in ihm das dringende Bedürfnis entstand, sich wenigstens äußerlich in einen einzigen festen Organismus zusammenzufügen, in Anbetracht der neuen herannahenden Phasen seines ewigen Kampfes mit der äußersten westlichen Welt Europas. Hierbei ist nun ein interessantes Zusammentreffen bemerkenswert: beide feindlichen Lager, beide Gegner, beide Kämpfer um die Hegemonie im alten Europa ergreifen und erfüllen zu ein und derselben Zeit – oder ungefähr ein und derselben – jeder eine Aufgabe, die der des anderen sehr ähnlich sieht. Die neue, noch phantastische zukünftige Formel der äußersten westlichen Welt – die Erneuerung der menschlichen Gesellschaft durch neue soziale Grundsätze – diese Formel, die fast unser ganzes Jahrhundert hindurch nur von Schwärmern und ihren halbwissenschaftlichen Vertretern, von allen möglichen Idealisten und Phantasten gepredigt worden ist, verändert plötzlich in den letzten Jahren ihr Aussehen und den Gang ihrer Entwicklung und beschließt: vorläufig von der theoretischen Definition und Propagandierung ihrer Aufgabe abzulassen und sofort den ersten praktischen Schritt zu tun, das heißt so viel wie sofort den Kampf zu beginnen, zu diesem Zweck aber die Vereinigung aller zukünftigen Kämpfer für die neue Idee in einer einzigen Organisation zustande zu bringen, also des ganzen vierten 1789 umgangenen Standes, aller Besitzlosen, aller Arbeitenden, aller Armen, und erst darauf die rote Fahne der neuen unerhörten Weltrevolution zu erheben. Es bildete sich die Internationale, die Vereinigung aller Armen dieser Welt, es gab Zusammenkünfte, Kongresse, Beschlüsse, neue Ordnungen, – mit einem Wort, im ganzen alten Westeuropa wurde der Grundstein zu einem neuen status in statu gelegt, und die zukünftige Ordnung dieser Welt sollte die alte, die dort im äußersten Westen Europas herrscht, verschlingen. Zu derselben Zeit aber, da dieses beim Gegner vor sich ging, begriff der deutsche Geist, daß auch die deutsche Aufgabe, vor allen anderen Dingen und neuen Anfängen, vor jedem Versuch eines neuen Wortes gegen den aus der alten katholischen Idee umgestalteten Gegner, zuerst nur eine war –: die eigene politische Einheit herzustellen, die Schöpfung des eigenen staatlichen Organismus zu vollenden und, erst nachdem das geschehen war, sich Stirn gegen Stirn seinem alten Feinde entgegenzustellen. So geschah es auch: nachdem Deutschland seine Vereinigung innerlich vollendet hatte, warf es sich auf den Gegner und trat mit ihm in eine neue Kampfperiode ein, die mit Eisen und Blut begann. Der Kampf mit dem Eisen ist heute beendet, – jetzt steht nur noch bevor, ihn geistig zu beenden.
Da taucht aber plötzlich für Deutschland eine neue Sorge auf, eine neue, unerwartete Wendung der Sache, die die Aufgabe arg erschwert. Was ist das nun für eine Aufgabe, und worin besteht diese neue Wendung der Sache?
Diese Aufgabe, diese unvorhergesehene Sorge Deutschlands, hat sich, wenn man will, schon längst erklären wollen, aber erst jetzt ist sie, vielleicht etwas zu plötzlich, allen sichtbar geworden – und zwar infolge der unvorhergesehenen klerikalen Umwälzung in Frankreich. Man kann sie etwa in der Form folgenden Zweifels ausdrücken: Hat sich nun der deutsche Organismus tatsächlich in ein einziges Ganzes vereinigt, durch die genialen Anstrengungen der Führer Deutschlands in den letzten fünfundzwanzig Jahren? Und überdies noch: Hat er sich denn wirklich politisch vereinigt, ist nicht vielleicht auch das nur ein Trugbild, ungeachtet des Deutsch-Französischen Krieges und des nach ihm proklamierten, früher undenkbar gewesenen großen Deutschen Reiches?
Die ganze Schwierigkeit dieser Frage besteht hauptsächlich darin, daß man sie fast bis zur allerjüngsten Zeit als überhaupt nicht vorhanden annahm – wenigstens, wenn man dabei an die große Mehrzahl der Deutschen denkt. Begeisterung für sich selber, Stolz und unanfechtbarer Glaube an ihre unumschränkte Macht haben ja alle Deutschen ohne Ausnahme nach dem Kriege wie trunken gemacht. Dieses Volk, das ungewöhnlich selten gesiegt hat, dafür aber bis zur Seltsamkeit oft besiegt worden ist, – dieses Volk besiegte plötzlich einen Feind, der fast immer und überall Sieger gewesen. Da es aber nun einmal klar war, daß es ihn nicht nicht-besiegen konnte, infolge der mustergültigen Organisation seiner großen Armee und der eigenartigen Umgestaltung derselben nach völlig neuen Grundsätzen, und außerdem, da es so geniale Führer an der Spitze hatte, so war es für den Deutschen natürlich ganz unmöglich, darauf nicht bis zur Trunkenheit stolz zu werden. Hier braucht man gar nicht den uralten Zug des deutschen Charakters, die selbstzufriedene Prahlerei eines jeden Deutschen, in Betracht zu ziehen. Anderseits: aus dem so kürzlich noch zerstückelten staatlichen Organismus entstand plötzlich ein so festes Ganzes, daß der Deutsche nicht gut auch hierüber in Zweifel geraten konnte und daher einwandlos glaubte, die Einigung sei nun tatsächlich für immer vollbracht, und für den deutschen Organismus bräche nun eine neue, glänzende und große Phase der Entwicklung an. Und so wuchsen denn nicht nur Stolz und Chauvinismus, sondern es schoß sogar richtiger Leichtsinn auf. Was konnte es noch für Fragen geben, – nicht nur für irgendeinen kriegerischen Ladenjüngling oder Bäckergesellen, sondern selbst für einen Professor oder Minister? Einstweilen aber blieb doch noch ein kleiner Kreis von Deutschen übrig, der schon sehr bald, fast sofort nach dem Deutsch-Französischen Kriege, zu zweifeln und nachzudenken begann.
Das Haupt dieses Kreises war zweifellos Fürst Bismarck.
Noch hatten die deutschen Truppen Frankreich nicht verlassen, als er schon einsah, daß mit „Blut und Eisen“ zu wenig getan worden war, daß man, wenn man Ziele von solcher Größe vor sich hatte, wenigstens zweimal mehr hätte tun müssen, da die Gelegenheit nun einmal so günstig war. Allerdings, militärische Vorteile blieben immerhin unvergleichlich mehr auf seiten Deutschlands, und das noch für lange. Frankreich ist nach der Abtretung der beiden Provinzen Elsaß und Lothringen für eine Großmacht an Landumfang so klein geworden, daß im Fall eines neuen Krieges nach ein oder zwei für Deutschland erfolgreichen Schlachten die deutschen Heere schon im Zentrum Frankreichs stehen würden und es somit in strategischer Beziehung erobert hätten. Sind nun aber diese Siege so gewiß, kann man sich wirklich auf diese zwei erfolgreichen Schlachten mit solcher Sicherheit verlassen? 1870–71 haben ja die Deutschen eigentlich nicht Frankreich besiegt, sondern nur Napoleon und seine Institutionen. Nicht immer werden in Frankreich die Heere so schlecht organisiert sein und kommandiert werden; nicht immer werden dort Usurpatoren herrschen, die aus dynastischen Interessen gezwungen sind, solche klägliche Fahrlässigkeit zu dulden, daß ein reguläres Heer sich nicht ein paar Monate im Felde erhalten kann. Nicht immer wird sich auch ein Sedan finden, denn Sedan war ja im Grunde nur ein einzelner Fall, der sich aus dem Umstande ergab, daß Napoleon nach Paris nur durch die Gnade des Königs von Preußen hätte zurückkehren können. Und nicht immer werden dort so wenig begabte Generale wie Mac-Mahon oder solche „Verräter“ wie Bazaine sein. Die Deutschen, trunken von einem bis dahin noch nie erlebten Triumph, konnten natürlich alle bis auf den letzten glauben, alles das hätten sie, und nur sie allein, einzig mit ihrem kriegerischen Genie gemacht. In jenem zweifelnden Kreise jedoch dachte man anders, ... besonders nachdem der besiegte Feind, noch eben so zerrüttet und erschüttert, plötzlich mit einem Schlage fünf Milliarden Kontribution bezahlte und dabei nicht mal die Miene verzog. Das, versteht sich, betrübte sehr den Fürsten Bismarck.
Von der anderen Seite stellte sich dem zweifelnden Kreise noch eine zweite, vielleicht noch wichtigere Frage, und zwar: Hat sich nun wirklich die staatliche und bürgerliche Vereinigung innerhalb des Organismus vollzogen? Ich glaube, in ganz Europa, und besonders bei uns in Rußland, hat bis jetzt noch niemand daran gezweifelt. Überhaupt haben wir Russen alles, was in Deutschland in den letzten zehn, fünfzehn Jahren geschehen ist, für etwas Endgültiges, im höchsten Grade nicht Zufälliges, sondern durchaus Natürliches angesehen, für etwas, das sich nun nicht mehr verändern kann. Die vollbrachten Taten flößten uns außerordentliche Achtung ein. Währenddessen aber nahm wohl in den Augen so genialer Menschen, wie Fürst Bismarck, kaum alles, so wie er es sich innerlich wünschte, bereits die Gestalt endgültiger Dauerhaftigkeit an. Das, was heute noch dauerhaft scheint, kann dies vielleicht nur in der Phantasie sein. Es ist schwer, anzunehmen, daß eine so alte Gewöhnung der Deutschen an politische Zerspaltung so schnell verschwunden sei wie ein ausgetrunkenes Glas Wasser. Der Deutsche ist schon von Natur starrsinnig. Zudem wurde die jetzige Generation der Deutschen von den Erfolgen bestochen, trunken gemacht durch den Stolz und von der eisernen Hand der Führer gelenkt. In Zukunft aber, wenn diese Führer in das Jenseits abgerufen sein werden und ihren Platz im Diesseits anderen überlassen haben, werden sich vielleicht doch die zeitweilig unterdrückten Probleme und Instinkte wieder einstellen. Sehr wahrscheinlich ist gleichfalls, daß dann die Energie der Einheitsbewegung wieder erschlafft sein wird und im Gegenteil die alte Energie der Opposition von neuem ersteht und das ins Wanken bringt, was so mühsam aufgebaut wurde. Es wird sich das Bestreben, sich abzusondern, sich zurückzuziehen, einstellen, und das gerade dann, wenn sich im Westen der furchtbare Feind von dem Schlage ganz und gar erholt hat, dieser Feind, der auch jetzt nicht schläft, nicht müßig ist, und von dem man weiß, welches seine erste Aufgabe sein muß von allen, die er sich gestellt hat. Und da kommt dann noch zum Überfluß, sagen wir, das Naturgesetz selber hinzu: Deutschland ist doch in Europa immerhin das Land, das in der Mitte liegt: wie stark es also auch sein mag – auf der einen Seite bleibt Frankreich, auf der anderen Rußland. Es ist ja wahr, die Russen sind vorläufig noch höflich. Wie aber, wenn sie plötzlich erraten, daß nicht sie das Bündnis mit Deutschland brauchen, wohl aber Deutschland das Bündnis mit Rußland; und überdies noch: daß die Abhängigkeit von dem Bündnis mit Rußland allem Anschein nach die verhängnisvolle Bestimmung Deutschlands ist, und besonders seit dem Deutsch-Französischen Kriege –?[12] Das ist es ja, warum an die allzu große Ehrerbietung Rußlands selbst ein von seiner Kraft so überzeugter Mensch, wie Fürst Bismarck, nicht imstande ist, zu glauben. Ja, bis zu diesem letzten, unvorhergesehenen Zwischenfall in Frankreich, der plötzlich die ganze Sachlage verändert hat, hoffte Fürst Bismarck immer noch, daß die ungewöhnliche Höflichkeit Rußlands noch lange unerschütterlich anhalten werde. Und nun plötzlich dieser Zwischenfall! Ja, es ist in der Tat etwas Ungewöhnliches geschehen.
Ungewöhnlich für alle, doch nicht für den Fürsten Bismarck! Jetzt erweist es sich, daß sein genialer Blick dieses „Ereignis“ schon längst vorausgesehen hat. Oder ist es nicht sein Genie, sein scharfes Auge, das den Hauptfeind bereits vor so langer Zeit entdeckte? Warum haßte er denn gerade so den Katholizismus, warum verfolgte er alles, was von Rom, – d. h. vom Papste – ausging, nun schon so viele Jahre lang? Warum bemühte er sich so weitsichtig, sich das Bündnis – so kann man sich ausdrücken – mit Italien zu sichern, wenn nicht, um mit Hilfe der italienischen Regierung die Wurzel des Papsttums in der Hand zu haben, wenn die Zeit kommen wird, da ein neuer Papst gewählt werden muß? Nicht den katholischen Glauben verfolgte er, sondern den römischen Ursprung dieses Glaubens. Zweifellos handelte er dabei als Deutscher, als Protestant; er arbeitete gegen die Grundmacht der äußersten westlichen, Deutschland immer feindlichen Welt – trotzdem sahen viele, sehr, sehr viele von den intelligentesten und liberalsten Denkern Europas auf diesen Feldzug des mächtigen Bismarck gegen den nichtssagenden Papst wie auf den Kampf eines Elefanten mit einer Mücke. Manche erklärten sich das mit einer Marotte oder einer Laune des genialen Mannes. Das wichtigste war aber, daß der geniale Politiker, vielleicht als einziger von allen Staatsmännern der Welt, einzuschätzen verstand, wie stark das römische Element noch in sich selbst und inmitten der Feinde Deutschlands ist, und was für einen furchtbaren Kitt es in Zukunft abgeben kann, wenn es heißt, alle diese Feinde zu vereinigen. Er allein war fähig, zu erraten, daß sich vielleicht einzig in der römischen Idee eine solche Fahne wird finden lassen, unter der man in dem unheilvollen und in Bismarcks Augen unabwendbaren Augenblick alle von ihm schon erdrückten Feinde Deutschlands wieder zu einem furchtbaren Ganzen wird zusammenbringen können. Und siehe, der geniale Argwohn hat sich plötzlich bewahrheitet: alle Parteien im besiegten Frankreich, die eine Bewegung gegen Deutschland hätten beginnen können, waren zersprengt, und keine einzige konnte die anderen besiegen und die Macht in Frankreich an sich reißen. Vereinigen konnten sie sich gleichfalls auf keine Weise, da jede ihre besonderen, entgegengesetzten Ziele im Auge hatte. – Und nun vereint die Fahne des Papstes und der Jesuiten mit einem Male alle! Der Feind erhebt sich, und dieser Feind ist nicht mehr Frankreich, sondern der Papst selbst. Es ist der Papst, der Führer aller, dem die römische Idee vermacht ist, der da kommt, um sich auf Deutschland zu stürzen.
Wie aber sieht es nun im Lager dieser Gegner Deutschlands aus?
Der Papst liegt im Sterben und wird bald gestorben sein. Die ganze katholische Welt, die an Christus in der Gestalt der römischen Idee glaubt, ist schon lange in ungewöhnlicher Aufregung: der unheilvolle Augenblick rückt heran – da heißt es denn, Nichts versäumen und außer acht lassen; denn sonst ist das Todesurteil der römischen Idee gefällt. Es kann nämlich geschehen, daß der neue Papst unter dem Druck der Regierungen ganz Europas, also nicht „frei“, gewählt wird, und daß er, zum Papst ausgerufen, einwilligt, auf ewig und im Prinzip jedem Landbesitz zu entsagen, wie auch natürlich dem Titel des weltlichen Herrschers, auf den Pius IX. nicht verzichtete, vielmehr in demselben verhängnisvollen Augenblick, da ihm Rom und das letzte Stück Land genommen wurde und ihm nur noch der Vatikan blieb, wie zum Trotz seine Unfehlbarkeit verkündete und zu gleicher Zeit die These vertrat, daß ohne irdisches Reich das Christentum auf Erden nicht bestehen könne, – also im Grunde sich für den Herrscher der Welt erklärte, und vor den Katholizismus dogmatisch als einziges Ziel die universale Monarchie hinstellte, nach deren Verwirklichung zu streben er zum Ruhme Gottes des Vaters und des Sohnes auf Erden einfach befahl –! Selbstverständlich belustigte er damit seinerzeit alle geistreichen Leute: „Er ärgert sich, doch hilft ihm das nichts,“ sagte man damals. Und jetzt, plötzlich, wenn der neugewählte Papst bestochen wird, wenn sogar das Konklave selber unter dem Druck ganz Europas gezwungen wird, mit den Gegnern der römischen Idee einen Kompromiß zu schließen, – nun, dann kann man sie ja begraben! Denn, wenn einmal ein regelrecht gewählter, folglich also ein „unfehlbarer“ Papst im Prinzip die Würde eines weltlichen Herrschers ablehnt, so wird es auch weiterhin und auf ewig so bleiben. Anderseits: tut der durch das Konklave neugewählte Papst fest und über die ganze Welt hin kund, daß er nichts abzulehnen gedenke und ganz und gar in der alten Idee verbleibe, und schleudert er das Anathema gegen alle Feinde Roms und des römischen Katholizismus, so können ihn die Regierungen Europas, wenn sie wollen, nicht anerkennen und somit eine so verhängnisvolle Erschütterung der römischen Kirche heraufbeschwören, daß die Folgen derselben unberechenbar und unabsehbar wären.
Oh, für die Politiker und Diplomaten fast ganz Europas war der gestürzte, im Vatikan gefangene Papst in den letzten Jahren solch eine Nichtigkeit, daß sie sich schämten, ihn auch nur zu erwähnen, besonders die geistreichen und liberalen unter ihnen. Der Papst, der Allokutionen hielt und Syllabusse herausgab, Pilger empfing und verfluchend im Sterben lag, glich in ihren Augen einem Narren, der bloß zu ihrer Belustigung lebte. Daß die größte Idee der Welt, die Idee, die aus dem Kopfe des Teufels entsprungen während seiner Versuchung Christi in der Wüste, die Idee, die in der Welt schon zweitausend Jahre lebt, daß diese Idee so einfach mir nichts dir nichts sich hinzulegen und sterben werde, womöglich in einer kurzen Minute – das wurde als unbestreitbar angenommen! Der Fehler lag hier natürlich in der Auffassung der religiösen Bedeutung dieser Idee, lag darin, daß zwei Bedeutungen verwechselt wurden: „Da heutzutage,“ hieß es, „selten jemand in der Welt noch an Gott glaubt, von dem Gott der römischen Auslegung schon ganz zu schweigen, in Frankreich aber selbst das Volk nicht mehr glaubt, höchstens noch die höhere Gesellschaft – aber auch die nicht wirklich mehr glaubt, sondern nur so tut – ergo, was können dann in unserem Jahrhundert der Bildung der Papst und der römische Katholizismus noch für eine Macht haben?“ – das ist es, wovon jetzt die geistreichen Leute überzeugt sind. Doch die religiöse Idee und die Papstidee sind grundverschieden. Und diese selbe Papstidee hat nun plötzlich in unseren Tagen, im ganzen erst vor zwei Monaten, mit einemmal solch eine Lebenszähigkeit bewiesen, solch eine Kraft, daß sie in Frankreich die radikalste politische Umwälzung zustande gebracht, ganz Frankreich den Zaum aufgelegt hat und es jetzt sklavisch nach sich zieht.
In Frankreich bildete sich in den letzten Jahren die parlamentarische Mehrheit aus Republikanern: und sie führten ihre Sachen ziemlich gut, ehrlich, ruhig, ohne Aufregungen durch. Sie verbesserten die Armee, bewilligten für sie ohne ein Wort des Streites riesige Summen, dachten aber nicht einmal an den Krieg, und alle begriffen, in Frankreich wie in Europa, daß, wenn es irgendwo eine friedliebende Partei gab, es zweifellos diese republikanische in Frankreich war. Ihre Führer zeichneten sich durch Mäßigung und eine an ihnen ganz ungewohnte Vernunft aus. Einstweilen aber sind das in Wirklichkeit lauter abstrakte Leute und Idealisten, Sänger eines schon längst verklungenen Liedes und furchtbar kraftlose Menschen: liberale, ergraute, doch sich jünger machende Greise, die sich einbilden, immer noch jung zu sein. Sie sind bei den Ideen der ersten französischen Revolution stehen geblieben, d. h. beim Triumph des dritten Standes, und sind im vollen Sinne des Wortes die Verkörperung des Begriffes „Bourgeoisie“. Das ist ganz dieselbe Julimonarchie, aber nur mit dem Unterschied, daß sie Republik heißt und es keinen König in ihr gibt – versteht sich, letzteren im Sinne von „Tyrann“. Alles, was sie Neues gebracht haben – das ist das Anno 48 eingeführte allgemeine Stimmrecht, das von der königlichen Juliregierung so gefürchtet wurde, und aus dem nicht nur nichts Gefährliches entstanden ist, sondern umgekehrt, sogar sehr viel für die Bourgeoisie Nützliches. Sehr zustatten kam diese Idee auch der Regierung Napoleons III. Doch die alten Herren waren im höchsten Grade zufrieden mit ihr, und es beruhigt und lullt sie ein wie kleine Kinder, daß sie „Republikaner“ sind. Das Wort „Republik“ hat bei ihnen etwas Komisch-Ideales. Man sollte meinen, daß diese unschuldige Partei Frankreich und die Franzosen vollkommen zufriedenstellen könnte, das heißt, die städtische Bourgeoisie und die Grundbesitzer. Doch siehe, in Wirklichkeit ist es umgekehrt. In der Tat, warum erschien die Republik in Frankreich immer als eine unzuverlässige Regierungsform? Und wenn die Republikaner nicht immer gehaßt worden sind, so werden sie doch immer von der großen Mehrzahl der Bourgeoisie wegen ihrer Kraftlosigkeit verachtet, oder wenn auch nicht gleich verachtet, so doch immerhin nicht wirklich geachtet. Auch das Volk hat ihnen fast nie getraut. Jedesmal, wenn in Frankreich die Republik die Regierung antrat, verlor geradezu alles im Lande seine Festigkeit und sein Selbstvertrauen. Bis jetzt ist die Republik immer nur ein Übergangszustand gewesen – zwischen revolutionären Versuchen allerschrecklichster Art und irgendeinem, zuweilen allerdummdreistesten Usurpator. Und da sie fast immer ein solches Ende genommen, hat sich auch die Gesellschaft gewöhnt, sie danach zu beurteilen. Dieses Mal war es nicht anders: kaum daß die Republik begann, fingen alle an, sich gleichsam in einem Interregnum zu fühlen – und wie vernünftig die Republikaner auch regieren mögen, die Bourgeoisie bleibt doch im stillen überzeugt, daß früher oder später der rote Bund aufflammen oder wieder irgendeine Monarchie beginnen wird. Das Ergebnis ist, daß der Bourgeoisie nun die monarchische Regierung viel lieber geworden ist als die republikanische, sogar ungeachtet dessen, daß die Monarchie, wie zum Beispiel die Napoleons III., gewissermaßen Versuche einer Vereinbarung mit den Sozialisten gemacht hat, während doch in der ganzen Welt niemand und nichts den Sozialisten feindlicher sein kann als die echten Republikaner: für die ist ja nur das Wort „Republik“ nötig, die Sozialisten aber suchen nicht Worte, sondern Taten. Nach den Prinzipien der Sozialisten ist’s ihnen einerlei – bilden sie eine Republik oder eine Monarchie, bleiben sie Franzosen oder werden sie womöglich Deutsche, und, offen gestanden, selbst wenn sich die Sache irgendwie so wenden sollte, daß ihnen der Papst zustatten käme, so würden sie selbst den Papst wählen. Sie suchen vor allen anderen Dingen zuerst ihre Sache durchzuführen, das heißt, den Sieg des vierten Standes sowie Gleichheit in der Verteilung der Rechte bei der Nutznießung der Lebensgüter, unter welch einer Fahne jedoch – das ist ihnen einerlei, meinetwegen unter der allerdespotischsten.
Auffallend ist, daß Fürst Bismarck den Sozialismus nicht weniger als das Papsttum haßt, und daß die deutsche Regierung, besonders in der allerletzten Zeit, scheinbar schon etwas zu sehr die sozialistische Propaganda zu fürchten anfängt. Zweifellos geschieht das nur, weil der Sozialismus die nationale Grundlage aufhebt, überhaupt die Wurzel der Nationalität untergräbt: das Prinzip der Nationalität aber ist die Grundlage der ganzen deutschen Einheit, die Hauptidee alles dessen, was in Deutschland in den letzten Jahren vollführt worden ist. Es kann jedoch sehr leicht möglich sein, daß Fürst Bismarck noch tiefer sieht und sich folgendes sagt: Der Sozialismus ist für ganz Westeuropa eine zukünftige Macht oder doch Kraft, und wenn das Papsttum irgendeinmal von den Mächten dieser Welt verlassen und verworfen sein wird, so kann es sehr, sehr leicht geschehen, daß es sich in die Arme des Sozialismus wirft und mit ihm zu einem Ganzen verschmilzt. Der Papst kommt mit bloßen Füßen zu allen Armen und sagt, daß alles, was sie lehren, schon längst in der Bibel geschrieben stehe, daß bisher bloß die Zeit für sie noch nicht gekommen wäre, dieses zu wissen, jetzt aber sei sie endlich angebrochen, und nun sei er, der Papst selber, bereit, ihnen Christus zu opfern, und statt an Ihn, gleichfalls an den menschlichen Ameisenhaufen zu glauben. Der römische Katholizismus – das liegt auf der Hand – bedarf nicht Christi, sondern der Weltherrschaft: „Also ihr braucht eine Vereinigung gegen den Feind? Vereinigt euch unter meiner Macht; denn ich allein bin von allen Mächten und Machthabern der Welt universal, – laßt uns zusammengehen!“ Dieses Zukunftsbild stellt sich wahrscheinlich Fürst Bismarck vor; denn von allen Diplomaten hat er allein einen so scharfen Blick gehabt, um die Lebenszähigkeit der römischen Idee und diese ganze Energie zu erkennen, mit der sie bereit ist, sich zu verteidigen, ohne jetzt noch die Mittel zu wählen. Leben will sie höllisch gern, sie zu töten aber ist schwer, denn sie ist eine Schlange! – Der einzige, der das erkennt, ist Bismarck – der größte Feind des Papsttums und der römischen Idee!
Doch siehe, die sich immer jünger machenden alten Herrchen, die französischen Republikaner, sind nicht fähig, dies zu verstehen. Den Klerus hassen sie schon aus bloßem Liberalismus, den Papst halten sie für machtlos und verächtlich und die römische Idee für vollständig überlebt. Sie verfallen nicht mal darauf, sich mit der furchtbaren klerikalen Partei zu versöhnen, wenn auch nur politisch, um sich etwas mehr Festigkeit zu verleihen. Wenigstens könnten sie es doch vorläufig unterlassen, die Klerikalen zu reizen, sie mit einem so anmaßenden Selbstvertrauen zu foppen, ja, sie könnten ihnen sogar einige Unterstützung bei der so nah bevorstehenden Wahl des neuen Papstes versprechen. Sie aber tun gerade das Gegenteil – entweder aus der idealen Ehrlichkeit ihrer Überzeugungen, oder einfach aus Leichtsinn. In der letzten Zeit haben sie noch zum Überfluß angefangen ganz besonders den Klerus zu verfolgen, und zwar genau in dem Augenblick, da dem Papsttum nur noch Frankreich als einzige Stütze verblieb. Denn wer könnte wohl im Notfalle für die „Freiheit“ der Papstwahl und für die Freiheit des gewählten Papstes das Schwert ziehen? Und dieses Schwert muß zudem noch stark und mächtig sein. Es blieb keine andere Wahl als Frankreich und seine große Armee. Und nun Frankreich an der Spitze der Feinde! Freilich, Marschall Mac-Mahon ist gehorsam, doch ist er selber in der Klemme und kann sich nicht mal selbst befreien: Die Mehrheit der Kammer ist republikanisch und liberal, und keine einzige der anderen Parteien vermag sie zu stürzen. Kurz, die republikanische Mehrheit zu verdrängen ist unmöglich ... Und nun plötzlich befreit dieser Klerus – dieser verachtete, machtlose Klerus! – den Marschall Mac-Mahon und beweist der ganzen Welt eine Macht, wie sie niemand von ihm mehr erwartet hätte. Die Pfaffen geben den Parteien zu verstehen, daß sie sich nur unter der Fahne des Klerus vereinigen können, und die Parteien, frappiert durch die Augenscheinlichkeit dieser Wahrheit, sind sofort mit ihnen einverstanden. In der Tat: für die Legitimisten wie für die Bonapartisten ist der größte und nächste Feind – diese selbe republikanische Mehrheit. Wenn jede dieser Parteien einzeln für sich arbeiten wollte, so würde sie nichts erreichen, zusammen aber, vereint, können sie eine Macht bilden, die am Ende fähig wäre, alle zu besiegen und selbst die Republikaner zu verjagen. Dann aber, wenn sie die Republik erdrosselt haben, wird jede Partei sich um sich allein kümmern können und, versteht sich, jede von ihnen wird dann um so größere Aussichten auf Erfolg haben, je mehr sie dem Klerus Gefallen erweist. Alles das hat der Klerus mathematisch berechnet und – – die Vereinigung ist zustande gekommen: schon hat die klerikale Mehrheit des Senats den Marschall Mac-Mahon ermächtigt, die Republikaner anzugreifen.
Nachdem der Klerus plötzlich solch eine unerwartete Macht und Gewandtheit bewiesen hat, wird er fraglos noch weiter gehen. Dieses schwarze Heer wird einfach in der entscheidenden Stunde Deutschland den Krieg erklären – und das ist es, was Fürst Bismarck alsbald durchschaut hat! Das Wichtigste haben sie ja schon erreicht: Mac-Mahon hat eingewilligt, Frankreich in die Abenteuerpolitik zu stürzen. Nun, und die Klerikalen sind nicht derart, um vor dem Weiteren zurückzuschrecken. Die haben kein Mitleid mit Frankreich. Wie alles in der Welt, brauchen sie auch Frankreich nur so lange, wie sie aus ihm Nutzen ziehen können. Dieses Land, das ihre einzige Hoffnung ist und ihnen so viele Jahrhunderte lang treu gedient hat, könnten sie eigentlich wohl verschonen! Aber ihre Stunde im Jahrtausend hebt schon an zum Schlage, und wenn ihnen da gerade Frankreich in die Hände fällt: warum sollen sie dann nicht aus ihm Kräfte herausquetschen, soviel sie eben nur können, und wenn sie damit auch hundertmal seine Existenz, sein Leben aufs Spiel setzen? Sie müssen alles nehmen, was es noch hergeben kann, und vor allen Dingen dürfen sie keinen Augenblick versäumen: wollten sie nur ein wenig später beginnen, so wäre es für sie schon zu spät. Darum heißt es gerade jetzt versuchen, Bismarck zu schlagen; denn wenn jemand bei der Wahl des Papstes stören wird, so ist es natürlich nur er. Und hinzu kommt jetzt noch, daß Bismarck gerade in diesem Augenblick ganz allein ist, ohne einen einzigen Verbündeten: Rußland – seine ganze Hoffnung – ist durch den Krieg in Anspruch genommen. Und schließlich, wenn es gelingt, Bismarck, wenn auch nur zeitweilig, zu besänftigen, so heißt es für sie doch, so schnell wie nur möglich, das Zukünftige anbahnen: den günstigen Augenblick benutzen und ein für allemal aus Frankreich einen dauerhaften Bundesgenossen machen, einen, der zu allem bereit ist und gehorsam bleibt, und der einwilligt, zu diesem Zweck daselbst eine radikale, diesmal aber ernstliche, auf ewig geltende Umwälzung zustande zu bringen. Zweifellos ist damit viel gewagt, doch schwanken können wohl andere, nicht aber die Jesuiten. Die Sache liegt nämlich so, daß sie gegenwärtig überhaupt keine andere Wahl haben, als riskieren und riskieren und nochmals riskieren ... Sich mit der klerikalen Umwälzung in Frankreich begnügen, – ohne Krieg mit Deutschland und ohne ernstliche Revolution in Frankreich, ist ihnen einfach unmöglich: derart ist jetzt ihre Lage. Sie wollen alles haben – oder nichts –, und da würde wenig nehmen, sich mit irgendeinem „Einfluß auf die Regierung“ zufrieden geben, ihnen nicht den geringsten Nutzen bringen. Ihre Bedürfnisse aber sind jetzt riesengroß! Und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als va banque zu spielen. Wenn ihnen aber, nehmen wir an, der Coup in Frankreich nicht gelingt, wenn, sagen wir, die Deutschen nochmals siegen und Frankreich den letzten Todesstoß geben, so kommt es für sie doch auf eins heraus: sie, also der Klerus, werden es deswegen nicht schlechter haben als jetzt, ich meine, als wenn sie jetzt artig die Hände in den Schoß legten und keine Umwälzung beabsichtigten: sie würden beim Alten bleiben, bei dem, wo sie vor den „Abenteuern“ waren, das heißt soviel wie in der allerschlimmsten Lage, die nur einen Trost hat, nämlich den, daß sie nicht mehr schlimmer werden kann. Eine andere Sache ist es mit Frankreich: wird es nochmals besiegt, so ist es unrettbar verloren. Doch nicht den Jesuiten steht es an, davor zurückzuschrecken: sie wissen, daß sie, wenn Frankreich siegt, alles bekommen und sich dann endgültig einnisten können. Dazu aber haben sie ihre besonderen Mittel, in Frankreich noch unerhörte Mittel!
Alle anderen Revolutionäre, selbst die wildesten „rotesten“, verbinden sich doch, wenn sie den Umsturz vollbracht, mit irgend etwas Allgemeinem, vorher Gegebenem und sogar Gesetzmäßigem. Die revolutionären Jesuiten jedoch können nicht gesetzmäßig, sondern nur ungewöhnlich handeln. Dieses schwarze Heer steht außerhalb der Menschheit, außerhalb des Bürgertums, außerhalb der Zivilisation und geht ganz von sich allein aus. Das ist ein status in statu, das ist die Armee des Papstes, die braucht nur den Triumph einzig ihrer Idee, – das übrige mag untergehen, was ihr im Wege liegt, mag verderben, was nicht mit ihnen übereinstimmt, mag sterben – Kultur, Gesellschaft, Wissenschaft! Sicherlich wollen sie Frankreich zu einer neuen und jedenfalls endgültigen Form umarbeiten, wenn bloß die Gelegenheit ihnen günstig ist; und wollen aus dem Lande allen Kehricht hinausfegen, und zwar mit einem Ofenbesen, wie ihn bis jetzt noch niemand gesehen hat, auf daß nicht einmal ein Geruch von irgendeinem Widerstande im Lande bleibe; und wollen dann dem Französischen Staat eine neue Verfassung geben, die ewig unter der strengsten Vormundschaft der Jesuiten bleiben muß.
All das kann auf den ersten Blick lächerlich absurd erscheinen. In der französischen Presse – und auch in der unsrigen – sind alle wohlgesinnten Leute fest davon überzeugt, daß die klerikale Partei sich bei den nächsten Wahlen unbedingt das Bein brechen werde. Die französischen Republikaner sind in ihrer geistigen Unschuld gleichfalls vollkommen überzeugt, daß „die ganze activité dévorante der von neuem ausgesandten Präfekten und Maires so gut wie nichts erreichen wird und nur die früheren Republikaner gewählt werden, die dann wiederum die frühere Mehrheit ausmachen und alsbald den Absichten Mac-Mahons ein Veto entgegensetzen werden; darauf wird dann der ganze Klerus verjagt und mit ihm vielleicht auch Mac-Mahon“. Doch diese Überzeugung ist leider nicht sehr begründet, und sicher machen sich die Klerikalen in der Beziehung die geringsten Sorgen. Die Sache ist nämlich eigentlich die, daß die naiven, harmlosen Greise, wie es scheint, immer noch nicht, trotz der vielen Erfahrungen, im ganzen Umfang begreifen können, mit was für Leuten sie es zu tun haben. Denn so wie die Wahlen für die Klerikalen nur ein wenig unvorteilhaft ausfallen, werden sie auch die neue Kammer auflösen, ungeachtet aller konstitutionellen Rechte derselben. Man wird vielleicht einwenden, dieses sei ungesetzmäßig, illegitim und darum unmöglich? Das ist allerdings wahr, doch wann kümmert sich dieses schwarze Heer um das Gesetz und die Rechte? Sie werden bestimmt – wir haben ja schon Tatsachen, die davon zeugen – ihrem gehorsamen Marschall den tollkühnen Gedanken eingehen, ein Mittel zu gebrauchen, das in Frankreich noch nie angewandt worden ist, und zwar: den militärischen Despotismus. Man wird natürlich sofort sagen, daß das ein altes Mittel sei, daß es schon mehrmals angewandt worden wäre, zum Beispiel von den Napoleonen! Und doch wage ich zu behaupten, daß es in seiner ganzen Gewaltsamkeit tatsächlich noch kein einziges Mal in Frankreich gebraucht worden ist. Hat sich der Marschall Mac-Mahon der Armee versichert, so kann er die ganze zukünftige Versammlung der Landesvertreter, wenn sie gegen ihn ist, einfach mit dem Bajonett auseinanderjagen und darauf dem Volke erklären, daß die Armee es so gewollt habe. Wie ein römischer Imperator der Verfallszeit kann er daraufhin ruhig kundtun, daß er sich hinfort „nur noch nach der Meinung der Armee richten werde“. Dann kommt der allgemeine Belagerungszustand und der militärische Despotismus, – und Sie werden sehen, meine Herrschaften, das wird furchtbar vielen in Frankreich sogar ungemein gefallen! Glauben Sie mir, wenn es not tut, werden auch die Abgeordneten kommen und mit der Stimmenmehrheit ganz Frankreich den Krieg gestatten und die nötigen Gelder dazu hergeben. In seiner kürzlichen Rede an das Heer hat sich der Marschall wenigstens in diesem Sinne ausgedrückt, und seine Worte haben großen Anklang gefunden. Wir können also nicht mehr zweifeln, daß das Heer mehr auf seiner Seite ist. Hinzu kommt noch, daß er jetzt schon zu weit gegangen ist, um noch stehenbleiben zu können, andernfalls würde er seinen Posten nicht mehr behalten, während doch seine ganze Politik und seine ganze Person sich in dem einen Wort „J’y suis et j’y reste“ ausdrückt. Über diese Phrase hinaus ist er bekanntlich noch nicht gegangen, doch wird er selbstverständlich alles für den Triumph derselben tun, wird, wenn’s drauf ankommt, selbst die Existenz Frankreichs aufs Spiel setzen. Die Fähigkeit und Bereitwilligkeit zu solch einem Wagnis hat er ja schon einmal im Deutsch-Französischen Krieg bewiesen, als er sich unter dem Einfluß der Bonapartisten entschloß, aus Treue zur Dynastie Napoleons, Frankreich bewußt seiner Armee zu berauben. Die Klerikalen haben ihm bestimmt sein „J’y suis et j’y reste“ sicher gestellt. Zweifellos haben sie es schon verstanden, Mac-Mahon geschickt darauf hinzuweisen, daß man im Notfalle – sind erst einmal die Parteien, die Bonapartisten und Legitimisten, unter der Fahne vereinigt – daß man im Notfalle, wie gesagt, auch ohne Chambord und ohne Bonaparte auskommen könne und man sie durchaus nicht zu rufen brauche, ja, dieses sogar in keinem Fall, sondern daß einfach der Marschall Mac-Mahon Diktator und unabsetzbarer Regent – doch dann nicht nur auf sieben Jahre – werden könne. Auf diese Weise würde sich also die These „J’y suis et j’y reste“ ohne Wunder verwirklichen – wenn man nur erst das Einverständnis der Armee hätte! Die Zustimmung Frankreichs kommt später ganz von selbst hinzu, denn eine feste Diktatorenhand an der Spitze der Macht wird vielen, sehr vielen gefallen. Solcher schmeichelhaften Hinweise wird es, wie gesagt, fraglos schon gegeben haben. Vielleicht wird man Bedenken tragen, ob ein Mann wie Mac-Mahon so etwas unternehmen und auch ausführen kann? Nun, erstens hat er schon die eine Hälfte ausgeführt, und zwar diejenige Hälfte, die, was Entschlossenheit anbetrifft, keineswegs leichter ist als die andere. Und zweitens, – gerade solche Leute, die an und für sich nicht im geringsten unternehmend sind, können, wenn sie plötzlich unter irgend jemandes höheren, energischen Einfluß kommen, eine ganz unerwartete, verhängnisvolle Entschlossenheit bekunden – nicht etwa weil sie Genies sind, sondern viel eher aus dem entgegengesetzten Grunde. Hier handelt es sich nicht um Erwägung, sondern einfach um das In-Bewegung-Setzen, darum daß man den Anstoß gibt; und hat man solche Menschen erst einmal ordentlich vorwärtsgestoßen, so ziehen sie eben die Karre so lange schnurgerade weiter, bis sie entweder mit dem Kopf die Wand einrennen oder aber sich selbst die Hörner abstoßen.
All das begreift man in Deutschland nur zu gut. Wenigstens halten alle offiziösen Organe der Presse, die vom Fürsten Bismarck beeinflußt werden, den Krieg für unvermeidlich. Wer von den Gegnern sich zuerst auf den anderen stürzen wird, und wann gerade, – das kann man natürlich nicht voraussagen, doch kann der Krieg sehr, sehr leicht ausbrechen. Selbstverständlich „kann“ das Gewitter auch vorüberziehen, nämlich wenn Mac-Mahon plötzlich Angst befällt vor dem, was er auf sich genommen, und er, wie einstmals Ajax, in Zweifeln befangen, auf halbem Wege stehenbleibt. Dieser Zufall ist allerdings möglich, doch kann man wohl kaum irgendwie auf ihn oder mit ihm rechnen. Vorläufig verfolgt Fürst Bismarck mit fieberhafter Aufmerksamkeit alles, was in Frankreich vor sich geht, und beobachtet und wartet. Für ihn besteht das Verhängnisvolle gerade darin, daß die Sache nicht in dem Augenblick angefangen hat, in dem er es erwartete. Jetzt jedoch sind ihm die Hände gebunden. Am unangenehmsten aber ist, daß sich plötzlich die Wunden aufgedeckt haben, die bis jetzt so sorgsam geheimgehalten wurden. Über die größte von ihnen habe ich schon einmal gesprochen – das ist die Befürchtung, Rußland könnte erraten, wie mächtig es ist, und welch eine Bedeutung sein entscheidendes Wort jetzt, gerade in diesem Augenblick haben kann, und – die Hauptsache – „daß die Abhängigkeit vom Bündnis mit Rußland allem Anschein nach die Schicksalsbestimmung Deutschlands ist, besonders seit dem Deutsch-Französischen Kriege“. Dieses deutsche Geheimnis könnte jetzt plötzlich ans Licht kommen – und das wäre für die Deutschen zum mindesten peinlich. Wie aufrichtig gewogen uns auch die Politik Deutschlands in den letzten Jahren gewesen ist: dieses Geheimnis ist von allen Deutschen streng bewahrt worden, niemals auch nur angedeutet worden – auch nicht in der Presse. Bis jetzt hatten die Deutschen immer eine ruhige und stolze Haltung, die natürlicherweise der Macht, die niemandes Hilfe braucht, eigen ist; nun aber muß die schwache Stelle leider herauskommen. Denn wenn das klerikale Frankreich sich zum verhängnisvollen Kampf entschließt, so ist es damit nicht getan, daß man seinen Angriff, falls es zuerst angreifen sollte, zurückschlägt, sondern man muß es für immer entkräften, es einfach erdrücken und die Gelegenheit ausnutzen – das ist die Aufgabe! Da aber Frankreich zudem reichlich eine Million Soldaten hat, so muß es den Sieg, um des Endes der Sache gewiß zu sein, unbedingt sicher stellen; denn anders lohnt es sich überhaupt nicht, anzufangen. Und die einzige Sicherstellung wäre, sich des entscheidenden Wortes Rußlands zu vergewissern. Kurz, am unangenehmsten ist, daß all das so plötzlich und unvorbereitet herauskommt. Alle früheren Berechnungen sind umgeworfen, und jetzt sind es schon die Ereignisse, die die Berechnungen lenken – nicht umgekehrt, wie früher. Heute oder morgen kann Frankreich im Innern mit sich zur Ruhe kommen. Es hat sich in eine Abenteuerpolitik gestürzt, und daher kann man sich wohl fragen, wo diese Abenteuer aufhören werden, wo ihnen eine Grenze gezogen sein wird? Das ist sehr unangenehm: noch vor so kurzer Zeit zeigten die Deutschen ein so unabhängiges Auftreten, besonders im letzten Jahre. Erinnern wir uns, daß in diesem Jahre auch Rußland sich bemühte, in Europa zu erkennen, wer ihm freund war, und die Deutschen kannten unsere Sorgen und machten ihre feierlich-festlichste Miene, die wohl den Umständen am angemessensten war. Es ist ja verständlich, wenn Deutschland sich über jede slawische Bewegung immer ein wenig beunruhigt; doch kann man wohl sagen, daß die Kriegserklärung Rußlands vor zwei Monaten für Deutschland vielleicht sogar nicht einmal so ganz unangenehm war: „Nein, jetzt werden sie es schon bestimmt nicht erraten,“ dachte man in Deutschland vor zwei Monaten, „daß wir es sind, die ihrer bedürfen, jetzt werden die Russen, an der Donau, dem ‚deutschen Strom‘, stehend, vollkommen überzeugt sein, daß, umgekehrt, mir sie allein uns furchtbar nötig haben und es am Ende des Krieges ohne unser gewichtiges Wort unmöglich abgehen wird. Und es ist gut, daß die Russen so denken, das kann uns später sehr zustatten kommen.“ Fraglos hat es viele kluge Deutsche gegeben, die vor zwei Monaten so von uns gedacht haben; ihre ganze Presse dachte und schrieb so und – nun plötzlich hat diese klerikale Stimmung durch alles einen Strich gezogen und alles umgestürzt! „Oh, jetzt werden sie es erraten, jetzt werden sie alles erraten! Und außerdem ist es unbedingt nötig, daß Rußland so schnell wie möglich diesen Krieg beendet und wieder frei wird! Doch wäre es äußerst gefährlich, hierbei eine Beeinflussung zu versuchen. Vielleicht wird es vor England und Österreich Angst bekommen – was aber nicht anzunehmen ist. Uns aber England und Österreich zur Beeinflussung Rußlands anzuschließen, daran ist nicht zu denken: die werden später sowieso nicht helfen, und Rußland würden wir nur verärgern. Sonderbare Lage! Oder sollte man Rußland womöglich helfen, damit es den Krieg schneller los wird? Nun ... das könnte man auch ohne Waffen tun, einfach mit politischem Druck, auf Österreich zum Beispiel ...“ So ungefähr überlegen jetzt dieselben Politiker, und es kann sehr, sehr leicht geschehen, daß all das in Wirklichkeit eintrifft.
Um es kurz zu machen – ich wollte nur meine Überzeugung äußern, meinen Glauben, daß Rußland nicht nur so stark und mächtig wie immer ist, sondern jetzt, gerade jetzt, die stärkste aller europäischen Mächte ist, und daß noch niemals sein entscheidendes Wort in Europa so geschätzt werden konnte wie im gegenwärtigen Augenblick. Mag Rußland jetzt auch mit den Türken beschäftigt sein, so kann doch schon seine Entscheidung für diesen oder jenen die Wage der europäischen Politik je nach seinem Wunsch und Willen in starkes Schwanken bringen. Sogar England selbst sieht jetzt, wie es, in Anbetracht der Möglichkeit äußerst umständlicher neuer Ereignisse in Westeuropa, sogar in den Augen der Russen zwei Drittel seines Prestige verliert, und wie doch endlich auch die mißtrauischsten Russen begreifen, daß es ihm, England, nicht einfällt, es auf einen Krieg ankommen zu lassen, wenn Rußland fest entschlossen ist, seine Sache fortzuführen, und daß England weit mehr auf eine Teilung des Erbes nach dem Tore des „kranken Mannes“ spekuliert, als daß es sich entschlösse, für denselben, in dieser ohnehin schon ungemütlichen Zeit, noch einen offenen Krieg zu beginnen. In der Tat, sollte es geschehen, daß etwas Unerwartetes, Unheilvolles in Westeuropa ausbräche, so wird doch England sich nie und nimmer in eine so heikle Sache gar zu sehr einmischen, die dem gewohnten Charakter seiner Interessen so überaus unähnlich sieht, und wird, versteht sich, bloß eine aufmerksam beobachtende Stellung einnehmen und nach seiner alten Gewohnheit den günstigen Augenblick abwarten, in dem sich irgendwo irgendeine Teilung der Beute ausschnüffeln läßt, um sich dann geschwind mit seinen Forderungen einzufinden. Jetzt jedoch, das heißt, vor der Klärung der Verhältnisse im Westen, wäre es keine Berechnung für England, gegen Rußland irgend etwas Ernstes zu unternehmen. Anderseits: was kann Österreich machen, wenn es allein bleibt? Ist es doch unwahrscheinlich, daß die klerikale Verwicklung der Sache in Westeuropa nicht auch auf Österreich hinüberwirken wird. Und so harrt denn natürlich auch Österreich, ganz wie alle anderen, der ferneren Dinge und der Entscheidungen der Fragen, so daß auch ihm jetzt, ganz wie allen anderen, die Hände teilweise gebunden sind. Ja, allen sind jetzt die Hände irgendwie gebunden, nur Rußland hat die seinen noch frei. Nun, und da hat denn auch schon etwas Unvorhergesehenes zu unseren Gunsten eingesetzt. Wie soll man auch nicht mit dem Unvorhergesehenen rechnen, wenn es sich um die Geschicksentscheidung der Menschheit handelt?
Gott und seine Gesetze regieren die Welt, und wenn über Europa sich wirklich etwas Neues mit Schicksalsmacht entladen soll, so ist es wohl nötig, daß es früher oder später geschieht. Gebe Gott, daß ich mich täusche. Gebe Gott, daß die heraufziehende Wolke sich verzieht und all meine Vorahnungen sich nur als meine eigenen „hitzigen“ Phantasien erweisen – als Phantasien eines Menschen, der von der Politik nichts versteht. Die ganze Frage ist ja nur –: Haben die offiziösen Organe der deutschen Presse, die den Krieg prophezeien und ihn erwarten, recht oder unrecht? Anderseits versichern die Minister Mac-Mahons den Franzosen und der ganzen Welt aus allen Kräften – übrigens ohne jegliche beschuldigende Anspielungen –, daß „Frankreich den Krieg nicht beginnen wird“. Nun, da wird man doch wohl zugeben müssen, daß all dieses zum mindesten verdächtig ist, und daß die Lösung der Zweifel, schon nach dem Gang der Sache selbst zu urteilen, in äußerst kurzer Zeit eintreffen kann. Wie aber, wenn jetzt so viel von der „Meinung der Armee“ abhängt? Schlimm, wenn es soweit kommt: dann ist es zu Ende mit Frankreich. Übrigens kann das ja nur mit Frankreich allein geschehen und sonst mit niemandem in der ganzen Welt. Doch gebe Gott, daß es auch mit ihm nicht geschehe: Das würde ein schlimmer Anfang sein und ein noch schlimmeres Beispiel.
Es ist schwer, sich etwas Unglückseligeres vorzustellen, als es die französischen Republikaner und die Französische Republik sind.[13] Nun ist es bald schon hundert Jahre her, daß diese Einrichtung auf die Welt gekommen. Und seit der Zeit ist es immer wieder geschehen – jetzt zum drittenmal –, daß, wenn gewandte Usurpatoren die Republik sozusagen konfiszierten, sich niemand erhob, sie ernstlich zu verteidigen, außer vielleicht irgendeinem kleinen Häufchen Machtloser. Eine allgemeine, starke Unterstützung der Republik von seiten des ganzen Volkes hat es noch nie gegeben. Und selbst in den Zeiten, da sie ein Recht hatte, zu existieren, hat sie selten jemand für eine nicht vorübergehende, für die definitive politische Institution Frankreichs genommen. Nichtsdestoweniger gibt es wohl kaum Leute, die von der Sympathie des ganzen Landes für die Republikaner überzeugter wären als die französischen Republikaner selbst.
Übrigens, während der zwei ersten Versuche, in Frankreich die Republik zu begründen, im vorigen Jahrhundert sowie 1848, konnten die damaligen Republikaner noch einige Gründe haben, besonders zu Anfang ihrer Versuche, auf die Sympathie des Landes zu rechnen. Die jetzigen Republikaner jedoch, – diese selben, denen es bestimmt ist, in allerkürzester Zeit samt ihrer Republik von irgend jemandem kurz und bündig aufgehoben zu werden – die, sollte man meinen, hätten schon wirklich keinen Grund mehr, sich Hoffnungen auf eine sichere Zukunft zu machen, selbst wenn ihnen das Land auch einige Zuneigung entgegenbrächte, eine Zuneigung, die, nota bene, in Frankreich nicht allzu zuverlässig ist; denn das Volk sympathisiert jetzt ja nur negativ mit ihnen, etwa nach dem Sprichwort: bei Fischmangel ist auch der Krebs ein Fisch – mit anderen Worten: im Notfalle nimmt man mit allem fürlieb. Währenddessen aber sind sie noch am Vorabend ihres sicheren Sturzes von ihrem Siege fest überzeugt. Und doch: was waren das für unglückliche Leute, was war das für eine Republik, diese dritte, die der selige Thiers wohl anerkannte, doch eben nur wie den Krebs bei Fischmangel! Wir brauchen uns ja nur der Geburt dieser dritten Republik zu erinnern: fast zwanzig Jahre lang erwarteten diese Republikaner den „ruhmvollen“ Augenblick, da der Usurpator gestürzt sein und „das Land sie zurückrufen“ werde. Und was geschah? Als diese Pechvögel nach Sedan glücklich die Herrschaft an sich gerissen hatten, waren sie gezwungen, diesen furchtbaren Krieg auf ihre Schultern zu nehmen, diesen Krieg, den sie niemals gewollt hätten, und den ihnen der Usurpator hinterließ, als er Frankreich verließ, um in das schöne Schloß Wilhelmshöhe einzuziehen und dort seine Zigarren weiterzurauchen. Und wenn dieser geriebene Usurpator, als er dann durch die Alleen des deutschen Schloßparks spazierte, sich auch über sie geärgert haben mag, die seine Macht an sich gerissen hatten, so wird er zuweilen doch bestimmt auch boshaft gelächelt haben, bei dem Gedanken, wie gut er sich an ihnen gerächt, indem er seine Schuld auf ihr schwaches Haupt gewälzt hatte. Denn, wie dem auch sein möge – später beschuldigte Frankreich doch eher sie als ihn alles dessen, worüber es sich zu beklagen hatte: daß sie den hoffnungslosen Krieg überhaupt weitergeführt und nicht verstanden hatten, sofort Frieden zu schließen, daß sie zwei große Provinzen, fünf Milliarden fortgegeben, das Land zugrunde gerichtet, sich schlecht geschlagen und ihre Anordnungen aufs Geratewohl getroffen. Letzteres wirft man noch heute dem damaligen Diktator Gambetta vor, der jedoch an nichts schuld ist, im Gegenteil, alles getan hat, was unter jenen Verhältnissen möglich war. Kurz, die Anklage gegen die Republikaner, daß sie ungeschickt gewesen seien und das Land ins Verderben gestürzt hätten, hielt sich und hält sich auch jetzt noch unangefochten aufrecht. Was tut’s, wenn alle wissen, daß Napoleon die erste Ursache des Unglücks war, es heißt trotzdem: „Warum haben sie denn die Sache nicht besser gemacht, wenn sie sie einmal übernahmen? Und wenn’s nur das wäre – aber sie haben sie ja noch so verschlimmert, wie man sie sich schlimmer gar nicht vorstellen kann.“ – Ein schöner Vorwurf! Doch das ist noch nicht alles: zusammen mit dieser Anschuldigung heftete sich ihnen auch noch etwas Verächtliches und Lächerliches an, bei dem Gedanken, in welch eine Klemme sie gleich zu Anfang ihrer Herrschaft geraten waren. Und doch – was hätten sie anderes tun können? Den Krieg nicht weiterzuführen, gleich nach Sedan Frieden zu schließen, war unmöglich: Die Deutschen würden auch dann Land und Geld gefordert haben, und was wäre da aus den Republikanern geworden, wenn sie auf diese Bedingungen eingegangen wären? Man würde sie einfach Feiglinge oder „Traitres“ genannt haben, wenn sie, „noch im Besitze einer Armee“, sich nicht verteidigt, sondern schmählich ergeben hätten. Das wäre eine schöne Empfehlung für ihre neue Republik gewesen! Da ihnen aber die Republik und deren Errichtung in Frankreich viel mehr am Herzen lag als die Rettung des Landes, so waren sie eben gezwungen, den Krieg weiterzuführen, trotz der Ahnung, daß nach dem Kriege sie eine noch weit größere Schande erwartete! Also stand vor ihnen Schande, und stand hinter ihnen Schande – eine Lage, die nicht nur unglücklich, nicht nur tragisch, sondern in gewisser Beziehung sogar komisch war; denn wahrlich nicht in der Gestalt hatten sie sich den Antritt ihrer Herrschaft nach dem Sturz des „Tyrannen“ erträumt!
Diese Komik wurde noch durch den Umstand verstärkt, daß sie trotz allem mit dem leichtesten Herzen die Herrschaft ergriffen, trotz allem ... das heißt, Verzeihung, ich will keineswegs behaupten, sie hätten nicht um Frankreich getrauert – oh, unter ihnen gibt es, was Gefühle anbelangt, vortreffliche Leute und sogar wirkliche Diener des Vaterlandes, versteht sich, im Falle es Republik heißt. Vielleicht gibt es sogar solche, einen oder zwei, die selbst die Republik an die zweite Stelle setzen würden, wenn nur Frankreich glücklich wäre – obgleich es kaum wahrscheinlich ist, daß es solche gibt, höchstens, wie gesagt, einen oder zwei, jedenfalls bestimmt nicht mehr. Die Sache war nun aber die: die Republikaner bildeten sich nämlich sofort ein – kaum daß der Friede mit Deutschland geschlossen war und sie sich angeschickt hatten, das Land in Ruhe zu verwalten –, sie hätten schon die Liebe Frankreichs errungen, und zwar gleich auf ewig, für alle kommenden Zeiten. Das war es, was so komisch wirkte! Entschieden hat jeder französische Republikaner die verhängnisvolle, verderbliche Überzeugung, es genüge das Wort „Republik“, es genüge schon, das Land eine Republik zu nennen, und sofort werde es für immer glücklich sein. Jedes Mißlingen der Republik schreiben sie unentwegt stets einem äußeren störenden Umstand zu, wie zum Beispiel dem, daß es auch Usurpatoren in der Welt gibt und überhaupt böse Menschen; und kein einziges Mal denken sie an die ungemeine Schwäche jener Wurzeln, die die Republik im Boden Frankreichs geschlagen, und die in ganzen hundert Jahren nicht haben erstarken und tiefer eindringen können. Überdies ist es den Republikanern in diesen sechs Jahren noch nie eingefallen, daß ihre komische Lage, wie Napoleon III. sie ihnen hinterlassen hat, auch jetzt noch besteht und daß, wenn das alte Unglück vergangen ist, ein neues Unglück, ein dem alten ähnliches, sich nähert, und zwar eines, das sie bestimmt in die allerkomischste Lage bringen wird, in eine so ungemein komische Lage, daß sie sich vielleicht schon in allernächster Zukunft nicht mehr werden halten können. Diese Komik besteht darin, daß dieses kommende Unglück, erstens ganz so wie das vergangene, in ihrer Erfüllung der hohen Pflicht liegt, dem Vaterlande wissentlich zum Verderben dienen zu müssen; zweitens, daß dieses Unglück wieder ganz so wie das erste vollkommen unabwendbar ist; drittens, daß es sie in eine ebensolche Klemme zu bringen droht, wie die, in der sie 1871 staken; und viertens, daß es, zur Vollendung des Verdrusses, ihnen ganz so wie das erste Mal von diesem selben Napoleon III., den sie so hassen und dessen Andenken sie so verfluchen, vermacht worden ist. In der Tat: wer ist jetzt der eifrigste Anhänger der Französischen Republik? Zweifellos Fürst Bismarck. So lange, wie in Frankreich die Republik besteht, ist jeder Revanchekrieg unmöglich. Man stelle sich nur vor: die Republikaner entschlössen sich, den Deutschen den Krieg zu erklären!! Nun, Fürst Bismarck begreift die Lage. Und währenddessen ist es doch sonnenklar, daß der große Organismus Frankreichs – vierzig Millionen – nicht ewig schmachvoll unter der Vormundschaft Deutschlands bleiben kann. Die Wunden werden zuheilen, die Erschütterung wird allmählich in Vergessenheit geraten, es werden sich neue Kräfte ansammeln, Mittel, Heere ... Und kann denn überhaupt eine Nation, die so lange politisch die erste Rolle gespielt hat, nach ihrem alten Ansehen in Europa nicht verlangen? Der Augenblick, in dem das geschehen wird, ist vielleicht nicht mehr gar so fern: die Fülle innerer Kraft muß unbedingt darnach streben, die Vormundschaft Bismarcks abzuschütteln und ihre frühere Unabhängigkeit wiederzugewinnen; denn augenblicklich kann man Frankreich unmöglich unabhängig nennen. In besagtem Falle aber würde eben ganz Frankreich sofort beim ersten Schritt mit dem Kopf an seine Republik stoßen. Wie kann man sich also, wiederhole ich, nur vorstellen, daß die jetzigen Republikaner überhaupt wollen könnten, dem Fürsten Bismarck in irgendeiner Angelegenheit „grob zu kommen“, und sogar in solch einer Weise, daß sie einen Krieg mit ihm riskierten!? Erstens, welch ein Franzose wird denn mit ihnen gehn, sogar in dem Falle, wenn Frankreich den Krieg wollte? Und zweitens wird sich doch jeder Franzose die unabweisbare, furchtbare Frage stellen: Was aber dann, wenn die Deutschen uns wieder schlagen? Dann ist ja für die Republik in Frankreich das letzte Ende gekommen: dann wird Frankreich ausschließlich den Republikanern die Schuld an der Niederlage zuschreiben und sie dann aber endgültig verjagen, wobei es natürlich ganz vergessen wird, daß es selbst nach der „Vergeltung“ und der alten dominierenden Stellung verlangt hatte ... Sollten aber anderseits die Republikaner festen Fuß fassen, auf die neuen Stimmen und Schreiereien nicht hören, den Krieg nicht erklären – so hieße das gegen den Wunsch des Landes gehen, das sie dann wiederum absetzen und sich dem ersten besten gewandten Führer anvertrauen würde. Mit einem Worte: – vorne Sedan und hinten Sedan! Inzwischen haben die Republikaner aber bestimmt noch nicht einmal angefangen an all das zu denken, obgleich der neue Ausbruch des Volkes vielleicht nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Und gleichfalls haben sie auch daran noch nicht gedacht, daß sie im Grunde nichts anderes sind, als die Protégés des Fürsten Bismarck, daß Frankreich aber diese Situation mit jedem Jahr mehr und mehr begreifen muß, und zwar im genauen Verhältnis zur Wiedererstehung und Erstarkung seiner Kräfte, und daß es folglich sie, die Republikaner, immer mehr verachten wird, anfänglich im geheimen und noch nicht bewußt, allmählich jedoch immer bewußter und schließlich offen und laut ...
Doch die Republikaner erkennen ihre Komik nicht an – bewahre: das sind pathetische Leute. Im Gegenteil, gerade jetzt haben sie neuen Mut geschöpft, jetzt, nachdem Mac-Mahon, der Präsident der „Republik“, sie nach Haus geschickt und die Kammer bis zu den nächsten Oktoberwahlen vertagt hat. Jetzt sind sie die „Verfolgten“ und fühlen sich deshalb ungeheuer in ihrer Aureole. Sie erwarten, daß ganz Frankreich plötzlich die Marseillaise anstimmen und der Ruf „on assassine nos frères!“ von Mund zu Mund gehen werde; wie einst zur Zeit der Revolution. Jedenfalls vertrauen sie auf den „Sieg der Gesetzmäßigkeit“ und erwarten, daß das Land im Unwillen über den Maréchal Mac-Mahon, über dieses kaum an seine Schale pickende Usurpatorenküchlein, wieder die ganze republikanische Mehrheit in die Kammer wählen wird – und womöglich noch neue republikanische Kandidaten dazu – und daß dann die neue versammelte Kammer dem Maréchal ein strenges Veto sagen und dieser, erschreckt durch die „Gesetzmäßigkeit“, sich von dannen machen wird. Von der Macht dieser „Gesetzmäßigkeit“ sind sie felsenfest überzeugt, – und nicht vielleicht aus Mangel an Intelligenz, sondern einfach, weil sie, diese guten Leute, zu sehr Leute ihrer Partei sind und etwas zu lange in ihrer Ecke gesessen haben. Sie haben zu lange um ihre geliebte Republik gelitten, darum glauben sie so fest an die republikanische „Vergeltung“. Sonderbarerweise glauben auch bei uns in Rußland viele unserer Zeitungen an ihren bisherigen Triumph und den unfehlbaren Sieg ihrer „Gesetzmäßigkeit“. Wodurch aber ist diese „Gesetzmäßigkeit“ gesichert, wenn Mac-Mahon nicht geruht, sich ihr zu unterwerfen, wovon er übrigens dem Lande schon in seinem bewunderungswürdigen Manifeste Mitteilung gemacht hat? – Durch den Unwillen, den Zorn des Landes? Aber der Marschall wird doch sofort in diesem selben Lande unzählige Anhänger finden, wie das ja in ähnlichen Fällen in Frankreich immer gewesen ist. Was soll man dann machen? Barrikaden bauen? Doch bei dem heutigen Gewehr, der heutigen Artillerie sind die alten Barrikaden unmöglich! Ja, und Frankreich wird sie ja gar nicht bauen wollen, selbst wenn es wirklich die Republik wollte. Ermüdet und überdrüssig der hundertjährigen politischen Unordnung wird es auf die allerprosaischste Weise sich überlegen, auf welcher Seite die Kraft ist, und sich dann der Kraft unterwerfen. Die Kraft aber liegt jetzt in der Armee, und das ahnt das Land. Folglich kann die ganze Frage nur sein: Für wen steht die Armee?
Über die Legionen, als die neue Kraft, die da emporsteigt, um Frankreich noch einmal zu einem ersten Platz in Europa zu verhelfen, habe ich schon früher geschrieben, lange vor dem Manifest des Maréchal-Président – und siehe, es ist alles so in Erfüllung gegangen, wie ich es damals erwartet hatte. In diesem Manifest, das alle Welt nicht wenig Wunder genommen hat, tut der Marschall unumwunden kund, – wenn er auch verspricht, der „Gesetzmäßigkeit“ zu folgen, den Frieden aufrechtzuerhalten, usw. – daß er, wenn das Land sich mit seiner Meinung nicht einverstanden erklären und ihm in den bevorstehenden Wahlen wieder die ganze frühere republikanische Mehrheit schicken sollte, gezwungen sein werde, sich dann seinerseits mit der Meinung des Landes nicht einverstanden zu erklären und sich dem Willen desselben nicht zu fügen. Solch ein erstaunliches Manifest des Marschalls muß seine besonderen Gründe haben! In solch einer Sprache und in solchem Tone hätte er nicht mit dem Lande sprechen können – Frankreich ist doch nicht irgendein Dorf –, wenn er nicht seiner Macht und des Erfolges sicher gewesen wäre! So dürfte es wohl klar sein, daß er seine Hoffnungen auf die Armee setzt. Und wirklich, als der Marschall im Sommer durch Frankreich reiste, wurde er zwar in vielen, ich glaube, schon in allzu vielen Städten und Provinzen recht zweideutig empfangen, das Heer jedoch und die Flotte bekundeten überall volle Anhänglichkeit und begrüßten den Marschall mit begeisterten Hurras. Fraglos darf man an den guten und, sagen wir, unschuldigen Gefühlen des Marschalls nicht zweifeln. Hat er auch etwas mehr als ungewöhnlich gehandelt, indem er im voraus zu verstehen gab, daß er dem rechtmäßigen Willen des Landes nicht gehorchen werde, wenn dieses nicht ihm gehorcht, so hat er das natürlich nur getan, weil er auf seine Weise dem Lande Wohlergehen bringen will und überzeugt ist, daß er dazu auch fähig sei. So braucht man denn wegen der moralischen Eigenschaften des Marschalls weiter keine Bedenken zu tragen, wohl aber vielleicht in Betreff irgendwelcher anderen ... Er scheint einer jener Charaktere zu sein, die immer unter irgend jemandes Vormundschaft stehen müssen: von dieser Seite betrachtet, bietet sein Charakter einzelne bemerkenswerte Sonderheiten. Zum Beispiel fragt es sich, – für wen arbeitet er jetzt? Für wen bemüht er sich so sehr, und für wen wagt er so viel? Zweifellos ist er unter der strengsten Vormundschaft, doch bin ich überzeugt – allerdings ist das nur meine persönliche Meinung: nur er allein ist in ganz Europa bis jetzt noch überzeugt, daß er unter niemandes Einfluß steht und daß er nur von sich aus handelt. Die geschickten Leute, die sich seiner bemächtigt haben, werden ihn wahrscheinlich, solange sie es für gut befinden, in diesem Glauben bestärken – und ihn inzwischen dorthin lenken, wohin sie ihn haben wollen. Das ist natürlich nur möglich, weil sie die Eigenschaften und die Eigenliebe solcher Charaktere vorzüglich kennen. Doch solche geschickten Leute kann man nur in einer einzigen Partei finden, allerdings, der größten und stärksten: in der klerikalen. Alle anderen politischen Parteien Frankreichs zeichnen sich nicht durch Gewandtheit aus. In der Tat nun, unter wessen Vormundschaft steht eigentlich der Marschall? Es ist jetzt wohl schon allgemein bekannt, daß die Legitimisten in Bewegung sind, daß eine ganze Reihe von Kandidaten vorhanden ist, ja – es heißt sogar, daß der Marschall sie protegiere –, daß sie von ihrem Siege bei den Wahlen im voraus überzeugt sind, und ferner, daß sie sich auf das Heer verlassen können, und daß im übrigen der kaiserliche Prinz schon auf das Festland zurückgekehrt sein soll, ja, man sagte sogar, er werde sich nach Paris begeben. Soll man nun wirklich glauben, daß der Marschall Mac-Mahon, dieser so selbstbewußte Präsident der „Republik“, so viel Arbeit und Gefahren auf sich nimmt, einzig um den kaiserlichen Prinzen auf den Thron zu setzen? Ich glaube – wiederum nur meine ganz persönliche Ansicht –, ich glaube, daß das nicht der Fall ist. Ich nehme natürlich den anderen Fall aus, daß es irgendwelche ganz besondere Kombinationen gibt, wie zum Beispiel, daß der Prinz sich mit der Tochter des Marschalls verlobt habe, wie es vor einem Monat verlautete: dann ist es natürlich etwas anderes. Gibt es aber keine solchen besonderen Kombinationen oder geheimen Abmachungen, so scheint mir, daß der Marschall eher geneigt wäre, das Land zu seinem Vorteil zu beglücken, als zum Vorteil eines anderen, und wenn er die bonapartistischen Kandidaten protegiert, so tut er das wohl nur, weil er sie für die verläßlichsten hält, später aber sie so, wie es ihm gefällt, zu lenken gedenkt. Gott mag wissen, was für Gedanken in diesem Hirn entstanden sind. Nicht umsonst hat doch ein Bischof beim Empfange des Marschalls in seiner Begrüßungsrede erwähnt, daß er, Mac-Mahon, weiblicherseits von Karl dem Großen abstamme. Mit einem Wort, ein paar Jahre Präsidentschaft haben vielleicht genügt, um in seine Seele einige erregende und phantastische Gedanken zu pflanzen. Zudem ist er Soldat! Übrigens sind alle diese Erwägungen nur abstrakte Versuche, diesen wirtschaften Charakter zu erklären. Die Wahrheit beschränkt sich vorläufig auf die Tatsache, daß der Marschall in den Händen der Klerikalen ist, und daß diese ihn lenken, nicht aber er sie, wie er es wohl glaubt. Das Schicksal Frankreichs hängt im gegenwärtigen Augenblick entschieden nur von ihnen ab, ausschließlich von ihnen. Zweifellos geht die furchtbare unterirdische Intrige immer noch weiter, und obgleich ganz Europa schon von Anfang an weiß, daß die Klerikalen in der gegenwärtigen westeuropäischen Bewegung eine große Rolle spielen, so ist es diesen, glaube ich, denn doch gelungen, den Umfang und die Macht dieser ihrer Rolle zu verheimlichen, sich hinter anderen zu verstecken, hinter dem Marschall, zum Beispiel, hinter den Bonapartisten, und das wird so fortdauern, bis sie das gewünschte Ziel erreicht haben. Im Grunde ist es ihnen ganz gleich, wer da siegt, der Marschall oder der Prinz. Persönliche Sympathien haben sie nicht und sollen sie auch nicht haben. Sie haben bloß eine Aufgabe: daß Frankreich so schnell wie möglich sein Schwert zieht und sich auf Deutschland stürzt. Nun, und zu diesem Zweck haben sie denn auch die Republikaner, die unfähig waren, für den Papst einzustehen, einfach beseitigt. Jetzt aber warten sie noch ab: wer wird schließlich für ihre Absichten vorteilhafter sein? Sollte der kaiserliche Prinz ihnen wirklich mehr Aussichten für den Krieg bieten, so werden sie sich an ihn machen und ihn nach Paris bringen, natürlich ohne dann noch an Mac-Mahon zu denken. Doch vorläufig scheinen sie sich noch an den Marschall zu halten. Bei der Gelegenheit – vor kurzem noch hieß es, der Marschall habe in einem Gespräch gesagt, selbstverständlich so, daß alle es hören konnten: „Man sagt von mir, ich hätte die Absicht, die republikanischen Einrichtungen zu annullieren, und vergißt dabei natürlich, daß ich, als ich die Präsidentschaft der Republik übernahm, mein Wort gegeben habe, sie zu erhalten.“ Diese Worte bestätigen durchaus die Annahme von der moralischen Unschuld des Marschalls, trotz aller Anschuldigungen der Republikaner. Als ehrlichem Menschen und Offizier ist ihm sein Ehrenwort heilig und er wird es selbstverständlich nicht brechen. Wenn er aber die Republik erhält und zu gleicher Zeit die Republikaner verjagt, so heißt das wohl, daß er die Republik ohne Republikaner fortzuführen gedenkt. Man sollte meinen, dieses wäre tatsächlich sein politisches Programm, und man habe ihn überzeugt, daß es wirklich durchführbar sei. Dieses Programm mit der These: „J’y suis et j’y reste“ – „hab’ mich mal hier hingesetzt und gehe nicht mehr fort“ – bildet augenscheinlich das A und O all seiner politischen Überzeugungen und wird es noch rund bis zum Jahre 1880 bilden, wann die Frist für seine Präsidentschaft und folglich auch die für sein Ehrenwort abläuft. Dann jedoch beginnt schon der Traum ... Das dankbare Land wird, wenn es sieht, daß er die Präsidentschaft niederlegen will, ihm für die Rettung vor den Demagogen eine neue Würde anbieten, nun, meinetwegen die Karls des Großen, und dann wird wieder alles wie geölt gehen ... Selbstverständlich werden die ihn lenkenden Schlauköpfe, im Falle er wirklich sein Ehrenwort halten und die republikanischen Einrichtungen bestehen lassen wollte, ihn sofort gegen Bonaparte eintauschen, wenn diese Republik ohne Republikaner ihren weiteren Plänen unvorteilhaft sein sollte. In Anbetracht dessen haben sie ihn denn auch, wie es scheint, veranlaßt, die bonapartischen Kandidaturen zu unterstützen – natürlich mit der Versicherung, es sei für ihn selbst vorteilhaft. Jedenfalls bleibt er unter so unbarmherziger Vormundschaft, daß er auf keine Weise aus ihr heraus kann. Ja, irgendwelche großen, noch nie dagewesenen Ereignisse erwarten die Welt, man ahnt, daß die Armee in Tätigkeit treten wird, ahnt die mächtige Bewegung des Katholizismus. Die Gesundheit des Papstes, schreibt man, sei „befriedigend“. Doch wehe, wenn der Tod des Papstes mit den französischen Wahlen zusammenfällt, oder wenn der Papst auch nur bald nach ihnen stirbt. Dann kann sich die Orientfrage mit einem Schlage in eine europäische verwandeln ...
Den Gedanken einer katholischen Verschwörung[14] habe ich schon früher einmal[15] recht ausführlich behandelt, doch scheint der Hauptpunkt meiner Ausführungen, – daß der Kern der gegenwärtigen wie der bevorstehenden Ereignisse ganz Europas in der katholischen Verschwörung und der baldigen, zweifellos mächtigen Bewegung des Katholizismus, die mit dem Tode des alten und der Wahl des neuen Papstes zusammenfallen wird, liegt, – dieser Hauptpunkt scheint übersehen worden zu sein. Heute bin ich noch fester von meiner Ansicht überzeugt, als vor zwei Monaten. Seit der Zeit ist so vieles geschehen, was mich in meiner Lösung des Rätsels bestärkt hat, daß ich an ihrer Richtigkeit nicht mehr zweifle. Seit der Zeit haben auch die Zeitungen, die unsrigen wie die ausländischen, angefangen über dasselbe Thema zu schreiben, – wenn auch, wie es scheint, immer noch nicht so recht entschlossen, die letzte Folgerung zu ziehen.
Ich will hier eine Stelle aus dem vorzüglichen Leitartikel der „Moskauer Nachrichten“ anführen, die unter anderem auch die Meinungen der Korrespondenten englischer Blätter zitiert:
Die Korrespondenten der englischen Blätter ergehen sich in recht aufrichtigen Erklärungen. Der Schlüssel der europäischen Politik ist nach ihrer Meinung in den Händen Deutschlands. Deutschland aber wäre aus sehr begreiflichen Gründen aufgelegt, gerade jetzt sich noch fester als zuvor Rußland anzuschließen. – Erstens hat man in Berlin bemerkt, daß die Mißerfolge der russischen Strategie Österreich belebt und sogar ermuntert haben, also dasjenige Land, welches, wie man annimmt, immer noch einigen Unwillen gegen Preußen nährt. Zweitens, daß die Hauptfeinde Deutschlands, Frankreich und der Katholizismus, ihre ganze Sympathie der Türkei entgegenbringen. Zu Anfang der Balkanwirren allerdings, da liebäugelte Frankreich noch mit Rußland, doch wenn es damals vielleicht noch einiges Wohlwollen für uns dort gab, so hat sich dasselbe jetzt nicht nur vermindert, es hat sich sogar mit dem ganzen Herzen den Türken zugewandt. Und was den kriegerischen Katholizismus anbetrifft, so hat er nicht erst jetzt, sondern von Anfang an, wie allen bekannt, leidenschaftlich die „rechtgläubige“ Türkei gegen das schismatische Rußland unter seinen Schutz genommen. Die Gesinnungslosigkeit des eifernden Klerus ist sogar so weit gegangen, daß sich ein Vertreter dieser Partei mit unmißverständlicher Zärtlichkeit über den Koran geäußert, so daß selbst die ultramontane „Germania“ es für nötig befunden hat, ähnliche Ausfälle durch die Bemerkung abzuschwächen, daß, wenn man sich auch der Siege der Türken über die verhaßten Russen freuen müsse, es doch nicht ganz angebracht sei, gleich Sympathie für den Islam zu bekunden. Da nun das mot d’ordre des Katholizismus auffallend mit der Veränderung der öffentlichen Meinung Frankreichs zugunsten der Türken zusammenfällt, und da die Interessen des gleichfalls katholischen Österreichs den Interessen Rußlands zuwiderlaufen, so fürchtet man natürlich in Berlin die Möglichkeit solch einer katholischen und antideutschen Liga, in die vielleicht später die ultramontanen Interessen sowie die separatistischen Süddeutschlands und „sogar England“ hineingezogen werden könnten. So schreiben nämlich die englischen Korrespondenten, doch kann hierüber wohl kein Zweifel bestehen, daß es England ist, das die Hauptrolle in diesen Intrigen spielt. Also bleiben wir wieder allein mit der Türkei.
Das ist ja alles ganz wunderschön, doch ist es einstweilen noch immer nicht das erklärende und letzte Wort, das zu sagen sich offenbar niemand getraut. Doch spricht man in diesem Leitartikel wenigstens auch von dem kriegerischen Katholizismus und der Bedeutung, die er in den Augen Bismarcks hat, und von dem gegenwärtigen Einfluß des ersteren auf Frankreich; und endlich sogar von der Liga: daß man in Berlin natürlich die Möglichkeit solch einer katholischen und antideutschen Liga fürchte, in die vielleicht später die Ultramontanen und die separatistischen Elemente Süddeutschlands und „sogar England“ hineingezogen werden könnten. Nun, von einer katholischen Liga, von einem katholischen Komplott sprach ich ja gerade vor zwei Monaten, doch sagte ich damals auch mein letztes abschließendes Wort darüber: nämlich, daß gerade in der Verschwörung die ganze Sache bestände, daß von ihr jetzt alles in Europa abhänge, und daß sogar der ganze Balkankrieg sich in kürzester Zeit in einen alleuropäischen verwandeln könne – und dieses einzig nur infolge dieser mächtigen Verschwörung des sterbenden Katholizismus. Währenddessen wollen die englischen Korrespondenten und die „Moskauer Nachrichten“ diesen Gedanken gewissermaßen noch nicht zugeben, und letztere behaupten statt seiner sogar, daß „zweifellos England es ist, das die Hauptrolle in diesen Intrigen spielt“, und daß „wir mit der Türkei wieder allein bleiben werden“. – Wirklich? Steht es uns nicht vielleicht schon in allernächster Zukunft bevor, daß wir uns plötzlich nicht der Türkei, sondern ganz Europa allein gegenüber befinden?
In der Tat, was ist denn das für ein „kriegerischer Katholizismus“, den zu bemerken und in den gegenwärtigen Ereignissen zuzugestehen, sich alle bequemen? Woher kommt dieser kriegerische Mut, der sogar „bis zur Leidenschaft“ wird, mit dem der Katholizismus die „rechtgläubige“ Türkei gegen das schismatische Rußland in seinen „Schutz“ nimmt? Sollte das wirklich nur deshalb geschehen, „weil Rußland das abtrünnige Land ist“? Der Katholizismus hat heutzutage so viel Scherereien und ernste Sorgen, daß ihm an all diese alten Kirchenstreitigkeiten nicht mal zu denken Zeit übrigbleibt. Doch vor allem eine Frage: Woher kommt denn diese „katholische Liga“, die man in Berlin so fürchtet? Übrigens, eben davon habe ich ja schon früher gesprochen, und meine Folgerung war damals, daß diese Liga, die jetzt auch schon von anderen zugegeben wird, eine feste, streng organisierte katholische Verschwörung ist, mit der Absicht, die römische Weltherrschaft wiederherzustellen, ferner, daß sie sich schon heute über ganz Europa verbreitet hat, und daß infolgedessen der Schlüssel der gegenwärtigen Intrigen weder hier noch dort und nicht nur in England allein, sondern gerade in dieser universalen katholischen Verschwörung liegt!
Der kriegerische Katholizismus stellt sich eifrig und „leidenschaftlich“ gegen uns auf die Seite der Türken. Selbst in England, selbst in Ungarn gibt es augenblicklich keine so eifernden Hasser Rußlands, wie diese kriegerischen Klerikalen. Nicht irgendein Prälat, sondern der Papst selber hat in den Versammlungen im Vatikan freudig von den „türkischen Siegen“ gesprochen und Rußland eine „furchtbare Zukunft“ prophezeit. Dieser sterbende Greis, der sich noch dazu das „Haupt der Christenheit“ nennt, hat sich nicht geschämt, öffentlich zu gestehen, daß er jedesmal freudig erregt von den Niederlagen der Russen höre. Ein so furchtbarer Haß wird sofort begreiflich, wenn man zugesteht, daß der römische Katholizismus jetzt tatsächlich „Krieg führt“, daß er in Wirklichkeit und mit dem Schwert in Europa gegen seine verhängnisvollen Feinde im Felde steht. Doch wer ist denn in Europa augenblicklich der größte Feind des römischen Katholizismus, das heißt, der Weltmonarchie des Papstes? Fraglos Fürst Bismarck. Rom selber wurde dem Papst ausgerechnet in der Stunde der Größe und Herrlichkeit Deutschlands und Bismarcks genommen, in der Stunde, da Deutschland den ersten Verteidiger des Papsttums, Frankreich, vernichtete, wodurch es bekanntlich dem italienischen König die ersehnte Freiheit zum Handeln gab – der dann auch unverzüglich Rom einnahm. Seit der Zeit hat Rom nur eine einzige Sorge gehabt, und zwar: einen Feind und Gegner Deutschlands und des Fürsten Bismarck zu finden. Fürst Bismarck wiederum begreift seinerseits schon längst und besser, als man es sich denkt, daß der römische päpstliche Katholizismus – abgesehen von seiner ewigen Feindschaft gegen das protestantische Deutschland, das seinerseits wiederum so viele Jahrhunderte lang gegen Rom und die römische Idee in allen ihren Gestalten und gegen alle Verbündeten und Beschützer und Anhänger Roms protestiert hat –, daß der Katholizismus namentlich jetzt, also in der für das geeinte Deutschland gefährlichsten Zeit, das allerschädlichste aller diese Vereinigung erschwerenden Elemente ist, mit anderen Worten, daß Rom die Vollendung dieses Gebäudes verhindern will, das zu errichten das mühevolle Lebenswerk Otto von Bismarcks gewesen ist. Außer dieser „Möglichkeit“ einer katholischen, antideutschen Liga fürchtet man jetzt in Berlin noch, was man eigentlich schon lange vorhergesehen hat: daß der Katholizismus, sei es früher oder später, jedenfalls aber einmal, die Ursache der nächsten Erhebung Frankreichs sein wird, um Rache an Deutschland zu nehmen, von dem es erniedrigt und besiegt worden ist – und daß die Veranlassung dazu der römische Katholizismus früher und sicherer als alle anderen Feinde geben wird, und daß folglich er die größte Gefahr für das geeinte Deutschland bleibt. Diese Berliner Befürchtung hat sich aus der ganz natürlichen Kombination ergeben, daß erstens das Papsttum in der Welt keinen anderen Verteidiger hat, als immer noch dasselbe Frankreich, das sich einzig auf sein Schwert verlassen kann, wenn es ihm nur gelingt, dieses Schwert wieder fest mit der Hand zu fassen, und zweitens, daß der römische Katholizismus noch längst kein toter Feind ist, daß er schon tausendjährig ist, daß er mit wahrer Leidenschaft leben will und seine Lebensfähigkeit geradezu großartig ist, daß er Kräfte hat in Überfülle, und daß eine so mächtige Idee, wie die weltliche Papstmacht, nicht in einer Minute sterben kann. Ja, in Berlin hat man nicht nur den Feind erkannt, sondern auch seine Macht. In Berlin verachtet man seine Feinde nicht vor dem Kampf.
Wenn nun aber der Katholizismus mit solchem Drange leben will und leben muß, und wenn das Schwert, das ihn verteidigen könnte, sich nur in Frankreichs Hand befindet, so ist es wohl klar, daß Rom Frankreich nicht aus den Fingern lassen wird, besonders wenn es den günstigen Augenblick abwartet. Dieser günstige Augenblick kam nun im Frühling – das war der Russisch-Türkische Krieg, die Aufrollung der Balkanfrage. In der Tat: wer ist der Hauptverbündete Deutschlands? Selbstverständlich Rußland. Und das hat Rom vorzüglich eingesehen. Da haben wir nun den Grund, warum sich der Papst über die russischen „Mißerfolge“ freut: durch sie ist der größte Bundesgenosse des furchtbarsten Feindes der päpstlichen Macht von seinem uralten und natürlichsten Verbündeten durch den Krieg abgelenkt worden, und folglich ist Deutschland jetzt allein, – das heißt aber so viel, daß jetzt der Augenblick gekommen ist, den der Katholizismus so lange ersehnt hat. Wann sonst, wenn nicht jetzt, sollte es wohl am besten sein, den alten Haß zu schüren und Frankreich in den Rachekrieg zu treiben?
Zudem nähern sich für den Katholizismus noch andere gefährliche Krisen, so daß es jetzt wirklich für ihn heißt: keinen Augenblick verlieren. So naht unaufhaltsam der Tod Pius’ IX. und damit die Wahl des neuen Papstes. In Rom aber weiß man nur zu gut, daß Fürst Bismarck seine ganze Genialität und seine ganze Kraft anwenden wird, um den letzten, furchtbarsten Schlag gegen die päpstliche Macht auszuführen: daß er aus allen Kräften die Wahl des neuen Papstes zu beeinflussen versuchen wird, und zwar, um ihn aus einem weltlichen Herrscher und Machthaber in nichts weiter als einen gewöhnlichen Patriarchen zu verwandeln, und das wenn möglich noch mit seiner eigenen Zustimmung – um darauf, nachdem der Katholizismus sich dann in zwei feindliche Lager gespalten hat, ihn zerbröckeln und all seine Absichten, Ansprüche und Hoffnungen auf ewig vernichten zu können. Wie soll sich da der Katholizismus nicht beeilen, alle Maßregeln, die gegen Bismarck zu ergreifen sind, so schnell wie möglich zu treffen! Und siehe, da kommt gerade zur rechten Zeit die Orientfrage dazwischen! Oh, jetzt wird man für Frankreich schon Verbündete, die es so lange vergeblich gesucht, mit Leichtigkeit finden können! Jetzt wird sich sogar eine ganze Koalition zusammentreiben lassen! Und wenn auch Europa von Blutströmen überschwemmt wird, – was hat das zu sagen! Dafür wird der Papst triumphieren, – das aber ist für die römischen Verkünder Christi alles!
Nun, und da haben sie sich denn an die Arbeit gemacht. Als erstes, versteht sich, mußte man erreichen, daß Frankreich für sie einsteht. Wie das machen? Sie haben es verstanden! Jetzt wird es schon von allen Staatsmännern und der ganzen Presse zugegeben, daß die Maiumwälzung in Frankreich von den Klerikalen veranlaßt worden ist; nur, wiederhole ich, scheinen sie alle dieser Tatsache noch nicht die volle Bedeutung zugestehen zu wollen, die sie zweifellos in sich schließt. Man könnte glauben, Europa hätte sich vor vier Monaten endgültig überzeugt, daß die Klerikalen und der Klerus den Staatsstreich in Frankreich bloß deshalb gemacht, um letzterem daselbst mehr Freiheit, gewisse Nutznießungen und größere Rechte zu verschaffen, während es doch unmöglich ist, auch nur anzunehmen, daß dieser Umsturz nicht mit den allerradikalsten Zielen vorgenommen worden sei, um – in Anbetracht der baldigen Unruhen in der römischen Kirche bei Gelegenheit der Papstwahl – den möglichst sofortigen Ausbruch des nun nicht länger aufschiebbaren Krieges zwischen Frankreich und Deutschland zu bewirken! Ja! gerade den Krieg wollen sie! Womit die Sache auch enden mag: sie werden ihren Willen doch durchsetzen, werden es doch zu dem Kriege bringen, durch den, falls Frankreich siegen sollte, dann auch der Papst vielleicht wieder zu seiner weltlichen Macht kommen kann.
Sie haben es bewunderungswürdig gewandt begonnen: schon allein, daß sie eine Zeit gewählt, in der alles zu ihrem Vorteil wie vorherbestimmt zusammentraf. Beginnen mußten sie unbedingt damit, daß sie die Republikaner, die den Papst um keinen Preis unterstützen, und die sich niemals zu einem neuen Krieg gegen Deutschland entschließen würden, nach Hause schickten. So haben sie es denn auch getan. Darauf hieß es, den Marschall Mac-Mahon zwingen, einen unverbesserlichen Fehler zu begehen – unbedingt einen unverbesserlichen –, um ihn auf einen Weg zu treiben, auf dem es kein Zurück mehr gibt. Das ist gleichfalls glücklich geschehen: er hat die Republikaner verjagt und verkündet, daß sie nicht mehr zurückkehren würden. So ist jetzt schon ein guter Grundstein gelegt, und die Klerikalen sind vorläufig zufrieden: sie wissen, daß, im Falle das französische Volk wieder die republikanische Mehrheit schicken sollte, der Marschall die Abgeordneten zurückschicken wird. Gambetta hat allerdings erklärt, Mac-Mahon müsse sich entweder der Entscheidung des Landes fügen oder seinen Posten verlassen. Dasselbe erklären nach ihm auch alle Republikaner; doch vergessen sie bloß, daß die Devise des Marschalls „J’y suis et j’y reste“ ist, und er sich von seinem Sessel nicht erheben wird. Seine Hoffnung setzt der Marschall natürlich auf die Ergebenheit der Armee. Dieser Ergebenheit der Armee – dem Marschall oder sonst wem – wollen sich nun auch die Klerikalen bedienen. Wäre nur erst die staatliche Umwälzung für sie vollzogen, dann könnten sie ja schon steuern, wohin sie wollen! Am wahrscheinlichsten ist, daß es so auch geschehen wird: sie werden den Usurpator einfach umringen und dann nach Gutdünken lenken. Doch selbst, wenn sie nicht mehr da wären, würde die Sache jetzt schon ohne sie ganz von selbst gehen: die gute Saat ist von ihnen in den richtigen Boden gesät, – wenn nur die staatliche Umwälzung sich vollziehen würde! Sie wissen, welch einen kolossalen Eindruck auf den Fürsten Bismarck jede staatliche Veränderung in Frankreich macht. Schon 1875 wollte er Frankreich den Krieg erklären, da er fürchtete, der Feind könne, wenn es mit seiner Erholung und Erstarkung immer so weiter bergauf ginge, gar bald gefährlich werden. Die Republikaner freilich, die er begünstigte, hätten es um nichts in der Welt gewagt, mit ihm einen Krieg zu beginnen, und so war er denn bis jetzt zum Teil beruhigt, da er sie an der Spitze des feindlichen Reiches wußte, sogar trotz der von Jahr zu Jahr größeren Erstarkung desselben. Dafür aber regt ihn jede neue Regierungsveränderung in Frankreich natürlich ungemein auf. Und in welch einem Augenblick: da Deutschlands natürlicher Verbündeter durch den Krieg gegen die Türkei in Anspruch genommen ist, da Österreich – der alte Gegner Deutschlands –, in dem so viel Deutschland feindliche katholische Elemente stecken, plötzlich seinen Wert so hoch schätzt, und da England schon seit dem Ausbruch des Türkenkrieges mit einer so gereizten Ungeduld sich in Europa einen Bundesgenossen sucht! Wie nun, wird man in Berlin denken, wenn Frankreich mit seiner zukünftigen Regierung an der Spitze, die von den Klerikalen beherrscht und gelenkt wird, – wie nun, wenn Frankreich plötzlich errät, daß für den Vergeltungskrieg, wenn er überhaupt einmal geführt werden soll, eine bessere Gelegenheit, als die gegenwärtige, sich niemals mehr wird finden lassen, und ebensowenig jemals wieder so bedeutende Verbündete, wie jetzt? Und wie nun, wenn gerade zu der Zeit der Papst stirbt? Wie, wenn die Klerikalen die neue französische Regierung zwingen, Bismarck zu melden, daß seine Ansichten über die Wahl des neuen Papstes mit den Ansichten Frankreichs nicht übereinstimmen, – was bestimmt geschehen wird, wenn die Republikaner sich stürzen lassen – –? Wie, wenn auch die neue französische Regierung zu gleicher Zeit errät, daß sie, wenn es ihr gelänge – in Anbetracht der Möglichkeit, in Europa mächtige Verbündete zu finden – wenigstens eine der 1871 verlorenen Provinzen zurückzuerobern, dadurch ihre Macht und ihren Einfluß im Lande mindestens auf zwanzig Jahre befestigen könnte? Nun, wie soll man sich da nicht aufregen?
Und dann gibt es hierbei noch einen kleinen Umstand: der Deutsche ist hochmütig und stolz, der Deutsche wird Ungehorsam nicht ertragen. Bis jetzt war Frankreich gehorsam unter voller Vormundschaft Deutschlands, gab Rechenschaft auf seine Anfragen fast über jede Bewegung, die es tat, mußte Entschuldigungen machen und Erklärungen schicken für jede dem Heere neu hinzugefügte Division, für jede neue Batterie. Und plötzlich erkühnt sich dieses selbe Frankreich, das Haupt zu erheben! So können die Klerikalen eigentlich darauf rechnen, daß Fürst Bismarck womöglich selber als erster den Krieg beginnen wird. Er hat es ja schon einmal tun wollen, – 1875. Den Krieg jetzt nicht beginnen, heißt Frankreich auf ewig aus den Händen lassen. Allerdings war 1875 die Situation nicht wie heute, doch wenn Österreich zu Deutschland hält, so ... Mit einem Wort, bei der kürzlichen Zusammenkunft der deutschen und österreichischen „Premiers“ ist wahrscheinlich nicht nur über die Balkanfrage gesprochen worden. Und wenn es jetzt irgendwo ein Reich gibt, das in der vorteilhaftesten außenpolitischen Lage ist, so ist das zweifellos Österreich!
„Wieso?“ wird man fragen.[16] „In Österreich sind jetzt Unruhen; halb Österreich will nicht, was seine Regierung will; in Ungarn kommt es zu Manifestationen; Ungarn brennt vor Begierde, mit den Türken gegen die Russen zu kämpfen; man hat sogar eine Verschwörung entdeckt, tatsächlich: eine englisch-magyarisch-polnische! Anderseits sieht die österreichische Regierung auch auf die slawischen Elemente, die ihr Land bewohnen, mit einem gewissen Mißtrauen, obgleich diese bis jetzt noch zur Regierung halten. Wie kann man also sagen, daß Österreich zurzeit in der vorteilhaftesten politischen Lage sei, in der sich ein europäisches Reich nur befinden kann?“
Ja, das ist wahr. Wahr, daß die katholische Tätigkeit sich fraglos auch auf Österreich erstreckt. Die Klerikalen sind weitsichtige Leute: wie sollten sie die augenblickliche Bedeutung dieses Landes nicht zu schätzen wissen, wie sollten sie die Gelegenheit vorübergehen lassen! Und schon, versteht sich, haben sie die Gelegenheit benutzt, um in diesem katholischen „allerchristlichsten“ Lande alle möglichen Unruhen unter den bis zur Unkenntlichkeit verschiedensten Vorwänden, Formen und Ausartungen zustande zu bringen. Nun noch eines: wer weiß, vielleicht ist man in Österreich, obgleich man sich natürlich den Anschein gibt, als ärgere man sich sehr über diese Unruhen, in Wirklichkeit gar nicht so ungehalten über sie. Ja, vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall: man „bewahrt“ diese Unruhen für alle Fälle auf, in Anbetracht dessen, daß sie sich in nächster Zukunft vielleicht verwerten lassen ... Am augenscheinlichsten ist übrigens, daß Österreich, wenn es sich auch, was die laufenden Angelegenheiten betrifft, in der glücklichsten politischen Lage fühlt, sich für eine weitsichtige und sehr bestimmte Politik doch noch nicht entschlossen hat, sondern erst überlegt und abwartet: was wird ihm die Vernunft zu tun raten? Sollte es sich aber doch zu irgend etwas Bestimmtem entschlossen haben, so wäre das wohl höchstens in betreff der nächstliegenden politischen Fragen der Fall – und selbst das nur bedingt. Überhaupt ist es in der glücklichsten Gemütsverfassung: es entschließt sich, ohne sich zu beeilen, es wartet ruhig, da es weiß, daß es alle auf sich warten macht, und alle es brauchen, es lauert auf seine Beute, die es selber auswählen wird, und leckt sich schon wonnig die Lippen beim Gedanken an die nun bald ihm zufallenden, unentwischbaren Bissen.
Während der Zusammenkunft der Kanzler beider deutschen Reiche, die kürzlich stattfand, ist vielleicht sehr viel „Bedingungsweise-Mögliches“ berührt worden. Wenigstens hat die österreichische Regierung schon in ihrem Lande kundgetan – doch so, daß alle Länder es hören mußten –, daß am Balkan nichts geschehen noch entschieden wird, was den Interessen Österreichs entgegen ist: ein ungemein schwerwiegender Gedanke. So ist Österreich schon überzeugt, ohne noch die Hand an irgend etwas gelegt zu haben, daß es bedeutenden Anteil an den russischen Erfolgen, falls es zu solchen kommen sollte, haben wird, und vielleicht noch bedeutenderen Anteil, falls es zu ihnen nicht kommen sollte. Und das bloß mit der „Augenblickspolitik“! Was wird es da erst mit der ferneren Politik geben? – Schon jetzt brauchen alle dieses Österreich so notwendig, horchen auf seine Meinung, suchen seine Neutralität, machen ihm Versprechungen und womöglich Geschenke, und alles das dafür, daß es bloß stillsitzt und den Mund hält! Wie kann nun diese Macht, die sich jetzt so hoch schätzt, nicht auch auf die Aussichten ihrer ferneren Politik rechnen, die, davon bin ich überzeugt, noch allen unbekannt ist, trotz der freundschaftlichen Zusammenkunft der Kanzler!? Und überzeugt bin ich gleichfalls, daß diese Politik bis zur allerletzten, allerverhängnisvollsten Stunde allen unbekannt bleiben wird – was durchaus den alten Traditionen der österreichischen Politik entsprechen würde. Und habsüchtig, heißhungrig sitzt es jetzt da und lauert auf Frankreich und erwartet dessen Schicksal, erwartet neue interessante Fakta und tut’s – vor allem, vor allem nicht zu vergessen – in der selbstzufriedensten Gemütsverfassung. Doch nicht lange wird es so bleiben können: vielleicht wird es sich schon sehr bald zu einer viel weiter reichenden Politik entschließen müssen – und das dann endgültig: eine Aufregung, die in seiner Lage sogar angenehm sein mag, doch die nichtsdestoweniger stark sein wird. Österreich begreift doch, und vielleicht sogar sehr feinfühlig, daß mit jeder so leicht und so bald möglichen Veränderung in Frankreich, daß mit jeder neuen Regierung daselbst – nur nicht wieder der republikanischen – die Gefahr eines Zusammenstoßes Frankreichs mit Deutschland entschieden unvermeidlich ist: und das sogar in dem Falle, wenn die neuen Regenten Frankreichs für ihre Person den Krieg überhaupt nicht wollten und sich womöglich aus allen Kräften bemühen würden, den alten Zustand zu erhalten. Oh, Österreich ist vielleicht fähig, besser als alle anderen zu verstehen, daß es im Leben der Nationen solche Momente gibt, in denen schon nicht mehr Wille und Berechnung sie zu gewissen Taten treiben, sondern das Schicksal selber.
Ich werde mir jetzt erlauben, aus der Phantasie heraus ein Bild von dem zu entwerfen, was – nach meiner Annahme – Österreich in der gegenwärtigen unbestimmten Stunde über diese seine fernere Politik, für die es sich natürlich noch nicht entschieden hat, eigentlich denkt. Einstweilen hört es jemanden schon an die Tür klopfen, es sieht, jemand will unbedingt eintreten, sogar die Klinke ist schon einmal niedergedrückt worden, doch die Tür hat sich noch nicht geöffnet ... und wer eintreten wird – das weiß niemand. In Frankreich liegt das Rätsel, dort muß es auch zuerst gelöst werden ... Vorläufig sitzt Österreich und denkt. Ja, wie soll es da auch nicht nachdenklich werden! Wenn nun Deutschland und Frankreich zum Entscheidungskampf die Schwerter ziehen und sich aufeinander stürzen – für wen soll dann Österreich einstehen, auf wessen Seite Österreich sich halten? Das ist die fernere Frage und vielleicht – wird es sie schon sehr bald beantworten müssen!
Wie soll es da nicht seinen Wert, seine Bedeutung zu schätzen wissen: zu wem es sich hält, der wird siegen! Was die Kanzler der beiden deutschen Reiche unter sich gesprochen, das kann niemand wissen, doch Andeutungen wird es zwischen ihnen bestimmt gegeben haben. Wie hätte es auch anders sein sollen! Vielleicht ist einiges auch deutlicher gesagt oder vorgeschlagen worden – wer kann es wissen? Kurz, Geschenke und Belohnungen sind ihm in Mengen versprochen, und die sind so gut wie sicher; so kann es vollkommen überzeugt sein, daß es, wenn es Deutschland im Falle eines Krieges gegen Frankreich nicht verrät, dafür ... viel bekommen wird. Und zwar für eine lumpige Neutralität, bloß dafür, daß es etwa ein halbes Jahr lang stillsitzt, in Erwartung der Belohnung für sein artiges Betragen. – Das ist doch wirklich nicht übel! Denn zu einer aktiven Tätigkeit gegen Frankreich würde es, glaube ich, kein einziger Kanzler bringen können: solch einen Fehler wird Österreich nie und nimmer begehen! Nein, Österreich wird sich nicht verleiten lassen, mitzuhelfen, wenn Deutschland Frankreich den Todesstoß gibt, o nein! Vielleicht aber wird es umgekehrt in der letzten verhängnisvollen Sekunde durch diplomatische Verwendung Frankreich vor allzu Bösem beschützen und sich auf diese Weise auch von dort noch eine Belohnung verdienen. Es kann doch nicht ganz ohne Frankreich bleiben, besonders nicht in der freundschaftlichen Umarmung solch eines Riesen, zu dem nach einem zweiten Sieg über Frankreich das junge Deutschland heranwachsen muß! Womöglich wird dieser Riese es dann plötzlich so umarmen und so an sich pressen, daß er es, aus Versehen natürlich, wie eine Fliege zerdrückt. Und zu der Zeit wird dann vielleicht noch ein anderer Gigant erwachsen, im Osten, rechts vom lieben Österreich, und sich endlich von seiner Lagerstätte, auf der er jahrhundertelang geschlafen hat, erheben ...
„Gutes Betragen ist eine gute Sache,“ denkt Österreich jetzt wahrscheinlich bei sich, „aber ...“ Es wäre nicht gut möglich, daß ihm nicht auch noch ein anderer Gedanke käme, übrigens ein äußerst phantastischer, – nämlich:
„Die Umwälzung in Frankreich kann sogar schon in diesem Herbst beginnen und vielleicht schnell, sehr schnell beendet sein. Stürzt die Republik, oder bleibt sie bloß in einer nominellen, in irgendeiner absurden Form bestehen, so wird man es vielleicht bis zum Winter mit Deutschland schon zu Meinungsverschiedenheiten gebracht haben können. Jedenfalls werden dafür die Klerikalen sorgen, um so mehr, als der Papst bis dahin bestimmt gestorben sein wird und dann die Neuwahl sofort den gewünschten Vorwand zu Mißverständnissen und Spannungen abgeben kann. Stirbt der Papst jedoch nicht, so vermindern sich die Gelegenheiten, Spannungen zu verursachen, deshalb noch nicht im geringsten. Ist also Deutschland nur fest entschlossen, so kann im Frühling der Krieg ausbrechen. Am anderen Ende Europas ist augenscheinlich die Winterkampagne gegen die Türkei unvermeidlich, so daß Deutschlands Verbündeter im Frühjahr immer noch gebunden sein wird. Ergo, entbrennt der Revanchekrieg, so findet Frankreich sofort zwei Bundesgenossen: England und die Türkei.
Deutschland wird folglich allein sein ... mit Italien, d. h. so gut wie allein. Oh, natürlich, Deutschland ist mutig und mächtig. Aber auch Frankreich hat Zeit gehabt, sich zu erholen: Frankreich hat eine Armee von einer Million, und England ist immerhin doch auch eine gewisse Hilfe: man wird die deutschen Häfen vor seiner Flotte beschützen müssen, und das fordert Mannschaften, Artillerie, Gewehre, Vorräte. Das wird Deutschland in irgend etwas doch ein wenig schwächen. Wie gesagt, Aussichten, mit Erfolg diesen Krieg zu führen, hat Frankreich auch ohne mich genügend, sagt sich Österreich, – wenigstens zweimal mehr als 1870, da es jetzt sicherlich nicht seine Fehler von damals wiederholen wird. Und dann, einerlei ob Frankreich besiegt wird, oder nicht, ich bekomme das Meine im Osten sowieso, denn: Nichts wird im Osten vor sich gehen, was den Interessen Österreichs zuwider ist! Das ist ja schon festgesetzt und unterschrieben. Aber wie, wenn ich ... im letzten ... entscheidenden Augenblick, ... nachdem ich vernünftigerweise die ganze Freiheit der Entscheidung zurückbehalten, ... plötzlich einfach für Frankreich eintrete und noch dazu die Klinge ziehe!?“
In der Tat, was dann?
Dann befindet sich Österreich sofort zwischen drei Feinden: Italien, Deutschland und Rußland. Rußland jedoch wird durch seinen Krieg so in Anspruch genommen sein, daß es eine Offensive kaum würde ergreifen können. Italien ist jedenfalls nicht allzusehr zu fürchten. Bleibt – Deutschland. Muß Deutschland dann auch gegen Österreich ein Heer schicken, so wird dieses doch nicht allzu groß sein, denn es braucht ja alle seine Kräfte gegen Frankreich. In der Tat: wollte sich Österreich zu einer Verbindung mit Frankreich entschließen, so würde Frankreich vielleicht sogar Deutschland zuerst angreifen, selbst wenn Deutschland den Krieg nicht einmal wollte. Frankreich, Österreich, England und die Türkei gegen Deutschland und Italien – das ist ja eine furchtbare Koalition! Erfolg wäre sehr, sehr leicht möglich. Nach einem Erfolg aber kann Österreich all das wiedergewinnen, was es bei Sadowa verloren hat, und vielleicht noch unendlich viel mehr als das. Außerdem können ihm seine Vorteile im Osten und all das ihm schon Versprochene gleichfalls nicht verloren gehen. Und die Hauptsache: es wird im katholischen Deutschland zweifellos großen Einfluß gewinnen. Wird dagegen Deutschland besiegt, oder nicht mal besiegt, sagen wir: kehrt Deutschland aus dem Kriege nicht ganz glücklich zurück – so ist die Einheit des Deutschen Reiches plötzlich stark erschüttert. Im katholischen Süden erhebt sich dann der Separatismus – um den sich die Klerikalen aus allen Kräften bemühen werden und dessen sich selbstverständlich auch Österreich bedienen wird: erhebt sich vielleicht sogar in solch einem Maße, daß zwei geeinte Deutsche Reiche entstehen, ein katholisches und ein protestantisches. Und darauf könnte Österreich, nachdem es sich um so viel Deutsche verstärkt hat, es ja auch auf seinen „Dualismus“ ankommen lassen: Ungarn in das alte ehrerbietige Verhältnis zu sich zurückbringen und, wenn das geschehen, versteht sich, auch über seine Slawen verfügen, und zwar jetzt endgültig und unwandelbar. Mit einem Wort, der Vorteile könnte es unzählige geben. Sogar in dem Fall, wenn Deutschland Sieger bliebe, wäre Österreich nicht so schlimm daran, denn so entscheidend wie 1871 könnte Deutschland eine so mächtige Koalition schließlich doch nicht besiegen: es würde auch als Sieger seine Wunden haben. So ließe sich denn ohne besonders furchtbare Folgen der Friede schließen. „Also, für wen soll ich mich entscheiden? Wie ist es besser, mit wem ist es vorteilhafter?“
In Anbetracht der gegenwärtigen europäischen Verhältnisse, meine ich, sind solche Gewissensfragen in Österreich ganz zweifellos vorhanden ...
Als ich das vorhergehende Kapitel schrieb, gab es noch nicht jene Tatsachen und Meldungen, die jetzt so plötzlich die ganze europäische Presse erfüllen, so daß alles, was ich damals noch mehr mutmaßlich sagte, jetzt schon beinahe pünktlich eingetroffen ist. Mein Artikel wird erst im nächsten Monat, am 7. Oktober, erscheinen, heute haben wir erst den 29. September, und meine sogenannten „Prophezeiungen“, zu denen ich mich nicht ohne Risiko hatte verleiten lassen, werden teilweise schon als veraltete Tatsachen bekannt sein. Darum erlaube ich mir, meine Leser an meine Ausführungen im Mai zu erinnern. Fast alles, was ich damals über die nächste Zukunft Europas geschrieben, hat sich entweder schon bestätigt oder beginnt gerade, sich zu bestätigen. Und doch hörte ich damals strenge Urteile über diesen Artikel, allerdings von Privatleuten, die ihn eine „phantastische Übertreibung“ und ein „verschrobenes Hirngespinst“ nannten. Über die Macht und die Bedeutung der klerikalen Verschwörung wurde einfach gelacht und eine „Verschwörung“ überhaupt nicht anerkannt. Übrigens hatte ich vor zwei Wochen Gelegenheit, die Meinung einer „kompetenten“ Persönlichkeit zu hören, die dahin lautete, daß der Tod und die Neuwahl des Papstes an sich vollkommen bedeutungslos seien und in Europa unbemerkt vorübergehen würden. Jedoch ist schon jetzt bekannt, welch eine Bedeutung Fürst Bismarck ihnen beilegt, und was in Berlin mit Crispi gesprochen worden ist. Ich habe in meinem Maiartikel gesagt, Fürst Bismarck hätte sofort nach dem Deutsch-Französischen Kriege begriffen, daß der furchtbarste Feind des neugeeinten Deutschlands kein anderer ist als der römische Katholizismus, der zu allererst den Vorwand abgeben werde zum großen „Vergeltungskrieg“ und gesamteuropäischen Weltkrieg. Dieses fand man unsinnig, ungereimt, usw., usw. Und das alles, weil ich es zu einer Zeit geschrieben, da noch niemand, weder bei uns noch in der europäischen Presse, sich wegen dieser Frage zu beunruhigen gedachte, – trotz des Orientkrieges, der schon ausgebrochen war und alle Welt besorgt machte. Alle glaubten damals, er würde auch dort fern im Orient enden, und auch jetzt noch glaubt vielleicht niemand ernstlich an die Gewißheit eines europäischen Krieges in nächster Zukunft. Im Gegenteil, man lenkte noch kürzlich ernstlich die Aufmerksamkeit auf die Meinung jener Engländer, die es ja wissen mußten, daß Rußland und die Türkei sehr wohl noch vor dem Winter Frieden schließen könnten. So ist es denn vielleicht überflüssig, daß ich mein Kapitel für überlebt halte: obgleich die ersten Fakta sich schon gemeldet haben, obgleich über ganz Europa etwas Unheilvolles heraufzieht, und der Ausbruch vielleicht eines Weltkrieges nicht mehr fern ist, bin ich doch überzeugt, daß viele auch jetzt noch meine Erklärungen dieser Fakta abermals für erdichtet, lächerlich, phantastisch und übertrieben halten werden, denn alle halten sie ja das Vorsichgehende für unvergleichlich bedeutungsloser, als es in Wirklichkeit ist. Da nähern sich zum Beispiel die Wahlen in Frankreich, und vielleicht schickt das Land wieder die frühere republikanische Mehrheit in die Kammer, was sehr leicht geschehen kann, und dann – davon bin ich so gut wie überzeugt – wird man sofort versichern, daß alles glücklich beendet sei, daß der Himmel sich aufgeklärt und Mac-Mahon sich gefügt habe, daß die machtlosen Klerikalen schmählich abgezogen seien, und in Europa wieder Friede und „Gesetzlichkeit“ oder „Rechtmäßigkeit“ herrsche. Alle meine „Erfindungen“ werden sich dann wieder als „Produkte müßiger Einbildungskraft“ erwiesen haben. Wieder wird man sagen, daß ich Dingen, die womöglich schon geschehen sind, eine ungenaue Bedeutung zugeschrieben, und vor allem eine, die ihnen sonst nirgendwo zugeschrieben wird. Doch warten wir lieber die Ereignisse ab, bevor wir urteilen, welche Deutung die richtige ist. Zur Übersicht aber werde ich versuchen, zum Schluß noch einmal die Richtung und besondere Art dieses vor allen sich öffnenden Weges zu zeigen – den zu betreten allen, ob sie wollen oder nicht, bestimmt zu sein scheint. Ich tue es zur besseren Übersicht, damit man später vergleichen und prüfen kann. Es ist zudem nur eine einfache Zusammenfassung dieses selben Kapitels.
1. Der Weg beginnt in Rom und führt aus dem Vatikan, wo der sterbende Greis, das Haupt der ihn umringenden Jesuiten, diesen Weg schon längst bezeichnet hat. Als die Orientfrage aufgeworfen wurde, begriffen die Jesuiten gar bald, daß die günstigste Zeit angebrochen sei. Auf dem vorgezeichneten Wege machten sie sich in Frankreich an ihr Werk und brachten es in solch eine Lage, daß sein baldiger Krieg mit Deutschland nun so gut wie sicher ist, selbst dann, wenn es ihn überhaupt nicht will. All das ist vom Fürsten Bismarck schon lange, lange vorhergesehen worden. Wenigstens scheint nur er allein, und vielleicht schon vor mehreren Jahren, seinen größten Feind entdeckt und durchschaut zu haben und damit auch die große Bedeutung jenes letzten Kampfes ums Dasein, den der päpstliche Katholizismus, vor seinem Untergange, in allernächster Zukunft mit der Welt aufnehmen wird.
2. Dieser vom Schicksal bestimmte Kampf spitzt sich im gegenwärtigen Augenblick schon zu, und die Notwendigkeit, die letzte Schlacht zu schlagen, naht mit furchtbarer Schnelligkeit. Frankreich ward ausersehen und bestimmt für den ungeheuren Kampf – und der Kampf wird stattfinden. Der Kampf ist unvermeidlich, darüber besteht kein Zweifel. Allerdings gibt es noch eine kleine, kleinste Möglichkeit, daß er aufgeschoben wird – doch das dann gewiß nur auf die allerskürzeste Zeit. In jedem Fall ist er unvermeidlich und nahe.
3. Sowie der Kampf beginnt, wird er sich sofort in einen alleuropäischen verwandeln. Die Orientfrage und der Orientkampf werden durch die Macht des Schicksals mit dem alleuropäischen Kampf zusammenfließen. Eine der wichtigsten Episoden dieses Kampfes wird die definitive Entscheidung Österreichs sein: zu welcher Partei soll es sich halten? Doch der allerwesentlichste Teil dieses letzten Kampfes wird einerseits darin bestehen, daß durch ihn die tausendjährige römisch-katholische Frage gelöst wird, und daß das östliche Christentum durch den Willen der Vorsehung seinen Platz einnehmen kann. Auf diese Weise erweitert sich unsere russische Orientfrage zu einer universalen Frage mit ungewöhnlicher vorbestimmter Bedeutung, wenn sich diese Bestimmung auch vor blinden Augen vollzogen hat, die sie nicht anerkennen, und die fähig sind, bis zur letzten Stunde das Sichtbare nicht zu sehen, und den Sinn des Vorherbestimmten nicht zu begreifen. Endlich –
4. – Möge man das für die phantastischste meiner Annahmen halten, ich bin im voraus damit einverstanden –: Ich bin überzeugt, daß der Kampf zugunsten des Ostens enden wird, zugunsten des östlichen Bundes, daß Rußland nichts zu fürchten hat, wenn der orientalische Krieg mit dem alleuropäischen zusammenfließt, und daß es sogar besser ist, wenn die Sache derart entschieden wird. Es ist furchtbar, daß so viel wertvolles Menschenblut fließen muß! Doch kann die Überzeugung, daß dieses vergossene Blut Europa vor zehnfach größerem Blutvergießen bewahrt, wenn sich die Sache hinausschieben und nochmals hinziehen würde, immerhin zum Trost gereichen, um so mehr, als dieser große Kampf zweifellos schnell enden wird. Dafür aber wird auf einmal so vieles endgültig entschieden – die römisch-katholische Frage samt dem Schicksal Frankreichs, die deutschen, die orientalischen und die mohammedanischen Fragen – so viel Angelegenheiten werden in Ordnung gebracht, Probleme, die im alten Gang der Dinge ganz unlösbar waren. Und dermaßen wird sich Europas Angesicht verändern, so viel neues Zukünftiges wird in den Beziehungen der Menschen einsetzen, daß es vielleicht unnütz ist, zu trauern und vor diesem letzten Kampf des alten Europas am Vorabend seiner sicheren und großen Erneuerung zurückzuschrecken.
Zum Schluß füge ich noch eine Erwägung hinzu: wenn man es als Regel annimmt, daß man über alle Weltereignisse (sogar über die, welche schon auf den oberflächlichsten Blick von allergrößter Wichtigkeit zu sein scheinen) unbedingt nach dem Prinzip: „heute so wie gestern, und morgen so wie heute,“ urteilen muß, so wird es dann wohl augenscheinlich werden, daß diese Regel entschieden der Geschichte der Nationen und der Menschheit widerspricht. Währenddessen wird gerade dieses Prinzip von der sogenannten realen, nüchternen „gesunden Vernunft“ vorgeschrieben, so daß fast ein jeder, der sich erdreistet, anzunehmen, eine Sache könnte am nächsten Tage vor aller Augen vielleicht anders erscheinen, als am Tage vorher, verlacht und ausgepfiffen wird. Sogar jetzt, da doch schon die Tatsachen sprechen, glauben noch sehr viele, daß die klerikale Bewegung die kleinlichste Sache sei, daß Gambetta eine Rede halten, und alles wieder so wie gestern seinen alten Gang nehmen werde, daß unser Krieg mit der Türkei sehr, sehr leicht vor dem Winter beendet sein könne, und dann wieder das Börsenspiel beginnen, der Rubel erheblich steigen wird, wir wieder ins Ausland reisen werden usw. Die Undenkbarkeit der Fortdauer der alten Verhältnisse war in Europa vor der ersten Französischen Revolution für die führenden Geister eine auf der Hand liegende Wahrheit. Währenddessen aber – wer konnte am Vorabend der Einberufung der Etats Généraux die Form voraussehen, die die Situation beinahe schon am zweiten Tage annahm? Und als die Situation sich verändert hatte, wer hätte dann das Erscheinen Napoleons I. prophezeien können, der doch im Grunde wie ein vorherbestimmter Vollender der ersten historischen Phase derselben Tat, die 1879 begonnen worden war, eingriff? Ja, selbst zur Zeit Napoleons I. schien es in Europa vielleicht jedem einzelnen, daß sein Erscheinen ein vollkommener Zufall war, der nicht im geringsten mit diesem selben Weltgesetz verbunden sein konnte, nach dem sich zu verändern der Alten Welt seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts vorherbestimmt war.
Ja, auch jetzt klopft jemand an die Tür, irgendwer, ein neuer Mensch, mit einem neuen Wort. Er will die Tür öffnen und eintreten ... Wer aber ist Er – das ist die Frage: ist es ein ganz neuer Mensch, oder einer, der wieder uns allen, uns alten Menschen, gleicht!?
Ja, in der Tat: sind wir nicht alle gute Menschen, – nun, versteht sich, ausgenommen die schlechten? Ich füge sogar noch hinzu: es gibt bei uns überhaupt keine schlechten Menschen, sondern nur untaugliche. An die wirklich Schlechten reichen wir gar nicht hinan! Denken Sie nach, lachen Sie nicht über mich: aus Mangel an schlechten Menschen waren wir seinerzeit sehr bereit, verschiedene wirklich schlechte Menschen hochzuschätzen, wie es gewisse Typen unserer Literatur beweisen, die größtenteils der ausländischen entlehnt worden sind. Oh, nicht genug damit, daß wir sie schätzten, nein, sklavisch versuchten wir, sie im wirklichen Leben zu kopieren. Beinahe waren wir schon nicht mehr wir selbst, nicht mehr Russen! Erinnern Sie sich nur dieser vielen Petschorins, die es bei uns gab, die angeregt durch die Lektüre von Lermontoffs „Helden unserer Zeit“ in Wirklichkeit Schlechtigkeiten vollführten. Der Ahnherr all dieser schlechten Menschlein in unserer Literatur ist wohl der Typ Silvio, den unser herrlicher Puschkin dem Engländer Byron entlehnt hatte.
Wenn wir diese schlechten Menschen so achteten, so geschah es nur deshalb, weil diese Menschen eines andauernden Hasses fähig waren, im Gegensatz zu uns Russen, die wir nun einmal nicht richtig hassen können und uns darum damals nicht wenig selbst verachteten. Der russische Mensch ist in der Tat nicht imstande, ernstlich und lange zu hassen, weder Menschen noch Laster, weder Unwissenheit noch Despotismus, noch tiefsten Obskurantismus. Bei uns ist man sofort bereit, sich zu versöhnen, gleich bei der ersten Gelegenheit sogar. Oder ist das nicht wahr? In der Tat, warum sollte einer den anderen hassen? Wegen schlechter Handlungen etwa? Nun, lassen wir dieses Thema lieber, es ist zu zweischneidig. Und der Haß der Überzeugung? An den Haß glaube ich schon gar nicht bei uns. Früher einmal, gewiß, gab es bei uns Slawophile und Westler, und die haßten sich sehr – aber dann, als es mit der Aufhebung der Leibeigenschaft auch mit der Reform Peters des Großen zu Ende ging, und ein allgemeines „sauve qui peut“ eintrat, da waren Slawophile und Westler einig in demselben Gedanken, daß man jetzt alles vom Volke selbst erwarten müsse, daß es auferstehen werde, und daß nur das Volk allein uns in allem das letzte Wort sagen könne. Darüber hätten sich die Slawophilen und Westler ja nun versöhnen können, aber das ging auch wieder nicht an, denn die Slawophilen glauben an das Volk, weil sie das Eigene und Eigenartige seiner Anlagen anerkennen. Die Westler dagegen lassen sich nur unter der Bedingung herbei, an das Volk zu glauben, daß man ihm alles Eigene und Eigenartige nimmt. Und siehe da, der Kampf dauert fort. Doch an diesen Haß: Kampf gegen Kampf und Haß gegen Haß, an den glaube ich, wie gesagt, nicht. Warum können sich die Streitenden nicht auch zu gleicher Zeit liebhaben? Das geschieht bei uns nur zu oft in den Fällen, in denen sich gute, allzu gute Menschen streiten. Und warum sollten wir nicht gute Menschen sein? Auch streiten wir uns doch hauptsächlich nur, weil jetzt eine Zeit angebrochen ist, die von uns nicht mehr Theorien und Kritik, sondern Taten und praktische Entschlüsse verlangt. Plötzlich hatte man bei uns das Bedürfnis nach grundlegenden Worten über Pädagogik, Eisenbahnen, Semstwo, Hygiene und hundert andere Themata. Und alles wollte man sofort wissen, möglichst schnell, um nicht die Arbeit aufzuhalten. Da wir aber alle, nach hundertjähriger Entwöhnung von jeglicher Arbeit, sogar von der kleinsten, uns als dazu unfähig erwiesen, so war es nur natürlich, daß wir uns gegenseitig in die Haare gerieten – und zwar stritt im allgemeinen derjenige am meisten, der sich zu ihr am allerunfähigsten erwies. Was ist dabei Schlechtes, frage ich Sie? Das ist doch bloß rührend und weiter nichts. Sehen Sie die Kinder an: die streiten sich nur dann, wenn sie noch nicht gelernt haben, ihre Gedanken auszudrücken: genau so machen wir es. Und es ist auch gar nichts Unerfreuliches dabei, im Gegenteil, es zeugt ja nur von unserer Frische und Unberührtheit und Jugend. In unserer Literatur beispielsweise beschimpft man sich aus Mangel an Gedanken buchstäblich mit allen Schimpfwörtern auf einmal: ein äußerst naives Verfahren, das man sonst nur bei den Urvölkern findet. Doch auch darin liegt beinahe etwas Rührendes, diese Unerfahrenheit, dieses kindliche Unvermögen sogar – sich tüchtig auszuschimpfen. Ich scherze durchaus nicht, und ich spotte über niemanden. Es ist aber bei uns allerorten ein ehrliches Wünschen und Erwarten des Guten. Das ist gewiß wahr. Der Wunsch nach allgemeiner Arbeit und allgemeinem Wohlergehen steht über jeglichem Egoismus. Die naivsten Wünsche werden wach, und alles ist voller Glauben bei uns. Es gibt bei uns keinen Kastengeist, oder höchstens nur in ganz kleinen und seltenen Erscheinungen, die kaum bemerkt werden. Das ist sehr wichtig! Doch genug davon. Weshalb sollte also noch von einem wirklichen Haß die Rede sein? Die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit unserer Gesellschaft unterliegt nicht nur keinem Zweifel, sondern fällt geradezu auf. Beobachten Sie doch nur, und Sie werden bemerken, daß der Glaube an die Idee, an das Ideal allem persönlichen, materiellen Wohlergehen vorangeht. Oh, natürlich, den schlechten Menschen gelingt es auch bei uns, ihre Geschäftchen abzuwickeln, Geschäftchen gerade im eigennützigsten Sinne, und in unserer Zeit, scheint es, mehr denn je. Doch dafür beherrschen diese nichtsnutzigen Menschen niemals die Meinung, gehen nie der Gesellschaft irgendwie voran, sondern sind selbst dann, wenn sie auf der sogenannten Höhe des Lebens stehen, überhäuft mit allen Ehren – selbst dann sind sie noch genötigt, sich dem Tone der Idealisten, der Jungen und Abstrakten, diesen in ihren Augen nur lächerlichen Menschen, irgendwie anzupassen. In diesem Sinne gleicht unsere Gesellschaft durchaus unserem einfachen Volke, darin liegt der Hauptpunkt seiner Einheit mit dem Volke, das auch seinen Glauben und seine Ideale höher schätzt als alles Materielle und Vergängliche. Der Idealismus ist ihm lieb, hier wie dort: ist der Idealismus verloren, so kann man ihn mit keinem Gelde zurückkaufen. Wenn unser Volk auch von seinen Lastern geknechtet wird, jetzt vielleicht mehr denn je, und wenn es auch noch in einer richtigen Anarchie lebt, so hat doch selbst der letzte Schurke bei uns noch niemals gesagt: „So wie ich es mache, ist es richtig.“ Im Gegenteil, immer weiß er und seufzt selbst darüber, daß er schlecht ist, und daß es ein Gutes in der Welt gibt, das besser ist als er und alles, was er tut. Der Glaube an die Ideale ist in unserem Volke unerschütterlich. Verbessert seine Lage, verringert die Lasterhaftigkeit, und das Volk wird sich aufrichten! Die Ideale aber stehen dann noch unerschütterlicher und heiliger da als je vorher. Unsere Jugend sucht große Taten und bringt ihren Ideen alles zum Opfer. Unser zeitgenössischer russischer Jüngling, von dem so viel in verschiedenem Sinne gesprochen wird, vergöttert oft das allersimpelste Paradox und weiht ihm sein Leben und sein Schicksal, nur, weil er das Paradox für eine Wahrheit hält. Es fehlt ihm nur noch an Aufklärung, aber das Licht wird sich schon verbreiten, und andere Anschauungen werden dann ganz von selbst auftauchen, und die Paradoxe werden verschwinden. Die Reinheit seines Herzens jedoch bleibt und damit auch der Durst in ihm nach Taten und Opfer: das aber ist das Gute. Nichtsdestoweniger gibt es eine Frage, die bei uns bis jetzt noch nicht beantwortet ist. Alle nämlich, die wir das Wohl aller und die Besserung der allgemeinen Lage in unserem Lande und unserem Volke wünschen – worin sehen wir nun die Mittel zu diesem Wohl und zu dieser Besserung? Man muß leider gestehen, daß bei uns in dieser Hinsicht noch wenig geschehen ist, und daß unsere Gesellschaft in diesem Sinne – dem Marschall Mac-Mahon sehr ähnlich sieht. Auf einer seiner Reisen durch Frankreich erklärte der ehrenwerte Marschall unlängst in einer feierlichen Rede, als Antwort auf eine Ansprache irgendeines Maires – die Franzosen sind ja solche Liebhaber von feierlichen Reden und Ansprachen –, daß nach seiner Meinung die ganze Politik in dem einen Worte enthalten sei: „Die Liebe zum Vaterlande“. Ein sehr sinniger Ausspruch, meine ich, in einem Augenblicke, da ganz Frankreich gespannt darauf wartet, was er sagen wird. Eine wichtige Behauptung, unbestreitbar lobenswert, aber – sonderbar unbestimmt. Der Maire hätte seiner Exzellenz antworten können, daß man mit derselben Liebe auch das Vaterland zugrunde richten könnte. Aber der Maire erwiderte nichts, vielleicht aus Angst, die Antwort zu erhalten: „J’y suis et j’y reste“, eine Phrase, über die der ehrenwerte Marschall nun einmal nicht hinauskommt. Nun, und gerade so steht es mit unserer Gesellschaft: wir alle verstehen uns in der Liebe zum Vaterlande oder zur „allgemeinen Sache“ – Worte tun’s nicht! Worin bestehen aber die Mittel, und nicht nur die Mittel, sondern worin besteht die allgemeine Sache selbst? Darüber herrscht bei uns, meines Erachtens, gerade solch eine Unklarheit, wie bei dem Marschall Mac-Mahon.
Vor kurzem schrieb ich, daß unser Volk noch roh und unwissend sei und dem Laster ergeben: „ein Barbar, der das Licht erwartet,“ wie ich mich ausdrückte! Bald darauf habe ich in der „Hilfe“ einen Artikel Konstantin Akssakoffs, unseres unvergeßlichen und allen Russen teuren Verstorbenen, gelesen, nach welchem unser russisches Volk schon lange aufgeklärt und gebildet sein soll. Ist nun dieser augenscheinliche Gegensatz meiner Meinung und derjenigen Konstantin Akssakoffs ein Widerspruch? Nicht im geringsten: ich teile seine Ansicht vollständig und fühle ihre Wahrheit schon lange. Trotzdem aber bleibt doch der Widerspruch? Gewiß – darin besteht gerade mein Geheimnis: während nach der Meinung anderer diese beiden Behauptungen unvereinbar scheinen, behaupte ich das Gegenteil. In dem russischen Menschen, in dem Volke muß man eben die Schönheit dieser Barbarei zu sehen verstehen. Der ganzen russischen Geschichte nach war unser Volk so dem Laster ergeben und dermaßen verdorben, verirrt und ständig gequält und gepeinigt, daß es wunderbar ist, wie es überhaupt noch sein menschliches Aussehen hat bewahren können, und nicht nur das allein, sondern auch noch seine volkliche Schönheit. Die aber hat es sich wirklich bewahrt! Wer ein aufrichtiger Freund des Volkes ist, wem das Herz nur einmal für die Leiden des Volkes geschlagen hat, der versteht es und wird auch den Schmutz entschuldigen, in den unser Volk gesunken ist, und die Perlen trotzdem zu finden wissen. Ich wiederhole es: Richtet nicht das russische Volk nach seinen Fehlern und Lastern, sondern beurteilt es nach seinen großen und heiligen Idealen, nach denen es in seinem Schmutze lechzt. Und es gibt in unserem Volke nicht nur Schurken und Verbrecher, sondern auch Heilige, die uns voranleuchten und unser Dunkel erhellen! Und ich glaube tief und fest, daß es bei uns keinen Schurken gibt, der nicht wüßte, daß er schlecht und gemein ist. Bei den anderen Völkern ist es anders: wenn dort jemand eine Gemeinheit vollführt, so stellt er sie zum Prinzip auf, bejaht sie, behauptet, daß in ihr die Ordnung und das Licht der Zivilisation läge – und der Unglückliche kommt schließlich so weit, daß er daran blind und sogar ehrlich glaubt. Nein, beurteilen Sie unser Volk nicht danach, wie es ist, sondern danach, wie es sein möchte. Seine Ideale sind stark und heilig, und sie retteten das Volk in all diesen Jahrhunderten vor dem Elend und dem völligen Untergang. Sie wuchsen mit seiner Seele zusammen und gaben ihr bis in alle Ewigkeit Einfachheit, Gutmütigkeit und Aufrichtigkeit und einen weiten, offenen Verstand – und alles das in einer anziehenden, zusammenklingenden, einer schönen Vereinigung. Und wenn trotzdem so viel Schmutz in dem russischen Menschen ist, so leidet er darunter selbst am meisten: er glaubt und hofft, daß das nur zeitlich und eine teuflische Versuchung sei, daß die Dunkelheit, die ihn umgibt, einmal aufhören und das ewige Licht dann auch auf ihn herniederscheinen werde. Ich will noch nicht einmal von seinen historischen Idealgestalten reden, von Feodossij Petscherski[18] oder Tichon Sadonski.[19] Übrigens: wie viele von uns kennen denn überhaupt einen Tichon Sadonski? Warum liest man nie etwas von ihm? Glauben Sie mir, Sie würden zu Ihrem Erstaunen wunderbare Sachen erfahren. Und abgesehen von diesen Volksheiligen: wie steht es mit unserer Literatur? Alles, was in ihr wahrhaft schön ist, das ist aus dem Volke genommen. Der Typ Belkin von Puschkin zum Beispiel! Bei uns ist alles von Puschkin. Seine Umkehr zum Volke, schon in der frühesten Zeit seiner Tätigkeit, ist so beispiellos und Erstaunen erregend und bedeutete einen für die damalige Zeit so unerwarteten und neuen Schritt, daß sie sich, wenn nicht durch ein Wunder, dann eben nur durch seine geniale Größe erklären läßt, die wir nur, füge ich hinzu, bis jetzt noch nicht die Kraft hatten, richtig zu werten. Erinnern Sie sich der „Oblomoffs“ von Gontscharoff, der „Väter und Söhne“ von Turgenjeff. In denen ist freilich nicht vom Volke die Rede, aber alles, was in den Typen Turgenjeffs und Gontscharoffs Ewiges und Schönes ist, das liegt dort, wo sie sich mit dem Volke kreuzen. Nur die Berührung mit dem Volke gibt ihnen diese ungewöhnliche Kraft. Diese Typen haben seine Gutmütigkeit, Reinheit und Bescheidenheit, die Weite seines Verstandes und seiner Güte, im Gegensatz zu allem Unnatürlichen und Falschem angenommen. Wundern Sie sich bitte nicht, daß ich plötzlich von unserer Literatur spreche; aber ihr gebührt das Verdienst, daß sie in ihren besten Vertretern und früher als unsere ganze Intelligenz, bemerken Sie das wohl, sich vor der Wahrheit des Volkes gebeugt und die Ideale des Volkes als die wahrhaft schönen anerkannt hat. Es ist wahr, daß unsere Dichter zum Teil dazu genötigt waren und es wohl mehr aus künstlerischem Instinkt, als aus gutem vaterländischem Willen taten. Doch genug von der Literatur – sprach ich von ihr doch nur im großen Zusammenhange mit dem Volke und mit der allgemeinen Frage der russischen Volklichkeit!
Diese Frage und das richtige Verständnis derselben ist für uns jetzt das Wichtigste: von ihr hängt unsere ganze, auch die praktische Zukunft ab. Aber das Volk ist für uns alle noch immer Theorie und ein Rätsel. Wir alle, wir Freunde des Volkes, sehen auf das Volk wie auf eine Theorie, und niemand liebt daher dasselbe so, wie es in der Tat ist, sondern so, wie er es sich vorstellt. Wenn das russische Volk in der Folge sich nicht als dasjenige erweisen sollte, als das ein jeder von uns es sich vorstellt, so würden wir, ungeachtet unserer vermeintlichen Liebe zu ihm, uns sofort und ohne jegliches Bedauern von ihm abwenden. Ich behaupte das von allen, die Slawophilen nicht ausgenommen: ja, die würden es vielleicht sogar noch früher tun als alle anderen. Was mich anbelangt, so verhehle ich nicht meine Überzeugung, und um Mißverständnissen vorzubeugen, weise ich geradezu auf sie hin. Ich glaube nämlich, daß wir Intellektuellen kaum so gut und vortrefflich sind, um uns als Ideal vor das Volk hinstellen und von ihm ohne weiteres verlangen zu können, daß es gerade so werde, wie wir sind. Wundern Sie sich nicht über die Frage (man ist ihr noch nie bei uns begegnet): „Wer ist besser – wir oder das Volk? Sollen wir uns nach dem Volke richten oder das Volk sich nach uns?“ Das ist die Frage, die uns jetzt alle beschäftigt, wenigstens diejenigen unter uns, die nicht aller Gedanken bar sind und die Sache des russischen Volkes in ihrem Herzen tragen. Denen kann ich auch aufrichtig antworten: daß wir uns vor dem Volke beugen müssen und von ihm alles zu erwarten haben, unsere Gedanken und Vorstellungen, daß wir uns vor der Wahrheit des Volkes beugen und sie als unsere Wahrheit anerkennen müssen, selbst in dem Falle, wenn sie zum Teil aus dem Leben der Volksheiligen käme. Mit einem Wort, wir sind die verirrten Kinder, die zweihundert Jahre nicht zu Hause waren, aber doch als Russen zurückkehrten, – was unser einziges Verdienst ist. Aber wir können uns nur unter einer Bedingung vor dem Volke beugen und das sine qua non: daß das Volk auch das von uns annimmt, was wir ihm Gutes mitgebracht haben. Ganz vernichten und aufgeben können wir uns doch nicht, selbst vor einerlei welcher Wahrheit des Volkes nicht; sonst behalten wir lieber das Unserige für uns, und müßten wir auch im äußersten Falle auf das Glück einer Vereinigung mit dem Volke verzichten. Dann mögen wir eben beide untergehen. Aber zu diesem Äußersten wird es nie kommen. Ich bin überzeugt, daß auch das Unserige, das wir mitbringen, in der Tat etwas ist: nicht ein Hirngespinst etwa, sondern daß es Bild, Form und Gewicht hat. Nichtsdestoweniger bleibt vor uns das Rätsel bestehen, das uns auf seine Lösung warten läßt – und es ist angstvoll, zu warten. Zweifel an der Zivilisation tauchen auf. Man behauptet, daß die Zivilisation das Volk verderbe. Der Gang der Dinge wäre danach der, daß neben der Erlösung und dem Lichte auch viel Falsches und Unwahres und eine große Unruhe heraufzöge. Nur den zukünftigen Geschlechtern würde ihr guter Samen aufgehen, aber uns und unseren Kindern drohe Verderben. Ist das auch Eure Meinung, die Ihr dieses lest? Ist es unserem Volke bestimmt, noch eine neue Phase von Lüge und Verderbnis durchzumachen, wie wir sie mit dem europäischen Pfropfreis von Zivilisation schon durchgemacht haben? Ich glaube, niemand wird es bestreiten, daß bei uns die Zivilisation zunächst mit der Sittenverderbnis anfing. Doch ich glaube auch, daß unser Volk von einer so ungeheuren Größe und Tiefe ist, daß alle neuen trüben und unreinen Ströme, die es aufnimmt, in ihm verschwinden werden, und es nur reine und klare wiederausströmen wird. Lassen Sie uns zusammenwirken, reichen Sie mir dazu die Hand, auf daß ein jeder mit seiner kleinen Arbeit das Seine beisteuere, auf daß die Dinge sich gerade und immer fehlerloser entwickeln! Wir selbst verstehen davon wenig: wir „lieben nur unser Vaterland“. In den Mitteln, ihm zu helfen, stimmen wir nicht überein und werden nicht aufhören, uns darüber zu streiten: aber nun ist doch wenigstens schon einmal ausgemacht, daß wir gute Menschen sind, und schließlich muß doch alles zu einer Ordnung kommen. Daran glaube ich, und ich wiederhole es, daß es nur die zweihundertjährige Entwöhnung von jeglicher Arbeit ist und weiter nichts. So, wie es jetzt ist, schließen wir unsere „Kulturperiode“ damit ab, daß wir allgemein aufhören, uns gegenseitig zu verstehen. Ich spreche nur von den aufrichtigen und ernsten Menschen – nur sie allein wollen sich nicht mehr verstehen. Spekulanten sind eine andere Sache: die haben sich bei uns immer und zu jeder Zeit verstanden.
Ich will, zur Abwechselung, einmal eine kleine Geschichte erzählen. Das heißt: eigentlich kann man das nicht recht eine Geschichte nennen; es ist nur eine alte Erinnerung. Ich war damals neun Jahre alt ... Doch nein: ich werde lieber mit meinem neunundzwanzigsten Jahre beginnen.
Es war am zweiten Osterfeiertag. Die Luft war warm, der Himmel hoch und blau und die Sonne so hell und schön. In meiner Seele aber war es dunkel und häßlich. Ich schlenderte hinter den Kasernen umher, betrachtete den Palisadenzaun, der unser Gefängnis umgab, und zählte die einzelnen Pfähle. Doch selbst das ewige Zählen wurde langweilig, wenn ich’s auch nur ganz mechanisch, aus Gewohnheit, tat. Es war schon der zweite Tag, daß im Gefängnis „gefeiert“ wurde: die Gefangenen brauchten nicht zu arbeiten, und so waren denn fast alle betrunken. In jedem Augenblick entstand ein neuer Streit, der mit Schimpfwörtern begann und mit Schlägen endete. Gemeine Lieder, Spielhöllen unter den Pritschen, mehrere für besonderen Unfug von den Kameraden halbtotgeprügelte Sträflinge, die man mit Pelzen bedeckt hatte und ruhig liegen ließ, bis sie wieder zu sich kommen und aufwachen würden; oft schon waren die Messer gezogen worden: all das hatte mich in den zwei Feiertagen bis zum Wahnsinn gequält.
Niemals habe ich betrunkenes Volk ohne Ekel sehen können; hier aber, an diesem Ort, war es mir ganz besonders widerlich. An solchen Feiertagen kamen nicht einmal die Beamten ins Gefängnis, um zu inspizieren oder nach dem verbotenen Branntwein zu suchen. Sie sahen wohl ein, daß man auch diesen Verstoßenen doch wenigstens einmal im Jahr etwas Freiheit lassen mußte, um Schlimmerem vorzubeugen.
Plötzlich ertrug ich die Qual nicht mehr. Heiße Wut packte mich. Da kam mir der Pole M...tzki, auch ein „politischer“ Zwangssarbeiter, entgegen; er blieb vor mir stehen und sah mich zornig, mit zuckenden Lippen, an. „Je hais ces brigands!“ stieß er halblaut durch die Zähne hervor und ging an mir vorüber. Ich kehrte in die Kaserne zurück, obgleich ich erst vor einer Viertelstunde halb wahnsinnig aus ihr hinausgelaufen war; denn sechs Kerle, wahre Athleten, hatten sich zugleich auf den betrunkenen Tataren Gasin gestürzt, um ihn mit den Fäusten zu „beruhigen“. Sie schlugen ihn unsinnig (ein Kamel hätte solche Schläge nicht überlebt), wußten aber, daß dieser tatarische Herkules viel aushalten konnte. Als ich nun zurückkam, sah ich in einer Ecke den schändlich zugerichteten Gasin, der ohne jedes Lebenszeichen auf seiner Pritsche lag. Man hatte ihn mit einem Pelz zugedeckt. Die anderen umstanden ihn schweigend. Wenn sie auch überzeugt waren, daß er am nächsten Tage wiedererwachen werde, so kratzte sich doch einer von ihnen den Kopf und meinte etwas besorgt: „Aber ... Weiß Gott doch ... Ist die Stunde vertrackt, so stirbt ’n Mensch wie nichts von solchen Schlägen.“ Ich ging zu meiner Pritsche am vergitterten Fenster, legte mich auf den Rücken, schob die Hände unter den Kopf und schloß die Augen. So lag ich immer gern: die Schlafenden werden gewöhnlich in Ruhe gelassen, und so kann man denken und träumen. Diesmal wollte es jedoch mit dem Träumen nicht gehen: mein Herz schlug unruhig, und in den Ohren klang mir noch das Wort: „Je hais ces brigands!“ Jetzt noch träume ich in mancher Nacht von jener Zeit; ich kenne keinen qualvolleren Traum.
Allmählich vergaß ich die Gegenwart und verlor mich unmerklich in Erinnerungen. In den langen Jahren, die ich dort verbrachte, erinnerte ich mich meines ganzen früheren Lebens: ich glaube, ich habe es so von Anfang an nochmals durchlebt. Diese Erinnerungen kamen, ohne daß ich selbst wußte, wie; nur selten habe ich sie gerufen. Gewöhnlich fingen sie mit irgendeinem Punkt, einem kleinen Zug an, dem sich dann immer mehr Züge anfügten, bis das Vergangene zum großen Bilde wurde. Ich analysierte dann die alten Eindrücke, fügte dem längst Erlebten neue Seiten hinzu und (die Hauptsache) verbesserte, verbesserte ununterbrochen: darin bestand ja mein einziger Zeitvertreib, meine Unterhaltung und Zerstreuung. An jenem zweiten Osterfeiertag nun stand mir plötzlich, ich weiß nicht warum, eine Stunde aus meiner Kindheit vor der Seele, eine Begegnung des Neunjährigen, die ich schon längst vergessen hatte; und ich liebte damals Erinnerungen aus meinen Kinderjahren ganz besonders.
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Mir fiel der Augustmonat auf unserem Landgut ein. Ein trockenen klarer Tag; ein wenig kühl und windig; der Sommer neigt sich dem Ende zu, und bald muß man wieder nach Moskau fahren, wieder den ganzen Winter über in französischen Stunden sich langweilen; und ich verlasse das Landgut so ungern! Ich ging hinter die Tenne und weiter in die Schlucht, von der sich auf der anderen Seite ein dichtes Gestrüpp bis zum Wald hinzog. Weiter und immer weiter drang ich in das Buschwerk ein und höre noch, wie, vielleicht dreißig Schritt vor mir, auf dem Neubruch einsam ein Bauer pflügt. Ich weiß: er muß steil den Abhang heraufpflügen, das Pferd hat es schwer, und manchmal tönt bis zu mir sein ermunternder Zuruf: „Nu, nu!“ Ich kenne alle unsere Bauern, weiß aber nicht, welcher von ihnen da gerade pflügt; ist mir auch einerlei. Ich bin ganz und gar in meine eigene Arbeit vertieft; denn auch ich bin beschäftigt: von einem Nußbaum breche ich mir eine gute Gerte, um mit ihr Frösche zu schlagen. Die Gerten von Nußbäumen sind so hübsch, viel besser als Birkenruten. Auch Käfer und andere Tierchen nehmen mich in Anspruch; ich habe sogar eine große Käfersammlung. Viele sind so putzig! Auch liebe ich die kleinen rotgelben Eidechsen mit den schwarzen Tüpfelchen; doch vor Schlangen habe ich Angst. Aber Schlangen trifft man viel seltener als Eidechsen. Pilze gibt’s hier wenig. Pilze muß man im Birkenwald suchen. Und ich mache mich auf, weiter durch das Gestrüpp in den Wald zu gehen. In meinem ganzen Leben habe ich nichts so geliebt, wie den Wald mit seinen Pilzen und Beeren, mit seinen Käfern und Vögeln, Igeln und Eichkätzchen, mit dem mich immer wieder entzückenden feuchten Duft faulender Blätter. Und noch jetzt, während ich dieses schreibe, rieche ich geradezu, atme ich den Duft unseres Birkenwaldes; solche Eindrücke haften fürs ganze Leben.
Da, plötzlich, inmitten der tiefen Stille, hörte ich laut und deutlich den Ruf: „Ein Wolf kommt!“ Ich schrie auf vor Schreck und lief schreiend auf die Wiese zu dem pflügenden Bauer.
Es war unser Bauer Marei. Ich weiß nicht, ob es den Namen gibt; aber bei uns nannten ihn alle Marei. Er war ein etwa fünfzigjähriger, stämmiger, ziemlich großer Mann, mit langem, schon stark ergrautem dunkelblondem Bart. Ich kannte ihn, hatte aber noch nie mit ihm gesprochen. Als er jetzt meinen Schrei hörte, hielt er das Pferd an und blieb stehen. Ich raste den Abhang hinab auf ihn zu und ergriff, um im vollen Lauf nicht zu fallen, hastig mit einer Hand die Pflugstange und mit der anderen seinen Ärmel: er beugte sich zu mir nieder; und da erst gewahrte er meinen Schreck.
„Ein Wolf kommt!“ keuchte ich atemlos.
Er hob schnell den Kopf und blickte sich unwillig um; einen Augenblick glaubte er mir.
„Es schrie ... Jemand schrie: Ein Wolf kommt! ...“ stammelte ich zitternd.
„Geh doch! Wo denn? Was für ’n Wolf soll denn – ... Ist dir ja nur so vorgekommen! Was kann denn hier für ’n Wolf sein!“ sprach er halblaut in den Bart, wie um mich zu beruhigen.
Ich aber zitterte noch immer am ganzen Leibe, klammerte mich noch fester an seinen Bauernkittel und war, glaube ich, sehr bleich. Er betrachtete mich mit besorgtem Lächeln; offenbar regte er sich meinetwegen auf.
„Sieh mal an! Du hast dich aber verschreckt! Ei – ei!“ sagte er und schüttelte den Kopf. „Genug schon, Kleinerchen, nun, laß gut sein!“ Er streckte die Hand aus und streichelte plötzlich meine Wange. „Nun, schon gut, Kleinerchen! Christus ist mit dir; mach ’n Kreuz!“
Doch ich bekreuzte mich nicht. Meine Mundwinkel zuckten. Das schien ihn besonders zu wundern: langsam erhob er seinen dicken, mit Erde beschmutzten Mittelfinger und berührte vorsichtig meine zitternden Lippen. „Sieh mal an! So was! Ei – ei!“ sagte er lächelnd (es war ein ganz besonderes, mütterlich zärtliches Lächeln). „Herrgott! Das ist doch ...“
Endlich begriff ich, daß der Schrei: „Ein Wolf kommt!“ in meiner Phantasie entstanden war. Der Schrei hatte so hell und deutlich geklungen, daß ein Zweifel ausgeschlossen schien; doch ich wußte, daß ich schon früher manchmal irgendeinen Schrei zu hören geglaubt hatte, während in Wirklichkeit alles still gewesen war. Später vergingen diese Halluzinationen der Kinderjahre.
„Jetzt werde ich gehen,“ sagte ich endlich, nachdem ich etwas Mut gefaßt hatte; doch blickte ich Marei noch fragend und schüchtern an.
„Nu, geh nur; und ich werde Dir nachsehen. Ich werde Dich schon nicht vom Wolf nehmen lassen!“ fügte er mit demselben mütterlichen Lächeln hinzu. „Nu, Christus ist mit dir, nu, geh nur“; und er bekreuzte mich mit seinen erdigen Fingern und bekreuzte sich dann selbst.
Ich ging. Doch jedesmal, wenn ich zehn Schritte gemacht hatte, blickte ich mich nach ihm um. Marei stand mit seinem Pferdchen, während ich die Schlucht hinunter- und wieder hinaufging, stand am Pflug und sah mir nach; und so oft ich mich umkehrte, nickte er mir mit dem Kopf zu. Ich schämte mich, offen gestanden, nicht wenig vor ihm: weil ich solche Angst gehabt hatte. Trotzdem fürchtete ich mich immer noch vor dem Wolf, bis ich glücklich auf der anderen Seite der Schlucht an der Getreidedarre ankam: hier verließ mich die Angst; und plötzlich kam auch noch, ich weiß nicht, woher, unser Hofhund Woltschok mir entgegengelaufen. Erst in dessen Begleitung fühlte ich mich ganz sicher; und so wandte ich mich denn zum letztenmal nach Marei um. Sein Gesicht konnte ich nicht mehr unterscheiden; aber ich fühlte, daß er mir noch ebenso freundlich zulächelte und mit dem Kopf zunickte. Ich winkte ihm noch einmal mit der Hand zu und er winkte mir wieder. Dann wandte er sich zum Pflug und trieb das Pferd an. „Nu, nu!“ Noch von fern her hörte ich seinen Zuruf; und das Pferd zog wieder den Pflug.
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Ich weiß nicht, warum mir das alles mit einemmal einfiel, und warum noch dazu alle Einzelheiten so deutlich vor mir standen. Ich wachte plötzlich auf, setzte mich auf die Pritsche; und ich weiß: auf meinem Gesicht fühlte ich noch das Lächeln der Erinnerung. Eine Weile dachte ich weiter nach und suchte mich des Folgenden zu erinnern.
Als ich damals von Marei nach Hause gekommen war, hatte ich keinem Menschen von meinem „Erlebnis“ erzählt. Was war denn da auch zu erzählen? Den Marei vergaß ich gar bald. Wenn ich ihn später traf, sprach ich niemals mit ihm, nicht nur nicht über den Wolf, sondern überhaupt nicht. Und nun, plötzlich, nach zwanzig Jahren, in Sibirien, steht diese Begegnung so deutlich, bis in die kleinsten Einzelheiten, vor mir. Also muß sie doch, mir unbewußt, in meiner Seele geblieben sein, ganz von selbst und vielleicht sogar gegen meinen Willen; und sie tauchte erst wieder auf, als die Zeit gekommen war. Mir fiel dieses zärtliche, mütterliche Lächeln des armen Leibeigenen ein, seine Bekreuzung und sein Kopfschütteln: „Ei – ei, du hast dich aber verschreckt, Kleinerchen!“ Und besonders der dicke, von der Erde beschmutzte Finger mit dem schwarzen Nagel, mit dem er vorsichtig, in so schüchterner Zärtlichkeit, meine zuckenden Lippen berührte. Natürlich: Ein jeder hätte ein erschrecktes Kind beruhigt; doch hier, bei dieser einsamen Begegnung, geschah etwas ganz anderes. Und wenn ich sein eigener Sohn gewesen wäre, hätte Marei mich nicht mit einer tieferen, helleren Liebe anzublicken vermocht. Wer aber zwang ihn dazu? Er war unser Leibeigener und ich immerhin sein Herrensohn. Niemand hätte jemals erfahren, daß er mich gestreichelt, niemand ihn dafür belohnt. Liebte er vielleicht kleine Kinder so sehr? Solche Leute gibt es allerdings. Die Begegnung geschah auf einsamem Feld, und nur Gott wußte, mit welch einem tiefen, heiligen menschlichen Gefühl, von welch einer weichen, fast weiblichen Zärtlichkeit die Seele eines rohen, tierisch unwissenden russischen Muschiks erfüllt sein kann. War es nicht dieses, was Konstantin Akssakoff meinte, als er von der tiefen inneren Bildung des russischen Volkes sprach?
Ich weiß noch: als ich von der Pritsche aufstand und mich umblickte, fühlte ich mit einemmal, daß ich diese Unglücklichen mit ganz anderen Augen betrachten konnte, und daß plötzlich, wie durch ein Wunder, aller Haß und alle Wut aus meinem Herzen verschwunden waren. Ich ging wieder hinaus und schaute aufmerksam in die Gesichter der Gefangenen, die mir begegneten. Dieser glattrasierte ehrlose Muschik mit dem gebrandmarkten Verbrechergesicht, der mit heiserer Stimme sein rohes Lied gröhlt, ist vielleicht auch so einer wie der Marei, der mich als Kind streichelte: ich kann ja nicht in sein Herz sehen.
Am selben Abend traf ich noch einmal den Polen M...tzki. Der Arme! Der konnte keine Erinnerungen an irgendeinen Marei haben und für alle diese Menschen nichts anderes empfinden als: „Je hais ces brigands!“ Wahrhaftig: diese Polen haben dort doch mehr gelitten als unsereiner!
Ich habe einen Freund, der sich durch sehr paradoxe Anschauungen auszeichnet. Ich kenne ihn schon lange. Es ist ein ganz unbekannter Mensch und ein höchst sonderbarer Charakter: er ist nämlich ein Denker. Ich werde unbedingt noch ausführlicher von ihm sprechen – doch später einmal. Jetzt ist mir nur zufällig eingefallen, wie er einmal, es ist schon etliche Jahre her, mit mir über den Krieg stritt. Er verteidigte den Krieg als solchen und vielleicht einzig um mit Paradoxen zu spielen. Ich bemerke hier noch, daß er nicht etwa Offizier ist, sondern der friedliebendste und gutmütigste Mensch, den es in der Welt und bei uns in Petersburg überhaupt geben kann.
„Toller Gedanke,“ sagte er unter anderem, „daß der Krieg eine Geißel für die Menschheit sei! Im Gegenteil, er ist das Nützlichste, was man sich überhaupt denken kann! Nur eine einzige Art Krieg ist verabscheuenswert und wirklich verderblich: das ist der innere, der Bürgerkrieg. Er lähmt und zerreißt den Staat, dauert immer viel zu lang und vertiert das Volk auf ganze Jahrhunderte. Der politische Krieg aber, der zwischen verschiedenen Völkern ausgekämpft wird, bringt einzig und allein Nutzen – in jeder Beziehung. Und dann ist er auch vollkommen unentbehrlich.“
„Aber hören Sie mal! Ein Volk geht aufs andere los, Menschen schlagen sich gegenseitig tot – was ist hier unentbehrlich?“
„Alles, und zwar im höchsten Grade. Doch erstens ist es nicht wahr, daß die Menschen in den Krieg gehen, um sich gegenseitig totzuschlagen. Das ist nie der Beweggrund gewesen, sondern sie gehen, um ihr eigenes Leben zu opfern, – das aber ist denn doch etwas ganz anderes. Es gibt keine höhere Idee als die, sein eigenes Leben zu opfern, indem man seine Brüder und sein Vaterland beschützt oder einfach, indem man die Interessen seines Vaterlandes verteidigt. Die Menschheit kann nicht ohne hochherzige Ideen leben, und ich vermute sogar, daß die Menschheit gerade deswegen den Krieg liebt, weil sie sich an einer hochherzigen Idee beteiligen will. Es ist ein Bedürfnis.“
„Ja, liebt denn die Menschheit den Krieg?“
„Ja, zweifeln Sie denn daran? Wer ist zurzeit eines Krieges noch kopfhängerisch? Alle sind sofort munter und ermutigt, und von der gewöhnlichen Schlaffheit und Langeweile der Friedenszeiten ist nichts mehr zu sehen und zu hören. Und nachher, wenn der Krieg beendet ist, mit welcher Hingabe denken sie an ihn zurück, selbst wenn sie geschlagen worden sind! Glauben Sie den Leuten nicht, wenn sie sich beim ersten Wiedersehen nach der Kriegserklärung kopfschüttelnd sagen: ‚Ach, welch ein Unglück! Ach, daß wir das noch erleben mußten!‘ sie tun es ja nur aus Wohlerzogenheit. Glauben Sie mir, jeder hat dann hohen Feiertag im Herzen. Wissen Sie, es ist furchtbar schwer, sich zu gewissen Ideen zu bekennen: gleich ist das Geschrei groß. – Tier! Barbar! schreien sie sofort und sind zum Verurteilen bereit. Das aber fürchtet man, und so zieht man vor, den Krieg lieber nicht zu loben.“
„Aber Sie sprechen von hochherzigen Ideen, von Menschlicherwerden. Lassen sich denn hochherzige Ideen nicht auch ohne Krieg finden? Ich glaube vielmehr, daß sie sich in Friedenszeiten noch leichter entwickeln können.“
„Ganz im Gegenteil, vollkommen umgekehrt! Die Hochherzigkeit verkommt in der Zeit eines langen Friedens, und an ihre Stelle treten Zynismus, Gleichgültigkeit, Langeweile und viel, viel boshafter Spott, und das noch dazu nur zur leeren Zerstreuung und nicht mal um einer Sache willen. Man kann geradezu behaupten, daß ein langer Friede die Menschen gefühllos macht. Das soziale Übergewicht geht dann immer auf die Seite alles dessen über, was in der Menschheit schlecht und roh ist – hauptsächlich zum Reichtum, zum Kapital. Ehre, Nächstenliebe, Selbstverleugnung werden in der ersten Zeit nach dem Kriege noch geachtet, sie stehen noch hoch im Preis, doch je länger der Friede dauert – desto mehr sieht man diese schönen und großen Tugenden verbleichen, einschlafen, absterben, und den Reichtum, die Sucht nach Erwerb alles ergreifen. Schließlich bleibt nur noch Heuchelei übrig – geheuchelte Ehre, geheuchelte Selbstverleugnung um der Pflicht willen. Und wenn man trotz des ganzen Zynismus auch noch fortfährt, diese großen Begriffe zu achten, so geschieht es dann doch nur in schönen Worten und bloß zum Anschein, aus Form. Die wirkliche Ehre ist nicht mehr, es bleiben nur Formeln übrig. Formeln der Ehre aber – die sind der Tod der Ehre. Ein langer Friede bringt Gleichgültigkeit hervor, niedrige Gedanken, bringt Sittenverderbnis und Abstumpfung der Gefühle. Die Vergnügungen werden nicht feiner, sondern wüster. Der plumpe Reichtum kann sich nicht an Idealen erquicken und verlangt nach anspruchsloseren, mehr ‚auf die Sache‘ gehenden Genüssen, d. h. nach unmittelbarster Befriedigung des Fleisches. Die Vergnügungen werden rein sinnlich. Sinnlichkeit ruft Wollust hervor, und Wollust immer Grausamkeit. Alles das werden Sie unmöglich leugnen, denn Sie können die erste Tatsache nicht verneinen: daß das soziale Übergewicht in der Zeit eines langen Friedens sich zum Schluß immer auf die Seite des Reichtums neigt.“
„Aber die Wissenschaft, die Kunst – können die sich denn während des Krieges entwickeln? Und das sind doch wirklich große und hochherzige Ideen!“
„Warten Sie, gerade hiermit fange ich Sie! Die Wissenschaft und die Kunst entwickeln sich immer und gerade in der ersten Periode nach dem Kriege. Der Krieg erneut sie, erfrischt sie, ruft sie hervor, stärkt die Gedanken und gibt ihnen gewissermaßen einen Stoß. In einem langen Frieden dagegen verkommt auch die Wissenschaft. Zweifellos fordert die Beschäftigung mit der Wissenschaft Mut und sogar Selbstaufopferung. Doch wie viele Gelehrte widerstehen denn der Pest des Friedens? Die geheuchelte Ehre, Selbstsucht und oberflächliche tierische Vergnügungslust erfassen auch sie. Versuchen Sie es nur einmal, mit solch einer Leidenschaft fertig zu werden, wie es beispielsweise der Neid ist: er ist roh und gemein, aber er wird trotzdem auch in die edelste Gelehrtenseele eindringen. Auch der Gelehrte will schließlich an dem allgemeinen Prunk und Glanz teilhaben. Was bedeutet vor dem Triumph des Reichtums der Triumph irgendeiner wissenschaftlichen Entdeckung, wenn sie nicht gerade so effektvoll ist wie die Entdeckung etwa eines neuen Planeten! Was meinen Sie wohl, ob unter solchen Umständen noch viel wirkliche Arbeitssklaven für das Allgemeinwohl übrigbleiben? Im Gegenteil, man sucht den Ruhm, und so kommt es dann zu Scharlatanerie, zur Jagd nach dem Effekt und, vor allen Dingen, zum Utilitarismus – denn man will doch zu gleicher Zeit auch reich werden! In der Kunst ist es genau so wie in der Wissenschaft: dieselbe Jagd nach dem Effekt, nach irgendeiner Verfeinerung. Einfache, klare, hochherzige und gesunde Ideen sind dann schon viel zu unmodern, man braucht etwas viel Verboteneres, Ungesünderes: die Künstlichkeit der Leidenschaften will man. Allmählich verliert sich dann das Gefühl für das Maß und die Harmonie, und man bekommt dafür die Entstellung der Gefühle und Leidenschaften, die sogenannte ‚Differenzierung‘ der Gefühle, die in Wirklichkeit nur ihre Verrohung ist. Sehen Sie, zu all dem entartet die Kunst in einem langen Frieden. Wenn es in der Welt keinen Krieg gäbe, so würde die Kunst einfach verkommen und verderben. Alle guten Ideen der Kunst ja ihre besten, sind vom Kriege, vom Kampf geschaffen worden. Lesen Sie eine Tragödie, sehen Sie sich die Statuen an, da haben Sie Horaz, und da haben Sie den Apollo von Belvedere, der selbst einen Wilden in Erstaunen setzen müßte ...“
„Aber die Madonnen, das Christentum?“
„Das Christentum erkennt das Faktum des Krieges vollkommen an und weissagt bekanntlich, daß das Schwert nicht vergehen werde, solange die Welt steht: das ist sehr bemerkenswert und sollte viele stutzig machen. Oh, natürlich im höheren, im moralischen Sinne verwirft es den Krieg und verlangt Nächstenliebe. Ich werde selbst der erste sein, der sich freut, wenn man die Schwerter in Pflugscharen umschmiedet. Doch fragt es sich: wann wird das möglich sein? Und lohnte es sich überhaupt, die Schwerter jetzt in Pflüge zu verwandeln? Der jetzige Friede ist immer und überall schlimmer als der Krieg, so unvergleichlich viel schlimmer, daß es zum Schluß geradezu unmoralisch wird, ihn noch aufrechtzuerhalten. Es gibt nichts mehr, was man schützen möchte, überhaupt nichts mehr, was wert wäre, erhalten zu bleiben, es ist beinahe gewissenlos und eine Schande, irgend etwas noch zu erhalten! Der Reichtum und die Roheit der Vergnügungen gebären Faulheit, und die Faulheit gebiert Sklaven. Um die Sklaven in der Sklaverei zu erhalten, muß man ihnen den freien Willen und die Möglichkeit der Aufklärung nehmen. Wer Sie auch sein mögen, mein Lieber, selbst wenn Sie der humanste Mensch sind: einen Sklaven werden auch Sie immer nur als Sklaven behandeln können – nicht wahr? Ich bemerke noch, daß in der Periode des Friedens Feigheit und Unehrlichkeit gute Wurzeln schlagen. Der Mensch ist naturgemäß stark zu Feigheit und Unehrlichkeit geneigt, und das weiß er selbst ganz genau. Deshalb vielleicht sehnt er sich auch so nach dem Kriege, und darum liebt er ihn so sehr: er ahnt in ihm das Heilmittel. Der Krieg entwickelt in ihm die Nächstenliebe und nähert und befreundet die Völker.“
„Wieso, befreundet?“
„Indem er sie lehrt, einander zu achten. Der Krieg erfrischt die Menschen. Die Menschenliebe entwickelt sich am meisten und fast ausschließlich auf dem Schlachtfelde. Es ist eine scheinbar sonderbare Tatsache, daß der Krieg weniger erbittert und aufreizt als der Friede. Irgendeine politische Beleidigung in der Friedenszeit, irgendeine herausfordernde Konvention, ein politischer Druck, anmaßende Forderungen – in der Art etwa, wie Europa sie uns 1863 stellte – erbittern viel mehr als ein offener Kampf. Erinnern Sie sich: haßten Sie etwa die Franzosen oder Engländer zur Zeit des Krimkrieges? Im Gegenteil, man kam sich näher, trat geradezu in Freundschaft miteinander. Wir interessierten uns für unsere Feinde und pflegten unsere Gefangenen. Unsere Soldaten und Offiziere gingen während des Waffenstillstands zu den feindlichen Vorposten, verbrüderten sich fast mit ihnen, tranken Wodka zusammen, und ganz Rußland las es schmunzelnd in den Zeitungen – was jedoch nicht hinderte, daß man sich prächtig schlug. Es entwickelte sich der Geist der Ritterlichkeit ... Und über die materiellen Schäden des Krieges lohnt es sich nicht einmal zu sprechen: wer kennt nicht die alte Erfahrung, daß nach einem Kriege alles wie mit neuen Kräften aufersteht? Die ökonomischen Kräfte des Landes treten zehnmal mehr hervor, ganz als ob eine Gewitterwolke Regen auf trockenen Boden niedergesandt hätte. Denen, die durch den Krieg gelitten haben, wird sofort und von allen Seiten geholfen, während in Friedenszeiten ganze Distrikte eher Hungers sterben können, bevor wir uns zur Hilfe rühren oder drei Rubel spenden.“
„Ja, leidet denn das Volk nicht am meisten unter dem Kriege, muß es nicht Verheerungen und Bürden ertragen, die unvergleichlich größer sind als die der höheren Gesellschaftsschichten?“
„Vielleicht; – doch immer nur zeitweilig, dafür aber gewinnt das Volk weit mehr, als es verliert. Gerade für das Volk hat der Krieg die besten und schönsten Folgen. Selbst wenn Sie der humanste Mensch sind, werden Sie sich doch für mehr als den Bauer halten. Wer mißt in unserer Zeit noch Seele mit Seele – mit dem christlichen Maß? Man mißt mit dem Geldbeutel, der Macht, der Kraft, – und der einfache Mann, der weiß das nur zu genau. Nicht daß hierbei Neid wäre, – aber es entsteht das unerträgliche Gefühl einer moralischen Ungleichheit, die viel verletzender für ihn ist, als wir es ahnen. Wie Sie die Menschen auch befreien oder welche Gesetze Sie ihnen auch geben mögen, diese Ungleichheit der Menschen wird in der jetzigen Gesellschaft doch nicht aufgehoben werden. Das einzige Heilmittel dagegen ist – der Krieg. Ein Palliativmittel vielleicht, doch ein tröstendes für das Volk. Der Krieg hebt den Geist des Volkes und die Erkenntnis des eigenen Wertes. Der Krieg macht in der Stunde des Kampfes alle gleich und versöhnt den Herrn mit dem Knecht in der allerhöchsten Erscheinung der menschlichen Würde, – im Opfer des Lebens für die gemeinsame Sache, für alle, für das Vaterland! Glauben Sie denn wirklich, daß die Masse, selbst die ganz unwissende Masse der Bauern und Bettler, nicht auch der aktiven Offenbarung hochherziger Gefühle bedarf? Worin kann nun die Masse im Frieden ihre Hochherzigkeit und ihre menschliche Würde beweisen? Auf die einzelnen Durchbrüche derselben sehen wir, wenn wir sie überhaupt zu beachten geruhen, mit verwundertem Lächeln, ja selbst mit ungläubigem Lachen, und zuweilen sogar mit unverhülltem Mißtrauen. Glauben wir aber einmal dem Heroismus eines einzelnen, so schlagen wir darob solch einen Lärm, als ob es etwas schier Unmögliches wäre; und was kommt dabei heraus? Unsere Verwunderung und unser Lob gleichen beinahe der Verachtung. In Kriegszeiten verschwindet all das ganz von selbst und die volle Gleichheit des Heroismus tritt an seine Stelle. Vergossenes Blut ist eine wichtige Sache. Die gemeinsame Heldentat erzeugt die stärkste Verbindung zwischen den verschiedenen Ständen. Der Gutsbesitzer und der Muschik standen sich im Jahre 1812, als sie gemeinsam fürs Vaterland kämpften, näher als in Friedenszeiten zu Haus auf dem Gute. Der Krieg ist der Masse ein Anlaß, sich zu achten, und darum liebt das Volk den Krieg: es dichtet über ihn Lieder und kann sich nicht satt hören an den Geschichten und Erzählungen aus dem Kriege ... Noch einmal: Vergossenes Blut ist eine wichtige Sache! Nein, der Krieg ist in unserer Zeit unentbehrlich; ohne Krieg würde die Welt untergehen oder wenigstens sich in einen schmutzigen Schlamm verwandeln, in irgendeinen gemeinen Schmutz mit faulenden Wunden ...“
Ich widersprach ihm natürlich nicht weiter. Mit Denkern kann man nicht streiten. Aber es ist doch eine höchst sonderbare Tatsache: man fängt jetzt an über Dinge nachzudenken und zu streiten, die, wie man doch meinen sollte, schon längst allen klar und ins allgemeine Archiv des Abgetanen gestapelt worden sind. Jetzt wird das alles wieder ausgegraben ... Das auffallendste aber ist, wie mir scheint, daß dieses heutzutage überall geschieht.
Wieder ein Zusammenstoß mit Europa![21] Und noch kein Krieg? Vom Kriege, sagt man, seien wir, d. h., sei Rußland noch weit entfernt ... Wieder ist die endlose Orientfrage aufs Tapet gebracht, wieder blickt Europa mißtrauisch auf uns Russen ... Doch was geht uns schließlich das Vertrauen Europas an? Hat es denn jemals vertrauensvoll auf uns geblickt? und kann es das überhaupt? Oh, versteht sich, irgendeinmal wird sich dieser Blick ändern, einmal wird Europa auch uns besser begreifen: und es lohnte sich wirklich, über dieses irgendeinmal zu sprechen. Einstweilen jedoch – einstweilen ist mir eine ganz nebensächliche Frage eingefallen, eine, mit deren Beantwortung ich noch kürzlich sehr beschäftigt gewesen bin. Wenn nun auch heute niemand mit mir übereinstimmen wird, so scheint mir doch, daß ich nicht so ganz unrecht habe.
Ich sagte, daß man die Russen in Europa nicht liebe. Nun, das wird, glaube ich, niemand bestreiten; aber unter anderem wirft uns Europa auch vor, daß wir alle, ohne Ausnahme, furchtbar liberal, ja selbst revolutionär seien, und immer, sogar mit einer gewissen Vorliebe, geneigt, uns eher den zerstörenden als den konservativen Elementen Europas anzuschließen. Zur Strafe dafür sehen viele Europäer spöttisch und von oben auf uns herab, nicht selten geradezu gehässig: es ist ihnen unbegreiflich, wie wir darauf kommen, in fremden Angelegenheiten Verneiner zu sein? Sie nehmen uns kurzerhand das Recht, nach europäischer Art zu verneinen – und zwar deshalb, weil sie uns für ein Volk halten, das nicht zur „Zivilisation“ gehört. Eher sehen sie in uns Barbaren, die sich in Europa herumtreiben und sich freuen, irgendwo irgend etwas zerstören zu können – zerstören bloß um der Zerstörung willen, um das Vergnügen zu haben, zuzusehen, wie das alles zusammenkracht – gleich den Hunnen, gleich einer Horde Wilder, die bereit ist, Europa wie das alte Rom zu überschwemmen und alles Große, Alte und Heilige zu zerstören, ohne auch nur zu ahnen, welch einen Schatz sie der Vernichtung weiht.
Daß die Russen tatsächlich in ihrer Mehrzahl sich in Europa als Liberale erwiesen haben – das ist wahr und ist sogar, ich gestehe es, sonderbar. Hat sich aber schon jemand die Frage gestellt, warum das der Fall ist? Warum beinahe neun Zehntel von den Russen, die in diesem Jahrhundert in Europa ihre Bildung erhalten hatten, sich immer derjenigen Partei der Europäer angeschlossen haben, die liberal war, der Partei der „Linken“, d. h. immer derjenigen Seite, die ihre eigene Zivilisation, ihre eigene Kultur verneinte? Das, was Thiers an der Zivilisation verneint, und das, was die Pariser Kommune an ihr 1871 verneinte, ist keineswegs dasselbe. Ebenso „mehr oder weniger“ liberal und ebenso verschieden liberal sind aber auch die Russen in Europa; doch immer sind sie, ich wiederhole es, geneigter als die Europäer, sofort zur äußersten Linken überzutreten, statt sich zunächst noch auf den unteren Stufen des Liberalismus aufzuhalten. Mit einem Wort, man findet unter den Russen weit weniger Thieristen als Kommunarden. Und man beachte wohl: das sind keineswegs irgendwelche vom Wind verwehte Leute – Ausnahmen natürlich zugegeben –, sondern Leute, die sogar sehr solid und zivilisiert aussehen, zuweilen fast schon Minister sind. Doch die Europäer trauen diesem Scheine nicht: „Grattez le Russe et vous verrez le Tartare,“ sagen sie. Das kann ja alles stimmen, aber, frage ich mich, woher kommt das? Schließt sich der Russe in seiner Gemeinschaft mit Europa der äußersten Linken an, weil er Tatar ist und die Zerstörung liebt, also als Wilder, oder bewegen ihn vielleicht andere Gründe dazu? – Das ist die Frage! ... Man wird mir wohl zugeben, daß sie nicht so uninteressant ist. Petersburg spielt jetzt nicht mehr die Rolle des Fensters, das uns aus Europa Licht bringt. Es beginnt etwas Neues, es muß wenigstens etwas Neues beginnen: das sieht jetzt ein jeder ein, der nur ein wenig nachzudenken gelernt hat. Kurz, wir fangen an mehr und mehr zu fühlen, daß wir zu irgend etwas bereit sein müssen, zu einem neuen Zusammenstoß mit Europa, und vielleicht einem viel eigenartigeren, als es die bisherigen waren, – ob es nun in der Orientfrage sein wird, oder sonstwo, wer kann das wissen! ... Darum aber sind ähnliche Fragen, Vermutungen, selbst Rätsel und sogar Paradoxe interessant – und wäre es auch nur, weil sie vielleicht auf einen richtigen Gedanken bringen können. Wie aber soll einem da nicht eine so auffallende Erscheinung zu denken geben, wie die, daß gerade diejenigen Russen, welche sich am meisten für Europäer halten und bei uns allgemein die „Westler“ genannt werden, die auf diesen Namen stolz sind und noch heute auf die anderen Russen wie auf Kwastrinker und Bauernkittel herabsehen, – wie soll es da nicht interessant sein, frage ich, daß gerade diese sich am schnellsten den Verneinern der Zivilisation, den Zerstörern der Kultur, der „äußersten Linken“ anschließen, und daß dieses in Rußland niemanden wundert, ja nicht einmal zum Nachdenken bringt? Wie soll einem das nicht merkwürdig erscheinen?
Ich habe schon eine Antwort auf diese Frage gefunden, doch werde ich meine Idee nicht beweisen, werde sie nur ein wenig zu erklären und die Tatsache zu entwickeln versuchen.
Mir scheint ... folgendes: Zeigt sich nicht in dieser Tatsache – d. h. im Anschluß unserer eifrigsten Westler an jene äußerste Linke, in Wirklichkeit an die verneinenden Elemente Europas, an die Verneiner Europas geradezu, – zeigt sich darin nicht die protestierende russische Seele, der die europäische Kultur von jeher, von Peter dem Großen an, verhaßt gewesen ist, und ihr Protest gegen diese Kultur, die sich in vielem, in allzu vielem, der russischen Seele als fremd erwiesen hat? Geradeso scheint es mir zu sein. Oh, versteht sich, dieser Protest ist fast die ganze Zeit nur unbewußt geschehen, doch wertvoll an ihm ist, daß er zeigt, wie gerade der russische Instinkt nicht erstorben ist: die russische Seele hat, wenn auch unbewußt, gerade im Namen ihres Russentums protestiert, im Namen ihres echt russischen, ursprünglichen, eigenen und dann unterdrückten Kulturversuchs. Natürlich wird man sagen, es sei noch kein Grund vorhanden, sich zu freuen, wenn dem auch so wäre: „Immerhin bist du ein Verneiner – Hunne, Barbar, Tatar –, der nicht im Namen eines Höheren verneint, sondern im Namen seiner eigenen Niedrigkeit, da er ja in ganzen zwei Jahrhunderten die europäische Höhe noch nicht einmal hat begreifen können.“
Ich gebe zu, daß das eine offene Frage ist, doch werde ich nicht versuchen, sie zu beantworten. Ich sage nur, daß ich diesen Einwand aus allen Kräften verneine – eine Begründung würde zu weit führen. Oh, wer wird jetzt noch von uns Russen, und besonders, nachdem das alles vergangen ist – denn diese Periode ist jetzt tatsächlich vergangen –, wer wird jetzt noch gegen die Tat Peters sein, sich gegen das „durchbrochene“ Fenster auflehnen und vom alten Zarenreich Moskau träumen? Doch nicht davon spreche ich jetzt; ich meine nur: wie schön und gut auch alles gewesen sein mag, was wir durch das Fenster erblickt haben, so war doch auch so viel Häßliches und Schädliches darunter, daß der russische Instinkt nicht aufgehört hat, sich dagegen aufzulehnen und zu protestieren, ... wenn er sich auch vielleicht so weit verloren haben mag, daß er selbst nicht mehr wußte, was er mit diesem Protest eigentlich tat. Und er hat nicht aus seinem Tatarentum heraus protestiert, sondern in der Tat vielleicht deswegen, weil er in sich etwas Höheres und Besseres fühlte als das, was er durch das Fenster erblickte ... Versteht sich, der Instinkt hat ja nicht gleich gegen alles protestiert: wir haben viel Gutes und Schönes bekommen, und wollen nicht undankbar sein; nun, aber gegen die Hälfte zum mindesten hat er, glaube ich, doch protestieren können.
Ich wiederhole nochmals, daß dieses ungemein sonderbar vor sich gegangen ist: gerade unsere feurigsten Westler, gerade unsere Kämpfer für die Reform wurden zu gleicher Zeit zu Verneinern Europas und stellten sich in die Reihen der äußersten Linken. Nun, und so geschah es, daß sie sich selbst gerade dadurch zu den eifrigsten Russen machten, zu Kämpfern für Rußland und den russischen Geist. Hätte man ihnen das seinerzeit erklärt, so würden sie entweder – gelacht haben, oder sie wären entsetzt gewesen. Es kann darüber kein Zweifel bestehen, daß sie nicht im geringsten die Höhe und eigentliche Bedeutung ihres Protestes erkannt haben. Im Gegenteil: sie haben ja die ganzen zwei Jahrhunderte hindurch ihren eigensten Wert fortgesetzt verleugnet, und nicht nur den allein, sondern sogar die Achtung vor sich selbst – solche gab es ja auch unter ihnen! – und in einem Grade, der ganz Europa mit Recht wundergenommen hat. Und nun stellt es sich heraus, daß gerade sie sich als die wahren Russen erwiesen haben. Ebendiese meine Deutung aber nenne ich „mein Paradox“. Belinski[22] zum Beispiel, ein von Natur leicht und leidenschaftlich begeisterter Mensch, ist fast als erster direkt zu den europäischen Sozialisten, die schon die ganze Form der europäischen Zivilisation verneinten, übergetreten, und zu gleicher Zeit hat er bei uns, in der russischen Literatur, bis zum Schluß gegen die Slawophilen gekämpft – scheinbar für das ganz Entgegengesetzte. Wie erstaunt wäre er gewesen, wenn ihm diese selben Slawophilen damals gesagt hätten, daß gerade er der erste Kämpfer für das russische Recht, für den russischen Geist und Anfang, gerade für all das, was er in Rußland an Europa bekämpfte, wenn man ihm bewiesen hätte, daß in Wirklichkeit gerade er der russische Konservative sei – und das ausschließlich, weil er in Europa Sozialist und Revolutionär war? Und so war es ja beinahe auch wirklich. Es wurde von beiden Seiten ein großer Fehler begangen, nämlich der, daß alle damaligen Westler Rußland mit Europa verwechselten, im Ernst für Europa hielten und, Europa samt seinen Formen verneinend, ernstlich glaubten, dieselbe Verneinung gälte auch für Rußland, während Rußland durchaus nicht Europa war, sondern nur in einem europäischen Rock steckte, unter ihm aber ein vollkommen anderes Wesen barg. Davon sich zu überzeugen, forderten die Slawophilen auf, indem sie direkt auf die Tatsache hinwiesen, daß die Westler Unvergleichbares verglichen oder gar für identisch hielten, und daß die Folgerung, die für Europa paßte, sich keineswegs auch auf Rußland anwenden ließ: teilweise schon deshalb nicht, weil all das, was sie in Europa wünschten, in Rußland schon längst vorhanden war und ist, jedenfalls wenigstens im Keim und in der Möglichkeit, und sogar sein Wesen ausmacht, nur nicht in revolutionärer Form, sondern gerade in derjenigen, in welcher diese Ideen der universalen Erneuerung der Menschheit erscheinen müssen: in der Gestalt der Wahrheit Gottes, der Wahrhaftigkeit Christi, die sich irgendeinmal auf der Erde doch verwirklichen wird, und die sich unversehrt allein in unserem Glauben erhalten hat. Sie forderten auf, erst Rußland kennen zu lernen und dann Folgerungen zu ziehen. Doch damals waren – um die Wahrheit zu sagen – keine Möglichkeiten vorhanden, etwas von Rußland kennen zu lernen. Und wer konnte denn damals etwas von Rußland wissen? Die Slawophilen wußten, natürlich, hundertmal mehr als die Westler – und das ist das Minimum –; doch auch sie handelten fast nur tastend und tappend, apriorisch und abstrakt, indem sie sich mehr auf ihren bloßen Instinkt verließen. Irgend etwas kennen zu lernen ist erst in den letzten zwanzig Jahren möglich geworden, doch – wie viele wissen denn selbst jetzt etwas von Rußland? Es ist viel, sehr viel, daß schon ein Anfang damit gemacht worden ist. Trotzdem erhebt sich kaum eine wichtige Frage, und alle sind sofort verschiedener Meinung bei uns. Nun, und jetzt erhebt sich von neuem die Orientfrage: Hand aufs Herz, wie viele sind ihrer und welche sind es, – die fähig wären, in dieser Angelegenheit übereinzustimmen, und wenn es sich auch nur um einen einzigen Entschluß handelt? Und das noch in einer so wichtigen, großen, in einer so verhängnisvollen und nationalen Frage! Was Orientfrage! man denke doch bloß an unsere hundert, unsere tausend inneren Tagesfragen: – welch eine allgemeine Verwirrung, welche unbeständigen Anschauungen, welch eine Ungewohntheit zu handeln! Rußland wird inzwischen entwaldet, die Gutsbesitzer und Bauern fällen mit wahrer Wut ihre Bäume. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, daß der Holzpreis auf ein Zehntel des früheren herabsinkt. Noch bevor unsere Kinder groß werden, wird schon zehnmal weniger Holz auf dem Markt sein. Was daraus folgt, ist vielleicht unser Verderben. Doch versucht man einmal, etwas von der Einschränkung der Rechte des Waldfällens zu sagen, was bekommt man dann zu hören? Von der einen Seite „staatliche und nationale Notwendigkeit“ und von der anderen „Verletzung der Eigentumsrechte“: zwei entgegengesetzte Begründungen. Sofort bilden sich zwei Lager, und noch weiß man nicht, in welches die liberale, alles entscheidende Meinung treten wird. Und sind es wirklich nur zwei Lager? So wird denn diese Frage noch lange unentschieden bleiben. Einer der heutigen Liberalen hat versucht, einen Witz zu reißen: jedes Übel, meinte er, habe auch sein Gutes, und so müsse hinfort, wenn der ganze russische Wald abgeholzt sei, wenigstens endgültig die Körperstrafe aufhören – denn woher wollen die Landrichter Ruten nehmen, wenn keine Wälder mehr da sind? Natürlich ist das eine kleine Beruhigung, doch traut man auch ihr nicht allzusehr: sind keine Bäume mehr vorhanden, so bleiben doch noch Sträucher, oder man kann ja Ruten aus dem Auslande beziehen. Neuerdings werden die Juden Gutsbesitzer – und überall schreibt und schreit man, daß sie den Boden Rußlands ruinieren, daß der Jude sofort, nachdem er das Gut gekauft, um das Kapital mit den Prozenten zurückzugewinnen, alle Kräfte und Reichtümer des gekauften Landes aussaugt. Versucht jemand, etwas dagegen zu sagen – so wird sofort von allen Seiten losgeschrien, man verletze das Prinzip der ökonomischen Freiheit und der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung! Möge man doch wenigstens hierbei die Gleichberechtigung aus dem Spiel lassen, da es sich in erster Linie um den ausgesprochensten Talmud-status in statu handelt; wenn hier nicht nur Aussaugung des Bodens, sondern auch die Aussaugung unseres Bauern droht, der nun, befreit vom Gutsbesitzer, in die Sklaverei dieser neuen „Herren“ gerät, derselben, die aus dem westrussischen Bauern schon alles gezogen, was aus ihm noch zu ziehen war, die jetzt nicht nur Güter und Bauern kaufen, sondern auch die liberale Meinung – und zwar mit gutem Erfolg. Warum aber ist das alles so bei uns? Warum diese Unentschlossenheit und diese Uneinigkeit bei jedem Entschluß? Meiner Meinung nach kommt das durchaus nicht von irgendeiner Unbegabtheit und Unfähigkeit zur Tat, sondern von unserer fortdauernden Unkenntnis Rußlands, seines Wesens, Sinnes und Geistes, obgleich seit Belinski und den Slawophilen schon zwanzig Jahre vergangen sind. Und es gibt sogar noch einen anderen Grund: in diesen zwanzig Jahren ist die Kenntnis Rußlands in Tatsachen und Einzelheiten weit, weit fortgeschritten, – der russische Instinkt aber hat sich verringert im Verhältnis zu früher. Der Grund hierfür? Wenn nun die Slawophilen durch ihren russischen Instinkt gerettet worden sind, so muß doch dieser Instinkt auch in Belinski gewesen sein und sogar so stark, daß die Slawophilen ihn für ihren besten Freund gehalten haben! Hier lag aber ein großes Mißverständnis von beiden Seiten vor. Nicht umsonst hat man einmal von Belinski gesagt: „wenn er langer gelebt hätte, so wäre er bestimmt zu den Slawophilen übergetreten“. In diesen Worten war ein Gedanke.
„Sie behaupten also,“ wird man mir sagen, „daß jeder Russe, der sich in einen europäischen Kommunarden verwandelt, allein schon dadurch sofort zum russischen Konservativen wird?“ Nein, das zu behaupten, wäre denn doch etwas zu gewagt. Ich wollte nur bemerken, daß in dieser Idee, selbst wenn man sie wörtlich nimmt, etwas Wahres liegt. Es ist vor allen Dingen viel Unbewußtes dabei und meinerseits vielleicht ein zu starker Glaube an den unvergänglichen russischen Instinkt und an die Lebenszähigkeit des russischen Geistes. Doch schön, schön, mag ich auch selbst wissen, daß es ein Paradox ist, so will ich doch die Folgerung aus ihm ziehen: das ist gleichfalls eine Tatsache, eine Folgerung aus der Tatsache. Ich habe vorhin gesagt, daß die Russen sich in Europa durch Liberalismus auszeichnen, und daß sich ihrer wenigstens neun Zehntel der Linken und äußersten Linken anschließen, sobald sie nur mit Europa in Berührung kommen ... vielleicht sind es auch nicht neun Zehntel: auf der Zahl will ich nicht bestehen. Ich bestehe nur darauf, daß es unvergleichlich mehr liberale Russen gibt, als unliberale. Doch haben wir natürlich auch solche. Tatsächlich gibt es, und hat es immer gegeben, Russen – die Namen einiger von ihnen sind weltberühmt –, die nicht nur die europäische Kultur nicht verneint, sondern, im Gegenteil, sie dermaßen angebetet haben, daß sie schon ihren letzten russischen Instinkt verloren, ihre russische Persönlichkeit und ihre Muttersprache, Russen, die ihre Heimat gewechselt und, wenn sie auch nicht zu fremden Völkern übertraten, so doch ganze Generationen hindurch in Europa blieben. Tatsache ist nun, daß alle diese Russen, im Gegensatz zu den liberalen, im Gegensatz zu deren Atheismus und Kommunismus, sich alsbald zur Rechten und äußersten Rechten geschlagen haben und echte europäische Konservative geworden sind.
Viele von ihnen haben ihren Glauben gewechselt und sind zum Katholizismus übergetreten. Sind das nicht echte Konservative, ist das nicht schon die äußerste Rechte? Sie sind Konservative in Europa und umgekehrt – die vollkommensten Verneiner Rußlands geworden. Sie werden zu Zerstörern, zu Feinden Rußlands! Da sieht man, was das heißt, sich aus einem Russen in einen Europäer verwandeln, sich zum „wahren Sohn der Zivilisation“ machen, – eine bemerkenswerte Tatsache, die zweihundert Jahre Experiment uns gegeben haben. Daraus folgt, daß der Russe, der wirklich Europäer wird, nicht anders kann, als zu gleicher Zeit auch der natürliche Feind Rußlands werden: War es das, was die wollten, die „das Fenster durchbrachen“? Hatten sie das im Auge? Und so bekamen wir zwei Typen des zivilisierten Russen: den Europäer Belinski, der zu gleicher Zeit Europa verneinte und sich im höchsten Grade als Russe erwies, und den echten, altadligen russischen Fürsten Gagarin, der es, nachdem er Europäer geworden, für notwendig befand, nicht nur zum Katholizismus überzutreten, sondern auch noch gleich unter die Jesuiten zu gehen. Wer ist von beiden der größere Feind Rußlands? Wer ist mehr Russe geblieben? Und bekräftigt nicht dieses zweite Beispiel von der äußersten Rechten mein voriges Paradox, daß die russischen europäischen Sozialisten und Kommunarden – vor allen Dingen keine Europäer sind und zum Schluß echte, prächtige Russen werden, sobald das Mißverständnis sich aufklärt und sie ihr Land kennen lernen! Und zweitens, daß kein einziger Russe ernstlich Europäer wird, wenn er nur noch ein bißchen, wenn auch nur verschwindend wenig, Russe bleibt! Ist dem aber so, – dann muß folglich auch Rußland etwas vollkommen Selbständiges und Besonderes sein, etwas, das Europa nicht im geringsten gleicht. Ja, und Europa selbst ist vielleicht gar nicht im Unrecht, wenn es die Russen tadelt und über ihr Revolutionärtum lacht: „Wir sind also Revolutionäre nicht nur für die Zerstörung, dort, wo nicht wir gebaut haben, nicht wie die Hunnen und Tataren, sondern für irgend etwas anderes, das wir bis jetzt selbst noch nicht wissen – die aber, die es wissen, behalten es für sich. Kurz, wir sind – Revolutionäre aus irgendeiner eigenen Notwendigkeit heraus, sozusagen Revolutionäre aus Konservativismus ...“
Doch all das sind Übergangsstadien, wie ich schon gesagt habe, all das ist nebensächlich und liegt abseits – heute wenigstens, da sich die ewig unbeantwortete Orientfrage wieder erhoben hat.
In diesen ganzen hundertfünfzig Jahren nach Peter dem Großen haben wir nichts anderes getan, als die Gemeinschaft mit allen nur möglichen menschlichen Zivilisationsformen zu erwerben versucht, durch die Teilnahme an der Geschichte und durch die Bekanntschaft mit den Idealen aller Völker. Zuerst haben wir uns gezwungen und dann haben wir uns gewöhnt, die Franzosen zu lieben, die Deutschen und all die anderen gleichfalls, als ob das unsere Brüder gewesen wären, ganz abgesehen davon, daß sie uns nie geliebt haben und wohl auch willens sind, uns hinfort nicht zu lieben. Doch darin bestand ja unsere Reform, die ganze Tat Peters des Großen: sie hat in anderthalb Jahrhunderten unseren Blick erweitert, – eine Tatsache, die vielleicht noch bei keinem Volk, weder in der alten noch in der neuen Geschichte, vorgekommen ist. Das Rußland vor Peter war tätig und festgefügt, wenn es sich auch politisch langsam entwickelte. Es hatte sich zur Einheit herausgearbeitet und schickte sich an, seine Grenzen zu befestigen, und bei sich wußte es, daß es einen Schatz in sich trug, wie es keinen zweiten in der Welt mehr gibt – die Rechtgläubigkeit; wußte, daß es der Hüter der Wahrheit Christi ist, wirklich der gewißlichen Wahrheit, des wahrhaften Ebenbildes Christi, das sich in allen anderen Glaubensformen und bei allen anderen Völkern verdunkelt hat. Dieser Schatz, diese ewige, in Rußland gegenwärtige Wahrheit, deren Aufbewahrung uns als Aufgabe zugefallen, befreite geradezu das Gewissen der besten damaligen Russen (nach ihrer eigenen Meinung) von der Pflicht, sich um das Wissen anderer Völker zu kümmern. Ja, in Moskau kam man sogar zu der Überzeugung, daß jede engere Berührung mit Europa schädlich und demoralisierend auf das russische Gemüt und auf die russische Idee wirken, die Rechtgläubigkeit selbst entstellen und Rußland auf den Weg des Verderbens bringen könnte, „nach dem Beispiel aller anderen Völker“. So schickte sich denn das alte Rußland in seiner Abgeschlossenheit an, Unrecht zu tun, – Unrecht an der Menschheit, indem es sich dafür entschied, ratlos seinen Schatz, seine Rechtgläubigkeit bei sich zu behalten und sich von Europa, d. h. von der Menschheit, abzuschließen, – in der Art unserer Sektierer, die mit niemandem aus einer Schüssel essen, sondern es für eine heilige Pflicht halten, daß ein jeder sich eine besondere Tasse und einen besonderen Löffel anschafft. Dieser Vergleich stimmt buchstäblich, denn vor Peter waren unsere politischen wie geistigen Beziehungen zu Europa von derselben Art. Seit der Reform Peters jedoch gewannen wir die beispiellose Erweiterung des Blicks, – und darin, wiederhole ich, besteht die ganze Größe der Tat unseres „Ehernen Reiters“. Dieses ist der Schatz, den wir, die obere kultivierte Schicht Russen, nach einer anderthalb Jahrhunderte langen Abwesenheit aus unserem eigenen Lande dem Volke bringen, und den das Volk, nachdem wir uns selber vor seiner Wahrheit gebeugt, von uns annehmen muß, sina qua non, „widrigenfalls die Vereinigung beider Schichten sich als unmöglich erweisen und alles untergehen wird.“
Was ist das nun für eine „Erweiterung des Blicks“, worin besteht sie und was für eine Bedeutung hat sie?
Das ist nicht die Aufklärung oder Erleuchtung im eigentlichen Sinne des Wortes, auch nicht die Wissenschaft, es ist auch kein Verrat an den russischen moralischen Grundsätzen im Namen der europäischen Kultur. Nein, das ist etwas, was einzig dem russischen Volke eigen ist: denn eine ähnliche Reform hat es nirgends und noch niemals gegeben. Das ist unsere wirklich und in der Tat fast brüderliche Liebe zu den anderen Völkern, eine Liebe, die wir in anderthalb Jahrhunderten Berührung mit ihnen uns erworben haben. Das ist unser Bedürfnis, der ganzen Menschheit zu dienen, zuweilen sogar zum Nachteil der eigenen, wichtigsten und nächsten Interessen; das ist unsere Aussöhnung mit ihren Kulturen, unser Begreifen und Verzeihen ihrer Ideale, selbst dann, wenn sie sich mit den unsrigen nicht vertragen. Das ist unsere Fähigkeit, die wir uns selbst anerzogen haben, in jeder der europäischen Kulturen, oder richtiger, in jeder europäischen Persönlichkeit die in ihr enthaltene Wahrheit zu entdecken, sogar ungeachtet alles dessen, womit wir grundsätzlich nicht übereinstimmen können. Das ist endlich das Bedürfnis, in erster Linie – gerecht zu sein und nur die Wahrheit zu suchen. Mit einem Wort, das ist vielleicht gerade der Anfang, der erste Schritt dieser aktiven Anwendung unseres Schatzes, unserer Rechtgläubigkeit, zum Dienste der ganzen Menschheit – wozu sie ja bestimmt ist und was ihr wirkliches Wesen ausmacht. Auf diese Weise hat die Reform Peters die Erweiterung unserer früheren Idee bewirkt, unserer alten russisch-moskowitischen Idee: wir bekamen ein vervielfachtes und verstärktes Verständnis für dieselbe: wir erkannten unsere Weltbestimmung, unsere Persönlichkeit und unsere Rolle in der Menschheit, übersahen aber, daß diese Bedeutung und diese Rolle grundverschieden sind von denen der anderen Völker; denn dort lebt jede nationale Persönlichkeit einzig für sich und in sich, wir aber werden, wenn unsere Zeit kommt, gerade damit beginnen, daß wir die Diener Aller werden, um der allgemeinen Versöhnung willen. Das ist durchaus nicht schmählich für uns, im Gegenteil, es ist unsere Größe, denn es führt zur endgültigen Vereinigung der Menschheit. Wer der Höchste im Reiche Gottes sein will, – der werde der Diener Aller. So verstehe ich die russische Prädestination in ihrem Ideal.
Der erste Schritt unserer neuen Politik nach Peter spezifizierte sich denn auch ganz von selbst: dieser erste Schritt lag in dem Plan, das ganze Slawentum unter den Flügeln Rußlands zu vereinigen. Und diese Vereinigung nicht etwa zur Aneignung fremden Besitzes, nicht zur Vergewaltigung, nicht zur Vernichtung der einzelnen slawischen Völkerpersönlichkeiten durch den russischen Koloß, sondern um sie zu erneuen und in das ihnen zustehende Verhältnis zu Europa und zur Menschheit zu bringen, ihnen endlich die Möglichkeit zu geben, friedlich leben zu können und sich nach ihren unzähligen, jahrhundertelangen Leiden zu erholen, um sich im gemeinsamen Geiste zu versammeln und, nachdem man seine neue Kraft gefühlt, auch sein Scherflein in die Schatzkammer des menschlichen Geistes zu bringen, auch sein Wort in der Kultur zu sagen. Oh, natürlich, man kann ja über diese meine „Illusionen“ von russischer Prädestination lachen soviel man will, doch bitte ich wenigstens eines sagen zu dürfen: wünschen etwa nicht alle Russen die Befreiung und Erhebung der Slawen gerade auf dieser Basis, gerade für deren volle persönliche Freiheit und die Auferstehung ihres Geistes, und durchaus nicht, um sie für Rußland politisch zu gewinnen und durch sie Rußland politisch zu verstärken, wie es einstweilen Europa argwöhnt? Das ist doch so, nicht wahr? Dann aber sind doch meine „Illusionen“ zum Teil schon gerechtfertigt? Freilich versteht es sich von selbst, daß zu diesem selben Zweck Konstantinopel – früher oder später doch unser werden muß ...
Herrgott, wie spöttisch ein Österreicher oder Engländer lächeln würde, wenn er diese ausgedachten „Illusionen“ lesen könnte und plötzlich solch eine positive Folgerung fände!
„Konstantinopel, das Goldene Horn, der erste politische Punkt der Welt! – das soll keine politische Eroberung sein!?“
Ja, das Goldene Horn und Konstantinopel – all das wird dereinst unser sein, doch nicht um der Eroberung und der Vergewaltigung willen, antworte ich. Und vor allen Dingen: das wird ganz von selbst geschehen, wenn die Zeit dazu kommt. Es ist der natürliche Ausgang der Balkanfragen. Wenn es bis jetzt noch nicht geschehen ist, so war eben die Zeit noch nicht gekommen. In Europa glaubt man an irgendein „Testament Peters des Großen“. Das ist nichts weiter als ein von Polen geschriebenes, untergeschobenes Papier. Doch wenn Peter auch der Gedanke gekommen wäre, anstatt Petersburg zu gründen, Konstantinopel zu erobern, so hätte er doch diesen Gedanken aufgegeben: selbst dann, wenn er die Macht gehabt hätte, den Sultan zu vernichten – denn damals wäre das unzeitgemäß gewesen und hätte sogar Rußlands Verderben sein können.
Schon in dem finnischen Petersburg sind wir dem Einfluß der benachbarten Deutschen nicht entronnen, – wenn er auch nützlich gewesen ist, so hat er doch die russische Entwicklung, bevor sie ihren rechten Weg fand, ungemein gelähmt, – wie hätten wir dann in Konstantinopel, der großen, eigenartigen Stadt, mit den Resten der ältesten und mächtigsten Kultur, dem Einfluß der Griechen entrinnen können, dieser unvergleichlich „geschliffeneren“ Menschen, als es die rauhen, uns vollkommen unähnlichen Deutschen sind, dem Einfluß dieser Menschen, die bedeutend mehr Berührungspunkte mit uns haben, dieser zahlreichen höfischen Griechen, die sofort den Thron umringt hätten und viel früher als die Russen gelehrt und gebildet geworden wären, die unseren Peter selber, nicht nur seine Nachfolger, bezaubert hätten, schon allein durch ihre Kenntnis der Schiffahrt, – seiner schwachen Seite –?? Kurz, sie hätten Rußland politisch erobert, hätten es, wieder auf irgendeinen neuen asiatischen Weg gelockt, nun, und dem wäre natürlich das damalige Rußland nicht gewachsen gewesen. Seine russische Kraft und Nationalität wären in ihrer Entwicklung unterbrochen worden. Der mächtige Großrusse wäre abseits in seinem dunklen schneeigen Norden geblieben und hätte nur als Material für die Zarenstadt gedient, und vielleicht würde er es zum Schluß sogar überflüssig gefunden haben, ihr noch weiter zu folgen. Der Süden Rußlands aber wäre den Griechen anheimgefallen. Ja, vielleicht hätte sich sogar die Rechtgläubigkeit selber in zwei Welten geteilt: in die südlich-zaristische und die nördlich-altrussische ... Kurz, die Sache wäre im höchsten Grade unzeitgemäß gewesen. Jetzt aber ist es etwas ganz anderes.
Jetzt ist Rußland schon in Europa gewesen und ist nicht mehr so unwissend wie damals. Die Hauptsache aber – es hat seine ganze Kraft erkannt und ist wirklich stark geworden; und außerdem weiß es jetzt, wodurch es dereinst am stärksten sein wird. Jetzt weiß es, daß Konstantinopel uns gehören kann, auch ohne dabei die Hauptstadt zu sein; vor zweihundert Jahren aber, da hätte Peter nach der Eroberung von Byzanz nicht umhingekonnt, dorthin seine Residenz zu verlegen, was das Verderben Rußlands gewesen wäre – denn Byzanz ist nicht Rußland und kann auch niemals Rußland werden. Angenommen aber, daß Peter diesen Fehler nicht begangen hätte, so wären doch bestimmt seine Nachfolger dorthin gezogen. Wenn aber Byzanz heute unser wird, so wird es deshalb noch nicht Rußlands Hauptstadt und somit auch nicht die Hauptstadt des Panslawismus, wie einige träumen. Der Panslawismus ohne Rußland wird sich im Kampf mit den Griechen entkräften, selbst dann, wenn er aus seinen Teilen irgend etwas politisch Ganzes bilden könnte. Daß aber die Griechen allein Byzanz erben, ist jetzt schon unmöglich: einen so wichtigen Punkt der Erde kann man ihnen nicht abtreten, das wäre denn doch etwas zuviel für sie. Der Panslawismus aber mit Rußland an der Spitze – oh, der ist natürlich etwas ganz anderes! Aber ist dieses Andere auch etwas Gutes, fragt es sich? Und würde das nicht wie ein Einstecken der Slawen aussehen, was wir durchaus nicht nötig haben? Also im Namen wessen, im Namen welches moralischen Rechtes könnte denn Rußland Konstantinopel begehren? Auf welche höheren Ziele gestützt, könnte es Byzanz von Europa fordern? Nur als Führer der Rechtgläubigkeit, als ihr Beschützer und Erhalter – in der Rolle, die ihm schon seit Iwan III.[23] zusteht: zum Zeichen dessen hat dieser den zweiköpfigen byzantinischen Adler über das alte Wappen Rußlands gestellt, wenn Rußland dieser Führer auch erst seit Peter dem Großen wirklich geworden ist, als es die Kraft in sich fühlte, seine Bestimmung zu erfüllen, und in der Tat der einzige wahrhafte Beschützer und Erhalter der Rechtgläubigkeit, wie der ihr angehörigen Völker wurde. Dieser Grund, dieses Recht auf das alte Byzanz, wäre selbst den auf ihre Unabhängigkeit eifersüchtigsten Slawen und sogar den Griechen verständlich und hätte nichts Kränkendes für sie. Damit würde sich das wirkliche Wesen dieser politischen Beziehungen selbst zu erkennen geben, Beziehungen, die sich unfehlbar in Rußland zu allen übrigen rechtgläubigen Völkern herstellen müssen – ob Slawen oder Griechen, bleibt sich gleich. Rußland ist ihre Beschützerin und vielleicht sogar ihre Führerin, doch nicht ihre Herrscherin. Sollte Rußland aber einmal ihre Zarin werden, so wird das nur auf ihre eigene Wahl hin geschehen können, mit der Aufrechterhaltung alles dessen, was sie selbst zur Sicherung ihrer Unabhängigkeit und Selbständigkeit und Eigenart bestimmen ... so daß zu solch einem Vaterlande auch die nicht rechtgläubigen Slawen werden hinzutreten können, denn sie würden selbst sehen, daß die Vereinigung unter dem Schutze Rußlands nur eine Sicherstellung der unabhängigen Persönlichkeit eines jeden ist, da sie ohne diese große, vereinende Kraft sich vielleicht wieder in Streitigkeiten untereinander entkräften würden, selbst wenn sie einmal von Muselmännern oder Europäern, denen sie jetzt gehören, politisch unabhängig werden sollten.
Wozu mit Worten spielen, wird man mir sagen: was ist das, diese „Rechtgläubigkeit“? und worin liegt hier eine so besondere Idee, solch ein besonderes Recht auf die Vereinigung der Völker? Ist das nicht ganz ebensolch ein politischer Verband wie alle übrigen, wenn auch auf den breitesten Grundlagen, in der Art der Vereinigten Staaten Amerikas vielleicht, oder womöglich auf noch breiteren?
Ich werde diese Frage sofort beantworten.
Nein, es wird nicht dasselbe sein, und es ist auch kein Spiel mit Worten, sondern hierdurch wird wirklich etwas Besonderes und noch nicht Dagewesenes geschehen. Es wird nicht nur eine politische Vereinigung sein und noch weniger eine politische Aneignung oder Vergewaltigung, – wie Europa es sich nicht anders denken kann; und nicht im Namen eines Krämerwesens, oder persönlicher Vorteile und der ewigen, immer gleichen vergötterten Laster unter dem Schein des offiziellen Christentums, an das in Wirklichkeit niemand mehr außer dem Pöbel glaubt. Nein, hierdurch soll die Wahrheit Christi zur Wirklichkeit werden, diese Wahrheit, die einzig im Osten noch erhalten wird, die wirkliche, neue Herrschaft Christi und die Verkündung des endgültigen Wortes der Rechtgläubigkeit, deren Haupt schon längst Rußland ist. Das wird ja das Ärgernis sein für alle Starken dieser Welt, die bis jetzt hienieden triumphiert haben, die immer auf ähnliche „Erwartungen“ mit Verachtung und Spott herabgesehen und nicht einmal begreifen können, wie man ernstlich an die Brüderlichkeit der Menschen, an die Allversöhnung der Völkerschaften glauben kann, an einen Bund, der auf der Basis der Alldienstbarkeit der Menschheit gegründet ist, und endlich selbst an die Erneuerung der Menschen auf Grund der wahrhaften Lehre Christi. Ist aber der Glaube an dieses „neue Wort“, das Rußland als Haupt der vereinten Rechtgläubigkeit der Welt sagen kann, eine „Utopie“, die nur des Spottes wert ist, so möge man auch mich zu diesen Utopisten rechnen, und den Fluch der Lächerlichkeit will ich dann gerne tragen.
„Schon das allein ist Utopie,“ wird man vielleicht noch einwenden, „daß man Rußland irgendeinmal einfach erlauben werde, an die Spitze der Slawen zu treten und in Konstantinopel einzuziehen. Man kann ja nicht verbieten, sich Illusionen zu machen, doch bleiben es immerhin Illusionen.“
Ist das wirklich so? Doch abgesehen davon, daß Rußland stark ist und vielleicht noch viel stärker, als es selbst ahnt, ganz abgesehen davon – waren es nicht unsere eigenen Augen, die noch in den letzten Jahrzehnten zwei riesige, Europa beherrschende Mächte sich aufrichten sahen, von denen die eine in Staub und Schutt zusammenbrach, in einem Tage vom Sturme Gottes hinweggefegt, und an deren Stelle sich ein neues Reich erhob, dem ein an Kraft ähnliches, sollte man meinen, die Erde noch nicht getragen hat? Und wer hätte das voraussehen können? Wenn aber solche Veränderungen möglich sind, schon in unseren Tagen und vor unseren Augen, wie kann dann der menschliche Verstand vollkommen und buchstäblich das Schicksal des Ostens weissagen wollen? Wer hat wirklich Ursache, in der Hoffnung auf die Auferstehung und Einigung der Slawen zu verzagen? Unbekannt sind uns Menschen die Wege Gottes allzeit gewesen.
Es ist jetzt[24] wohl ein Jahr her, daß die Zeitungen die Nachricht brachten von dem Märtyrertode des Unteroffiziers des 2. Turkistanischen Schützenbataillons, Foma Daniloff. Er war in die Gefangenschaft der Kiptschaken geraten und von ihnen in Magelan nach vielen raffinierten Foltern endlich am 21. November barbarisch umgebracht worden, weil er nicht in ihren Dienst und zum Mohammedanismus hatte übertreten wollen. Der Chan selber hat ihm Belohnungen, seine Gunst und alle möglichen Ehren versprochen, wenn er eingewilligt hätte, Christus zu verleugnen. Daniloff aber hat geantwortet, daß er das Kreuz nicht verraten könne und als Untertan des Zaren, wenn auch in der Gefangenschaft, seine Pflicht dem Zaren und dem Christentum gegenüber erfüllen müsse. Seine Peiniger haben sich über die Kraft seiner Seele gewundert und ihn einen Helden genannt.
Damals rief diese Nachricht, wenn sie auch von allen Zeitungen mitgeteilt wurde, doch kein besonderes Interesse in der Gesellschaft hervor; ja, selbst die Blätter, die sie nur wie eine gewöhnliche Tagesneuigkeit brachten, fanden es nicht für nötig, sich noch besonders darüber zu verbreiten. Darauf kamen die slawische Bewegung, Tschernjäjeff[25], die Serben und manches andere. Es kamen Spenden und Freiwillige, und der gefolterte Foma geriet in völlige Vergessenheit – das heißt in den Zeitungen. Erst kürzlich hörten wir wieder etwas von ihm, oder vielmehr von seiner Familie, nach der der Gouverneur von Samara inzwischen geforscht hatte. Daniloff hat eine 27jährige Frau, Jewrossinja, und eine sechsjährige Tochter, Ulita, in ärmlichen Verhältnissen zurückgelassen. Eine Sammlung für sie ergab 1320 Rubel, von denen 600 für die Tochter bis zu ihrer Mündigkeit verzinst werden sollen, während den Rest die Mutter erhält; außerdem hat eine Schule die kleine Ulita als Stipendiatin aufgenommen. Bald darauf benachrichtigte dann der Chef des Generalstabes den Gouverneur von Samara, daß nach Allerhöchster Bestimmung der Witwe eine lebenslängliche Pension von 120 Rubel jährlich ausgezahlt werden solle. Und nun – wird die Sache wahrscheinlich wieder vergessen werden, besonders in Anbetracht der gegenwärtigen Aufregungen, politischen Befürchtungen, der schwebenden Fragen, Krachs usw.
Oh, ich will durchaus nicht behaupten, daß unsere Gesellschaft sich zu dieser ungewöhnlichen Tat gleichgültig, wie zu einem nicht beachtenswerten Geschehnis, verhalten hätte! Tatsache ist nur, daß darüber wenig gesprochen worden ist, oder richtiger, daß niemand davon als von etwas Besonderem gesprochen hat. Übrigens, vielleicht hat man es auch irgendwo getan, bei Kaufleuten, bei Geistlichen zum Beispiel, nicht aber in der „Gesellschaft“, nicht in den Kreisen unserer „Intelligenz“. Das Volk natürlich wird diesen großen Tod nicht vergessen. Dieser Held hat Qualen für Christus erduldet und ist ein großer Russe gewesen: das versteht das Volk zu schätzen, und solche Taten vergißt es nie. Und doch ist es mir, als hörte ich schon einige mir so wohlbekannte Stimmen sagen: „Tja, das ist allerdings Kraft, Stärke, und wir erkennen sie ja auch an, aber – es ist doch immer eine blinde, sagen wir wie das Volk: eine ‚dunkle‘ Kraft, die sich in etwas allzu vorsintflutlicher Gestalt geoffenbart hat, und darum – was hätten wir da als etwas Besonderes besprechen sollen? Nicht von unserer Welt ist das. Eine ganz andere Sache aber ist Kraft, die sich intellektuell, die sich bewußt zeigt. Es gibt noch andere Dulder und andere Kräfte, es gibt auch Ideen, die unvergleichlich höher sind – die kosmopolitische Idee zum Beispiel ...“
Doch trotz dieser vernünftigen und „intellektuellen“ Stimmen scheint es mir erlaubt und verzeihlich, etwas Besonderes auch über Daniloff zu sagen. Ja, ich glaube sogar, daß es selbst unsere Intelligenz nicht gar so sehr erniedrigen würde, wenn sie sich etwas aufmerksamer zu dieser Tat verhalten hätte. Mich, zum Beispiel, wundert am meisten, daß sich damals nirgendwo Verwunderung geäußert hat, – gerade Verwunderung. Ich rede nicht vom Volke: dort ist Verwunderung nicht nötig, und darum wird es sich auch in diesem Falle nicht gewundert haben: die Tat Daniloffs kann ihm nicht ungewöhnlich erscheinen, schon allein wegen des großen Glaubens unseres Volkes an sich selber nicht. Seine Antwort auf diese Heldentat wird nur ein mächtiges Gefühl und eine tiefe Rührung sein. Sollte aber etwas Ähnliches in Europa geschehen, ich meine, ein solcher Beweis von Mut und Größe, sei es bei den Engländern, bei den Franzosen oder bei den Deutschen, so würde der Ruhm des betreffenden Helden über die ganze Welt hin erschallen. Nein, hört mal, wißt ihr auch, wie mir dieser „dunkle“, unbekannte Soldat des Turkistanischen Bataillons vorkommt? Ja, der ist doch – der ist doch das Symbol ganz Rußlands, unseres ganzen volklichen Rußlands, das wahrhafteste Abbild dieses selben Rußlands, dem unsere Zyniker und Allwissenden jetzt schon jeden Geist abstreiten, wie jede Möglichkeit der Erhebung und Offenbarung eines großen Gedankens oder großen Gefühls. Hört mal, ihr seid ja gar nicht diese Zyniker. Ihr seid ja im ganzen nur intellektuell-europäisierte Russen, das heißt, im Grunde die gutmütigsten Leute! Auch ihr, nicht wahr, leugnet doch nicht, daß unser Volk im vergangenen Sommer stellenweis ungewöhnliche Geisteskraft bewiesen hat: viele Bauern verließen bekanntlich ihre Häuser und Kinder und gingen hin, um für den Glauben zu sterben, für die bedrückten Brüder, – weiß Gott wohin und weiß Gott mit welchen Mitteln, ganz genau so, wie einst vor neun Jahrhunderten in Europa die ersten Kreuzfahrer auszogen, – diese selben Kreuzfahrer, deren Wiedererscheinen manch einer unserer Intellektuellen für fast lächerlich und beleidigend halten würde, „in unserem,“ wie er sagt, „Jahrhundert des Fortschritts, der positiven Aufgaben usw.“ Schön, mag diese unsere Bewegung im vorigen Sommer auch nach eurer Meinung blind und sogar „nicht recht gescheit“ gewesen sein, sozusagen „kreuzfahrerisch“, so könnt ihr doch nicht leugnen, wenn ihr nur ein wenig größer schaut, daß es eine überzeugungsvolle und großmütige Bewegung gewesen ist. Eine mächtige Idee erwachte und erweckte und zog vielleicht Hunderttausend, vielleicht Millionen Seelen mit einem Schlage aus der Gleichgültigkeit, dem Zynismus und dem Schmutz, in dem sie sich bis dahin gewälzt. Wie ihr wißt, hält man unser Volk bis jetzt noch, wenn auch für gutmütig und geistig sogar sehr begabt, doch für eine dunkle, elementare, erkenntnislose Masse, die ohne Ausnahme Lastern und Vorurteilen ergeben und fast durchweg sittenlos ist. Nun aber erdreiste ich mich, etwas auszusprechen, das man, wenn man will, ein Axiom nennen kann, und zwar: Um über die sittliche Kraft eines Volkes und darüber, zu was es in Zukunft fähig sein kann, zu urteilen, muß man nicht den Grad der Verderbnis, bis zu der es sich zeitweilig und womöglich in seiner Mehrzahl selbst erniedrigt, in Betracht ziehen, sondern nur die Geisteshöhe, bis zu der es sich wird emporschwingen können, wenn die Zeit dazu gekommen sein wird. Denn Verderbnis ist nur ein temporäres Unglück und hängt so gut wie immer von den vorhergehenden und vorübergehenden Umständen ab, von der Sklaverei, der Unterdrückung, Verrohung; die Gabe aber der Großmut ist ewig, elementar, ist eine Gabe, die mit dem Volke geboren wird und um so höher zu ehren ist, wenn sie durch Jahrhunderte der Sklaverei, des Unglücks und der Armut sich trotzdem im Herzen dieses Volkes unverletzt erhalten hat.
Foma Daniloff war dem Ansehen nach vielleicht eines der allergewöhnlichsten und unauffälligsten Exemplare des russischen Bauern, so unauffällig wie das russische Volk selber. – Oh, viele haben dieses Volk überhaupt noch nicht bemerkt! – Möglich, daß er seinerzeit nicht ungern ohne Arbeit war und ein Gläschen trank, möglich, daß er nicht einmal viel betete, wenn er auch natürlich seinen Gott nie vergaß! Und plötzlich befiehlt man ihm nun, seinen Glauben zu ändern, – unter Androhung des Märtyrertodes! Dabei nicht zu vergessen, was das für eine Folter ist, diese asiatische Folter! Vor ihm sitzt der Chan in eigener Person und verheißt ihm seine Gnade und alles Schöne. Und Daniloff begreift nur zu gut, daß seine Weigerung den Mächtigen unbedingt reizen wird und es die Eigenliebe der Kiptschaken kränken muß, daß „ein Christenhund es wagt, den Islam so zu verachten“. Doch trotz allem, was ihn erwartet, nimmt dieser unansehnliche russische Mensch die grausamen Qualen auf sich und stirbt, seine Peiniger in Erstaunen setzend. Wißt ihr auch, daß von uns kein einziger das getan hätte? Vor aller Augen leiden, mag zuweilen sogar angenehm sein, hier aber ging doch die Qual ganz weltfern vor sich, in einem stummen Winkel: keiner sah ihn; und Foma selber konnte nicht wissen, daß seine Tat über das ganze Land der Russen hin bekannt werden würde. Ich glaube, gar manchen großen Märtyrern, sogar solchen aus den ersten Jahrhunderten des Christentums, gereichte es, wenn sie das Kreuz auf sich nahmen, nicht wenig zum Trost und zur Erleichterung, sich sagen zu können, daß ihr Tod den Zaghaften und Schwankenden ein Beispiel sei und noch mehr Jünger für Christus werben werde. Foma Daniloff konnte selbst diesen großen Trost nicht haben: er war allein unter seinen Henkern – niemand, mußte er sich sagen, würde erfahren, was mit ihm geschah. Er war noch jung und hatte Weib und Kind in der Heimat, – niemals würde er sie wiedersehen – doch sei es! „Wo ich auch bin, gegen mein Gewissen kann ich nicht handeln; ich wähle den Märtyrertod,“ – Wahrheit um der Wahrheit willen und nicht zum Ruhme! Und weder Lug noch Trug noch sophistisches Spiel mit dem eigenen Gewissen: „Werde den Islam einfach zum Schein annehmen, errege lieber keinen Anstoß, es wird ja doch niemand sehen, später kann ich ja Buße tun, das Leben ist lang, werde der Kirche spenden, Gutes tun ...“ Nichts davon war in ihm, sondern nur wundernehmende, uranfängliche, elementare Ehrlichkeit. Nein, ich glaube nicht, daß wir ebenso gehandelt hätten!
Doch das sind wir, – aber für unser Volk, wiederhole ich, hat die Heldentat Daniloffs vielleicht sogar nicht das geringste Verwunderliche. Das ist es ja, daß hier geradezu ein Symbol des russischen Volkes geboten wird, eine ganze Darstellung unseres Volkes: deswegen berührt dieser Tod mich so nah und auch euch, natürlich auch euch! Gerade so liebt unser Volk die Wahrheit nur um der Wahrheit willen und nicht um des Ruhmes willen. Möge es auch noch so roh und gemein und sündig und unscheinbar sein; doch laßt nur seine Zeit kommen, laßt nur die Zeit der Volkswahrheit anbrechen, so werdet auch ihr erstaunen über seine Geistesfreiheit, die seine Größe dann vor dem Joch des Materialismus, der Leidenschaften, der Geld- und Habgier, und sogar unter Androhung des grausamsten Foltertodes, beweisen wird. Und all das wird es einfach, ohne Phrasen und Gesten tun, nur fest in seiner Überzeugung, ohne Belohnung oder Lob zu verlangen, ohne mit seiner Tat zu prahlen: „Woran ich glaube, das bekenne ich auch.“
Wißt, man muß die Wahrheit nicht zu umgehen suchen: ich glaube, daß wir solch ein Volk nichts mehr lehren können. Das ist ein Sophismus, versteht sich, doch kommt er einem zuweilen unwillkürlich in den Sinn. Oh, natürlich, wir sind gebildeter als das Volk, aber was sollen wir es denn lehren – fragt es sich! Ich rede hier nicht von den Handwerken, nicht von der Technik, nicht von der Mathematik, – das werden ihm auch die zugereisten Deutschen schon für Lohn beibringen, wenn wir es selbst nicht tun. Nein, aber wir, was sollen wir es lehren? Wir sind doch Russen, sind Brüder diesem Volke und folglich verpflichtet, es zu erleuchten. Was können wir ihm Moralisches, welches Höhere können wir ihm geben, was ihm erklären, und womit diese „dunklen“ Seelen erleuchten? Volksaufklärung ist unser Recht und unsere Pflicht im höchsten christlichen Sinne: wer das Gute weiß und das wahrhafte Wort des Lebens kennt, der muß, der ist verpflichtet, es seinem nichtwissenden, im Dunkel irrenden Bruder zu sagen, lehrt uns die Bibel. Was sollen wir nun dem Irrenden sagen, was er selbst nicht besser wüßte als wir? Zuerst natürlich, daß „lernen nützlich ist und man lernen muß“, – nicht wahr? Aber das Volk hat schon vor uns gesagt: „lernen – ist Licht, nicht lernen – ist Finsternis“. Besiegung der Vorurteile, zum Beispiel, Vernichtung der Götzen? Aber in uns selber ist doch solch eine Unmenge von Vorurteilen, und Götzen haben wir uns so viele zugelegt, daß das Volk uns offen sagen wird: „Arzt, heile dich selber.“ – Und unsere Götzen versteht es bereits ganz vorzüglich zu erkennen! Oder sollen wir es Selbstachtung lehren, persönliche Würde? Aber unser Volk, als Ganzes genommen, achtet sich selber viel mehr als wir uns, ehrt und begreift seine Würde viel tiefer als wir. In der Tat, wir sind so furchtbar in uns selbst verliebt, aber wir achten uns dabei doch nicht im geringsten, und persönliche Würde, einerlei worin sie auch bestände, gibt es bei uns überhaupt nicht. Oder sollen wir dem Volk etwa Achtung vor fremden Überzeugungen beibringen? Unser Volk beweist schon seit Peters des Großen Zeiten, daß es auch die Überzeugungen Fremder zu achten versteht, wir aber verzeihen ja nicht einmal unter unseresgleichen die kleinste Abweichung von unseren Überzeugungen, und wer mit uns nicht übereinstimmt, den halten wir einfach für einen Dummkopf, wobei wir ganz vergessen, daß, wer so leicht die Achtung für andere verliert, in erster Linie sich selbst nicht achtet. Oder sollen wir etwa das Volk Glauben an sich und seine Kräfte lehren? Das Volk hat Foma Daniloffs zu Tausenden, wir aber glauben überhaupt nicht an russische Kräfte, ja, und halten diesen Unglauben noch für höhere Bildung, und es fehlt nicht viel, auch noch für Heldenhaftigkeit. Aber so sagt doch, was können wir das Volk denn lehren? Wir verabscheuen, wir hassen sogar all das, was unser Volk liebt und ehrt, und wonach sein Herz sich sehnt. Nun also: was sind wir denn für Volksfreunde? Man wird vielleicht entgegnen, daß wir folglich das Volk nur um so mehr lieben, wenn wir, ihm Besseres wünschend, seine Unwissenheit verabscheuen. O nein, meine Herren, keineswegs: wenn wir wahrhaft und in der Tat unser Volk liebten und nicht nur in Artikeln und Broschüren, so würden wir etwas näher zu ihm hingehen und uns bemühen, erst einmal das kennen zu lernen, was wir jetzt, wie es uns gerade beliebt, nach europäischer Schablone in ihm vernichten wollen: dann würden wir vielleicht selbst so viel Neues lernen, wie wir uns jetzt noch nicht einmal träumen lassen.
Übrigens haben wir einen Trost: unseren großen Stolz vor unserem Volke. Darum verachten wir es ja auch so: verachten es, weil es national ist und aus seiner ganzen Kraft auf dieser seiner Nationalität besteht, wir aber – wir haben kosmopolitische Überzeugungen, haben uns als unser Ziel die Allmenschheit gesetzt und uns über unser Volk somit selbst hinausgehoben. Nun, und das ist ja unsere ganze Zwietracht, unser ganzer Bruch mit dem Volk. Und so sage ich denn meine Meinung: versöhnen wir uns mit ihm in diesem Punkte, so hört sofort auch unser Zwist mit ihm auf. Dazu aber gibt es eine Möglichkeit, die außerdem sehr leicht zu finden ist. Im übrigen wiederhole ich nochmals nachdrücklichst, daß sogar unser allerschroffster Widerspruch im Grunde nur eine – Selbsttäuschung ist.
Doch was ist das nun für eine Versöhnungsmöglichkeit?
Zuerst hebe ich das am meisten Bestrittene hervor und beginne ohne weiteres damit:
„Jedes große Volk glaubt und muß glauben, wenn es nur lange am Leben bleiben will, daß in ihm, und nur in ihm allein, die Rettung der Welt liegt, daß es bloß lebt, um an die Spitze aller Völker zu treten, sie alle in das eigene Volk aufzunehmen und sie, in harmonischem Chor, zum endgültigen, ihnen allen vorbestimmten Ziele zu führen.“
Ich behaupte, daß es so mit allen großen Völkern der Erde war, mit den ältesten, wie mit den jüngsten, daß nur dieser Glaube allein sie zu der Möglichkeit, jedes zu seiner Zeit einen großen Einfluß auf die Schicksale dir Menschheit auszuüben, erhoben hat. So war es zweifellos mit dem alten Rom, und so war es später mit dem zweiten Rom in der katholischen Periode der Geschichte dieser Stadt. Als dann Frankreich seine katholische Idee erbte, geschah ganz dasselbe auch mit Frankreich, und im Zeitraum von fast zwei Jahrhunderten, bis zu seinem Sturz in unserem Jahrhundert und seiner jetzigen Resignation, glaubte Frankreich sich zweifellos die ganze Zeit über an der Spitze der Völker, hielt sich, wenigstens moralisch, zeitweilig aber auch politisch, für ihren Führer und Wegweiser zur Zukunft. Danach strebte freilich auch Deutschland in seinen Träumen und stellte der katholischen Weltidee und ihrer Autorität seinen Protestantismus und die unbegrenzte Freiheit des Geistes und der Forschung gegenüber. Ich wiederhole, dasselbe geschieht mehr oder weniger mit allen großen Nationen auf der Höhe ihrer Entwicklung. Man wird mir sagen, daß das nicht wahr sei, daß das ein Irrtum von mir sei, und wird mich auf das Bewußtsein dieser selben Völker aufmerksam machen, auf die Erkenntnis ihrer Gelehrten und Denker, die gerade auf die gemeinschaftliche, die vereinte Bedeutung der europäischen Nationen hingewiesen haben, der Nationen, die vereint an der Schöpfung und Vollendung der europäischen Zivilisation mitgewirkt haben ... nun, und ich werde diesen Einwand selbstverständlich nicht ohne weiteres abweisen. Doch abgesehen davon, daß solche Vernunftschlüsse im allgemeinen gewissermaßen das Ende des lebendigen Lebens eines Volkes bedeuten, will ich einstweilen nur auf eines hinweisen: diese selben kosmopolitischen Denker haben, was sie da auch von der Weltharmonie der Nationen geschrieben, immerhin zu gleicher Zeit und meistenteils mit unmittelbarem, lebendigem und aufrichtigem Gefühl, ganz so wie die Masse ihres Volkes, fortgesetzt geglaubt, daß in diesem Chor der Nationen, die die Weltharmonie und die gemeinsame Zivilisation ausmachen, gerade sie (sagen wir, zum Beispiel, die Franzosen) das Haupt dieser ganzen Vereinigung sind, sie die vordersten, sie diejenigen, denen es vorherbestimmt ist, zu führen, die anderen aber ihnen nur nachfolgen: daß sie (die Franzosen) von diesen anderen Völkern nun, meinetwegen, vielleicht auch etwas entlehnen, doch immerhin nur etwas, daß dafür aber jene anderen Völker von ihnen alles übernehmen, wenigstens alles Erstrangige, und nur von ihrem Geist und von ihrer Idee zu leben vermögen, ja, und ihnen überhaupt nichts übrigbleibe, als sich schließlich ihrem Geiste anzuschließen und sich mit ihnen, den Franzosen, früher oder später zu verschmelzen. Und auch in dem heutigen resignierten und innerlich zerfallenen Frankreich lebt noch eine derartige Idee, die eine neue, doch meiner Meinung nach vollkommen natürliche Phase gerade seiner früheren katholischen Weltidee in ihrer Entwicklung ist; und nicht weniger als die Hälfte aller Franzosen glaubt auch jetzt, daß in ihr und nur in ihr allein die Rettung nicht nur Frankreichs, sondern der ganzen Welt liegt: das ist ihr französischer Sozialismus. Diese Idee – das heißt, dieser ihr Sozialismus – ist natürlich unwahr und aussichtslos; doch jetzt handelt es sich nicht mehr um ihre Qualität, sondern darum, daß sie jetzt vorhanden ist, ein lebendiges Leben lebt, und daß diejenigen, die sich zu ihr bekennen, nicht von Wehmut und Zweifeln befallen sind, wie alle übrigen Franzosen. Anderseits sehe man sich doch den Engländer an, einerlei was für einen, den Lord oder den Arbeiter, den Gelehrten oder den Ungebildeten, und man wird sich überzeugen, daß jeder einzelne Engländer sich bemüht, vor allen Dingen Engländer zu sein, in allen Lebenslagen Engländer zu bleiben, im öffentlichen wie im Privatleben, in der Politik wie in der Gesellschaft und im Geschäft: und sogar die Menschheit zu lieben, bemüht er sich nicht anders, denn nur als Engländer. Und wenn dem auch so wäre, wird man mir entgegnen, so wie ich es behaupte, dann würde doch solch ein Eigendünkel jedes großen Volkes unwürdig sein: der Egoismus und unsinnige Chauvinismus würden seine Bedeutung verringern oder gar sein nationales Leben schon gleich zu Anfang schädigen und verderben, statt ihm Lebenskraft zu geben. Man wird sagen, daß ähnliche sinnlose, stolze Ideen keiner Nachahmung wert seien, sondern, im Gegenteil, von der Vernunft, die alle Vorurteile vernichtet, ausgerottet werden müßten. Nun, wenn das von der einen Seite auch sein Wahres hat, so muß man doch, denke ich, nichtsdestoweniger die Frage auch von der anderen Seite nehmen: dann aber erscheint meine Meinung durchaus nicht erniedrigend, sondern sogar umgekehrt – erhebend. Was tut’s, daß der lebensfremde Jüngling träumt, dereinst ein Held zu werden? Glaubt mir: stolze und hochmütige Träume können diesem Jüngling viel nützlicher und lebenbringender sein als die „Vernünftigkeit“ eines Knaben, der schon mit sechzehn Jahren an der weisen Regel festhält, daß „Glück besser als Heldentum“ sei. Glaubt mir, das Leben jenes Jünglings wird nach durchlebter Armut und mißglückten Versuchen als Ganzes doch schöner sein als das behagliche Dahinvegetieren seines vernünftigen Schulkameraden, der sein Leben unter allen nur denkbaren Bequemlichkeiten verbringt. Solch ein Glaube an sich ist nicht unmoralisch und keineswegs eine Selbstüberhebung. Und ebenso ist es auch mit den Völkern: mag es auch vernünftige, friedliche und zufriedene Völker geben, die ohne Überschwenglichkeiten ein gutes Leben führen, Handel treiben, Schiffe bauen, und sich mit Behagen ihres Lebens freuen: nun, Gott hab’ sie selig, weit werden sie es nicht bringen! Daraus wird doch nur so eine echte Mittelmäßigkeit entstehen, von der die Menschheit nichts, aber auch nichts hat: die große Energie, die mächtige Selbstachtung fehlt ihnen! Jene Kraft ist nicht unter ihnen, die alle großen Völker treibt. Der Glaube daran, daß du der Welt das letzte Wort sagen willst und kannst, daß du die Welt mit dem Überfluß deiner lebendigen Kraft erneuen wirst, der Glaube an die Heiligkeit der eigenen Ideale, der Glaube an die Kraft der eigenen Liebe und des eigenen Verlangens, der Menschheit zu dienen, – nein, solch ein Glaube ist das Unterpfand für das allerhöchste Leben der Nationen, und nur mit ihm bringen sie der Menschheit den ganzen Nutzen, den zu bringen ihnen vorherbestimmt gewesen, jenen ganzen Teil ihrer Lebenskraft und organischen Idee, die die Natur selber bei ihrer Schöpfung ihnen vorausbestimmt hat, als Erbe der späteren Menschheit zu vermachen. Nur die eines solchen Glaubens fähige Nation hat das Recht auf ein höheres Leben. Der legendäre Ritter der alten Zeiten glaubte, daß er alle Hindernisse, alle Gespenster und Ungeheuer besiegen, daß er alles erreichen werde, wenn er nur treu sein Gelübde „Gerechtigkeit, Keuschheit und Armut“ bewahrte. Ihr sagt: „Ach, das sind Legenden und alte Lieder, an die nur ein Don Quijote noch glaubt! nicht derart sind die Gesetze des wirklichen Lebens der Nationen.“ Nun, dann fange und überführe ich euch zum Trotz und sage, daß auch ihr ganz solche Don Quijotes seid, daß auch ihr selbst ebensolch eine Idee habt, an die ihr glaubt und durch die ihr die Menschheit erneuen wollt!
In der Tat, woran glaubt ihr denn? Ihr glaubt – ja, und ich mit euch – an die Allmenschheit, das heißt, daran, daß dereinst vor dem Lichte der Vernunft und Erkenntnis die natürlichen Schranken und Vorurteile, die bis heute noch die freie Gemeinschaft der Nationen durch den Egoismus der nationalen Forderungen vereiteln, fallen werden, und daß dann erst die Völker beginnen können, in einem einheitlichen Geiste und einhellig wie Brüder zu leben, vernünftig und mit Liebe zu allgemeiner Harmonie strebend. Nun, meine Freunde, was kann es Höheres und Heiligeres geben, als dieser euer Glaube es ist? Und die Hauptsache ist noch: diesen Glauben werdet ihr nirgends in der ganzen Welt finden, bei keinem einzigen Volk zum Beispiel in Europa, wo die Charaktere der Nationen doch ungewöhnlich scharf umrissen sind, wo dieser Glaube, wenn er überhaupt da ist, nicht anders sich findet, als in Gestalt irgendeiner bloß apriorischen, einer vielleicht lebhaften und feurigen, aber doch nicht mehr als bloß studierstubenhaften Erkenntnis. Bei euch aber, das heißt nicht gerade bei euch, wohl aber bei uns, bei uns allen, uns Russen, – ist dieser Glaube allgemein lebendig und überwiegt alle anderen Ideen. Von uns glauben alle daran, sei es mit vollem Bewußtsein in der intellektuellen Welt, sei es ganz einfach mit lebendigem Instinkt im einfachen Volke, dem seine Religion schon befiehlt, an diesem selben Glauben festzuhalten. Ihr dachtet wohl, ihr wäret die einzigen „Allmenschen“ aus der ganzen russischen Intelligenz, die anderen aber nur Slawophile oder Nationalisten? So ist es denn doch nicht: die Slawophilen und Nationalisten glauben an ganz genau dasselbe, an was ihr glaubt, ja, und tun das noch viel stärker als ihr!
Ich nehme jetzt nur die Slawophilen: was war es denn, das sie durch ihre ersten Führer von ihrer Lehre verkündeten? Sie erklärten in klaren, treffenden Folgerungen: daß Rußland zusammen mit allen Slawen, und selbst an ihrer Spitze, der ganzen Welt das größte Wort sagen werde, das die Menschheit jemals vernommen hat, und daß dieses Wort gerade das Gebot der allmenschlichen Vereinigung sein wird, und zwar nicht im Geiste eines persönlichen Egoismus, in dem sich jetzt Menschen und Nationen künstlich und unnatürlich in ihrer Zivilisation vereinigen, zum „Kampf ums Dasein“, indem sie mittels positiver Wissenschaft dem freien Geiste moralische Grenzen setzen und zu gleicher Zeit sich gegenseitig Gruben graben, belügen, beschimpfen und verleumden. Das Ideal der Slawophilen war vielmehr die Vereinigung im Geiste der wahren großen Liebe, ohne Lüge und Materialismus, und auf Grund des persönlichen großmütigen Beispiels, wie es bestimmt ist, vom russischen Volke an der Spitze der freien panslawischen Vereinigung Europa gegeben zu werden. Ihr sagt allerdings, daran glaubtet ihr keineswegs, und all das seien nur Spekulationen der Gelehrtenstuben. Doch hier ist nicht das wichtig, was irgend jemand glaubt, sondern wichtig ist, daß bei uns alle, trotz ihrer ganzen Meinungsverschiedenheiten, in diesem einen endgültigen, gemeinsamen Gedanken der allmenschlichen Vereinigung sich treffen und übereinstimmen. Das ist eine Tatsache, die keinem Zweifel untersteht, und die an sich schon erstaunlich ist; denn dieses Gefühl gibt es noch nirgends, in keinem einzigen Volke, in einem solchen Grade: als ein so lebendiges und hauptsächliches Bedürfnis. Ist dem aber so, dann haben also auch wir, wir alle, eine feste und bestimmte Nationalidee: ja, gerade eine nationale Idee. Folglich wäre, wenn die nationale russische Idee zu guter Letzt nur die universale allmenschliche Vereinigung ist, das Ratsamste für uns, so schnell wie möglich unsere Uneinigkeiten beizulegen und national, d. h. Russen, zu werden. Unsere ganze Rettung liegt ja darin, daß wir nicht im voraus darüber streiten, wie und wann sich diese Idee verwirklichen wird, ob nach eurer oder nach unserer Annahme, sondern daß wir alle zusammen von der Betrachtung geradeswegs zur Tat übergehen. Aber gerade hier liegt nun freilich der wunde Punkt.
Denn wie seid ihr eigentlich zur Tat übergegangen? Ihr habt doch schon längst begonnen, schon vor langer, langer Zeit, aber was habt ihr denn für die Allmenschheit, das heißt zur Verwirklichung eurer Idee getan?
Ihr begannt mit ziellosem Umherstreichen durch Europa, mit dem heftigen Verlangen, euch in „Europäer“ zu verwandeln, wenn auch nur dem Anscheine nach. Das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch taten wir ja nichts anderes, als den Schein eines Europäertums annehmen. Wir zwangen uns europäischen Geschmack auf, aßen sogar allerhand ekelhaftes gepfeffertes Zeug nach europäischem Beispiel und bemühten uns krampfhaft, dabei das Gesicht nicht zu verziehen: „Seht, was ich für ein Engländer bin, kann nichts mehr ohne Paprika essen!“ Ihr glaubt vielleicht, daß ich euch verspotten will? Fällt mir nicht ein. Ich verstehe nur zu gut, daß man anders überhaupt nicht hätte anfangen können, „Europäer“ zu werden. Wir mußten gerade mit der Verachtung des Eigenen beginnen, und wenn wir ganze zwei Jahrhunderte auf diesem Punkt geblieben sind, uns weder vorwärts noch rückwärts bewegt haben, so wird das wohl die uns von der Natur bestimmte Frist gewesen sein. Allerdings, so ganz regungslos sind wir doch nicht geblieben: unsere Verachtung für das Eigene wuchs immer mehr, und besonders als wir anfingen, Europa etwas gründlicher zu verstehen. In Europa übrigens verwirrte uns die schroffe Absonderung der Nationen, die scharfe Zeichnung der Typen nationaler Charaktere nicht im geringsten. Unser Erstes war ja, daß wir „alles Entgegengesetzte abwarfen“ und den kosmopolitischen Typus des „Europäers“ annahmen, das heißt also, daß wir gleich am Anfang schon das Gemeinsame, was sie alle verbindet, herauszufinden verstanden, – und das ist sehr bezeichnend. Mit der Zeit noch klüger geworden, hielten wir uns darauf unmittelbar an die Zivilisation und glaubten sofort blind und kritiklos, daß in ihr allein das „Gemeinsame“, das berufen ist, die Menschheit zu vereinen, enthalten sei. Sogar die Europäer wunderten sich, wenn sie uns, die Fremdlinge, sahen, über diesen unseren begeisterten Glauben, um so mehr, als sie damals schon anfingen diesen selben Glauben bei sich zu verlieren. Begeistert empfingen wir Rousseau und Voltaire, freuten uns innigst mit dem reisenden Karamsin[26] über die Zusammenrufung der „Nationalstaaten“ im Jahre 1789, und wenn wir auch später, nach dem ersten Viertel unseres Jahrhunderts, mit den fortgeschrittensten Europäern in Verzweiflung gerieten über die untergegangenen Träume und zerschlagenen Ideale, so verloren wir doch nicht unseren Glauben und trösteten sogar noch die Europäer. Selbst die im Vaterlande „weißesten“ Russen wurden in Europa sofort „rot“ – gleichfalls ein außerordentlich charakteristischer Zug. Darauf, schon in der Mitte dieses Jahrhunderts, erachteten sich einige von uns bereits für würdig, zum französischen Sozialismus überzutreten, und sie nahmen ihn ohne das geringste Bedenken für die endgültige Lösung der allmenschlichen Vereinigung, also für die Erreichung unserer ganzen Idee, die uns bis jetzt mit sich fortgerissen. Auf diese Weise hielten wir für das realisierte Ziel das, was in Wirklichkeit der größte Egoismus war, was den Gipfel der Unmenschlichkeit, der ökonomischen Sinnlosigkeit und des politischen Wirrwarrs, den Gipfel der Verleugnung aller menschlichen Natur, den Gipfel der Vernichtung jeder menschlichen Freiheit ausmachte. Doch das, wie gesagt, beunruhigte uns weiter nicht. Im Gegenteil: sahen wir betrübtes Bedenken oder Nichtbegreifenkönnen mancher tiefen europäischen Denker, so nannten wir sie ohne Bedenken dumm. Wir glaubten widerspruchslos, und glauben ja auch jetzt noch, daß die positive Wissenschaft durchaus fähig sei, die moralischen Grenzen zwischen den Persönlichkeiten der einzelnen wie der Nationen zu bestimmen, – als ob die Wissenschaft, selbst wenn ihr das möglich wäre, diese Geheimnisse vor der Vollendung des Versuchs, das heißt, vor der Vollendung aller Schicksale des Menschen auf der Erde, entdecken könnte. Unsere Gutsbesitzer verkauften ihre leibeigenen Bauern und fuhren nach Paris, um dort sozialistische Blätter herauszugeben, und unsere Rudins[27] starben auf den Barrikaden. Währenddessen hatten wir uns aber schon so von unserer russischen Erde gelöst, daß wir jede Vorstellung davon verloren, bis zu welchem Grade solch eine Lehre sich von der Seele des russischen Volkes entfernt. Übrigens schätzten wir den russischen Volkscharakter nicht nur nicht, sondern sprachen unserem Volk überhaupt jeden Charakter ab. Wir vergaßen, an unser Volk auch nur zu denken, und waren in unerschütterlicher Ruhe überzeugt – ohne überhaupt zu fragen –, daß unser Volk sofort alles annehmen werde, worauf wir es hinweisen, richtiger: was wir ihm befehlen würden. In dieser Hinsicht hat es bei uns immer die komischsten Anekdoten über das Volk gegeben. Unsere Allmenschen blieben im Verhältnis zu ihrem Volk durchaus Gutsherren und Gutsbesitzer, und das sogar noch nach der Bauernreform.
Was aber haben wir damit erreicht? Wirklich sonderbare Ergebnisse: vor allem werden wir von ganz Europa spöttisch angesehen. Auf die allerklügsten Russen blickt man im Westen nur mit hochmütiger Herablassung. Davor hat sie nicht einmal die Emigration gerettet, auch die politische nicht. Um keinen Preis wollen uns die Europäer für ihresgleichen anerkennen, für keine Opfer und auf keinen Fall! „Grattez le Russe,“ sagen die Franzosen, „et vous verrez le Tartare,“ und so ist es noch heute. Unser Barbarentum ist bei ihnen zum Sprichwort geworden. Und je mehr wir ihnen zu Gefallen unsere Nationalität verachteten, um so mehr verachteten sie wiederum uns. Wir scharwenzelten vor ihnen, bekannten ihnen knechtisch unsere „europäischen“ Anschauungen und Überzeugungen; sie aber hörten uns herablassend kaum an und meinten gewöhnlich mit, nun ja, höflichem Lächeln, um uns schneller los zu werden, wir hätten das bei ihnen „nicht ganz richtig verstanden“. Es wundert sie, daß wir, die wir solche Tataren sind, auf keinerlei Art und Weise Russen werden können. Wir jedoch haben es ihnen niemals erklären können, daß wir nicht Russen, sondern Allmenschen sein wollen. Es ist wahr, in der letzten Zeit scheint ihnen doch irgend etwas aufgegangen zu sein: sie haben begriffen, daß wir etwas wollen, etwas, das für sie furchtbar und gefährlich ist; sie sagen sich, daß es unserer viele gibt, achtzig Millionen, daß wir alle europäischen Ideen kennen und verstehen, während sie von unseren russischen Ideen überhaupt nichts wissen, und daß sie, wenn sie auch etwas von ihnen wüßten, sie doch nicht verstehen könnten; daß wir alle Sprachen sprechen, sie aber nur die ihrigen – nun, und noch vieles andere scheint ihnen mit der Zeit halbwegs aufgegangen zu sein und ihren Verdacht erweckt zu haben. Kurz, die Folge davon war, daß sie uns die Feinde und zukünftigen Zerstörer der europäischen Zivilisation nannten. So haben sie unser leidenschaftliches Ideal, Allmenschen zu werden, verstanden!
Und doch können wir uns unmöglich von Europa lossagen. Europa ist uns zum zweiten Vaterlande geworden – ich selbst bin der erste, der sich leidenschaftlich zu Europa bekennt. Europa ist uns allen fast ebenso teuer wie Rußland. In ihm wohnt Japhets Stamm, und unsere Idee ist: die Vereinigung aller Nationen dieses Stammes – und sogar noch weiter, viel weiter, bis zu Sem und Ham. Was sollen wir da nun tun?
Als erstes und vor allen Dingen – Russen werden. Ist die Allmenschheit die russische Nationalidee, so muß vor allem ein jeder von uns erst Russe werden, das bedeutet aber so viel wie: „er selbst“. Dann wird sich vom ersten Schritt an alles verändern. Russe werden, heißt aufhören, sein eigenes Volk zu verachten. Sobald der Europäer sieht, daß wir unser Volk und unsere Nationalität achten, wird er sofort auch uns achten. In der Tat, je stärker und selbständiger wir uns in unserem nationalen Geiste entwickeln würden, desto stärkeren und tieferen Widerhall dürften wir im Europäer finden und ihm sofort verständlicher werden. Dann würde man uns auch nicht mehr hochmütig loswerden wollen, sondern würde uns gern zuhören. Auch äußerlich würden wir dann anders werden. Sind wir erst wir selbst geworden, so werden wir auch endlich Menschengestalt annehmen, und nicht wie bisher nur Affengestalt haben. Wir werden wie freie Wesen, nicht wie Sklaven oder Diener sein; und man wird uns dann für Menschen halten, nicht für internationale Landstreicher, nicht für die Elenden des Europäismus, Liberalismus und Sozialismus. Auch reden werden wir mit ihnen klüger als jetzt; denn in unserem Volke und seinem Geiste können wir neue Worte finden, die den Europäern bestimmt verständlicher sein werden. Und wir selbst werden dann einsehen, daß vieles von dem, was wir an unserem Volke verachtet haben, – nicht Finsternis, sondern Licht ist, nicht Dummheit, sondern im Gegenteil – Geist. Und haben wir erst das begriffen, dann werden wir Europa jenes Wort sagen, das man dort noch niemals gehört hat. Dann werden wir uns überzeugen, daß das wirkliche soziale Wort kein anderes Volk als unser Volk in sich trügt; daß in seiner Idee, in seinem Geiste das lebendige Bedürfnis nach der Allvereinigung der Menschheit liegt, nach einer Vereinigung, die volle Achtung für die Persönlichkeit jeder einzelnen Nation und für ihre Erhaltung, für die Erhaltung der Freiheit der Menschen in sich schließt, und die nur den Hinweis darauf enthält, worin diese Freiheit besteht: in der Vereinigung durch Liebe, sichergestellt bereits durch die Tat, durch das lebendige Beispiel, durch das Bedürfnis nach der wahrhaften Brüderlichkeit in der Wirklichkeit, – nicht aber durch die Guillotine, nicht durch Millionen gefällter Köpfe ...
Hm ... habe ich etwa wirklich jemanden überzeugen wollen? Das war ja nur ein Scherz. Doch – schwach ist nun einmal der Mensch: vielleicht liest es einer von den Knaben ... einer von der jungen Generation ...
... Ich habe mir eigentlich vorgenommen, niemals über unsere Belletristik im rein kritischen Sinne zu schreiben, außer wenn es einmal not tun sollte oder, sagen wir, bei einer besonderen „Veranlassung“. Diese Veranlassung hat sich nun[28] ganz plötzlich gefunden: ich bin vor ungefähr einem Monat auf eine dermaßen ernste und charakteristische Stelle in unserer modernen Literatur gestoßen, daß ich sie sogar mit Verwunderung gelesen habe. Der Schriftsteller Graf Leo Tolstoi – ein Künstler im wahrsten Sinne des Wortes und vorzüglicher Erzähler – hat in seinem Roman „Anna Karenina“ alles, was es Wichtiges in unseren gegenwärtigen russischen politischen und sozialen Fragen gibt, in einen Punkt zusammengefaßt. Und das Bemerkenswerteste: er hat es getan mit allen charakteristischen Nüancen unserer gegenwärtigen Zeit, geradeso, wie diese Frage sich uns heute stellt und – unbeantwortet bleibt ...
Über den Roman selbst will ich nur das Notwendigste sagen. Wie wir alle, las auch ich vor langer Zeit den Roman im „Russischen Boten“. Zuerst gefiel er mir sehr; dann, als Ganzes, weniger, wenn auch die Einzelheiten mich noch sehr interessierten. Es schien mir immer, daß ich alles schon einmal irgendwo gelesen hatte, und zwar in „Kindheit und Jugend“ und in „Krieg und Frieden“ desselben Grafen Tolstoi, und – daß es dort frischer gewesen wäre. Immer dieselbe Geschichte einer russischen Gutsbesitzersfamilie, wenn auch das jeweilige Sujet natürlich ein anderes ist. Personen wie Wronski, zum Beispiel, – einer der Helden des Romans –, die unter sich von nichts anderem als von Pferden sprechen, ja, nicht einmal fähig sind, von anderem als von Pferden zu sprechen, waren natürlich interessant genug, um einmal ihren Typ kennen zu lernen, doch sonst furchtbar einförmig und nur zu einer bestimmten Menschen- und Gesellschaftsklasse gehörig. Es schien, daß die Liebe dieses „Hengstes im Waffenrock“, wie ihn einer meiner Freunde nennt, überhaupt nur in ironischem Tone geschildert werden könnte. Als aber der Verfasser von der inneren Welt seines Helden nicht mehr ironisch, sondern im Ernst zu erzählen begann, da erschien mir das sogar langweilig. Doch plötzlich wurden alle meine Vorurteile verscheucht: es kam die Sterbeszene der Heldin (später wurde sie wieder gesund), und ich begriff die eigentlichen Ziele des Verfassers. Mitten in diesem flachen und brutalen Leben tauchte die ewige, große Lebenswahrheit auf und erhellte alles mit einem Schlages. Diese kleinlichen, leeren, verlogenen Leute wurden plötzlich zu aufrichtigen und wahrhaften „Menschen“, die wirklich wert waren dieses Namens – wurden es durch die natürliche Kraft des Naturgesetzes, den Tod. Die Schale fiel ab, und es erschien einzig die wahre Gestalt. Die Letzten wurden die Ersten, und die Ersten (Wronski) wurden plötzlich die Letzten, verloren ihre ganze Aureole und erniedrigten sich tief; doch wurden sie dadurch unvergleichlich besser, würdiger und wahrer, als sie als Erste gewesen waren. Haß und Lüge sprachen in Worten der Verzeihung und Liebe. An Stelle der stumpfen, weltlichen Begriffe trat reine Nächstenliebe. Alle verziehen und gaben den anderen recht. Die Sonderstellung und der Kastengeist verschwanden, und diese „Papiermenschen“ wurden plötzlich wirklichen Menschen ähnlich! Es gab keine Schuldigen: jeder beschuldigte sich selbst, und somit waren sie alle gerechtfertigt. Der Leser fühlt, daß es eine Lebenswahrheit gibt, die allerwirklichste und die allerunvermeidlichste, an die man glauben muß, und daß unser ganzes Leben und alle unsere Erregungen, wie die flachsten und schädlichsten, so auch die, welche wir oft für die höchsten halten, meistens nur kleinliche, phantastische Eitelkeiten sind, die vor dem Moment der Lebenswahrheit fallen und hinschwinden, sogar ohne sich zu verteidigen. Die Hauptsache war der Hinweis, daß dieses Moment wirklich ist, wenn es auch selten in seiner ganzen, erhellenden Klarheit und in manchem Leben vielleicht überhaupt nicht erscheint. Dieses Moment ist vom Dichter gefunden und uns in seiner ganzen furchtbaren Wahrheit gezeigt. Er hat bewiesen, daß diese Wahrheit wirklich vorhanden ist, nicht nur auf Treu und Glauben, nicht nur im Ideal, sondern sichtbar, vor unserem Auge. Gerade dieses, glaube ich, wollte uns der Dichter beweisen, als er sein Werk begann. Den russischen Leser an diese ewige Wahrheit zu erinnern, tat ja nur zu sehr not: wie viele hatten sie schon vergessen! Mit diesem Erinnern hat der Dichter eine gute Tat vollbracht, ganz abgesehen davon, daß er sie als ein Künstler von ungewöhnlicher Größe ausgeführt hat.
Darauf zog sich der Roman wieder hin, und dann plötzlich fand ich zu meinem Erstaunen eine Szene, die unsere „brennende Tagesfrage“ enthielt, eine Szene, die vor allen Dingen nicht etwa tendenziös hineingesetzt war, sondern die sich gerade aus dem ganzen künstlerischen Wesen des Romans von selbst ergab. Nichtsdestoweniger war ich überrascht und nicht wenig erstaunt: solch eine echte „Tagesfrage“ hatte ich denn doch nicht erwartet. Aus irgendeinem Grunde hatte ich nicht geglaubt, daß der Autor sich entschließen werde, seine Helden in ihrer Entwicklung bis zu solchen Extremen zu bringen. In der Tat: in diesen Extremen des Ergebnisses liegt ja gerade der Sinn der Wirklichkeit, und ohne den würde der Roman von etwas unbestimmter Art sein, die nicht entfernt weder den gegenwärtigen noch den wichtigsten russischen Interessen entspricht: es würde irgendein Winkel des Lebens dargestellt sein, mit beabsichtigter Ignorierung des Hauptsächlichsten und Aufregendsten in diesem selben Leben. Übrigens, glaube ich, verfalle ich hier in Kritik. Das aber ist, wie gesagt, nicht meine Absicht. Ich wollte nur auf eine Szene hinweisen, in der zwei Personen sich von einer Seite zeigen, von welcher sie für uns jetzt am charakteristischsten sind. Jener Typ Menschen, zu dem diese beiden gehören, ist vom Autor in den für uns interessantesten Gesichtskreis gestellt – ist in seiner gegenwärtigen sozialen Bedeutung erfaßt worden.
Beide sind Edelleute und echte Gutsbesitzer, und beide leben sie jetzt in der Zeit nach der Bauernreform. Es ist noch nicht lange her, da waren sie Herren leibeigener Gutsbauern. Und nun stellt sich die Frage: was bleibt von diesen Edelleuten nach der Bauernreform noch übrig? Das ist die Frage, die der Verfasser wenigstens teilweise zu beantworten versucht hat. Der eine von ihnen, Stiwa Oblonski, ist Egoist, feiner Epikureer, wohnt in Moskau und ist dort Mitglied des „Englischen Klubs“. Solche Leute hält man gewöhnlich für unschuldige und liebenswürdige Bonvivants, für Lebeleute, die niemanden stören, für geistreiche und bloß zu ihrem Vergnügen lebende Menschen. Meistens haben sie eine zahlreiche Familie; mit der Frau und den Kindern gehen sie freundlich um, doch denken sie wenig an sie. Besonders gefallen ihnen leichte Frauenzimmer, versteht sich – von der anständigen Sorte. Sie sind wenig gebildet, doch lieben sie alles Schöne, Elegante und die Kunst natürlich, und ganz besonders gern hören sie sich selbst reden und die Unterhaltung beherrschen.
Als die Bauernreform durchgeführt wurde, begriff Stiwa Oblonski sofort die ganze Sachlage: er rechnete nach und überlegte, daß ihm immerhin noch ein gewisses Einkommen verblieb, somit also kein Grund vorhanden war, sein Leben zu verändern, und im übrigen: – après moi le déluge. Sich mit Gedanken an die Zukunft seiner Frau und Kinder zu beunruhigen, das fiel ihm im Traume nicht ein. Die Reste seines Vermögens und seine Verbindungen bewahrten ihn vor dem Leben eines Hochstaplers; würden aber seine „Einnahmen“ durch die Reform vollständig verloren gegangen sein, und hätte er nicht länger, ohne selbst etwas zu tun, seine Einkünfte einkassieren können, so würde er vielleicht auch ein raffinierter Dieb geworden sein, selbstverständlich einer, der mit allen Anstrengungen des Verstandes, zuweilen sogar eines sehr scharfen Verstandes, versuchte, wenigstens ein möglichst anständiger und vornehmer Dieb zu bleiben. Früher kam es natürlich vor, daß er, um eine Kartenschuld oder eine Geliebte zu bezahlen, seine Leibeigenen als Soldaten verkaufte; doch solche Erinnerungen peinigten ihn nie, ja, er vergaß sie einfach. Ist er auch Aristokrat, so hat er doch selber seinen Adel niemals geschätzt. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft aber hat er für ihn überhaupt aufgehört. Für ihn gab’s nur den „Zufallsmenschen“, dann den Beamten von einem gewissen Range ab und ferner den Reichen. Der Eisenbahnaktionär und der Bankier wurden eine Macht für ihn, und alsbald suchte er ihre Bekanntschaft und Freundschaft.
Das Gespräch entspinnt sich aus dem Vorwurf, den Lewin, sein Verwandter (gleichfalls ein Gutsbesitzer, doch der vollkommen entgegengesetzte Typ: der Herr, der auf seinem Gute wohnt und es sogar selbst bewirtschaftet) Oblonski macht, weil dieser zu den „Eisenbahnleuten“ fährt, zu ihren Diners und Festen, zu zweideutigen, nach Lewins Meinung, schädlichen und schändlichen Menschen. Oblonski widerspricht ihm scharf. Überhaupt hat sich ihr Verhältnis zueinander seit der Verheiratung Lewins mit Oblonskis Schwägerin etwas zugespitzt. Hinzu kommt noch, daß in unserem Jahrhundert der Spitzbube, der den Ehrenmann widerlegt, diesem immer „über“ ist; denn er hat den Anschein der Würde, die in der gesunden Vernunft liegt, während der Ehrenmann, der leicht einem Idealisten gleicht, gewöhnlich den Anschein eines Narren hat. Die beiden Jäger sind in einer Bauernscheune, wo sie im Heu übernachten. Oblonski erklärt, daß es unsinnig wäre, die „Eisenbahnleute“, ihre Intrigen, ihren schnellen Verdienst, das Konzessionen Erbitten und Wiederverkaufen, zu verachten; daß sie ebensolche Leute seien wie die anderen, Leute, die mit Mühe und Verstand arbeiteten, ganz so wie alle; und schließlich sei das Ergebnis ihrer Arbeit ein viel bedeutenderes: sie geben uns die Eisenbahn.
„Aber jeder Erwerb, der zu der geleisteten Arbeit in keinem Verhältnis steht, ist unehrlich,“ sagte Lewin darauf.
„Ja, wer bestimmt denn das Verhältnis?“ fuhr Oblonski fort ... „Du hast die Grenze zwischen der ehrlichen und unehrlichen Arbeitsleistung nicht festgesetzt. Daß ich ein größeres Gehalt beziehe als mein Sekretär, obgleich er die Sache viel besser versteht, als ich, – das ist also unehrlich?“
„Ich weiß nicht ...“
„Nun, dann werde ich es dir sagen: daß du von deinem Gute überflüssige, sagen wir, fünf Tausend erhältst, dieser Bauer aber, wie er auch arbeiten mag, nicht mehr als fünfzig Rubel bekommt, ist genau so unehrlich wie das, daß ich ein größeres Gehalt als mein Sekretär beziehe ...“
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„Nein, erlaube,“ unterbrach ihn Lewin. „Du sagst, es sei ungerecht, daß ich fünf Tausend bekomme und dieser Bauer nur fünfzig: das ist wahr. Das ist ungerecht, und ich fühle es auch, aber ...“
„Ja, du fühlst es, aber du gibst ihm nicht dein Gut,“ sagte Oblonski, als ob er Lewin absichtlich reizen wollte.
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„Ich gebe es nicht, weil das niemand von mir verlangt, und selbst wenn ich’s wollte, so darf ich es nicht fortgeben ... und es ist ja auch niemand da, dem ich’s geben könnte.“
„Gib es diesem Bauer, er wird es nicht ablehnen.“
„Ja, aber wie geb’ ich es ihm denn? Soll ich etwa zu ihm gehen und einen Kaufkontrakt mit ihm abschließen?“
„Das weiß ich nicht. Wenn du jedoch überzeugt bist, daß du kein Recht hast ...“
„Ich bin durchaus nicht überzeugt! Im Gegenteil, ich fühle, daß ich nicht das Recht habe, mein Gut fortzugeben, daß ich Pflichten meinem Lande und meiner Familie gegenüber habe!“
„Nein, erlaube; wenn du aber diese Ungleichheit ungerecht findest, warum handelst du dann nicht so ...“
„Ich handle doch so, aber nur negativ, in dem Sinne, daß ich mich nicht bemühen werde, diesen Unterschied, der zwischen mir und ihm besteht, noch zu vergrößern.“
„Nein, verzeih, aber das ist paradox ...“
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„Also, mein Freund: entweder anerkennen, daß die gegenwärtige Einteilung der Gesellschaft gerecht ist, und dann seine Rechte verteidigen, oder gestehen, daß man ungerechte Vorzüge genießt, wie zum Beispiel ich es tue, und sich ihrer mit Vergnügen weiterbedienen.“
„Nein, wenn das ungerecht wäre, so könntest du dich dieser Vorteile nicht mit Vergnügen bedienen, wenigstens ich könnte es nicht. Für mich ist die Hauptsache: zu fühlen, daß ich nicht schuldig bin.“
Man wird mir zugeben müssen, daß dieses Gespräch unsere „brennende Tagesfrage“ aufwirft und sogar alles wiedergibt, was die letztere in sich schließt. Und wie viel bezeichnende, rein russische Züge! Erstens: vor vierzig Jahren fingen diese Gedanken kaum an sich in Europa zu verbreiten, wohl nicht vielen waren Saint-Simon und Fourier – die ersten „idealen“ Vertreter dieser Ideen – bekannt; bei uns aber, bei uns wußten vielleicht nur ein halbes Hundert Leute von dieser neuen Bewegung im Westen. Und heute streiten über diese „Fragen“ schon Gutsbesitzer auf der Jagd, auf dem Nachtlager in einer Bauernscheune, und streiten sogar in der charakteristischsten und kompetentesten Weise, so daß wenigstens die negative Seite der Frage von ihnen schon entschieden und unwiderruflich festgesetzt wird. Es sind allerdings Gutsbesitzer aus der hohen Gesellschaft, die sich im Englischen Klub ernsthaft zu unterhalten pflegen, die ihre Zeitungen lesen, alle Prozesse aus den Blättern und noch anderen Quellen kennen. Doch nichtsdestoweniger bleibt schon allein die Tatsache, daß so ein idealer Unsinn als das alltäglichste Gespräch solcher Gesellschaftsmenschen anerkannt wird, wie die Oblonskis und Lewins, die alles andere, nur keine Professoren oder Spezialisten sind, – diese Tatsache, sage ich, ist eines der charakteristischsten Merkmale des gegenwärtigen Zustandes der russischen Geister. Der zweite charakteristische, gleichfalls gut beobachtete Zug in diesem Gespräch ist, daß über die Gerechtigkeit dieser neuen Ideen ein Mensch urteilt, der für sie, d. h. für das Glück des Proletariers, des Armen, selbst nicht einen Pfennig geben, sondern ihm bei Gelegenheit noch das Letzte abrupfen würde. Doch mit leichtem Herzen und der Heiterkeit eines Witzbolds unterschreibt er sofort den Krach der ganzen Menschheitsgeschichte, erklärt ihre jetzige Verfassung für die Krone des Unsinns und sagt: „Ich bin damit vollkommen einverstanden.“ Wirklich auffallend, wie diese Oblonskis immer als die ersten mit allem einverstanden sind! Mit einem Satz verurteilt er die ganze christliche Ordnung, die Persönlichkeit, die Familie – oh, das macht ihm weiter nichts aus! Wir Russen haben keine Schulung in solchen Dingen; diese Herren aber, die das mit voller Schamlosigkeit eingestehen, die selbst erklären, daß auch sie erst seit gestern darüber nachdenken, entscheiden trotzdem eine Frage von solcher Bedeutung ohne das geringste Bedenken. Und hier haben wir gleich den dritten charakteristischen Zug, – dieser selbe Herr sagt nämlich unumwunden: „Also, mein Freund: entweder anerkennen, daß die gegenwärtige Einteilung der menschlichen Gesellschaft gerecht ist, und dann seine Rechte verteidigen, oder gestehen, daß man ungerechte Vorzüge genießt, wie z. B. ich es tue, und sich ihrer mit Vergnügen weiterbedienen.“ D. h. genau genommen erklärt er offen, indem er seine Meinung über ganz Rußland ausspricht – und es verurteilt – und somit auch über seine Familie, über die Zukunft seiner Kinder, daß dies alles ihn überhaupt nichts angeht: „Ich gebe zu, daß ich ein Spitzbube bin, bleibe aber Spitzbube zu meinem Vergnügen. Et après moi le déluge.“ Er ist ja nur deswegen so ruhig, weil er noch sein Vermögen hat; verlöre er es aber – warum sollte er da nicht Spitzbube werden? – das wäre doch der geradeste Weg! Und gerade dieser Staatsbürger, dieser Familienvater, dieser russische Mensch – welch ein echt russischer Charakter! Vielleicht findet man, daß er doch immerhin eine Ausnahme sei? Was kann er denn für eine Ausnahme sein!? Bitte sich doch nur zu erinnern, wieviel Zynismus wir in den letzten zwanzig Jahren gesehen haben, welch eine Leichtigkeit der Wendungen und Veränderungen, welch einen Mangel an jeder tieferen Überzeugung und welch eine Schnelligkeit in der Aneignung der ersten besten fremden Anschauung, versteht sich, um sie am nächsten Tage für zwei Kopeken wiederzuverkaufen! Nicht der geringste moralische Grund bei uns, außer – après nous le déluge.
Das Interessanteste aber ist, daß dicht neben diesem weit verbreiteten, herrschenden Typ ein ganz anderer steht – der Typ des russischen Edelmannes und Gutsbesitzers, der ein ausgeprägter Gegensatz jenes ersten ist. Ich meine den Lewin. Und solcher Lewins gibt es in Rußland Tausende, fast ebensoviel wie Oblonskis. Ich spreche hier nicht von seinem blonden Haar, nicht von seiner großen starken Gestalt, die der Künstler ihm im Roman verliehen hat; ich spreche nur von einem Zug seines Wesens, der dafür aber der auffallendste und bedeutungsvollste ist, und ich behaupte, daß dieser Zug sich bei uns in einer solchen Verbreitung findet, daß es einen fast wundernehmen kann – inmitten unseres Zynismus, unserer kalmückischen Stellung zur Arbeit! Seit einiger Zeit tut sich dieser Zug allüberall bei uns kund; die Menschen mit diesem Zug streben krampfhaft, fast krankhaft nach Antworten auf ihre Fragen; sie hoffen und glauben leidenschaftlich, obgleich sie beinahe noch nichts zu entscheiden verstehen. Dieser Zug ist vollständig in der Antwort Lewins ausgedrückt:
„Nein, wenn das ungerecht wäre, so könntest du dich dieser Vorteile nicht mit Vergnügen bedienen, wenigstens ich könnte es nicht. Für mich ist die Hauptsache: zu fühlen, daß ich nicht schuldig bin.“
Und tatsächlich beruhigt er sich nicht eher, als bis er bei sich entschieden hat, ob er schuldig ist oder nicht. Und bis zu welchem Grade steigert sich vorher seine Unruhe? Er geht bis zum Äußersten, und wenn es nötig ist, wenn es nur nötig ist, wenn er sich nur selbst beweist, daß es nötig ist, so wird er – im Gegensatz zu Oblonski, der da sagt: „Wenn auch als Spitzbube, so fahre ich doch fort, zu leben, zu meinem Vergnügen“ – so wird er vielleicht zu einem zweiten „Wlas“[29] werden, der in einem Anfall des Mitleids und der Angst sein Hab und Gut verschenkte und für den Bau eines Gotteshauses sammeln ging. Oder wenn er nicht für ein Gotteshaus sammeln geht, so wird er doch etwas Ähnliches tun und mit demselben Eifer. Ich beeile mich, zu wiederholen, daß ein Zug hier ganz besonders bemerkenswert ist: das ist diese Menge, diese ganz ungewöhnliche Menge solcher neuen Menschen, solcher neuen Wurzeln russischer Menschen, die der Wahrheit bedürfen, der Wahrheit ohne konventionelle Lüge, und die, um diese Wahrheit zu erreichen, alles, aber auch alles fortgeben. Diese Menschen tauchen gleichfalls seit den letzten zwanzig Jahren bei uns auf, und mit jedem Jahr werden ihrer mehr. Aber man hat sie auch schon früher, auch vor Peter, überhaupt immer schon vorausahnen können. Das ist das anbrechende zukünftige Rußland der ehrlichen Menschen, die einzig der Wahrheit bedürfen! Oh, sie sind auch furchtbar unduldsam: aus Unerfahrenheit verwerfen sie jeden Kompromiß, jede Erklärung sogar. Nur auf eines möchte ich noch mit allem Nachdruck hinweisen, – daß es ein wahrhaftes Gefühl ist, das sie treibt. Einer ihrer charakteristischsten Züge besteht darin, daß sie unter sich auffallend wenig übereinstimmen und vorläufig noch allen möglichen Parteien und Gruppen angehören: da gibt es Aristokraten und Proletariers, Gläubige wie Ungläubige, Reiche und Arme, Gelehrte und Laien, Greise und Backfische, Slawophile und Westler. Ja, diese Uneinigkeit, diese Verschiedenheit in den Überzeugungen ist sogar beispiellos, doch ihr Streben nach Ehrlichkeit und Wahrheit ist unerschütterlich, unablenkbar, und für das Wort der Wahrheit gibt jeder von ihnen sein Leben, Hab und Gut ... Vielleicht wird man behaupten, dieses sei bloß wieder Phantasie von mir, es gäbe bei uns gar nicht so viel Ehrlichkeit und solch ein Dürsten nach Ehrlichkeit. Ich aber bleibe dabei, daß es da ist, dicht neben der schrecklichsten Sittenverderbnis, daß ich sie sehe und fühle, diese emporsteigenden Menschen, denen die Zukunft Rußlands gehört, daß man blind sein muß, um sie nicht zu sehen, und daß der Künstler, der diesen abgelebten Zyniker Oblonski und diesen neuen Menschen Lewin gegeneinander hält, gleichsam diese aufgegebene, sittenlose, furchtbar vielköpfige russische Gesellschaft, die sich durch ihren eigenen Urteilsspruch bereits selber verurteilt hat, gegen die Gesellschaft der neuen Wahrheit hält, die Gesellschaft, die in ihrem Herzen die Überzeugung, sie sei schuldig, nicht ertragen kann, und die alles fortgibt, um ihr Herz von der Schuld zu befreien. Auffallend ist hierbei, daß unsere Gesellschaft sich fast nur in diese beiden Arten teilt – dermaßen groß sind sie und dermaßen umfassen sie das ganze russische Leben – versteht sich, wenn man von der Masse der völlig Gleichgültigen absieht. Doch der charakteristischste, der russischste Zug dieser „brennenden Tagesfrage“, auf die der Verfasser hinweist, besteht darin, daß sein neuer Mensch, sein Lewin, nicht versteht, die ihn beunruhigende Frage zu beantworten. Das heißt, in seinem Herzen hat er sie beinahe beantwortet – nicht zu seinem Vorteil, denn er argwöhnt, daß er schuldig ist: aber etwas Festes, Gerades und Reales in seiner ganzen Natur lehnt sich dagegen auf und hält ihn vorläufig noch von der letzten Entscheidung ab. Oblonski dagegen, dem es völlig einerlei ist, ob er schuldig oder unschuldig ist, entscheidet die Frage ohne das geringste Bedenken, vielmehr kann es ihm gerade so recht sein: „Wenn also alles blödsinnig ist und es nichts Heiliges mehr gibt, so kann man ja machen, was man will, für mich wird die Zeit noch ausreichen, – das Jüngste Gericht kommt ja noch nicht gleich.“ Bemerkenswert ist dabei, daß gerade die schwächste Seite der Frage Lewin verwirrt und vor den Kopf stößt – das ist so echt russisch und so richtig vom Verfasser beobachtet. Die Sache ist nämlich die, daß alle diese Gedanken und Fragen in Rußland – einzig eine Theorie sind: alle sind sie aus anderen Ländern mit anderen Verhältnissen zu uns eingeführt, aus Europa natürlich, wo sie schon längst ihre historische und praktische Seite haben. Unsere beiden Edelleute sind Europäer, und es ist nicht leicht, sich von der europäischen Autorität zu befreien: auch hier muß man Europa den Tribut zahlen. Und da verwechselt nun Lewin, dieses russische Herz, die einzig mögliche rein russische Lösung der Frage mit ihren europäischen Bedingungen: er verwechselt die christliche Lösung mit dem historischen „Recht“.
Stellen wir uns zur Übersicht folgendes vor:
Lewin steht und denkt an sein Gespräch mit Oblonski und wünscht in seiner ehrlichen Seele qualvoll, das ihn verwirrende Problem zu lösen.
„Ja,“ sagt er sich, halb entscheidend, „ja, wenn man so bedenkt, weshalb können denn wir, wie Weslowski vorhin sagte, essen, trinken, auf die Jagd gehen und nichts tun, während der Arme immer und ewig arbeiten muß? Ja, Oblonski hat recht, ich muß mein Gut unter den Armen verteilen und für sie arbeiten gehen.“
Steht da neben Lewin der Arme und spricht:
„Ja, du mußt das tun, es ist deine Pflicht, den Armen dein Gut zu geben und für uns zu arbeiten.“
So stellt sich denn heraus, daß Lewin vollkommen im Recht ist, der „Arme“ aber im Unrecht, natürlich wenn man die Sache sozusagen im höheren Sinne entscheidet. Aber darin liegt ja der ganze Unterschied der Auffassung dieses Problems. Denn seine moralische Lösung darf man nicht mit seiner historischen Lösung verwechseln; sonst gibt es eine heillose Konfusion, – ähnlich der, die sich auch jetzt noch in theoretischen russischen Köpfen fortsetzt, – in den Köpfen der Nichtswürdigen, gleich Oblonski, wie in den Köpfen derer, die reinen Herzens sind, gleich Lewin. In Europa haben das Leben und die Praxis schon die Frage gestellt – wenn auch absurd im Ideal ihres Schlusses, so doch immerhin real im Verlauf ihrer Entwicklung, und ohne zwei heterogene Auffassungen, die moralische und die historische, zu verwechseln, soweit dies überhaupt möglich ist. Vielleicht wird eine kurze Erklärung dieses Gedankens nicht überflüssig sein.
In Europa gab es einmal einen Feudalismus und gab es Ritter. Aber in reichlich tausend Jahren erstarkte das Bürgertum, nahm schließlich den Kampf mit den Rittern auf, besiegte sie und – setzte sich an deren Stelle. „Ôte-toi de là que je m’y mette.“ Indem nun die Bourgeoisie den Platz ihrer früheren Herren einnahm, umging sie vollständig das Volk, das Proletariat, und da sie dasselbe nicht als Bruder anerkannte, machte sie es zu ihrer Arbeitskraft, indem sie dadurch sich zum Wohlstand und ihm zu seinem täglichen Stück Brot verhalf. Unser russischer Oblonski entscheidet bei sich, daß er im Unrecht ist, will aber bewußt ein Nichtswürdiger bleiben, denn so hat er ein angenehmes Leben. Der ausländische Oblonski ist anderer Meinung als der unsrige: er hält sich für durchaus im Recht und ist selbstverständlich in seiner Art logischer; denn nach seiner Ansicht kann hierbei überhaupt nicht von Recht, sondern nur von „Geschichte“, von historischer Entwicklung der Dinge die Rede sein. Er nimmt den Platz des Ritters ein, weil er den Ritter mit roher Kraft besiegt hat, und er weiß nur zu gut, daß der Proletarier, der während seines Kampfes mit dem Ritter noch schwach war, leicht erstarken kann, ja, jetzt sogar schon mit jedem Tage stärker wird. Und er sagt sich, daß dieser ihn dann, wenn er ganz stark geworden, ebenso vom Platz verdrängen wird, wie er einst den Ritter verdrängt hat, und ihm ganz ebenso sagen wird: „Ôte-toi de là que je m’y mette.“ Wo ist denn hier „Recht“, hier handelt es sich doch nur um „Geschichte“! Oh, der Bourgeois würde zu einem Kompromiß gern bereit sein, würde sich gern irgendwie mit dem Feinde vertragen, – und er hat es ja auch schon versucht. Da er aber vorzüglich errät, ja, und auch die Erfahrung ihn gelehrt hat, daß der Feind nichts weniger als geneigt ist, sich mit ihm zu vertragen, sich in nichts teilen, sondern alles haben will, und daß außerdem Abtretungen seinerseits ihn, den Bourgeois, nur schwächen würden, so hat er sich also entschlossen, nichts abzutreten und sich zum Kampf vorzubereiten. Diese Stellung ist vielleicht hoffnungslos, doch ist es eine Eigenschaft der menschlichen Natur, sich vor dem Kampf Mut zuzusprechen. So verzagt denn auch der Bourgeois nicht, sondern verstärkt und verschanzt sich immer mehr, legt sich mit allen Mitteln ins Zeug und strengt sich mit aller Kraft an – solange noch Kraft vorhanden ist – und bemüht sich, den Gegner zu schwächen, wo er nur kann ... und das ist alles, was er vorläufig tut.
So steht die Sache heute in Europa. Allerdings, früher, vor nicht langer Zeit sogar, gab es auch dort eine moralische Auffassung der Frage, es gab Fourieristen und Cabetisten, es gab Kongresse, Diskussionen und Debatten über verschiedene äußerst feine, scharfsinnige Fragen. Jetzt jedoch haben die Führer des Proletariats das alles bis zu gelegenerer Zeit aufgeschoben. Sie wollen geradeswegs zum Kampf herausfordern; sie organisieren eine wahre Armee, gründen Vereine, gründen Kassen und sind von ihrem Sieg fest überzeugt: „Und dann, nach dem Siege, wird sich alles von selbst praktisch ergeben, obgleich sehr leicht möglich ist, daß es erst nach Strömen vergossenen Blutes dazu kommen wird.“ Der Bourgeois begreift, daß die Führer der Proletarier diese einfach durch die in Aussicht stehende Plünderung anlocken, und daß es sich folglich nicht lohnt, noch die moralische Seite der Sache hervorzuheben. Einstweilen aber gibt es auch unter den jetzigen Führern zuweilen noch solche, die das moralische Recht der Armen predigen. Die höheren Führer lassen diese Redner eigentlich nur zur „Verschönerung“ zu, um die Sache etwas „auszuschmücken“ und ihr den Anschein einer höheren Gerechtigkeit zu geben. Von diesen „moralischen“ Sozialisten sind viele nur Intriganten, viele aber auch echte Idealisten. Sie erklären offen, daß sie für sich nichts wollen und nur für die Menschheit arbeiten, nur nach einer neuen Einrichtung der Dinge streben, um die Menschheit glücklicher zu machen. Doch hier empfängt sie der Bourgeois schon auf ziemlich festem Boden und hält ihnen sofort vor, daß sie ihn zwingen wollen, der Bruder des Proletariers zu werden und mit ihm sein Hab und Gut zu teilen. Abgesehen davon, daß dieses der Wahrheit ziemlich ähnlich sieht, antworten ihnen die Führer, sie hielten ihn, den Bourgeois, überhaupt nicht für fähig, dem Volke ein Bruder zu werden, und darum würden sie einfach Gewalt anwenden, ihn aber von vornherein aus jeglicher „Brüderschaft“ ausschließen. „Die Brüderschaft,“ sagen sie, „wird sich später bilden, aus den Proletariern, ihr aber, – ihr seid hundert Millionen zum Tode verurteilter Köpfe und weiter nichts! Es ist aus mit euch, zum Glücke der Menschheit!“ Andere Führer sagen heute schon ganz offen, sie brauchten keine Brüderschaft, das Christentum sei Faselei und die zukünftige Menschheit werde sich nur auf wissenschaftlichen Grundlagen aufbauen. Alles das kann natürlich den Bourgeois weder ins Wanken bringen, noch überzeugen. Er wendet ein, daß diese „Gesellschaft auf wissenschaftlichen Grundlagen“ bloße Phantasie ist, daß jene Führer sich den Menschen anders vorstellen, als ihn die Natur geschaffen hat; ferner, daß es dem Menschen schwer und unmöglich ist, dem unbedingten Recht des Eigentums, der Familie und der Freiheit zu entsagen; daß sie von ihrem zukünftigen Menschen zuviel Opfer als Persönlichkeit verlangen, daß man den Menschen nur mit furchtbarem Zwang in dieser Weise hinaufzüchten könnte, nur dann, wenn man ständige Spionage und ununterbrochene Kontrolle der despotischsten Macht anwendete. Zum Schluß fordert der Bourgeois noch auf, ihm doch diejenige Macht zu nennen, die die zukünftigen Menschen zu einer freiwilligen, nicht gezwungenen Gesellschaft zu vereinigen vermöchte. Darauf heben die Führer den Vorteil und die Notwendigkeit hervor, die jeder Mensch anerkennen müsse, und weisen darauf hin, daß er selbst, um der Zerstörung und dem Tode zu entgehen, freiwillig alle verlangten Konzessionen machen werde. Ihnen wird sofort entgegnet, daß der Gesichtspunkt des Vorteils allein niemals die Kraft haben kann, eine volle und einmütige Vereinigung hervorzubringen; daß kein einziger Nutzen imstande ist, den Eigenwillen und die persönlichen Rechte zu ersetzen; daß diese Mächte und Motive viel zu schwach sind und somit diese ganze zukünftige Vereinigung ewig fraglich bleiben wird; daß der Proletarier, wenn die Führer mit nichts als der moralischen Seite der Sache kämen, ihnen überhaupt nicht zuhören würde, und daß er, wenn er es jetzt tut, wenn er ihnen zu folgen scheint und sich zur Schlacht vorbereiten läßt, dies nur deshalb tut, weil er durch die versprochene Plünderung der Reichen angelockt wird und von der Fata morgana des allgemeinen Zusammenbruchs fieberhaft erregt ist. Folglich muß man dann doch die moralische Seite der Frage ganz fallen lassen, da sie nicht der geringsten Kritik standhält, und muß sich einfach zum Kampf vorbereiten.
Das ist die europäische Auffassung der Sache. Die eine wie die andere Partei sind im Unrecht, und die einen wie die anderen werden an ihren eigenen Sünden untergehen. Wiederholen wir es: Am schwersten ist für uns Russen, daß bei uns sogar die Lewins über diese selben Fragen ins Nachdenken geraten, während die einzig mögliche Lösung des Problems, und gerade die russische Lösung, und diese nicht nur für die Russen allein, sondern für die ganze Menschheit – die ethische Auffassung der Frage ist, d. h. die christliche. In Europa ist diese Auffassung nicht denkbar, obgleich man auch dort, früher oder später, nach Strömen von Blut und hundert Millionen von Opfern, sie doch wird anerkennen müssen – denn in ihr allein liegt das Heil.
Wenn ihr fühlt, daß es euer Gewissen drückt, dieses „Essen, Trinken, Auf-die-Jagd-Gehen und Nichtstun“, und wenn ihr das wirklich fühlt, und wenn es euch wirklich so leid tut um die „Armen“, deren es so viele gibt, – so gebt ihnen euer Hab und Gut und gehet hin, um für sie alle zu arbeiten, und „erwerbt den Schatz im Himmelreich, dort, wo man nicht sammelt, noch nach Gütern trachtet –“. Geht wie „Wlas“, von dem es heißt:
„Groß war diese Kraft der Seele,
Die da auszog, Gott zu dienen.“
Und wollt ihr nicht wie Wlas für den Bau eines Gotteshauses sammeln, so sorgt für die Aufklärung der Seele dieses Armen, erleuchtet ihn, belehrt ihn. Selbst wenn alle Reichen ihre Reichtümer, wie ihr, unter alle Armen austeilen würden, so wäre das doch nur wie ein Tropfen im Meer. Darum aber muß man mehr für das Licht, die Aufklärung, die Wissenschaft und für ein Mehr an Liebe sorgen. Dann erst wird der Reichtum in Wirklichkeit wachsen, und zwar der wirkliche Reichtum; denn der liegt nicht in herrlichen Kleidern, sondern in der Freude der allgemeinen Vereinigung und der festen Hoffnung eines jeden, daß im Unglück ihm und seinen Kindern von allen geholfen werden wird. Und sagt nicht: „Ich bin bloß eine machtlose Eins,“ oder: „Wenn ich allein mein Vermögen verteile und dienen gehe, so kann ich damit doch nichts verbessern“. Im Gegenteil, wenn es nur einige wenige solcher gibt wie ihr, so ist die Sache schon durchgeführt. Und im Grunde ist es nicht einmal unbedingt nötig, sein Gut zu verteilen, – jede Unbedingtheit würde hier, in der Tat der Liebe, nur einer Form gleichen, einer Rubrik, dem Buchstaben. Die Überzeugung, daß man den Buchstaben erfüllt hat, führt nur zu Stolz und Faulheit. Man soll nur das tun, was einem das Herz befiehlt: gebietet es euch, eure Habe zu verteilen – so verteilt sie, gebietet es euch, für die anderen arbeiten zu gehen, – so geht. Doch auch hier tut nicht wie etliche Träumer, die sich sofort an die Schiebkarre machen, was ungefähr heißen soll: „ich will kein Herr sein, ich will arbeiten wie ein Bauer“. Die Schiebkarre ist wiederum – nur eine „Form“.
Im Gegenteil, wenn du fühlst, daß du als Gelehrter allen nützlich sein kannst, so gehe auf die Universität und behalte so viel von deinen Mitteln, als du dafür nötig hast. Nicht die Verteilung des Gutes ist notwendig und nicht das Anziehen des Bauernkittels: all das ist bloß Buchstabe und Formalität. Notwendig und wichtig ist bloß deine Entschlossenheit, alles zu tun um der tätigen Liebe willen, alles, was dir möglich ist, was du selbst aufrichtig als in deiner Kraft stehend anerkennst. Alle diese Bemühungen, sich zu „vereinfachen“ – sind ja doch nur Verkleidungen, die das Volk vor uns herabsetzen und einen selbst erniedrigen. Ihr seid alle zu „kompliziert“, um euch zu „vereinfachen“, ganz abgesehen davon, daß schon eure Bildung allein euch hindert, zum Bauern zu werden. Hebt lieber den Bauer bis zu eurer Bildung empor! Seid nur aufrichtig und treuherzig; das ist besser als jede „Vereinfachung“. Vor allen Dingen aber schreckt euch nicht selbst, sagt nicht: „einer ist keiner“ und ähnliches. Jeder einzelne, der aufrichtig die Wahrheit sucht, der ist schon furchtbar viel. Ahmt auch nicht jenen Phrasenmachern nach, die da ununterbrochen sagen, damit man sie höre: „Man läßt mich nichts machen, bindet mir die Hände, pflanzt mir in die Seele Enttäuschung und Verzweiflung!“ Das sind Helden gewisser Dichtungen schlechten Tones, posierende Faulenzer. Wer Nutzen bringen will, der kann auch mit buchstäblich gebundenen Händen unendlich viel tun. Ein echter Tatmensch sieht, wenn er auf den Weg tritt, sofort so viel Arbeit vor sich, daß er nicht anfangen wird, zu klagen, man lasse ihn nichts machen, sondern er wird sofort irgend etwas finden und wird das, was er sich vornimmt, dann selbst mit gebundenen Händen fertigzustellen verstehen.
Und das wissen auch alle wirklichen Tatmenschen. Wieviel Zeit nimmt bei uns schon allein das „Ergründen Rußlands“, denn nur äußerst, äußerst selten kennt ein Mensch unser Rußland. Die Klagen über Blasiertheit sind einfach dumm: die Freude an dem zu errichtenden Gebäude muß jede Seele erfüllen, auch wenn ihr vorläufig nur ein Sandkörnchen zum Bau des Gebäudes herbeibringt. Eure Belohnung aber sei – Liebe, wenn ihr sie verdient. Solltet ihr aber keiner Liebe bedürfen, so tut ihr doch eine Liebestat, also könnt ihr gar nicht umhin, euch um Liebe zu bewerben. Doch möge es auch niemand sagen, daß ihr es auch ohne Liebe tun müßtet, sozusagen zum eigenen Gewinn, und daß man euch anderenfalls mit Gewalt dazu zwingen werde. Nein, bei uns in Rußland muß man andere Überzeugungen wecken – und besonders was die Begriffe der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit betrifft. In der heutigen Welt hält man Zügellosigkeit für Freiheit, während die wirkliche Freiheit doch nur in der Überwindung seiner selbst und seines Willens liegt, so daß man zuletzt einen sittlichen Zustand erreicht, in dem man immer, in jedem Augenblick, sein eigener Herr ist. Die Zügellosigkeit der Wünsche führt nur zur Sklaverei. Das ist wohl der Grund, warum fast die ganze heutige Welt die Freiheit in der pekuniären Sicherstellung sieht, und in den Gesetzen, die diese pekuniäre Sicherstellung garantieren. „Hab’ ich Geld,“ heißt es, „so kann ich alles machen, was mir gefällt; hab’ ich Geld – so werd’ ich nicht untergehen, noch nötig haben, andere um Hilfe zu bitten; niemanden aber um Hilfe bitten, ist die höchste Freiheit.“ Und doch ist das in Wirklichkeit nicht Freiheit, sondern Knechtschaft, – Knechtschaft durch das Geld. Im Gegenteil, die allerhöchste Freiheit ist – nicht sparen und nicht sich mit Geld versorgen, sondern „unter alle verteilen, was man hat, und hingehen, um allen zu dienen“. Ist der Mensch dazu fähig, ist er fähig, sich bis zu solch einem Grade zu überwinden – so, sagt doch, ist er dann nicht wahrhaft frei? Darin liegt doch die höchste Offenbarung des Willens! Und dann, was ist in der heutigen gebildeten Welt „Gleichheit“? Eifersüchtiges Aufpassen des einen auf den anderen, Hochmut, Aufgeblasenheit und Neid: „Er ist klug, er ist ein Shakespeare, er rühmt sich mit seinem Talent; also muß man ihn erniedrigen, muß ihn vernichten.“ Währenddessen spricht die wirkliche Gleichheit: „Was geht es mich an, daß du talentvoller bist als ich, klüger und schöner als ich? Ich kann mich nur dessen freuen, denn ich liebe dich. Bin ich auch unansehnlicher als du, so versage ich mir doch als Mensch nicht die Achtung, und du weißt das wohl und achtest mich gleichfalls – deine Achtung aber macht mich glücklich. Bringst du mit deinen Begabungen mir und allen anderen hundertfach mehr Nutzen, als ich dir, so segne ich dich dafür, bewundere dich und bin dir dankbar; rechne ich doch meine Bewunderung für dich mir niemals zur Schande an: daß ich dir dankbar bin, ist mein Glück, und wenn ich, so viel wie in meinen schwachen Kräften steht, für dich und für alle arbeite, so geschieht das keineswegs, um mit dir abzurechnen, Freund, sondern nur – weil ich euch alle liebhabe.“
Wenn alle Menschen so sprechen werden, dann erst wird Brüderlichkeit auf Erden herrschen, und zwar nicht um irgendeines ökonomischen Vorteils willen, sondern aus der Fülle des freudigen Lebens heraus, aus der Überfülle der Liebe.
Man wird vielleicht entgegnen, daß das bloß eine Phantasie von mir sei, daß diese „russische Lösung des Problems“ – das „Himmelreich“ ist und selbiges höchstens im Himmel, nicht aber auf Erden möglich sei. Allerdings, die Oblonskis würden sich nicht wenig ärgern, wenn das Himmelreich anbräche. Doch muß man wenigstens in Betracht ziehen, daß in dieser Phantasie einer „russischen Lösung des Problems“ unvergleichlich weniger Phantastisches und unvergleichlich mehr Wahrscheinliches ist als in der europäischen Lösung. Solche Menschen wie „Wlas“ haben wir schon gesehen und sehen sie bei uns in allen Ständen und sogar recht oft; dagegen hat man dort den „zukünftigen Menschen“ noch nirgends gesehen, und selbst verspricht er ja auch, erst nach Vergießung ganzer Ströme von Blut zu kommen. Ihr sagt, mit wenigen Menschen dieser Art sei es nicht getan, man müsse nach gewissen allgemeinen Einrichtungen und Prinzipien streben. Doch selbst, wenn es solche Einrichtungen und Prinzipien geben würde, nach denen man fehlerlos die Gesellschaft bilden könnte, und selbst wenn man sie vor der Praxis erlangen könnte, einfach so a priori, einzig aus den Träumen des Herzens und der „wissenschaftlichen“ Zahlen, die zudem noch der früheren Einrichtung der Gesellschaft entnommen sind, – so wird sich doch mit anfertigen, mit nicht dazu eingedrillten Menschen keine einzige Regel durchführen, kein einziges von all den schönen Prinzipien verwirklichen lassen; im Gegenteil, diese würden nur lästig werden. Ich aber glaube schrankenlos an unsere zukünftigen und schon heraufkommenden Menschen, an diese selben, von denen ich vorhin gesagt, daß sie vorläufig noch nicht übereinstimmen, daß sie in kleinen Lagern und Gruppen zerstreut sind, von denen jedes und jede an eigenen Überzeugungen festhält, die aber dafür vor allen Dingen die Wahrheit suchen, und die, wenn sie nur wissen würden, wo die Wahrheit ist, bereit wären, für ihre Verwirklichung alles zu opfern, selbst das Leben. Glaubt mir, wenn sie endlich den wahren Weg finden und ihn betreten, so werden sie alle nach sich ziehen, und nicht gezwungen, sondern freiwillig wird man ihnen folgen. Ja, das vermögen schon heute die ganz wenigen zu tun. Und das ist dann der Pflug, mit dem man unseren neuen Schatz heben kann. Bevor ihr den Menschen predigt, wie sie sein sollen, zeigt es ihnen an euch selbst. Erfüllt selbst, was ihr verkündigt, und alle werden euch folgen. Ich begreife nicht, was hierbei Utopistisches, Unmögliches sein soll! Es ist wahr, wir sind sehr verderbt, sind kleinmütig – und darum glauben wir nicht und lachen. Doch jetzt liegt es fast nicht mehr an uns, sondern einzig an den Emporsteigenden, den Künftig-Zukünftigen. Das Volk ist reinen Herzens, es muß nur noch erleuchtet werden. Doch Menschen, die reinen Herzens sind, erheben sich auch mitten aus unserer Schar – und das ist das Allerwichtigste! Dies ist es, was man zuerst glauben muß, was zu sehen man verstehen muß. Denen aber, die reinen Herzens sind, noch ein Rat: Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung vor jedem ersten Schritt! Erfülle zuerst selbst, statt daß du andere zwingst –: das ist das ganze Geheimnis dieses ersten Schrittes.
... Ich bin wieder auf dem Lande und habe meine Freude daran ... Doch vor allem freut es mich, nicht im Auslande zu sein, nicht unsere sich dort herumtreibenden Russen vor Augen zu haben. Wahrlich, in unserer so volklichen, so politischen Zeit, da man gerade überall bei sich zu Hause Russen sucht, Russen erwartet, nur Russen will und fordert, in solch einer Zeit ist es zu schwer, im Auslande der Demoralisierung unserer expatriierten Intelligenz zusehen zu müssen, der Verwandlung echt russischen, noch rohen und vielleicht prachtvollen Menschenmaterials in erbärmliches, internationales Gesindel ohne Persönlichkeit, ohne Charakter, ohne Nationalität und ohne Vaterland. Ich rede nicht von den Vätern, – die Väter sind nun einmal nicht mehr anders zu machen. Nun, und – Gott mit ihnen! Ich rede von den unglücklichen Kindern, die sie dort im Auslande verderben. Die Väter werden jetzt sogar schon von unseren verschriensten Westlern lächerlich gefunden. Herr Burenin, der sich kürzlich als Berichterstatter auf den Kriegsschauplatz begeben hat, erzählt in einem Brief eine amüsante Begegnung mit einem unserer „Europäer“, der beständig im Auslande lebe, nur jetzt absichtlich auf den Kriegsschauplatz gekommen sei, um sich das „Schauspiel so eines Kampfes“ anzusehen, versteht sich, aus höflicher Entfernung, – und der im Waggon überall Witzchen gemacht, worüber diese Herren nun schon vierzig Jahre lang Witze machen: über den russischen Geist, die Slawophilen, usw. Er lebe nur darum im Auslande, soll er gesagt haben, weil es bei uns in Rußland „für einen ernsten und anständigen Menschen noch immer nichts zu tun gäbe“ ...
Vor zwanzig Jahren „emigrierten“ (ich bleibe bei diesem Wort) aus Rußland vornehmlich Gutsbesitzer, und seit der Zeit setzt sich die Emigration in jedem Jahre ungehindert fort. Natürlich emigrierten auch viele andere Leute, alle möglichen Menschen; doch waren es in der großen Mehrzahl, wenn nicht alle, Leute, die mehr oder weniger Rußland haßten; die einen aus moralischen Gründen, infolge der Überzeugung, „daß es in Rußland für so anständige und kluge Leute, wie sie, nichts zu tun gäbe“, die anderen vielleicht ohne jede Überzeugung, wenn man will, einfach aus physischem Haß: wegen des Klimas, wegen der Felder und Wälder, wegen der Gesetze und Bräuche, wegen des befreiten Bauern, ja, wegen der ganzen russischen Geschichte, mit einem Wort – wegen Rußland. Ich bemerke dazu, daß solch ein Haß sehr passiv, sehr ruhig und bis zur Apathie gleichmütig sein kann. Und dann kam noch die Befreiung der Bauern hinzu, und überdies erleuchtete plötzlich ungemein viele die Überzeugung, daß durch diese Befreiung alles verloren sei – das Land und die Landwirtschaft und der Adel und ganz Rußland. Es ist ja wahr, daß nach der Aufhebung der Leibeigenschaft die Landwirtschaft ohne genügende Organisation und Sicherstellung blieb und die Grundbesitzer infolgedessen den Kopf verloren und natürlicherweise eine solche Angst bekamen, wie es nach keinem staatlichen Umsturz mehr der Fall hätte sein können. Nun, und da fingen denn die Gutsbesitzer an ihre Güter zu verkaufen, und ein Teil von ihnen – und nicht der kleinste – zog ins Ausland. Was sie nun dort auch zu ihrer Rechtfertigung hervorheben mögen – sie können doch nicht, weder vor ihren Mitbürgern noch vor ihren eigenen Kindern verbergen, daß der Hauptgrund zu ihrer Emigration die Verlockung zum „Nichtstun“ gewesen ist. Jedenfalls aber: seit der Zeit wird das russische persönliche Landeigentum verkauft und gekauft, es ändert seine Herren allaugenblicklich, verändert sogar sein Aussehen, denn es wird eifrig entwaldet, – und in was es sich verwandeln, in wessen Händen es endgültig bleiben, aus welchen Leuten sich schließlich der neue russische Grundbesitzerstand zusammensetzen wird, all das ist schwer vorauszusagen, und doch liegt gerade darin, wenn man will, die wichtigste Frage der russischen Zukunft. Es scheint wirklich ein Naturgesetz zu sein, nicht nur in Rußland, sondern in der ganzen Welt: diejenigen, welche in einem Reiche das Land besitzen, die sind auch die Herren dieses Landes – in jeder Beziehung. Bei uns jedoch, wird man sagen, gibt es ja noch die Gemeinde, – die sei der „Herr“! Aber ... gehört denn etwa das Problem unserer Gemeinde bei uns schon zu den endgültig gelösten? Trat es denn nicht vor etwa fünfzehn Jahren gleichfalls in eine neue Phase, wie alles andere? Doch darüber später – vorläufig will ich, ohne sie weiter zu begründen, nur kurz meine Überzeugung darlegen. Es ist diese: wenn in einem Reiche die Verwaltung des Bodens eine ernste ist, dann wird, meiner Meinung nach, auch alles andere im Reich ernst sein, in allen Beziehungen, sowohl im großen Ganzen wie in den kleinen Einzelheiten. Jetzt müht man sich bei uns, zum Beispiel, um Bildung, müht sich um die Volksschulen. Ich aber glaube, daß Schule und Unterricht nur dann bei uns ernst und gründlich werden sein können, wenn unsere Landesverwaltung und Landwirtschaft ernstlich und gründlich organisiert sind; glaube ferner, daß man nicht durch eine Schule eine gute Landwirtschaft erzielt, sondern umgekehrt, nur durch eine gute Landwirtschaft – d. h. durch eine richtige Bodenverwaltung – eine gute Schule bilden kann, auf keinen Fall aber früher. Parallel diesem Beispiele geht alles: die Einrichtungen und die Gesetze und die Sittlichkeit und selbst die Verstandesentwicklung der Nation. Jede richtige Verwaltung des nationalen Organismus organisiert sich bloß dann, wenn im Lande gute Landwirtschaft getrieben wird. Dasselbe läßt sich gleichfalls vom Charakter der Landwirtschaft sagen: ist er aristokratisch, oder ist er demokratisch – immer wird so, wie er ist, auch der ganze Charakter der Nation sein.
Einstweilen aber spazieren unsere ehemaligen Gutsbesitzer im Auslande umher, in allen Städten und Kurorten Europas, machen die Preise der Restaurants steigen, und schleppen wie Millionäre Gouvernanten und Bonnen für ihre Kinder mit sich herum und kleiden die Kleinen in Spitzen und englische Kostüme mit kurzen Strümpfchen – Europa zur Schau. Europa aber sieht zu und wundert sich: „Wieviel reiche Leute es doch in Rußland gibt, und vor allen Dingen wie gebildete! Und wie sie nach europäischer Bildung streben! Natürlich hat man ihnen nur aus Despotismus die Auslandspässe vorenthalten! Und plötzlich zeigt es sich, daß es bei ihnen so viele Grundbesitzer und Kapitalisten und so viele Rentiers gibt, die sich von den Geschäften zurückgezogen haben, – ja sogar mehr als selbst in Frankreich, das doch das Land der Rentiers ist!“ Wollte man aber versuchen, Europa zu erklären, daß hier eine echt russische Erscheinung vorliegt und keine Spur von eigentlichem Rentiertum sich hierbei findet, sondern im Gegenteil die Verschwendung dieser Leute meist nur das Brennen eines Lichtes von beiden Enden bedeutet, so würde Europa an solch eine in Europa unmögliche Erscheinung selbstverständlich nicht glauben, würde mich überhaupt nicht verstehen. Und das wichtigste – diese Sybariten, die sich dort in den deutschen Kurorten und an den Schweizer Seen herumtreiben, diese Lukullusse, die ihr Leben in Pariser Restaurants zubringen, – sie wissen es ja selber und fühlen es sogar mit einem gewissen Schmerz voraus, daß sie ihr Kapital doch schließlich aufzehren, und daß ihre Kinder, diese selben kleinen Engelchen in englischen Kostümchen, vielleicht noch einmal in Europa werden Almosen erbitten müssen – und sie werden Almosen erbitten! –, wenn sie sich nicht in französische oder deutsche Arbeiter verwandeln wollen – und sie werden sich in französische und deutsche Arbeiter verwandeln! – „Aber ...“ denken sie, „après nous le déluge! Ja, und wer ist denn der Schuldige? Das sind doch nur alle diese unsere russischen Einrichtungen, unser ganzes plumpes Rußland, in dem ein anständiger Mensch immer noch nichts anfangen kann.“ So denken diese Herren; und die liberalsten von ihnen, die, welche man die höchsten und unverfälschtesten Westler der vierziger Jahre nennen könnte, die fügen vielleicht noch heimlich hinzu: „Nun, was tut’s, daß die Kinder ohne Vermögen bleiben, dafür erben sie die Idee, den edlen Sauerteig der wahren und heiligen Denkungsart. Fern von Rußland erzogen, werden sie weder die Popen kennen, noch das dumme Wort ‚Vaterland‘. Sie werden einsehen, daß das ‚Vaterland‘ nur ein Vorurteil ist und sogar das verderblichste der Welt. Aus ihnen werden edle, universale Menschen werden. Wir, ausschließlich wir, legen den Grund zu diesen neuen Menschen! Gerade dadurch, daß wir im Auslande den Erlös für unser Gut verleben, legen wir den Grund zu dem neuen internationalen Bürgertum, das früher oder später Europa erneuern wird, und die ganze Ehre dafür gebührt uns, uns Russen, denn wir haben zuerst angefangen.“ Übrigens, so reden bloß die „graulockigen“, das heißt soviel wie sehr wenige – sind denn etwa viel Koryphäen unter ihnen zu finden? Die praktischeren jedoch und nicht so literarisch-moralischen verlassen sich schließlich immer noch auf die „Verbindungen“. „Wir verleben hier unser Geld, das ist ja wahr, aber etwas gewinnen wir dabei doch, das sind: Bekanntschaften, Beziehungen, die dann im sogenannten ‚Vaterlande‘ uns gut zustatten kommen werden. Und zudem erziehen wir unsere Kinderchen wenigstens in liberalem Geiste und immerhin als Gentlemen – das aber sind doch lauter Hauptsachen. Verkehren werden sie nur in den vornehmsten und höchsten Sphären; der Liberalismus aber hat in diesen höchsten Sphären immer alles, was gentlemanlike war, gekennzeichnet und begleitet, denn dieser Gentlemanliberalismus ist für den höheren Konservatismus sozusagen sehr nützlich, was man bei uns längst begriffen hat. Nun, und wenn wir unsere Kinder in dieser Weise im Auslande aufwachsen lassen, so heißt das geradezu, daß wir sie zu Diplomaten erziehen. Was sind das doch für prachtvolle Stellen hier an den Gesandtschaften, Konsulaten, und dabei welch eine Unmenge solcher entzückender Plätzchen, und wie brillant sie dotiert sind! Wirklich, wie geschaffen für unsere Kinderchen: sind ruhig und gut und vorteilhaft und dauerhaft, und dabei immer ein angesehenes Amt. Und der Dienst so vornehm und die Arbeit – ach, die ist nicht der Rede wert, besteht ja nur im Verkehr mit den Russen im Auslande, selbstverständlich bloß mit denen, die anständiger aussehen; die anderen aber, die einem da auf den Hals kriechen und noch um Schutz bitten, – die, na, die schüttelt man einfach ab und behandelt sie, wie es Vorgesetzten geziemt: ohne sie anzuhören und von oben herab: ‚Wir glauben euch nicht. Ihr seid selber an allem schuld, worüber ihr klagt. Ihr glaubt wohl noch im lieben Vaterlande zu sein? Euretwegen sollen wir uns Unannehmlichkeiten zuziehen? Lohnt sich das denn überhaupt, und wie soll man eine fremde Obrigkeit solcher Leute wegen, wie ihr, belästigen? Seht doch erst in den Spiegel, wie ihr ausseht!‘ Und darin besteht der ganze Dienst. Oh, unsere Kinderchen werden schon verstehen, es im Leben zu etwas zu bringen. Ja, ja, wenn man nur so seine Verbindungen hat – das ist das erste, wofür ein Vaterherz sorgen muß. Das übrige kommt dann je nach Bedarf von selbst hinzu.“
Also, wie gesagt, in dieser Weise verlassen sich von den im Auslande lebenden alle nicht gerade „literarischen“ Väter mehr oder weniger auf Verbindungen. Aber – was sind denn Verbindungen? Nun, wenn sie auch ihre Bedeutung haben, so sind sie doch nur eine unzuverlässige Quelle. Es würde daher wirklich nicht schaden, wenn man sich noch mit etwas anderem versorgen würde – nun, sagen wir, mit ein wenig Kenntnis Rußlands und mit ein wenig eigenem Verstand, nur so auf alle Fälle, da man doch niemals wissen kann ... Und gerade jetzt, in der Epoche der Reformen und neuen Einrichtungen, wollen bei uns doch alle plötzlich nach eigenem Verstande leben – zweifellos eine Idee, die durch die Aufklärung zu uns gekommen ist. Das Unglück aber ist nur, daß bei uns noch nie so wenig individueller Verstand zu finden gewesen ist, wie jetzt, da ihn ein jeder haben will. Die Frage, warum das so ist, will ich lieber offen lassen, es ist auch nicht leicht, sie zu beantworten. Doch eine der Ursachen, warum unsere kleinen Püppchen einst, wenn sie große Puppen sind, zweifellos leere Köpfe haben werden – kenne ich nur zu genau; und obwohl sie alt ist, will ich doch noch auf sie hinweisen. Diese Ursache ... liegt in der russischen Sprache, d. h. in der mangelhaften Kenntnis der russischen, vaterländischen Sprache, die durch die Erziehung im Auslande, durch ausländische Gouvernanten und Bonnen bedingt wird. Derlei ist bei uns ja auch schon früher üblich gewesen, aber wohl niemals in dem Maße, wie jetzt, da soviel Püppchen im Auslande heranwachsen. Nehmen wir den Fall an, eines dieser Herrensöhnchen soll Diplomat werden: nun, die Diplomatensprache ist bekanntlich die französische, „folglich genügt es, wenn man die russische nur grammatisch kennt“. Ist dem nun wirklich so? Diese Frage ist wohl schon so oft beredet worden, daß sie vielleicht abgeschmackt erscheinen wird. Nichtsdestoweniger ist sie noch so unbeantwortet, daß sie sogar vor kurzem wieder aufgeworfen werden konnte, wenn auch nur mittelbar, bei Gelegenheit der Besprechungen der französischen Werke Turgenjeffs. Es wurde sogar die Meinung geäußert: „Warum soll denn Turgenjeff nicht auch Französisch schreiben, das kann ihm doch niemand verbieten?“ Selbstverständlich ist hier nichts zu verbieten oder zu erlauben, und besonders nicht einem so großen Schriftsteller und so vorzüglichen Beherrscher der russischen Sprache, wie Turgenjeff. Darum über ihn kein Wort weiter, aber ... Aber ich sehe, daß ich wieder auf mein altes Thema zurückgekommen bin, auf dasselbe, über das ich schon im vorigen Jahre geschrieben, nachdem ich mit einer unserer ausländisch-russischen Mamas über den Nachteil, den das Erlernen der französischen Sprache für ihr Püppchen haben kann, diskutiert hatte. Jetzt wird das Söhnchen zum Diplomaten erzogen und ... Übrigens, wenn es auch nicht ratsam ist, sich zu wiederholen, so will ich doch noch wagen, in bezug auf die Diplomatie ein paar Worte zu sagen.
„... Aber die Diplomatensprache ist doch Französisch!“ unterbricht mich diesmal die Mama, ohne mich zu Wort kommen zu lassen.
O weh, sie trägt mir meine Worte vom vorigen Jahr noch nach und behandelt mich ungnädig.
„Gewiß, gewiß, meine Gnädigste,“ antworte ich, „Ihr Einwand ist unantastbar, und ich bin mit Ihnen widerspruchslos einverstanden. Jedoch: was ich über die Kenntnis der russischen Sprache gesagt, gilt auch für die Kenntnis der französischen – nicht wahr? Nun aber, um den Reichtum seiner Gedanken in französischer Sprache ausdrücken zu können, muß man sich diese Sprache auch ganz und gar zu eigen machen. Nun aber bitte ich Sie, folgendes nicht zu vergessen: es gibt nämlich solch ein Geheimnis der Natur, oder vielmehr solch ein Naturgesetz, nach dem man nur diejenige Sprache vollkommen beherrschen kann, mit der man geboren ist, wollte sagen, die dasjenige Volk spricht, zu dem man gehört. Das scheint Ihnen nicht zu gefallen, meine Gnädigste. Sie belieben etwas spöttisch zu lächeln? Gut, ich gebe nach – es ist ja übrigens auch kein Damenthema. Ich stimme Ihnen also widerspruchslos bei, ich gebe zu, daß auch ein Russe sich die französische Sprache bis zur Vollkommenheit aneignen kann – aber nur unter einer riesengroßen Bedingung: nämlich in Frankreich geboren zu sein, in Frankreich aufzuwachsen und seit der allerersten Stunde seines Lebens sich in einen Franzosen zu verwandeln! Oh, Sie lächeln wieder, wie ich sehe, ich habe Sie wohl nur belustigt? Einstweilen aber beachten Sie, daß selbst Ihnen und Ihrem Söhnchen nicht gut möglich sein wird, diese Bedingung zu erfüllen, trotz aller Pariser Bonnen, trotz der Emigration, dem Erlös für das verkaufte Land usw. Zudem müssen Sie noch die sogenannten angeborenen Gaben in Betracht ziehen, denn man kann doch nicht Ihr Püppchen mit Turgenjeff vergleichen – werden denn etwa viel Turgenjeffs geboren? ... Ach, Verzeihung, meine Gnädigste, was sage ich da! Aus Ihrem Söhnchen wird bestimmt ein Turgenjeff werden, oh, nicht nur einer, sondern bestimmt drei! Doch lassen wir das, nur ...“
„Aber,“ unterbrechen Sie mich plötzlich, „aber die Diplomaten sind doch sowieso klug, warum denn da noch um den Verstand so viel Sorge tragen? Glauben Sie mir, hat man erst Verbindungen, mon mari ...“
„Sie haben durchaus recht, meine Gnädigste,“ unterbreche ich schnell, „hat man erst Verbindungen und läßt man Ihren Herrn Gemahl ganz beiseite, so, sage ich, wäre es immerhin nicht übel, zu den Verbindungen noch etwas, wenn auch nur ein wenig, Verstand hinzuzufügen. Und die Diplomaten sind keineswegs deswegen klug, weil sie Diplomaten sind, sondern einzig, weil sie von Geburt an kluge Leute waren. Und glauben Sie mir, es gibt sogar viele, sehr viele Diplomaten, die wirklich außerordentlich dumm sind.“
„Ach nein, verzeihen Sie,“ unterbrechen Sie mich ungeduldig, „Diplomaten sind immer klug und alle bekleiden sie außerordentliche Posten: und außerdem ist der Diplomatendienst der allervornehmste Dienst!“
„Meine Gnädigste, meine Gnädigste,“ rufe ich, „Sie sagen: Verbindungen und Kenntnis vieler Sprachen! – aber Verbindungen verschaffen doch bloß einen Posten, dann aber ... Nun, stellen Sie sich vor: Ihr Söhnchen wächst in europäischen Restaurants auf, geht in Gesellschaft ausländischer Vicomtes und russischer Grafen mit jungen Kokotten durch, dann aber ... Nun, er kann alle Sprachen und schon deswegen keine einzige, ... hat er aber keine eigene Sprache, so ist es nur natürlich, wenn er bloß Endchen von Gedanken und Gefühlen aller Nationen aufgreift und sein Verstand sich sozusagen zu einem Mischmasch aller möglichen Süppchen herausbildet. Er wird ein internationaler Bastard mit kurzen, abgerissenen, kleinen Ideen und stumpfen Urteilen. Er ist Diplomat, aber die Geschichte der Nationen setzt sich in seiner Vorstellung ganz sonderbar-spaßhaft zusammen. Er sieht überhaupt nicht, ja er ahnt nicht einmal das, wovon die Nationen und die Völker leben, welche Gesetze in ihrem Organismus liegen, ob in diesen Gesetzen auch etwas Ganzes verborgen ist und sich in ihnen ein allgemeines internationales Gesetz wahrnehmen läßt. Er ist fähig, alle Geschehnisse der Welt nur daraus abzuleiten, daß z. B. irgendeine Königin irgendeine Favoritin irgendeines Königs geärgert hat, und infolgedessen der Krieg zwischen zwei Königreichen ausgebrochen ist. Erlauben Sie, ich werde von Ihrem Standpunkte aus urteilen. Schön, er hat Verbindungen ... Aber zum Erwerb solcher Verbindungen ist doch Charakter erforderlich, ist, wie man zu sagen pflegt, die Liebenswürdigkeit eines Charakters, sind Milde und Güte und zu gleicher Zeit Beharrlichkeit und Festigkeit unbedingt nötig ... Ein Diplomat muß doch bezaubernd sein, muß zu besiegen verstehen, nicht wahr? Nun, dann glauben Sie es mir oder nicht, wenn ich Ihnen offen und im höchsten Grade bestimmt sage, daß man ohne Kenntnis seiner Muttersprache, ohne ihre völlige Beherrschung nicht einmal seinen Charakter ausarbeiten kann, und besonders dann nicht, wenn das Püppchen noch von Natur reich und gut begabt ist. Mit der Zeit stellen sich bei ihm dann Gedanken ein, Ideen und Gefühle werden ihn innerlich peinigen, indem sie für sich Ausdrücke suchen und fordern; doch ohne reiche, von Kindheit an erworbene, fertige Ausdrucksformen, d. h. ohne Sprache, ohne ihre Entwicklung, ohne ihre Verfeinerung, ohne Beherrschung all ihrer Nuancen – wird Ihr Sohn ewig unzufrieden mit sich sein. Die aufgeschnappten Gedankenendchen hören bald auf, ihn zu befriedigen, das im Verstande und im Herzen angesammelte Material fängt an, nach einem großen, unbeengten Ausdruck zu verlangen ... Der junge Mann wird besorgt, zerstreut, grundlos nachdenklich, darauf gereizt, unerträglich; schließlich zerrüttet er womöglich seine Gesundheit, vielleicht sogar den Magen, glauben Sie mir ...“
„Ach, Sie lachen? – Ich sehe schon, hab’ mich wieder fortreißen lassen, – einverstanden! – Aber, Gott, wie wahr ist es doch, was ich sage! – Gestatten Sie mir nur noch, zu beenden. Ich möchte Sie, meine Gnädigste, daran erinnern, daß ich Ihnen vorhin nachgegeben, mich mit Ihnen einverstanden erklärt habe, zum Schein, natürlich: daß die Diplomaten immer kluge Leute wären. Jetzt aber haben Sie mich so weit gebracht, meine Gnädigste, daß ich gezwungen bin, meine geheimste Ansicht über diesen Gegenstand Ihnen nicht mehr zu verheimlichen. Meine Gnädigste: nun ist mir aber wie zum Trotz in meinem Leben schon oft der Gedanke gekommen, daß es in der Diplomatie, d. h. in der allgemeinen Diplomatie aller Völker und des ganzen neunzehnten Jahrhunderts, wirklich auffallend wenig kluge Männer gegeben hat – tatsächlich frappant, wie wenige! Dagegen ist die Schwachköpfigkeit dieses Standes in der Geschichte Europas in unserem Jahrhundert ... Das heißt, sehen Sie mal, – alle sind sie klug, diese Diplomaten, mehr oder weniger, versteht sich, das ist unbestreitbar, alle sind sie geistreich – aber ... was sind denn das im Grunde für Geister! Ist denn auch nur einer dieser Köpfe bis zum Wesen der Dinge durchgedrungen, hat auch nur einer von ihnen diese geheimnisvollen Gesetze begriffen, oder sie auch nur geahnt, diese Gesetze, die Europa zu etwas Unbekanntem führen, zu etwas Sonderbarem, Furchtbarem – das aber jetzt schon offenbar ist, das sich fast sichtbar vor den Augen derjenigen vollzieht, die nur ein klein wenig vorauszufühlen verstehen? Nein, man kann positiv behaupten, daß es keinen einzigen solchen Diplomaten und keinen einzigen so klugen Kopf in diesem so gelehrten und ‚favorisierten‘ Stande gegeben hat! – Natürlich schließe ich, wenn ich so rede, Rußland und alles Vaterländische aus, weil wir unserem ganzen Wesen nach in solchen Dingen ‚eine ganz andere Sache‘ sind. Im Gegenteil, im ganzen Jahrhundert waren die Diplomaten, nun sagen wir, die allerschlauesten Intriganten, die sich dünkelhaft einbildeten, das realste Verständnis der Dinge zu besitzen; währenddessen aber hat keiner von ihnen weiter, als seine Nase reicht, etwas sehen können, und nie über die Tagesinteressen hinaus – und selbst diese waren dann noch immer nur die alleroberflächlichsten und kurzsichtigsten. Dort zerrissene Fädchen zusammenknoten, hier ein Flickchen auf ein kleines Loch legen, ‚den Preis steigern, vergolden, für neu aussehen machen‘ – das ist ihre Aufgabe, das ist ihre Arbeit! Und all das hat seine Gründe – der wichtigste aber liegt, meiner Meinung nach, in der Entzweiung mit dem Volk, in der Absonderung der diplomatischen Köpfe in eine allzu vornehme und von der übrigen Menschheit allzu abstrahierte Sphäre ... Ein Fürst Metternich wurde für einen der tiefsten und feinsten Diplomaten der Welt gehalten und hatte zweifellos Einfluß auf ganz Europa. Worin aber, ja, worin bestand denn eigentlich seine Idee? Wie verstand er sein Jahrhundert, das damals gerade anbrach? Wie stellte er sich die Zukunft vor? Alle Grundideen des beginnenden Jahrhunderts wollte er mit Polizeiordnungen besiegen und war vollkommen überzeugt von dem Erfolg! Und nehmen Sie jetzt den Fürsten Bismarck na, das ist doch schon fraglos ein Genie, aber ...“
„Finissons, monsieur,“ unterbricht mich streng die kleine Mama mit tiefgekränkter Würde.
Ich bin natürlich sehr erschrocken. Offenbar bin ich nicht verstanden worden. Ja, mit kleinen Mamas darf man noch nicht über solche Themata reden: habe daher einen furchtbaren faux pas gemacht – aber mit wem kann man denn jetzt überhaupt über Diplomatie sprechen? – das ist die Frage! Und doch – welch ein interessantes Thema, und noch dazu in unserer Zeit! Aber ...
Und welch ein ernstes Thema! Denn was heißt jetzt: unsere Zeit? Alle, die mit Verstand begabt sind, sagen, daß unsere Zeit im wahrsten Sinne des Wortes eine diplomatische Zeit sei, eine Zeit der Entscheidung aller Völkerschicksale einzig durch die Diplomatie. Man behauptet zum Beispiel, daß irgendwo bei uns Krieg geführt werde; doch höre und lese ich überall, daß, wenn auch dort irgendwo so etwas wie Krieg vor sich geht, dieser Krieg doch bestimmt nicht als wirklicher Krieg aufgefaßt werden darf ... Jedenfalls ist man übereingekommen, erstens, daß dieser Krieg auch nicht einer einzigen von den gesunden Verrichtungen der Nation hinderlich sein könnte, die, nach den neuesten Ansichten alles dessen, was „Allwissenheit“ genannt wird, vornehmlich – was sage ich! – ausschließlich in der Diplomatie ruhen; und zweitens, daß diese militärischen Spaziergänge, Manöver usw., die übrigens immer unentbehrlich sind, im wahrhaften Sinne der Dinge nicht mehr als bloß eine der Phasen der höheren Diplomatie ausmachen, und weiter nichts. Man muß es glauben. Ich für meinen Teil bin nun sehr gern dazu bereit, denn das ist doch tatsächlich beruhigend. Aber siehe, einstweilen ist da etwas, was nicht uninteressant und dabei noch ungemein auffallend ist: Bei uns entbrannte zum Beispiel die Orientfrage: und sofort flammte sie auch in ganz Europa auf, ja dort sogar noch früher als bei uns – und das ist nur zu verständlich. Alle, und selbst die Nicht-Diplomaten, – natürlich die Nicht-Diplomaten ganz besonders –, alle wissen „schon längst“, daß die Orientfrage sozusagen eine der Weltfragen ist, eines der wichtigsten Kapitel unter den großen und nächstliegenden Entscheidungen der Menschenschicksale, ja, daß sie die neue Phase derselben bedeutet. Wie man weiß, geht diese Angelegenheit nicht nur Osteuropa an, nicht nur die Slawen, Russen und Türken, oder vor allen anderen irgendwelche Bulgaren, sondern auch den ganzen Westen Europas, und zwar keineswegs nur wegen der Meere und Meerengen, der beherrschenden Ein- und Ausgangspunkte, sondern aus viel tieferen, viel fundamentaleren, elementareren, gegenwärtigeren, wesentlicheren, grundsätzlicheren Gründen ... Darum ist es begreiflich, daß Europa sich aufregt und die Diplomatie so viel zu tun hat. Aber was hat denn die Diplomatie dabei zu tun? Was hat sie denn – besonders jetzt – in der Orientfrage zu tun? Sache der Diplomatie ist doch jetzt (anderenfalls würde sie überhaupt nicht Diplomatie sein), die Orientfrage zu konfiszieren und allen, die es wissen wollen oder nicht wollen, dies bleibt sich gleich, so schnell wie möglich zu versichern, daß es eine „Orientfrage“ überhaupt nicht gibt; daß alles dieses „nur so“ geschehe, nur Manöver sei mit Ausflügen zur Übung, und wenn es nur irgend möglich ist, noch zu versichern, daß die Orientfrage nicht nur jetzt nicht vorhanden, sondern überhaupt nie in der Welt dagewesen sei, daß man vor hundert Jahren „nur so“ Dunst verbreitet habe aus bestimmten, natürlich gleichfalls diplomatischen Gründen. Aufrichtig gestanden, dem könnte man ja beinahe Glauben schenken, wenn sich nicht gerade hier ein Rätsel auftun würde, jedoch schon kein diplomatisches (das ist ja der Jammer!), denn die Diplomaten würden sich niemals dazu herablassen, sich mit solchen Rätseln zu befassen. Oh, verachtend würden sie diesem Rätsel den Rücken kehren, denn sie halten es für eine Illusion, die höherer Gehirne unwürdig ist. Dieses Rätsel ließe sich folgendermaßen formulieren: „Warum geschieht es immer, und besonders in der letzten Zeit, d. h. seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, und je weiter, desto anschaulicher und greifbarer, daß sich, kaum daß in der Welt irgend etwas Allgemeines, Universales berührt wird, neben der einen irgendwo erhobenen Weltfrage ihr parallel sofort auch alle anderen Weltfragen erheben?“ So hat zum Beispiel Europa jetzt an der einen, der Orientfrage, noch nicht genug, und es erhebt sich unerwartet-unverhofft plötzlich in Frankreich gleichfalls eine Weltfrage – die katholische. Und diese katholische Frage erhebt sich nicht etwa nur deshalb, weil der Papst bald sterben wird und Frankreich dann als Repräsentant des Katholizismus dafür sorgen muß, daß nicht das Geringste verschwindet oder sich verändert in der durch Jahrhunderte aufgebauten Organisation des Katholizismus, sondern auch noch deswegen, weil der Katholizismus in Frankreich augenscheinlich zur Fahne erwählt worden ist, unter der sich alle alten Einrichtungen der ganzen neunzehn Jahrhunderte versammeln sollen, – zur Verbündung gegen etwas Neues, Kommendes, schon Gegenwärtiges und Verhängnisvolles, gegen die drohende Welterneuerung, gegen den sozialen wie moralischen fundamentalen Umsturz im ganzen westeuropäischen Leben, oder wenigstens, wenn diese Erneuerung auch nicht in Erfüllung geht, so doch gegen die furchtbare Erschütterung und ungeheuere Revolution, die da unheimlich droht, alle Reiche der Bourgeosie in der ganzen Welt, überall, wo sie sich organisiert haben und aufgebläht sind, nach der französischen Schablone von 1789 zu verdrängen und sich auf ihren Platz zu setzen. Übrigens, ich sehe mich gezwungen, hier ein notwendiges Notabene einzufügen: ich fühle schon voraus, daß es vielen Klugen und besonders den Liberalen lächerlich erscheinen wird, daß ich noch im neunzehnten Jahrhundert Frankreich ein „katholisches“ Reich nenne, und gar den Repräsentanten des Katholizismus! Darum sage ich zur Rechtfertigung meiner Meinung, vorläufig ohne sie weiter zu begründen, daß Frankreich gerade solch ein Land ist, welches selbst dann, wenn in ihm kein einziger Mensch übrigbliebe, der nicht nur nicht mehr an den Papst, sondern nicht einmal mehr an Gott glaubte, trotzdem fortfahren würde, ein katholisches Land par excellence zu sein, gewissermaßen der Repräsentant des ganzen katholischen Organismus – und das wird noch sehr lange so bleiben, ja bis in die Unendlichkeit hinein, vielleicht bis zu der Zeit, da Frankreich überhaupt aufhören wird, Frankreich zu sein, und sich in irgend etwas anderes verwandelt. Doch das ist noch nicht alles: sogar der Sozialismus hat in Frankreich nach der katholischen Schablone, mit katholischer Organisation und ganz in seinem Geist eingesetzt: in solchem Maße ist dieses Land katholisch! Den Beweis dafür werde ich vorläufig noch schuldig bleiben. Nur auf eines will ich kurz hinweisen: was veranlaßte den Marschall Mac-Mahon so plötzlich mir nichts, dir nichts gerade die katholische Frage aufzuwerfen? Dieser tapfere General – der, nebenbei bemerkt, fast überall geschlagen worden ist und in der Diplomatie sich ausschließlich durch das kurze Sätzchen: „j’y suis et j’y reste“ ausgezeichnet hat – dieser General scheint nicht gerade solch ein Tatmensch zu sein, daß er fähig gewesen wäre, mit vollem Bewußtsein irgend etwas Derartiges zu vollführen. Aber siehe da, er hat es doch fertiggebracht, die kapitalste der alteuropäischen Fragen zu erheben, und zwar gerade in der Form, in welcher sie sich einmal unbedingt erheben mußte. Doch das Wichtigste: warum überhaupt und warum gerade in dem Augenblick diese Frage erheben, da sich am anderen Ende der Welt eine andere Weltfrage erhoben hat? Warum reiht sich Frage an Frage, warum ruft die eine die andere hervor, während doch, wie man meinen sollte, keinerlei Beziehung zwischen ihnen besteht? Ja, und nicht nur diese beiden Fragen haben sich zu gleicher Zeit erhoben: mit der Orientfrage erhoben sich auch noch andere, und es werden sich noch andere erheben, wenn sich die erstere nur richtig entwickelt. Kurz, in unserem Jahrhundert haben alle wichtigen Fragen Europas und der Menschheit sich immer zu gleicher Zeit erhoben. Diese Gleichzeitigkeit ist es nun, die mich frappiert. In dieser Gesetzmäßigkeit, mit der alle Fragen unbedingt zusammen erscheinen, liegt für mich das Rätsel! Doch weshalb sage ich das alles? – Nun, weil die Diplomatie gerade auf solche Fragen mit Verachtung herabblickt. Sie erkennt solche Zusammentreffen nicht nur nicht an, sie will nicht einmal an sie denken. Hirngespinste nennt sie sie, Unsinn und Dummheiten: „Nein, davon ist nichts passiert; nur der Marschall Mac-Mahon, oder richtiger, seine Frau Gemahlin, hat da irgend etwas einfach gewollt, und infolgedessen ist dann alles so gekommen, wie es gekommen ist.“ Und darum bin ich – ungeachtet dessen, daß ich selbst es ausgesprochen habe, als ich diesen Aufsatz begann: daß unsere Zeit eine diplomatische par excellence und alles übrige nur Phantasterei sei – bin ich selbst als erster gezwungen, daran nicht zu glauben. Nein, hier gibt es ein Rätsel! Nein, hier entscheidet nicht die Diplomatie allein, sondern noch irgend etwas anderes. Und ich muß gestehen, dieses Ereignis verwirrt mich nicht wenig: ich war so gern bereit, an die Diplomatie zu glauben ... aber diese neuen Fragen – die sind ja nur neue Scherereien und sonst nichts ...
In der Tat, da habe ich nun eine Frage gestellt und bin ihr vorläufig ohne Begründungen nachgegangen. Doch schon lange vor dieser Frage – ich meine die Erscheinung, daß alle Weltprobleme sich gleichzeitig einstellen, kaum daß sich eines von ihnen erhebt – hat sich mir schon eine andere unvergleichlich einfachere und natürlichere Frage gestellt, der jedoch, eben weil sie so einfach und natürlich ist, die „Klugen des Landes“ noch so gut wie überhaupt keine Aufmerksamkeit zu schenken pflegen. Mag auch die Diplomatie zu allen Zeiten und in allen Ländern die Schiedsrichterin aller wichtigen und fundamentalen Fragen der Menschheit gewesen sein und es auch in Zukunft bleiben, – aber hängt denn nun wirklich, frage ich, die endgültige Lösung der Menschheitsfragen nur von ihr ab? Kommt nicht vielmehr in jeder Frage eine Phase, ein Moment, da es mit den bekannten diplomatischen Mittelchen, den Flickchen, nicht mehr geht? Und wenn auch alle Weltfragen vom diplomatischen Standpunkt aus, das heißt soviel wie von dem der gesunden Vernunft, ihre Erklärung einzig darin finden, daß diese oder jene Macht einfach ihre Grenzen erweitern wollte, oder daß irgendein tapferer General persönlich irgend etwas wollte, oder daß einer bestimmten vornehmen Dame etwas nicht gefallen hat usw. (Möge das alles unwiderruflich wahr sein, hier muß ich schon nachgeben, denn gegen Allwissenheit bin ich machtlos) ... Aber trotzdem: kommt nicht doch einmal ein gewisser Augenblick – gerade bei diesen allerrealsten Ursachen und ihren Erklärungen –, ein Punkt im Verlaufe der Sache, eine Phase, da mit einem Male irgendwelche ganz sonderbare, sagen wir, unbegreifliche und rätselhafte Mächte plötzlich alles erobern, die ganze Gesamtheit ergreifen und blind, unaufhaltsam nach sich ziehen, als ob es einen Berg hinabginge, und ... ja und warum dann nicht auch in den Abgrund mit ihnen stürzen? Eigentlich will ich ja nur wissen: verläßt sich nun die Diplomatie immer so auf ihre Mittel, daß sie ähnliche Mächte (oder Momente oder Phasen) überhaupt nicht fürchtet, oder glaubt sie, daß sie einfach nicht vorhanden seien? Leider scheint es, daß sie noch immer letzteres tut, und ebendeshalb frage ich: Wie soll ich ihr da nun Glauben schenken und mich ihr anvertrauen? Und wie kann ich sie dann für die endgültige Schiedsrichterin der Schicksale einer noch so unvernünftigen, kindischen Menschheit ansehen!?
Kaidanoff hat in seiner „Neuen Geschichte“ zu Anfang des Abschnittes, der die Französische Revolution und Napoleon I. behandelt, folgenden Satz geschrieben: „Eine tiefe Stille herrschte in ganz Europa, als Friedrich der Große auf ewig seine Augen schloß; aber noch nie war eine ähnliche Stille einem so großen Sturme vorhergegangen.“ Diese Einleitung habe ich für mein ganzes Leben behalten. In der Tat, wer konnte damals, als Friedrich der Große starb, auch nur entfernt ahnen, was mit den Menschen und mit Europa in den folgendem dreißig Jahren geschehen sollte? Ich rede nicht von irgendwelchen gebildeten Leuten, oder selbst Schriftstellern, Journalisten, Professoren. Alle wurden sie bekanntlich irre: Schiller, zum Beispiel, schrieb damals einen Dithyrambus auf die Eröffnung der Nationalversammlung; der in Europa herumreisende junge Karamsin[31] sah mit bebendem Herzen auf das gleiche Ereignis; in Petersburg aber, bei uns in Rußland, glänzte noch immer die Marmorbüste Voltaires. Nein, ich wende mich mit meiner Frage unmittelbar an die höchste Allwissenheit, unmittelbar an die Entscheider der Menschenschicksale – an die Herren Diplomaten: haben sie damals auch nur etwas von dem vorausgesehen, was dann in den folgenden dreißig Jahren geschehen ist?
Könnte ich nun diese Frage den Diplomaten persönlich stellen und sollten sie geruhen, mich anzuhören, so würden sie mir bestimmt mit hochmütigem Lächeln antworten: „Zufälle lassen sich nicht voraussehen, und unsere ganze Weisheit besteht bloß darin, daß man sich auf alle Zufälle vorbereitet.“
Das ist die typische Antwort ... wenn ich sie mir auch selbst ausgedacht habe, da ich doch keinen Diplomaten mit solchen Fragen belästigen darf, – wie sollte ich denn! Doch mein ganzes Entsetzen liegt in meiner Überzeugung, daß man mir gerade so und nicht anders geantwortet hätte, und darum habe ich auch die Antwort eine „typische“ genannt. Denn was waren diese Ereignisse des letzten Dezenniums des vorigen Jahrhunderts in den Augen der Diplomaten anderes als – „Zufälle“? Waren es und sind es noch heute! Und Napoleon erst gar – ach, der! – der ist schon ein Erz-Zufall! Wäre Napoleon nicht gekommen, wäre er dort unten in Korsika in seinem dritten Lebensjahre an den Masern gestorben, so würde selbstverständlich auch der ganze dritte Stand der Menschheit, die Bourgeosie, nicht heraufgekommen sein, um das ganze Antlitz Europas zu verändern – was sich bis heute noch fortsetzt –, sondern wäre da in Paris ruhig bei sich zu Hause geblieben!
Es scheint mir nämlich, daß auch unser Jahrhundert im alten Europa mit irgend etwas Kolossalem enden wird, das heißt, vielleicht nicht gerade mit etwas, das buchstäblich dem gleicht, womit das achtzehnte Jahrhundert endete, aber immerhin mit etwas ebenso Kolossalem, Elementarem und Furchtbarem und gleichfalls mit einer totalen Veränderung des Antlitzes dieser Welt – wenigstens im Westen des alten Europa. Und nun, wenn unsere Allwissenden versichern werden, daß man Zufälle doch nicht voraussehen könne usw., ja, wenn ihnen in betreff dieses Finales noch überhaupt nichts in den Kopf gekommen ist, so ...
Mit einem Wort: Flickchen, Flickchen, Flickchen drauf!
Nun, seien wir vernünftig, warten wir ab. Flickchen sind doch, je nachdem wie man’s nimmt, auch eine notwendige und nützliche Sache und obendrein noch eine vernünftige und praktische, um so mehr, als man mit Flickchen z. B. den Feind hinter das Licht führen kann. Also: bei uns gibt’s jetzt Krieg, und sollte es geschehen, daß Österreich sich feindlich zu uns stellt, so kann man ihm mit einem „Flickchen“ gerade prachtvoll die Augen verbinden, was es übrigens mit Vergnügen geschehen lassen wird – denn was ist Österreich? Selbst ist es schon dem Tode nahe, will auseinanderfallen, ist genau so ein „kranker Mann“ wie die Türkei, ja, ist vielleicht noch schlimmer krank als diese. Es ist ein Musterbeispiel von innerlich sich feindlichen Vereinigungen, allen möglichen Dualismen, allen möglichen Völkern, Ideen, allen möglichen Uneinigkeiten und entgegengesetzten Bestrebungen; da gibt es Ungarn, Slawen, Deutsche und das Reich der Juden ... Jetzt aber, wo die Diplomatie ihm dermaßen den Hof macht, kann es ja wahrhaftig von sich denken, daß es – eine Macht sei, die tatsächlich viel zu bedeuten habe und bei der Schicksalsentscheidung der Völker noch eine große Rolle spielen könne. Eine solche Selbsttäuschung, die mittels besagter Hofmacherei und Flickchen hervorgerufen wird, ist jedoch für die Entscheidung der Schicksale der slawischen Völker sehr vorteilhaft, denn sie kann den Feind eine Zeitlang einschläfern; im Augenblick der Entscheidung aber, wenn die Binde von seinen Augen fällt und er plötzlich sieht, daß ihn niemand fürchtet, daß er nichts weniger als eine Macht ist, – kann er dann nur noch verwirrt stehen bleiben und zusehen, wie er seinen Mut verliert. Eine andere Sache ist es mit England: das ist etwas Ernsteres, – zumal es augenblicklich um seine fundamentalsten Unternehmungen furchtbar besorgt ist. England kann man mit Flickchen und Hofmacherei nicht einschläfern. Was man ihm da auch erzählen wollte, es würde doch nie und nimmer glauben, daß die riesige, heute die mächtigste Nation der Welt, die ihr Schwert gezogen und die Fahne der großen Idee erhoben und schon die Donau überschritten hat, in der Tat beabsichtige, die Aufgaben, die sie sich gestellt, sich selbst zum Nachteil und nur England zum Vorteil zu lösen; denn jede Verbesserung der Lage der slawischen Völker ist für England in jedem Falle ein offenbarer Nachteil, und mit Flickchen macht man ihm da kein X mehr für ein U vor: England würde einfach keinem einzigen Worte glauben. Ja, und mit welchen Argumenten könnte man es denn überzeugen? Etwa mit: „ich werde nur ein bißchen anfangen, doch nicht beenden“? Aber in der Politik ist ja der Anfang einer Sache so gut wie alles, denn der Anfang führt ganz naturgemäß früher oder später doch zu einem Ende. Was will es besagen, daß der Abschluß sich nicht gerade „heute“ vollzieht, – dann wird er eben „morgen“ stattfinden. Wie gesagt, die Engländer würden uns doch kein Wort glauben, und darum – sollten auch wir England keinen Glauben schenken, oder höchstens so wenig wie irgend möglich ... selbstverständlich brauchen wir ihm das nicht gleich zu sagen. Auch wäre es nicht schlecht für uns, wenn wir unsererseits dahinterkämen, daß England momentan in der kritischsten Lage ist, in der es sich je befunden hat. Diese seine kritische Lage kann man mit dem einzigen Wort „Isolierung“ bezeichnen, denn vielleicht ist England noch niemals so furchtbar vereinsamt gewesen wie jetzt. Oh, wie froh wäre es, könnte es irgendwo in Europa einen Freund finden – wie herzlich gern würde es dann eine entente cordiale schließen! Zu seinem Unglück aber hat es in Europa wohl noch nie eine für neue ententes cordiales ungünstigere Zeit gegeben als die gegenwärtige; denn gerade jetzt hat sich in Europa alles gleichzeitig erhoben, alle Weltfragen zugleich, und mit ihnen auch alle Weltwidersprüche, so daß jedes Volk und jedes Reich furchtbar viel bei sich zu Hause zu tun hat. Und da das englische Interesse nicht universal ist, sondern sich schon längst von allem und von allen isoliert hat und nur noch England allein angeht, so wird dieses Land eben, wenigstens eine Zeitlang, vollkommen vereinsamt bleiben. Versteht sich, es könnte sich ja sogar mit solchen Mächten vereinigen, die bei gleichen Vorteilen andere Ziele verfolgen – „ich verschaffe dir dieses, du mir aber dafür jenes!“ Doch bei dem besonderen Charakter der gegenwärtigen Sorgen Europas ist es für England schwer, einen derartigen Verbündeten zu finden, wenigstens in diesem Augenblick, und es wird lange warten müssen, bis sich in der weiteren Entwicklung ein Moment einstellt, in dem man auch ihm erlauben wird, sich mit seiner Freundschaft wieder irgend jemandem aufzudrängen. Außerdem braucht England vor allen Dingen ein für sich vorteilhaftes Bündnis, d. h. eines, bei welchem es alles nimmt, selber aber nach Möglichkeit nichts wiederzugeben hat. Nun ist aber gerade ein so vorteilhaftes Bündnis jetzt am schwersten zu schließen, und so muß denn England zunächst in seiner Einsamkeit verbleiben. Ach, wenn wir Russen uns doch dieser Vereinsamung geschickt bedienen könnten! Doch da höre ich noch einen anderen Seufzer: „Ach, wenn wir doch weniger skeptisch wären und daran glauben könnten, daß es wirklich Weltfragen gibt und sie nicht nur Hirngespinste sind!“ Das Unglück ist ja, daß bei uns in Rußland ein sehr großer Teil unserer Intelligenz Europa immer irgendwie nicht richtig sieht und einschätzt, nicht so, wie es jetzt ist, sondern stets irgendwie veraltet. Man versteht nicht, in die Zukunft zu sehen, das ist es, und man urteilt nur nach dem Vergangenen, nach längst Vergangenem!
Währenddessen aber existieren die Weltfragen tatsächlich, – und wie soll man denn nicht an sie glauben, und noch dazu wir? Zwei von ihnen haben sich schon erhoben und werden nicht mehr von menschlicher Allwissenheit gelenkt, sondern von ihrer elementaren Macht, ihrer organischen Notwendigkeit, und können nicht ohne Lösung bleiben, trotz aller Berechnungen der Diplomatie. Aber es gibt auch noch eine dritte Frage, gleichfalls eine universale, eine, die sich gerade jetzt zu erheben beginnt. Diese Frage kann man im speziellen „die deutsche“ nennen, aber in Wirklichkeit und im ganzen ist sie mehr als jede andere eine europäische; denn sie ist mit dem Schicksal ganz Europas und dem aller übrigen Weltfragen so eng wie nur möglich verbunden ... Und doch sollte man meinen, so dem Äußeren nach zu urteilen, daß es nichts Ruhigeres und Ungestörteres geben könne, als das gegenwärtige Deutschland: im Bewußtsein seiner Macht blickt es um sich, beobachtet und wartet ab. Alle brauchen es mehr oder weniger, und mehr oder weniger hängen alle von ihm ab. Und doch ... ist das Ganze eine Täuschung! Das ist es ja eben, daß jetzt alle in Europa mit ihrer eigenen Sache beschäftigt sind: bei jedem hat sich jetzt eine eigene allerwichtigste Frage eingestellt, eine Frage von einer Wichtigkeit, wie die Existenz selber, wie Sein oder Nichtsein. Und siehe, genau so eine Frage hat sich nun auch in Deutschland eingefunden, und gerade in dem Augenblick, da sich auch die anderen Weltfragen erhoben haben – und dieser Zustand Europas, füge ich vorausgreifend hinzu, ist für Rußland augenblicklich von unschätzbarem Vorteil! Denn noch niemals ist Rußland für Europa etwas so Unentbehrliches und in seinen Augen so mächtig gewesen und zu gleicher Zeit so entfernt von den wichtigsten und furchtbarsten Fragen, die sich im alten Europa erheben, aber nur das alte Europa und nicht Rußland angehen. Und noch nie wäre ein Bündnis mit Rußland in Europa so hoch eingeschätzt worden wie jetzt, und noch nie hätte Rußland sich mit größerer Freude dazu Glück wünschen können, daß es nicht das alte Europa ist, sondern das neue, daß es selbst, in sich, eine besondere, mächtige Welt darstellt, für die gerade jetzt der Augenblick gekommen ist, in eine neue und höhere Phase der Macht einzutreten und von den verhängnisvollen Fragen, an die das alte, hinfällige Europa gefesselt ist, unabhängiger denn je zu werden.
Es ist nicht lange her,[32] daß ich in den „Moskauer Nachrichten“ folgende Stelle im Leitartikel fand:
„Vor drei Tagen lenkten wir in einem Leitartikel die Aufmerksamkeit unserer Leser auf eine gewisse Partei, die innerhalb Rußlands im Einverständnis mit unseren Feinden ihre häßliche Tätigkeit betreibt und sogar bereit ist, den Türken zu helfen. Es ist eine Partei russischer Anglo-Magyaren, denen jede Offenbarung unseres Volksgeistes, sowie jede Handlung unserer Regierung in diesem Geiste verhaßt ist, und die der russische Patriotismus auf eine Stufe mit dem Nihilismus und der Revolution stellt, – eine Partei, die mit der denkbar schändlichsten Korrespondenz die uns feindliche ausländische Presse nährt. Kaum war der Artikel in Druck gegeben worden, als ein Telegramm unseres Petersburger Korrespondenten uns von der im ‚Regierungsanzeiger‘ veröffentlichten Aufdeckung neuer Taten dieser Partei benachrichtigte. Zur selben Zeit, da unsere Armee zwischen Plewna und Orchanie glänzende Siege errang, verbreitete man in Petersburg Gerüchte von Niederlagen, die diesen selben siegreichen Truppen beigebracht sein sollten. Das Ziel dieser Intrige ist natürlich, dem Volk auf diese Weise den Mut zu rauben, und zwar fährt man auch jetzt noch fort, sich so eifrig darum zu bemühen, daß die Regierung für nötig befunden hat, das Publikum vor ähnlichen Gerüchten ein für allemal zu warnen.“
Die „Neue Zeit“ schrieb darauf am folgenden Tage, übrigens nur ganz flüchtig, daß die „Moskauer Nachrichten“ wohl ein wenig zu weit gegriffen hätten, und daß der „Regierungsanzeiger“ vielleicht einfach irgendein bedeutungsloses Geschwätz gemeint haben werde. Möglich, daß es sich so verhält und die Warnung des „Regierungsanzeigers“ in der Tat nur durch ein „Geschwätz“ hervorgerufen worden ist. Nichtsdestoweniger hat die Annahme der „Moskauer Nachrichten“ fraglos ihren Grund. Nur weiß ich nicht, was das für Anglo-Magyaren sein sollen? Bei uns – meine ich vielmehr –, besonders in unseren Grenzgebieten, aber auch im Innern, ließen sich vielleicht nicht wenige „römische Klerikale“ finden, die in verschiedenen Röcken stecken. Heute wissen und schreiben bereits alle von der klerikalen Allerweltsverschwörung, und sogar unsere liberalsten Blätter geben zu, daß dieser Bund seine Bedeutung hat. Wäre es nun, meine ich, nicht sonderbar, wenn die vatikanische Verschwörung unsere römischen Klerikalen außer acht lassen und sie nicht zu ihren Zwecken gebrauchen würde? Unruhen im Rücken der russischen Armee kämen dem Vatikan gerade recht, besonders im gegenwärtigen Augenblick. Doch ich will noch einen Auszug aus der „Neuen Zeit“ anführen. Sie zitiert u. a. die Meinung der „Stimme“ über verschiedene Artikel, die in der „Morning Post“ und anderen ausländischen Zeitungen erschienen sind.
„Die ‚Morning Post‘ vom 22. Oktober bringt einen interessanten Artikel, in dem das turkophile Blatt von Unterhandlungen spricht, die zwischen Rußland und Deutschland in betreff der Abtretung des West-Weichselgebietes an Deutschland stattgefunden haben sollen. Selbstverständlich handelt es sich hier in den Augen der ‚Morning Post‘ um das Ergebnis einer Abmachung, derzufolge Deutschland sich verpflichtet, Rußland ‚bei den Eroberungen am Balkan zu helfen‘. Das Londoner Blatt fährt darauf fort, auf das bestimmteste zu behaupten, daß die Polen des Weichselgebiets an einen Aufstand jetzt überhaupt nicht dächten, ‚da sie nicht in noch bitterere Sklaverei fallen‘, d. h. nicht an Preußen fallen wollten, und daß, wenn im ‚russischen Polen‘ irgendwelche Unordnungen vorkommen sollten, diese einfach ‚die Folgen der russisch-preußischen Intrigen‘ sein würden ... Es ist auffallend, daß ein paar Tage vorher der ‚Dziennik Polski‘ über dasselbe Thema gesprochen, wenn auch in etwas anderem Tone, indem er mitteilte, die russische Regierung habe, als sie die Truppen aus dem Weichselgebiet zurückzog, daselbst unter den Bauern Blätter verteilt, in denen sie die Bauern aufforderte, von sich aus eine Art Dorfwacht zu bilden zur Beaufsichtigung der Pane und zur Unterdrückung etwaiger Versuche eines Aufstandes. Die ‚Stimme‘, die diese beiden Auszüge bringt, fragt verwundert, wozu der ‚Dziennik Polski‘ und die ‚Morning Post‘ plötzlich die unsinnige Fabel von dem russischen Aufruf an die Weichselbauern und den russisch-preußischen agents provocateurs erfunden haben – zu welch einem Zweck?
Irgendein Ziel müssen diese unerwarteten Ausfälle doch verfolgen. Die genannten Zeitungen müssen wahrscheinlich Nachrichten erhalten haben, die sie einen Ausbruch von Unruhen im Weichselgebiet befürchten lassen, und so bemühen sie sich denn, den Sinn, die Ursache der Bewegung, deren Folgen sie augenscheinlich fürchten, im voraus zu entstellen. Dieses Verfahren ist nicht neu. Bekanntlich ist es auch 1863 von den Polen und deren westlichen Freunden angewandt worden. Diese Erinnerung allein zwingt schon, sich einzugestehen, daß die beiden Artikel nicht bedeutungslos sind und eine gewisse geheime Verbindung mit den früheren Artikeln der Magyarenpresse haben müssen: über die Neigung der Polen zu den Türken und ihren geheimen Wunsch, Rußlands Lage durch revolutionäre Agitation in unserem Westen zu verschlimmern. Auffallend ist dabei, daß diese beiden Artikel mit der Nachricht von der Kandidatur des Kardinals Ledochowski für den Papststuhl zusammentreffen. Wir gehören nicht, sagt ‚Die Stimme‘, zu jenen, die so gern eine übertriebene Bedeutung allen phantastischen Kombinationen zuschreiben, an die sich die Feinde Rußlands klammern, in der Hoffnung, einen für uns günstigen Ausgang des jetzigen Krieges zu verhindern. In diesem Fall aber scheint uns die Sache doch zu ernst zu sein, als daß man eine so bedeutsame Tatsache, wie das unerwartete und scheinbar durch nichts veranlaßte Erscheinen der Artikel des ‚Dziennik Polski‘ und der ‚Morning Post‘ zweifellos ist, übersehen könnte.“
Also gibt es vielleicht auch bei uns etwas, das einem Zweig der klerikalen Verschwörung ähnlich sieht. Man bedenke nur das Unsinnige der Nachricht von der Kandidatur Ledochowskis, der natürlich Pole ist – denn nur der leichtsinnige Kopf eines polnischen Agitators kann ernstlich glauben, daß das Konklave, das sich aus so feinen Köpfen zusammensetzt, fähig sein könnte, sich dermaßen zu verirren, d. h. Ledochowski zu wählen, der sich als Papst doch nur mit der Wiederherstellung seines Polens beschäftigen würde, nicht aber mit der römischen universalen Herrschaft der Päpste! Aber abgesehen davon sind die Zweige der klerikalen Verschwörung in Rußland doch nur zu ersichtlich. Die „Neue Zeit“ fügt noch hinzu:
„Die zurzeit so hartnäckige Polemik des ‚Journal de St.-Petersbourg‘ mit den italienischen klerikalen Zeitungen wegen der vermeintlichen Unterdrückung des Katholizismus in Polen zeigt gewissermaßen, daß doch Anzeichen irgendeiner Agitation in unseren westlichen Grenzgebieten vorhanden sein müssen.“
Nun, ich glaube, daß es durchaus nicht nur „Anzeichen“ sind! Das scheint vielmehr jene Partei zu sein, von der die „Moskauer Nachrichten“ sagen, daß sie im Einverständnis mit den Feinden Rußlands handelt ... und der „jede Offenbarung unseres Volksgeistes, sowie jede Handlung unserer Regierung in diesem Geiste verhaßt ist, und die der russische Patriotismus auf eine Stufe mit dem Nihilismus und der Revolution stellt, – die Partei, die mit der denkbar schändlichsten Korrespondenz die uns feindliche ausländische Presse nährt ...“
Ja, gerade die europäische Korrespondenz aus Rußland kann leicht, sehr leicht ihr Werk sein. Dieses Frohlocken über Rußlands Mißerfolge und dieses leichtsinnige Freudengeheul darüber, daß Rußland sich plötzlich, wie sie sagen, als „schwach erweist: ohne Geld, mit schlechtem Heer, mit unzufriedenem und schon murrendem Volke, mit einer Gesellschaft, die der Nihilismus zersetzt,“ – all diese Kleinigkeiten tragen nur zu deutlich die Merkmale ihrer bekannten Herkunft. Wie wäre es möglich, daß sich nicht auch russische Federn fänden, die bereit wären, all’unisono mit den Klerikalen zu schreiben! Aber diese Korrespondenz kann, glaube ich, trotzdem nicht von Russen geschrieben worden sein: das wäre denn doch schon zu niederträchtig, zu abscheulich. Trotzdem lenken die Klerikalen, und vielleicht sogar ohne besondere Mühe, die russischen Federn nach ihrem Willen. Vielleicht überreden sie sie weder, noch lassen sie sich sonstwie auf mittelbare oder unmittelbare Unterhandlungen mit ihnen ein; denn diese gewandten liberalen Federn gehören zuweilen den ehrlichsten Leuten an, die, wenn sie das nackte Angebot eines Klerikalen hörten, ihn vielleicht ohne weiteres die Treppe hinunterbefördern würden. Dafür aber weiß der Klerikale, wenigstens der, der sich bei uns ein wenig umgesehen hat, daß er zu solchen Leuten überhaupt nicht zu gehen braucht, daß die gewandte russische Feder ihm ganz umsonst alles schreiben wird, einzig, weil sie denkt – o ihr meine Lieben! –, es sei ehrlich und es sei liberal! Die gewandte Feder, zum Beispiel, empört sich über die Klerikalen, die in Frankreich Mac-Mahon umgarnen, und schreibt drohende Artikel gegen sie. Währenddessen aber bringt sie es fertig, den russischen Römisch-Klerikalen bei uns nicht nur nicht zu bemerken, sondern sie stimmt womöglich noch mit ihm in allem vollkommen überein. Wahrhaftig, solche Russen gibt es! Und diese schlauen Römisch-Klerikalen wundern sich gewiß nicht wenig über sie. „Was das ihnen doch für ein Vergnügen macht, sich immer zwischen die Stühle zu setzen,“ denken sie wohl kopfschüttelnd bei sich. „Und wie uneigennützig dabei! Ja, ja, man muß in allem bis zum Schluß liberal sein. Da schreiben sie nun, daß Rußland nicht einmal das Recht habe, die Slawen zu befreien! Herrgott! das wäre ja mit Hunderttausend noch zu wenig bezahlt! Und immer, immer wieder zwischen die Stühle; allaugenblicklich, allaugenblicklich! Daß es ihnen nicht endlich weh tut! ...“
Zu Anfang des Sommers versuchten diese klerikalen Agitatoren sogar durch die russischen Zeitungen eine Demonstration bei uns zu veranstalten. Die Wölfe warfen sich in Schafspelze und begannen in einem Tone zu sprechen, als ob sie Abgesandte der sämtlichen polnischen „Emigranten“ im Auslande wären. Zuerst schlugen sie eine Aussöhnung vor: nehmt auch uns auf, hieß es, wir sehen, daß die künftige Vereinigung aller Slawen keinem Zweifel mehr unterliegt – und so wollen wir nicht zurückstehen. Sie sprachen ungemein zärtlich und hoben ihre Gründe hervor:
„Wir haben,“ sagten sie, „Ingenieure, Chemiker, Techniker, Handwerker usw. Viele von ihnen sind emigriert. Laßt sie zu euch!“ „Habt ihr etwa,“ fragt der Litauer, der in den „St. Petersburger Nachrichten“ einen Artikel geschrieben hat, „keine Arbeit für jenen Kreis, der zuerst Tengoborski für Rußland, Wolowski für Frankreich hervorgebracht hat? und in den Künsten, die die Sitten und den Charakter veredeln, den weltberühmten Bildhauer Brotzki und den Maler Mateiko? Solltet ihr solche Leute wirklich nicht nötig haben? Und was ließe sich noch alles von der Schar der Literaten, Publizisten, Fabrikanten und aller Art Gewerbetreibender sagen! Könntet ihr die etwa auch nicht brauchen?“ („Neue Zeit.“ Aus dem Artikel Kostomaroffs.)
Herr Kostomaroff hat darauf in der „Neuen Zeit“ als Russe geantwortet. In klaren und treffenden Auseinandersetzungen weist er nach, daß dieser ganze polnische Versöhnungsversuch für uns nur eine Falle ist, einzig zu dem Zweck erdacht, uns nichts als Verräter zuzuführen, und daß der Pole des Alten Polens Rußland und den Russen nun einmal instinktiv und leidenschaftlich haßt. Kostomaroff gibt dabei durchaus zu, daß es auch treffliche Polen gibt, Polen, die sogar mit einem Russen in Freundschaft leben, ihm in der Not helfen, ja, ihn sogar retten können. Das ist natürlich wahr. Doch sollte, wenn auch nach zwanzigjähriger Freundschaft, dieser selbe Russe diesem selben trefflichen Polen plötzlich in russischem Geiste seine politischen Überzeugungen in betreff Alt-Polens darlegen, so würde dieser Pole sofort, im selben Augenblick der offene oder geheime Feind seines russischen Freundes werden, – und zwar fürs ganze Leben, bis übers Grab hinaus, würde unversöhnlich und maßlos in seiner Feindschaft sein! Letzteres hat Kostomaroff vergessen hinzuzufügen.
Dieser ganze „Aussöhnungsversuch“ im Sommer, der sogar russische Anhänger und in Kostomaroff einen so mächtigen Opponenten gefunden hat – ist zweifellos auf klerikale Umtriebe zurückzuführen: er war einfach eine Abzweigung der europäischen klerikalen Verschwörung. Oh, diese Polen Alt-Polens versichern natürlich, daß sie keineswegs klerikal, noch papistisch, noch römisch seien, und daß wir dieses schon längst von ihnen wissen müßten. Man stelle sich jedoch nur einmal vor, daß Alt-Polen, daß all diese polnischen Emigranten, sich nicht an den Papst halten sollten! Wie lächerlich die bloße Vorstellung schon ist! Die Polen sollten nicht zum Vatikan halten, sie, die so genau seine Macht zu schätzen verstehen und immer verstanden haben!? Der Vatikan ist doch Alt-Polen niemals untreu geworden, sondern hat im Gegenteil immer alle seine Pläne, mochten sie noch so phantastisch sein, aus allen Kräften unterstützt, auch wenn die anderen Reiche längst nichts mehr von ihnen wissen wollten! Dieser sommerliche Versöhnungsvorschlag ward gerade in der Zeit gemacht, als die ganze polnische Emigration gegen Rußland arbeitete, als die polnischen Legionen gegründet wurden, als die emigrierten Aristokraten in Konstantinopel mit großen Geldsummen – versteht sich, nicht ihren eigenen – erschienen. Dieser ganze Versöhnungsvorschlag war nichts als eine einzige Hinterlist, wie Kostomaroff sehr richtig bemerkt. Übrigens: sie bieten uns ihre Gelehrten, Techniker, Künstler an und sagen: „Nehmt sie auf, habt ihr sie denn etwa nicht nötig?“ Diese Polen halten uns wohl für ein wildes Volk und scheinen nicht zu ahnen, daß wir alles, was sie uns da anbieten, vielleicht selber besser haben. Doch nichts für ungut, und vor allen Dingen: warum kommen sie denn nicht? Wir haben mehrere talentvolle Polen gehabt, und Rußland hat sie geachtet und verehrt und sie nicht im geringsten vor den Russen zurückgesetzt. So kommt doch! Wozu soll man sich da noch besonders verabreden? Versöhnt euch und ergebt euch, doch wißt, daß Alt-Polen niemals mehr aufleben wird. Es gibt ein neues Polen, ein vom Zaren befreites, ein auferstehendes, eines, das fraglos dasselbe Schicksal erwarten kann, das einmal allen slawischen Völkern gemeinsam beschieden sein wird, wenn das Slawentum sich befreit und in Europa aufersteht. Doch ein Alt-Polen wird es niemals mehr geben, kann es neben Rußland nie mehr geben. Sein Ideal war, in der slawischen Welt an die Stelle Rußlands zu treten. Sonderbar, daß der polnische Journalist nur von den Gelehrten und Künstlern spricht. Aber die Führer der Emigranten, die Aristokraten? Man stelle sich doch bloß das Bild vor: Rußland würde den schmeichlerischen Worten Gehör geben und sich zur Versöhnung bereit erklären, und da kämen diese dann und fragten hochmütig: „Wie lauten eure Bedingungen?“ Denn wenn man uns vorschlägt, die Emigranten nach Rußland kommen zu lassen, die nun aber zunächst nicht kommen, so heißt das doch offenbar, daß sie Bedingungen erwarten. Und nun stelle man sich vor, daß Rußland sie plötzlich als ein Etwas anerkennt und sich auf derartige Unterhandlungen einläßt! Und da würden sie denn nach Rußland zurückkehren, und die Magnaten würden sofort auftrotzen und bedeutende Posten und Auszeichnungen verlangen; und darauf würde sich das Geschrei erheben, daß wir sie betrogen hätten, und schließlich würde es zu einem neuen polnischen Aufstande kommen ... Und in diese Falle sollte Rußland hineingehen! Solch eine Dummheit sollte es begehen!
Die Polen haben natürlich selber nicht geglaubt, daß sie mit diesem ungeschickten Vorschlag Rußland fangen könnten; doch rechneten sie wohl auf die russischen Parteigänger, die ja immer noch so gutmütig und reinen Herzens sind. Daß hinter allem aber die Machenschaft des Klerus steckt, daß das Ganze ein klerikaler Schritt nach Rußland ist – darüber kann kein Zweifel mehr bestehen. Es fragt sich nur: wozu dieser Schritt? – Nun, haben die Klerikalen es etwa nicht nötig, die Lage zu sondieren, die Gedanken zu verwirren, ihre eigentlichen Unternehmungen und Absichten zu verbergen, russische Parteigänger zu werben, Russisch-Polen aufzuwiegeln usw.? Als ob diese Klerikalen nicht überall ihre Berechnungen hätten!
„Und die Finanzen? Wie steht es mit einem Artikel über die Finanzen?“ – fragt man mich. Ja, bin ich denn ein Finanzmann? Wie sollte ich es wagen, über die Finanzen zu schreiben. Wenn auch ich es bin, der hier das Thema aufwirft, so wage ich das doch nur, weil ich im voraus überzeugt bin, daß ich von den Finanzen alsbald auf etwas ganz anderes übergehen werde. Das gibt mir dann andererseits freilich den Mut zu einer solchen Überschrift; denn ich weiß es ja selbst, daß ich gar nicht fähig bin, über unsere Finanzen zu schreiben, da ich auf unsere Finanzen nicht vom europäischen Standpunkt aus sehe und auch überhaupt nicht daran glaube, daß man diesen europäischen Standpunkt bei uns einnehmen kann, aus dem einfachen Grunde, weil wir nun einmal nicht „Europa“ sind und im Vergleich zu „Europa“ fast wie auf dem Monde leben.
In Europa z. B. veränderten sich die Beziehungen der niederen Stände zu den höheren, feudalen, im Laufe von Jahrhunderten, und zuletzt durch die Revolution: alles vollzog sich mit einem Wort „historisch und kulturell“. Bei uns dagegen wurde die Leibeigenschaft mit allen ihren Folgen in einem einzigen Augenblick abgeschafft, und das geschah Gott sei Dank ohne jegliche Revolution. Aber warum mußte das gleichwohl eine so ungeheuere finanzielle Erschütterung verursachen? Wahr ist ja allerdings, daß das, was plötzlich fällt, immer gefährlich fällt. Versteht sich, nicht ich bedauere es, daß die Leibeigenschaft plötzlich fiel, im Gegenteil, groß und gut war es, daß diese ganze schwere geschichtliche Sünde durch das machtvolle Wort des Zar-Befreiers von uns genommen wurde. Nichtsdestoweniger war das Naturgesetz nicht zu umgehen, und die Erschütterung war groß. Nun gut: sie mußte ja groß sein, aber warum war sie denn so ungeheuer? Jede politische Umwälzung hat ihre historischen Gesetze, und ohne Zweifel wird es auch heute schon Menschen geben, die bereits klar erkennen, warum die Folgen dieser Umwälzung so groß waren. Leider kann ich dieses Thema nicht weiter entwickeln, denn es ist zu gewaltig und umfangreich; erst ein Historiker des nächsten Jahrhunderts wird ihm gewachsen sein. Ich will nur auf einzelne Wirkungen, die von ihr ausgingen und die auffallen und beunruhigen, hinweisen. Sehen wir uns die Sache näher an. Die Leibeigenschaft wurde aufgehoben, denn sie behinderte alles, sogar die Entwicklung der Landwirtschaft. Jetzt, so schien es, mußte der Bauer seine Lage verbessern können! Doch nichts von alledem geschah: in der Landwirtschaft kam der Bauer gerade auf das Minimum von dem, was ihm sein Land geben konnte. Unser jetziges Unglück besteht hauptsächlich darin, daß es uns unbekannt ist, ob sich in Zukunft solch eine Kraft finden und worin sie bestehen wird, durch die der Bauer über das Minimum hinauskommen und seine Erde zum Maximum des Ertrages zwingen kann. Die Klugen im Lande werden behaupten, daß diese Frage längst beantwortet sei, ich aber bin fest überzeugt, daß sie noch längst nicht beantwortet sein kann, daß sie viel weiter reicht, viel tiefer greift und unvergleichlich inhaltsvoller ist, als man von ihr voraussetzt. Die ganze frühere herrschaftliche Landwirtschaft sank bis zur Kläglichkeit; doch gleichzeitig begann eine Neuordnung des Besitzstandes, es schien ein neues intelligentes Einheits- und Gesamtvolk zu entstehen. Nun, Schöneres, Besseres hätte man sich nicht wünschen können, als eine derartige Erneuerung, denn eine intelligente Führung hat das Volk nötig und es sucht nach ihr. Aber bedauerlicherweise ist auch das bei uns erst nur ein Ideal, ist wie ein schöner Vogel, der unter den Wolken herumfliegt. Die Wirklichkeit ist von diesem Ideal weit entfernt! Ja, will denn der grundherrschaftliche Stand, der frühere Gutsbesitzer, überhaupt mit dem Volke zu einer klugen, einer intelligenten Gesamtnation zusammenwachsen? Das ist die Frage, die allerwichtigste, die allerbedeutendste, die es zurzeit bei uns überhaupt gibt, und von der vielleicht unsere ganze Zukunft abhängt!
Währenddessen aber wissen wir noch längst nicht, auf welchem Wege wir sie beantworten können. Will nicht, im Gegenteil, der besitzende Stand sich über das Volk erheben, und sucht er es nicht wieder mit Macht zu beherrschen, zwar nicht mehr wie zur Zeit der Leibeigenschaft, versteht sich, aber immerhin: will er nicht, statt eine Vereinigung mit dem Volk zu erstreben, aus seiner Bildung eine neue und scheidende Macht aufrichten und es mit einer Aristokratie der Intelligenz bevormunden? Oder will er das Volk aufrichtig als seinen Bruder im Blute wie im Geiste anerkennen, das achten, was unser Volk achtet, einwilligen zu lieben, was unser Volk mehr liebt als sich selbst? Denn sonst wird er sich nie mit ihm vereinigen können! Was das Volk achtet und liebt, das hält es fest und gibt es nicht hin, auch für keine Intelligenz, selbst dann nicht, wenn es auch noch so sehr nach dieser verlangt. Alles das ist bei uns noch ganz unentschieden, ist eine Frage, die Zeit, Geschichte, Kultur und Generationen verlangt, uns aber steht es wieder bevor, sie in einem einzigen Augenblicke zu entscheiden. Das ist ja eben der Unterschied zwischen uns und Europa, daß bei uns die Dinge nicht auf „historischem und kulturellem“ Wege sich entwickeln können, sondern schnell und ganz plötzlich sich entwickeln müssen, oft geradezu – wie in diesem Falle – auf völlig unvorhergesehenen staatlichen Befehl und Willen. Sie werden mir zugeben, daß Europa eine solche Geschichte nicht kennt. Wie kann man da von uns „Europa“ verlangen, und gar Finanzen nach „europäischem System“? Ich, zum Beispiel, glaube wie an ein ökonomisches Axiom, daß in einem Staate nicht die Eisenbahnaktionäre, nicht die Industriellen, nicht die Millionäre, nicht die Banken und nicht die Juden das Land beherrschen, sondern allen voran und ganz allein die Landwirte: denn wer das Land bearbeitet, der zieht alles andere mit sich. Der Landmann ist die Quintessenz, der Kern, das Mark des Reiches. Wie ist es aber bei uns, ist es hier nicht gerade umgekehrt? Beherrschen uns nicht gerade die ökonomischen Kräfte, der Eisenbahnaktionär und der Jude? Europa baute seine Eisenbahnen ein halbes Jahrhundert lang – und das bei seinem Reichtum! Bei uns dagegen wurden die letzten fünfzehn- bis sechzehntausend Werst Eisenbahn in zehn Jahren gebaut – und das bei unserer Armut und in einer ökonomisch so zerrütteten Zeit: gleich nach der Aufhebung der Leibeigenschaft! Alles Kapital wurde dorthin gezogen, gerade als das Land es am meisten brauchte. Die Eisenbahn wurde gleichsam auf die zerrüttete Landwirtschaft gebaut. Und ist denn die Frage des privaten Landbesitzes bei uns überhaupt schon beantwortet? Wird der Einzelbesitz sich neben dem Bauernland halten können und seine bestimmte Arbeitskraft finden, aber eine gesunde und feste, und nicht auf das Proletariat und die Schenke angewiesen sein? Was kann da Gutes herauskommen, solange nicht eine vernünftige Lösung dieses Problems gefunden ist? Wir haben gesunde Entschlüsse nötig, früher werden wir nicht zur Ruhe kommen. Und nur die Ruhe ist die Quelle jeder großen Kraft. Wie kann man bei uns jetzt europäische Budgets und geordnete Finanzen verlangen, wo es doch noch ein Rätsel ist, wie wir überhaupt all dem haben standhalten können, was auf uns einstürmte? – Nur mit der großen, verbindenden Volkskraft haben wir standzuhalten vermocht!
Ruhe haben wir wenig, besonders geistige Ruhe fehlt uns, und gerade diese wäre die Hauptsache, denn ohne geistige Ruhe wird nichts. Dem schenkt man aber bei uns gar keine Aufmerksamkeit, denn man strebt nur nach zeitlichem materiellem Wohlergehen. Wenn wir keine geistige Ruhe haben, so haben wir auch keine Festigkeit, weder in unseren Überzeugungen, noch in unseren Ansichten, unseren Nerven, und zu guter Letzt auch nicht in unserem Geschmack. Arbeit und die Erkenntnis, daß du nur durch Arbeit „erlöst wirst“ – fehlt bei uns sogar ganz. Das Pflichtgefühl geht uns völlig ab, ja, und woher sollten wir es auch haben, da wir anderthalb Jahrhunderte lang eine falsche Kultur bei uns hatten, oder, besser gesagt, gar keine?! „Warum soll ich mich bemühen, wenn ich durch ebendiese meine Kultur dahin gekommen bin, alles um mich herum zu verneinen? Und wenn es Dummköpfe gibt, die das Gebäude durch irgendwelche europäische Formen zu retten glauben, so verneine ich die Dummköpfe und behaupte: ‚je schlechter desto besser!‘ Das ist meine ganze Philosophie!“ – Ich versichere Sie, daß bei uns viele so denken, die einen laut, die anderen leise für sich. Die Leute mit solchen Aphorismen sind indessen selbst durchaus von Fleisch und Bein. „Je schlechter desto besser,“ sagen sie, aber wünschen tun sie dabei sicher das „schlechter“ nur für die anderen, das „besser“ jedoch wohlweislich für sich selbst; so wird man wohl ihre Philosophie verstehen müssen. Denn er hat ja einen Wolfshunger, dieser Russe. Groß ist er wie ein Bär, aber Nerven hat er wie eine Frau; verweichlicht und verwöhnt, grausam und leidenschaftlich ist er, ertragen kann er nichts, „ja, und wozu sich abmühen und aushalten?“ Ist es zu Ende mit den Diners im Restaurant, ist es zu Ende mit den Kokotten, wozu lohnt’s sich dann noch zu leben, denkt er und – krach, schießt er sich eine Kugel vor den Kopf! Und gut ist es noch, wenn er sich eine Kugel vor den Kopf schießt, sonst geht er hin und bestiehlt einen anderen auf irgendeinem mehr oder weniger gesetzlichen Wege. Aber arbeiten? – nein, das wird er nicht! Und so entsteht eine allgemeine Armut bei ständig wachsendem Appetit.
Unter anderem möchte ich noch bemerken, daß der Gogolsche Typ des „Hauptmann Kopeikin“ sich in zahllosen Varianten, bis zum aufgeblasensten Weltmann hinauf, bei uns erschreckend vermehrt hat. Alle fletschen sie nach dem Bargelde die Zähne, alle bilden sie sich, wenn auch nicht zu Räubern auf der offenen Landstraße wie der wirkliche „Kopeikin“, so doch zu Taschendieben aus, einige unter dem Deckmantel des Staats, andere ohne ihn. Einige von ihnen behaupten sogar stolz: „Ich handle darum so, weil ich alles verneine und jegliche Verneinung fördere.“ Oh, es gibt sogar liberale Kopeikins! Die haben nur zu gut verstanden, daß der Liberalismus in Mode ist, und daß man mit ihm gut fährt. Wer hat sie nicht gesehen, diese Allerweltsliberalen und billigen Atheisten, wie sie jetzt dem Volke gegenüber mit ihrer Fünfkopekenweisheit großtun. Es ist der niedrigste Typ von all unseren liberalen Erscheinungen, aber nichtsdestoweniger hat auch er jenen ungeheueren Appetit. Er ist der erste, der an eine mechanische Heilung der Wurzeln von außen glaubt. Diese Leute gruppieren sich und haben einen Einfluß, der sich oft bis auf die ehrlichsten Leute erstreckt, die eigentlich nicht schuld daran sind, daß sie solch ein Kontingent haben: „Jegliche Veränderung ist gut, wenn sie nur ohne Mühe vor sich geht.“ Der liberale Kopeikin fügt dann noch in Gedanken hinzu: „Bei jeder Umwälzung fällt für mich immer etwas ab!“ Und gerade von dieser Seite ist er am gefährlichsten, wenn er auch nur ein – Kopeikin ist. Aber mit ihm wollen wir uns jetzt nicht weiter beschäftigen. Das bisher Gesagte ist ja sowieso nur eine Ergänzung zu unserem Thema. Doch nun zu den Finanzen, zu den Finanzen!
Es ist nun einmal meine Angewohnheit, immer gleich mit dem Ergebnis zu beginnen, den Kern meiner ganzen Idee vorauszuschicken. Niemals habe ich es verstanden, ihn allmählich herauszuschälen und ihn erst dann bloßzulegen, wenn es mir gelungen ist, alles vorher klarzumachen und nach Möglichkeit zu beweisen. Meine Geduld reicht dazu nicht aus, mein Charakter verhindert es einfach; damit schade ich mir freilich sehr, denn manch eine Idee setzt, geradeaus gesagt, ohne jegliche Vorbereitung, ohne vorhergegangenen Beweis, nur in Erstaunen und Verwunderung, wenn sie nicht Gelächter hervorruft. So komme ich denn auch hier gleich wieder mit einer Behauptung, über die man – ich fühle es schon im voraus – lachen wird, wenn man nicht auf sie vorbereitet ist. Meine Behauptung ist folgende: „Wenn die Finanzen in einem Staate gewisse Erschütterungen erlitten haben, so denke man nicht so sehr an gegenwärtige Bedürfnisse, wie schreiend diese auch sein mögen, sondern zuerst an die Gesundung der Wurzeln, und – die Finanzen werden sich von selbst bessern.“
An sich ist das ja nichts Neues: welcher Finanzminister hätte sich nicht schon darum bemüht, besonders unser jetziger, der gerade an so eine Wurzel faßte, als er die Salzsteuer aufhob. Man erwartet sogar noch andere Reformen, große, wirklich die Hauptwurzel erfassende. Freilich wurden auch früher schon, bereits vor zehn Jahren, „zur Gesundung der Wurzeln“ viele Mittel angewandt: Revisionen wurden eingeleitet, Kommissionen berufen zur Untersuchung und Verbesserung der Lage unseres russischen Bauern, seines Gewerbes, seiner Gerichte, Verwaltung, seiner Krankheiten, Sitten und Gewohnheiten. Die Kommissionen teilten sich in Unterkommissionen zur Sammlung statistischer Unterlagen, und die Sache ging wie geölt, das heißt auf dem allerbesten administrativen Wege, den es nur geben kann. Aber ich habe ja gar nicht davon sprechen wollen; denn nicht nur die Unterkommissionen, sondern sogar so wesentliche Reformen wie die Aufhebung der Salzsteuer oder das große noch zu erwartende Steuersystem, sind meiner Meinung nach nur Palliativmittel, etwas Äußeres, und noch keineswegs die Wurzel Heilendes. Das aber ist es, worauf ich hinweisen möchte. Eine Heilung der Wurzel würde es dagegen sein, wenn wir z. B. wenigstens zur Hälfte das Nur-Gegenwärtige vergessen könnten: alle Tagesfragen, die schreienden Bedürfnisse unseres Budgets, die Zinsen der ausländischen Anleihen, die Defizite, den Rubel, den Staatsbankerott sogar, – der übrigens nie bei uns eintreten wird, wie sehr ihn auch unsere schadenfrohen ausländischen Feinde prophezeien mögen; mit einem Wort, wenn wir alles Nur-Gegenwärtige vergessen und so lange für die Wurzel arbeiten würden, bis wir in Wirklichkeit eine reiche und gesunde Frucht ernten können. Dann kann man ja wieder mit der Gegenwart leben oder, besser gesagt, mit dem neuen Kommenden; denn in diesem Zwischenraum, das muß man sich sagen, wird alles Frühere (d. h. das jetzt Gegenwärtige) sich so radikal verändert und einen so neuen Charakter angenommen haben, daß wir es nicht wiedererkennen werden. Ich begreife natürlich, daß alles, was ich jetzt behaupte, allen sehr sonderbar erscheinen muß: nicht an den Rubel zu denken, an das Bezahlen der Schulden, an den Bankerott, an das Heer, kurz, an all das, was man anscheinend zuerst bedenken und zufriedenstellen muß. Ich versichere Sie, auch ich verstehe das und ich gestehe Ihnen, daß ich mit Absicht meine Behauptung so scharf hingestellt und meine Wünsche bis zum unerreichbaren Ideal gesteigert habe. Ich dachte dabei, fange ich beim Absurden an, so werde ich später allen verständlicher, und so sagte ich denn: wenn wir nur zur Hälfte das Gegenwärtige vergessen könnten und unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkten, in eine Tiefe, in die bis jetzt in Wahrheit noch niemand geschaut hat – denn Tiefe suchte man bisher doch nur an der Oberfläche. Ich will aber gleich auch diese meine Formel noch abschwächen und statt ihrer vorschlagen: wenn nicht einmal die Hälfte – auf die Hälfte will ich verzichten – wenn nur ein zwanzigster Teil vom Gegenwärtigen zu vergessen möglich wäre, und wenn man jedes folgende Jahr zu diesem zwanzigsten Teil noch einen zwanzigsten Teil hinzufügen könnte und so weiter und so weiter bis zu drei Vierteln des Ganzen! ... Nicht der Teil ist hierbei wichtig, sondern wichtig wäre das Prinzip, das man damit aufstellt, und dem man folgt.
Aber wie soll man denn das Gegenwärtige lassen?! Man kann doch die Wirklichkeit nicht einfach ausstreichen! Ich sage „nicht ausstreichen“, weiß ich doch selbst, daß man die Wirklichkeit nicht unwirklich machen kann ... Aber wissen Sie – manchmal kann man auch das! Wenn wir von unserer krankhaft erregten Aufmerksamkeit jährlich nur einen zwanzigsten Teil auf etwas anderes ablenkten! Dabei ist gar nicht zu befürchten, daß sie der Gegenwart verloren ginge, nein, ich wiederhole es: wenn sie sich nur auch etwas anderem zuwendete, sich einem neuen Prinzip unterwerfen würde, einem, das die Gedanken und den Geist umbildet – zu etwas Besserem, zu etwas viel Besserem! Man wird sagen, daß ich in Rätseln spreche, aber dem ist nicht so. Doch gut, ich werde zunächst ein kleines Beispiel anführen, um zu zeigen, auf welche Weise man den Übergang vom Nur-Gegenwärtigen zur Heilung der Wurzeln sofort beginnen könnte.
Wie wäre es zum Beispiel, wenn Petersburg plötzlich – sagen wir, durch irgendein Wunder – von seinem Hochmut dem übrigen Rußland gegenüber abließe? Welch ein großer erster Schritt wäre das schon zur Gesundung der Wurzeln! Denn wie steht es jetzt mit Petersburg? Es ist doch schon so weit gekommen, daß Petersburg sich für ganz Rußland hält, und dieser Irrtum steigert sich noch von Generation zu Generation. Es will in gewissem Sinne dem Beispiel von Paris folgen, ungeachtet dessen, daß es Paris gar nicht ähnlich ist. Für Paris hat es die historische Entwicklung mit sich gebracht, daß es ganz Frankreich, sein politisches wie soziales Leben, in sich aufsog. Nehmen Sie Frankreich Paris, was würde ihm dann noch verbleiben? Nur seine geographische Lage. Nun, und auch bei uns glauben einige schon, daß ganz Rußland in Petersburg enthalten sei. Doch Petersburg ist längst nicht Rußland, für die größere Hälfte des russischen Volkes hat Petersburg nur dadurch eine Bedeutung, daß sein Zar dort lebt. Unsere Petersburger Intelligenz aber, das wissen wir alle, versteht von Generation zu Generation Rußland immer weniger, und das wohl darum, weil Petersburg, eingeschlossen in seinem finnischen Sumpf, mehr und mehr eine falsche Vorstellung von Rußland bekommt. So hat sich bei einigen von diesen Herren der Horizont bereits arg verengert, ja, er ist fast schon so eng geworden wie der Horizont von Karlsruhe.[34] Aber blicken Sie nur über Petersburg hinaus: und vor Ihnen liegt ein ganzes weites Meer russischen Landes, ein uferloser Ozean. Doch siehe, der Sohn der Petersburger Väter verneint auf die gleichmütigste Weise dieses russische Volksmeer und verhält sich zu ihm wie zu etwas Passivem und Unbewußtem, geistig Nichtigem und jedenfalls im höchsten Grade Rückständigem. „Vielköpfig ist es, aber dumm, taugt nur dazu, uns zu erhalten, wofür wir ihm Verstand beibringen und es an eine staatliche Ordnung gewöhnen müssen.“ Tanzend und das Parkett polierend, werden in Petersburg die zukünftigen Sohne des Vaterlandes gebildet, und die Petersburger Beamten studieren ihr Vaterland in den Kanzleien. Versteht sich: irgend etwas erlernen sie schließlich in ihnen, nur ist das nicht Rußland, sondern etwas ganz anderes, etwas sehr Besonderes. Und dieses ganz Andere und Besondere wird dann Rußland aufgebunden. Doch währenddessen bewegt sich das Volksmeer nach seinem eigenen Gesetze und sondert sich mehr und mehr von Petersburg ab. Und sagen Sie nicht, daß es, wenn auch ein mächtiges, so doch unbewußtes Leben führe, was nicht nur die Petersburger allein glauben, sondern auch noch andere Russen, die Rußland besser kennen. Wenn man nur wüßte, wieviel Erkenntnis sich schon im Volke angesammelt hat! Und das Erkennen wächst noch von Tag zu Tag. Wie würden sich die Petersburger wundern, wenn sie wüßten, wie vieles dem Volke schon zugänglich und verständlich ist! Wenn sich das auch noch nicht im großen Ganzen äußert, so tut es sich doch schon an allen Ecken und in allen Hütten kund, wofern man es nur zu fühlen und zu sehen versteht. Wie sollte es sich auch schon im Ganzen äußern können, das Ganze ist ja ein Meer! ein Ozean! Aber wenn es sich einmal äußern wird, in welch maßloses Erstaunen wird es da den intelligenten Petersburger versetzen! Freilich wird das europäische Menschlein das Volk noch lange verneinen und wird sich dem Volke noch immer nicht ergeben wollen. Ja, viele werden so hinsterben, ohne von ihm überhaupt etwas zu ahnen. Wäre es da nicht besser, wiederhole ich, um großen heraufkommenden Mißverständnissen vorzubeugen, er ließe, wenn auch nur in seinen besten Vertretern, ein wenig ab, von seinem Hochmut Rußland gegenüber? Nur ein wenig mehr Eingehen, Verständnis, nur ein wenig mehr Demut im Herzen vor dieser großen russischen Erde, vor diesem Volksmeer – das ist es, was uns nottut. Das wäre der erste Schritt, den wir zur „Heilung der Wurzeln“ machen müßten.
„Aber erlauben Sie, mein Herr,“ unterbricht man mich, „was Sie bis jetzt gesagt haben, sind doch nur alte, verbrauchte, unrealisierbare Phantastereien der Slawophilen. Und was wollen Sie damit sagen: zur ‚Heilung der Wurzeln‘? Welcher Wurzeln? Und was verstehen Sie darunter?“
„Sie haben recht, meine Herren, ich muß zunächst doch noch einiges über die Wurzeln sagen.“
Die Hauptwurzel, die einer Heilung zu allererst bedarf, ist ohne Zweifel dieses große russische Volksmeer selbst, von dem soeben die Rede war. Ich spreche jetzt von unserem einfachen Mann und Bauern, von der bezahlten Kraft unserer schwieligen, abgearbeiteten Hände: von unserem russischen Volksozean. Oh, wie sollte ich nicht wissen, was die Regierung für ihn getan hat und noch ununterbrochen tut, von der Aufhebung der Leibeigenschaft an? Sie sorgt für seine Bedürfnisse, seine Aufklärung, für seine Gesundung, vergibt ihm sogar manches Mal seine Rückständigkeit, mit einem Wort, sie tut viel für ihn, wer wollte das leugnen! Aber nicht davon soll hier die Rede sein, sondern von der seelischen Heilung dieser Hauptwurzel, die der Anfang zu allem sein müßte. Unser Volk ist seelisch krank; noch ist das Innerste seiner Seele gesund, aber die Krankheit ist trotzdem schwer. Welcher Art ist nun diese Krankheit? Es ist unmöglich, sie in einem Worte auszudrücken. Man könnte sie so formulieren: Es ist ein „unstillbarer Durst nach Wahrheit“. Das Volk sucht und sucht die Wahrheit, kann aber den Weg zu ihr nicht finden. Ich wollte meine Ansicht über diese Krankheit auf das Finanzielle begrenzen, aber ich muß doch noch einmal auf anderes zurückkommen.
Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft tauchte im Volke das Bedürfnis nach etwas Neuem, noch nicht Dagewesenem auf: es war ein Durst nach Wahrheit, der ganzen vollen Wahrheit, und nach einer Auferstehung zu einem neuen Leben. Das Volk verlangte nach neuen Anschauungen, neue Gefühle stiegen in ihm auf, und es begann, mit ganzer Seele an die neue Ordnung zu glauben. Aber etwas anderes trat ein, etwas, was es nicht erwartet hatte. Die neue Ordnung, an die das Volk so gern geglaubt hätte, die – verstand es nicht. Es begriff sie nicht, wurde irre an ihr und verlor zuletzt seinen Glauben an sie. Sie erschien ihm als etwas Fremdes, Äußerliches und nicht als sein Eigenes. Doch dieses Thema immer wieder vorzubringen, das schon so oft besprochen worden ist, lohnt sich nicht: andere wissen mehr davon als ich – lesen Sie unsere Zeitungen. Es kam damals eine wilde Verzweiflung über unser Volk: wie ein trunkenes Meer wogte es über Rußland hin, und wenn man auch versuchte, den Durst nach Wahrheit in Strömen von Branntwein zu stillen, so wurde er doch nicht befriedigt. Niemals war das Volk allen fremden Einflüssen mehr preisgegeben als jetzt. Nehmen Sie als nur ein Beispiel etwa die „Stunde“,[35] und sehen Sie, welch einen Erfolg sie im Volke hat: was aber beweist das? Doch nur das Suchen nach Wahrheit und die innere Unruhe unseres Volkes. Gerade die Unruhe ist es: das Volk ist seelisch aufgewühlt, und ich bin überzeugt, wenn die nihilistische Propaganda bis jetzt ihren Weg ins Volk noch nicht gefunden hat, so geschah das nur dank der Unfähigkeit und Dummheit ihrer Führer, die das Volk nicht zu nehmen verstehen. Aber sonst, bei der geringsten demagogischen Fähigkeit wäre auch sie so ins Volk gedrungen, wie das Luthertum durch die „Stunde“. Wie soll man das Volk vor Ähnlichem bewahren, denn es ist gesagt: „Es werden Zeiten kommen, wo man euch sagen wird: weder hier ist Christus, noch dort, glaubet nicht!“ So steht es auch jetzt bei uns, und nicht nur mit unserem Volk, sondern auch mit unserer Intelligenz.
Verschiedene ungewöhnliche Gerüchte dringen ins Volk, man spricht von Veränderungen, Anweisungen eines Landanteils, von einer goldenen Urkunde! Unlängst las man ihm in den Kirchen eine öffentliche Warnung vor, daß es nicht daran glauben solle, daß nichts davon wahr wäre – und was geschah? Gerade nach dieser Warnung befestigte sich das Gerücht nur noch mehr im Volke. Ich weiß von einem Fall, wo Bauern sich bei einem benachbarten Gutsbesitzer Land kaufen wollten und schon mit dem Preise einig waren, nach dem Verlesen dieser Warnung sich aber vom Kaufe zurückzogen. „Wir bekommen es noch ohne Geld,“ sagten sie und – warten. Und was die Hauptsache ist: das Volk steht bei uns allein, ist nur seinen eigenen Kräften überlassen, und niemand unterstützt es moralisch. Es hat zwar sein „Semstwo“, aber das ist „Obrigkeit“. Sein Gericht, aber – auch das ist „Obrigkeit“. Und seine „Gemeinde“ scheint sich gleichfalls dazu entwickeln zu wollen. Die Zeitungen sind voll von Beschreibungen, wie das Volk seine Vertreter wählt, natürlich immer in Gegenwart der Obrigkeit, deren Mitglied der neu Erwählte denn auch meist ist. Und was ergibt sich daraus? Da sieht solch ein armer einfältiger Kerl um sich und kommt plötzlich zum Schluß, daß es nur den Ausbeutern und Schmarotzern gut geht und alles nur für sie gemacht zu sein scheint: „Also werde auch ich dasselbe tun!“ – Nun, und so tut er es denn auch. Ein anderer betrinkt sich wieder, nicht etwa weil die Armut ihn drückt, sondern weil ihn die Rechtlosigkeit so anwidert. Was läßt sich da machen? Das ist Fatum! Man sollte meinen, da gibt es doch eine Verwaltung und Vorgesetzte, da müßte doch alles wie am Schnürchen gehen – doch gerade das Gegenteil ist der Fall. Es ist ausgerechnet worden, daß für das Volk in unserer Zeit fast zwanzig Regierungsämter eingerichtet worden sind, ausschließlich für das Volk, um es zu beschützen und zu beraten. Nun sind aber für den armen Menschen ohnehin schon alle und jeder „Obrigkeit“ – und jetzt hat er noch zwanzig solcher „Obrigkeiten“ hinzubekommen! Seine Bewegungsfreiheit ist ja gleich der einer Fliege, die in einen Teller mit Honig gefallen ist. Doch eine solche Freiheit ist nicht nur vom moralischen Standpunkte aus schädlich, sondern auch vom ökonomischen Standpunkte aus. So ist denn das Volk im Grunde doch allein und ohne Ratgeber. Es hat niemanden außer Gott und dem Zaren – mit diesen beiden moralischen Kräften, mit diesen beiden großen Hoffnungen hält es sich aufrecht. Alle anderen Ratgeber gehen an ihm vorüber, ohne es auch nur zu berühren. Die ganze fortschrittliche Intelligenz, zum Beispiel, geht glatt an ihm vorüber, und das ist schade; denn auch in unserer Intelligenz gibt es begabte Menschen – bloß für das russische Volk haben sie wenig Verständnis. Bei uns verneint man es nur; oder man beklagt sich ununterbrochen: warum sich die Gesellschaft nicht zu dieser Idee einer Vereinigung mit dem Volke „beleben“ läßt! und was das für sie für eine Aufgabe wäre! Man sollte aber doch wissen, daß man sich zu ihr gar nicht „beleben“ kann, einfach, weil das Volk der Gesellschaft fremd ist. Die letztere bildet nur eine Schicht über dem Volke – mit der einzigen Beziehung zu ihm, daß das Volk durch seine Arbeit ihr dient, ihr die Möglichkeit verschafft, sich europäische Bildung anzueignen. Doch in diesen zwei Jahrhunderten europäischer Bildung hat das Volk sich nur noch mehr von ihr entfremdet. Wenn die fortschrittliche Intelligenz jetzt behauptet: „Wir sind es, die um das Volk leiden, wir, die so viel über dasselbe schreiben und es zu uns emporziehen wollen,“ so ist doch das russische Volk instinktiv überzeugt, daß es sich hier nur um ein imaginäres Volk handelt, ein in den Köpfen der Intelligenz entstandenes, daß das wirkliche Volk aber von der Intelligenz nur verachtet wird. Ich gebe zu: das verächtliche Verhalten zum Volk ist bei einigen von uns gar nicht bewußt, ja, man kann ruhig sagen, unabsichtlich. Es ist ein Überbleibsel des Leibeigenschaftsverhältnisses und stammt aus der Zeit, als das Volk um unserer „europäischen Bildung“ willen staatlich erdrosselt wurde; und es ist zweifellos auch jetzt noch in uns, obschon das Volk nun „auferstanden“ ist. Deshalb wird es uns auch noch lange unmöglich sein, uns mit dem Volke zu vereinigen, wenn nicht ein Wunder in russischen Landen geschieht. Das Volk ist in seiner großen Masse rechtgläubig und lebt nur der religiösen Idee, es braucht sich sogar dieser Idee gar nicht bewußt zu sein. Im Grunde genommen hat es überhaupt keine andere Idee außer dieser, aus ihr kommt alles bei ihm. Wenigstens will das Volk mit seinem ganzen Herzen und aus seiner tiefsten Überzeugung, daß alles, was bei ihm geschieht und was man ihm gibt, aus dieser „Idee“ heraus geschehe, auch ungeachtet dessen, daß vieles beim Volke selbst nicht von dieser Idee ausgeht, daß es oft willenlos von dunklen, verbrecherischen, barbarischen Instinkten beherrscht ist. Aber jeder Verbrecher und Barbar, mag er auch noch so sündig sein, betet doch zu Gott in den besseren Minuten seines Seelenlebens und bittet ihn, seine Sünden auszulöschen und ihn wieder seiner „Idee“ leben zu lassen. Diese Idee will nun unsere Intelligenz nicht anerkennen. Unsere Intellektuellen weisen auf seine Sünde und seinen Schmutz hin, an dem sie, die das Volk zwei Jahrhunderte lang geknechtet haben, doch selbst Schuld tragen, weisen auf seine Vorurteile und religiöse Gleichgültigkeit hin, und einige behaupten sogar, daß das russische Volk geradezu „verkörperter Atheismus“ sei. Ihr größter Irrtum besteht eben darin, daß sie im russischen Volke keine Kirche anerkennen wollen. Ich spreche jetzt nicht von der Herde Christi, sondern von unserem russischen „Sozialismus“, dessen Ziel es ist, die „Kirche“ aller Völker zu werden, soweit die Erde diese „Kirche“ überhaupt verwirklichen kann. Ich spreche ferner von dem unstillbaren Durst nach der großen, allgemeinen, allbrüderlichen Vereinigung im Namen Christi, einer Idee, die im russischen Volke immer gegenwärtig ist. Und wenn diese Vereinigung auch erst im Wunsche und im Gebet besteht, nicht in der Tat, so treibt doch der religiöse Instinkt dieser millionenköpfigen Masse nicht zu mechanischen Formen: nicht im Kommunismus liegt der Sozialismus des russischen Volkes, sondern es glaubt, sein Seelenheil in der Vereinigung aller Völker im Namen Jesu Christi zu finden. Das ist unser russischer Sozialismus! Über diese höhere vereinigende kirchliche Idee im russischen Volke lachen unsere Europäer. Oh, es gibt noch viele solcher „Ideen“ im Volke, mit denen die Herren nicht übereinstimmen werden, und die sie aus ihrer europäischen Weltanschauung heraus als „tatarisch“ verurteilen. Man kann daher ruhig die Behauptung aufstellen: wer diese Hauptidee des Volkes, die Erwartung des in ihm heraufkommenden Schöpferischen, das Gottesschicksal seiner weltumfassenden Kirche nicht versteht, der wird auch nie das russische Volk selbst verstehen und es auch nie lieben können. Bei manch einem von unseren Europäern ist das Herz rein, gerecht und sehnt sich nach Liebe, – aber lieben wird er nicht das Volk, sondern nur jene Vorstellung, die er sich von ihm macht. Da das Volk aber Volk bleibt, d. h. es selbst bleibt, so kann man für die Zukunft nur einen unvermeidlichen und gefährlichen Zusammenstoß voraussehen. Denn meine Behauptung hat auch eine umgekehrte Auslegung, nämlich die, daß das Volk solch einen russischen Europäer niemals als zu sich gehörig betrachten wird: „Liebe zuerst mein Heiligtum, achte, was ich achte, dann erst bist du wie ich, bist mein Bruder, ungeachtet dessen, daß du nicht so angekleidet bist wie ich, daß du ein Herr bist, daß du zur ‚Obrigkeit‘ gehörst, und daß du dich manchmal nicht einmal in russischer Sprache richtig auszudrücken verstehst.“ Das wird ihnen das Volk sagen, denn unser Volk hat einen klugen und weiten Verstand. Es achtet und liebt auch gewiß jeden guten und klugen Menschen, dankt ihm für seine Ratschläge und befolgt sie gern, ohne daß jener an dasselbe zu glauben brauchte, woran das Volk glaubt. Das russische Volk vermag mit einem jeden auszukommen, denn es hat viele Typen gesehen, vieles beobachtet und behalten in seinem langen, schweren Leben während der letzten zwei Jahrhunderte. Aber sich einleben und sich mit einem Menschen eins fühlen – sind zwei verschiedene Sachen. Doch ohne Zusammengehörigkeitsgefühl kann keine Vereinigung stattfinden.
So ist die Kluft zwischen der Intelligenz und dem Volke außergewöhnlich groß, das Volk ist allein, sich selbst überlassen; außer in seinem Zaren, an den es unerschütterlich glaubt, sieht es in nichts und niemandem eine Stütze. Froh wäre es, eine zu erblicken – aber vergeblich schaut es danach aus. Welch eine große, schöpferische, Segen bringende, neue Kraft aber würde in Rußland erstehen, wenn bei uns eine geistige Vereinigung der Intelligenz mit dem Volke erfolgte! Oh, meine Herren Finanzminister, ganz andere jährliche Budgets werden Sie dann aufstellen als die, welche sich jetzt ergeben! Milch und Honig würden in unserem Reiche überfließen, und alle Ideale wären mit einem Schlage erreicht! – „Ja, aber wie das anfangen, und ist es denn wirklich unsere europäische Aufklärung, die uns daran hindert?“ Nein, nicht diese, denn im Grunde gibt es diese Aufklärung bei uns überhaupt nicht, auch heute noch nicht. Ich denke so: existierte bei uns eine wirkliche Aufklärung, so wäre eine Trennung zwischen Volk und Intelligenz nie erfolgt, denn auch das Volk verlangt doch nach Aufklärung. Wir aber sind, „Aufklärung“ suchend, auf den Mond geflogen und haben den Weg zum Volke verloren. Wie wäre es nun uns verflogenen Menschen möglich, die Sorge um die Heilung des Volkes auf uns zu nehmen? Was können wir tun, damit der beunruhigte Volksgeist sich wieder stärkt und beruhigt? Seine Finanzen, sein Kapital verlangt moralische Ruhe, denn sonst wird es versiegen. Was soll man tun, damit der Geist des Volkes die Wahrheit findet und sich in ihr beruhigt? Diese Wahrheit ist ja vielleicht schon da, aber was soll man tun, damit das Volk an sie zu glauben lernt? Wie soll man es ihm in die Seele pflanzen, daß die Wahrheit in der russischen Erde liegt? Was soll man tun, damit das Volk an sein Gericht, an seine Obrigkeit zu glauben anfängt und sie anerkennt als Fleisch von seinem Fleisch und Blut von seinem Blut? Oh, wenn die Wahrheit wenigstens für die Zukunft im Volke ungefährdet bliebe, damit es den Glauben nicht verlöre, daß sie einmal doch bestimmt noch kommen wird! Wenn die Fliege sich nur ein wenig von dem Teller mit Honigseim fortbewegen könnte, so wäre das schon eine große, große Beruhigung. Und nochmals sage ich: das ganze Unglück kommt von der Trennung der höheren intelligenten Stände vom unteren, niedrigeren – von unserem Volke. Wie aber dieses Volksmeer mit unserer Intelligenz aussöhnen, damit es nicht zu einem großen Aufruhr in ihm kommt?
Dazu gibt es nur eine Möglichkeit, ein magisches Wort, das lautet: „Vertrauen zeigen“! Zu unserem Volke kann man Vertrauen haben, denn es ist dieses Vertrauens wert. Ruft die grauen Bauernkittel und fragt sie, was ihnen fehlt, und was sie nötig haben, und sie werden euch die Wahrheit sagen, und wir alle werden dann vielleicht zum ersten Male die Wahrheit hören. Dazu sind keine großen Versammlungen nötig: das Volk kann man an allen Orten und in jeder Hütte fragen, denn an jedem einzelnen Ort sagt es Wort für Wort dasselbe; was die ganze Masse zusammen auch sagen würde, das Volk ist überall eins. Auch die getrennte Einheit würde nur das eine wiedergeben, denn der Geist ist derselbe. Jede Ortschaft würde vielleicht eine kleine örtliche Besonderheit hinzufügen, aber im ganzen, im allgemeinen würde alles in allem übereinstimmen. Man muß sich nur in acht nehmen, daß es auch wirklich der Bauer ist, der echte Bauer, nicht etwa der Schmarotzer oder Ausbeuter. Aber schließlich, selbst der Freischlucker wird der Erde nicht untreu und wird die Wahrheit sagen – das ist schon so eine Eigenschaft unseres Volkes. Wie soll man aber diesen Vorschlag ausführen? Oh, Menschen, die die Macht dazu haben, können das besser bestimmen als ich; ich möchte nur behaupten, daß es dazu besonderer Formeln nicht bedarf. Unser Volk jagt nicht nach Formeln, besonders nicht nach fertigen, fremdländischen, die hat es nicht nötig und die wird es auch nie nötig haben. Es hat etwas ganz anderes im Kopfe, hat seine eigene Ansicht über die Sache; und in seinen Anschauungen ist ein Volk wie das unsrige durchaus unseres Vertrauens würdig. Und wer der Russen Liebe zum Zaren gesehen und gefühlt hat, der weiß, daß sie des Zaren Kinder sind und der Zar ihr Vater ist. Wer daran nicht glaubt, versteht nichts von Rußland. Nein, darin liegt eine tiefe und ursprüngliche Idee: und sie bedingt einen lebendigen, mächtigen Volksorganismus, der mit seinem Zaren in eins verschmilzt. Diese Idee ist eine Kraft, und diese Kraft ist mit den Jahrhunderten noch gewachsen, besonders in den letzten für das Volk so schrecklichen zwei Jahrhunderten, die wir wegen unserer europäischen Aufklärung so preisen, – wobei wir freilich ganz vergessen, daß diese Aufklärung uns nur durch das Kreuzesleiden unseres Volkes ermöglicht wurde. Aber das Volk glaubte an seinen Befreier, wartete auf ihn und – er kam! Wie sollen wir da nicht seine Kinder sein? Der Zar ist für das Volk keine äußere Kraft, nicht die Kraft irgendeines Besiegers – wie es z. B. die Dynastien der früheren Könige in Frankreich waren –, sondern eine volkliche, verbindende Kraft, die das Volk selbst wollte, die aus seinem Herzen wuchs, die es liebte, für die es litt, von der allein es seinen Auszug aus Ägypten erhoffte. Für das Volk ist der Zar die Verkörperung seines Selbst, seiner Idee, seines Glaubens und seiner Hoffnungen. Und diese Hoffnungen wurden ihm noch kürzlich so glänzend erfüllt, wie sollte es da weitere Hoffnungen aufgeben? Im Gegenteil, sie bestärken und befestigen sich, denn der Zar wurde nach der Aufhebung der Leibeigenschaft nicht nur in der Idee oder in der Hoffnung, sondern in der Tat zu seinem Vater. Diese Beziehung des Volkes zum Zaren als zu einem Vater ist die einzige felsenfeste Grundlage, auf der jede Reform bei uns geschaffen und aufgebaut werden kann. Wenn Sie wollen, so gibt es bei uns gar keine andere schöpferische, erhaltende und führende Kraft in Rußland als das organische und lebendige Bündnis des Volkes mit seinem Zaren: nur ihm entspringt bei uns alles. Wer hätte auf diese Bauernreform hoffen können, wenn er nicht im voraus geglaubt und gewußt hätte, daß der Zar dem Volke ein Vater ist, und daß der Glaube an den Zaren wie an seinen Vater das Volk retten und vor Unglück behüten werde. Wahrlich, schlecht wäre ein Sozialökonom als Reformator, der die wirklichen, lebendigen Kräfte des Volkes aus Vorurteil oder um fremder Überzeugungen willen außer acht läßt. Ja: wir – die Intelligenz – sind schon deshalb nicht eins mit dem Volke und können es nicht verstehen, weil wir, auch wenn wir seine Beziehung zum Zaren einsehen, doch das Wichtigste in seiner ganzen Tiefe und Bedeutung für unsere Zukunft nicht erfassen können: daß gerade durch diese Beziehung zu seinem Zaren das russische Volk sich von allen Völkern Europas und der ganzen Welt unterscheidet; daß das nicht ein zeitlicher, ein vorübergehender Zustand, nicht ein Zeichen von Volksjugend, wie manche klugen Köpfe vielleicht schließen, sondern eine ewige, immerwährende und niemals oder wenigstens lange noch nicht, sehr lange noch nicht sich verändernde Kraft ist. Wie sollte sich da nicht schon deswegen unser Volk von allen anderen Völkern unterscheiden, nicht seine eigene Idee in sich tragen? Ist es nicht klar, im Gegenteil, daß unser Volk schon den organischen Keim einer unterschiedlichen Idee in sich trägt? Diese Idee schließt eine so große Kraft in sich, daß sie natürlich unsere ganze weitere Geschichte beeinflussen wird, und da sie eine ausschließlich russisch-eigenartige ist, so kann auch unsere Geschichte nicht der Geschichte anderer europäischer Völker ähnlich und noch viel weniger ihre sklavische Kopie sein. Das ist es, was unsere klugen Köpfe nicht verstehen wollen, die da glauben, bei uns könne sich alles ohne jegliche Eigenart genau nach europäischem Muster verwandeln, und die sogar diese unsere Eigenart hassen, so daß es vielleicht noch mit einem Unglück enden kann. Daß aber bei uns alles anders und ursprünglich ist, dazu diene folgendes Beispiel. In unserer Zukunft, wenn wir die Periode unseres Pseudoeuropäismus überwunden haben werden, kann z. B. die bürgerliche Freiheit sich nur bei uns in einem Grade entwickeln, wie nirgends in Europa und nicht einmal in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Auf dieser felsenfesten Grundlage, auf der Liebe des Volkes zu seinem Zaren als seinem Vater, und nicht durch ein geschriebenes Gesetz wird diese Entwicklung sich vollziehen – denn Kindern kann man vieles erlauben, was bei anderen Völkern, die nach Kontrakten leben, undenkbar ist, Kindern kann man ebenso vieles auch anvertrauen und ebenso vieles verzeihen, denn Kinder werden ihren Vater nicht verraten und wie Kinder von ihm jeden Verweis ihrer Fehler in Liebe entgegennehmen.
Und einem solchen Volke soll man nun nicht Vertrauen schenken? Mag es deshalb selbst von seinen Bedürfnissen reden und nicht andere für sich sprechen lassen: wir, die Intelligenz des Volkes, wir müssen erst hören, was es sagt. Oh, nicht aus politischen Gründen schlage ich etwa vor, zeitweise unsere Intelligenz aus dem Spiele zu lassen – schreiben Sie mir bitte nicht politische Ziele zu –, nein, ich habe den Vorschlag aus rein pädagogischen Gründen gemacht. Ja, hören wir zu, wie klar und vernünftig das Volk, ganz ohne unsere Hilfe, seine Wahrheit ausdrücken und wie es in der Sache gerade den Nagel auf den Kopf treffen wird, und ohne uns zu beleidigen, wenn auch von uns die Rede sein sollte. Mögen wir vom Volke lernen, wie man die Wahrheit spricht. Von ihm können wir Demut und Lebenserfahrung und Wirklichkeitssinn lernen. Sie werden mir antworten: „Soeben sagten Sie, wie leicht das Volk allen unsinnigen Gerüchten glaube, – welch eine Weisheit können wir da von ihm erwarten?“ Nun, Gerüchte sind etwas ganz anderes, und nicht – die Einheit in der allgemeinen Sache. Hier, im Volk, werden wir etwas Ganzes erblicken, und das Ganze wirkt durch sich selbst und das Ganze bringt zur Vernunft. Ja, für uns wird es in Wahrheit eine Schule sein, die fruchtbringendste Schule. Wir werden erstaunt sein, beim Volke so viel Lebenserfahrung und Ernst zu finden; freilich wird es auch solche geben, die ihren Augen nicht trauen wollen, aber solcher sind wenige, denn alle wirklich Aufrichtigen, die nach Wahrheit verlangt, und denen es um die allgemeine Sache und den allgemeinen Nutzen zu tun ist – die werden sich an die wahren Worte des Volkes halten. Alle diejenigen aber, die nicht aufrichtig der Sache ergeben sind, werden mit ihrem Mißtrauen nur ihre eigene Inhaltslosigkeit aufdecken. Und wenn es noch welche gibt, die dem Volke nicht Glauben schenken, so sind das nur Altgläubige und Doktrinäre der vierziger und fünfziger Jahre, alte, unverbesserliche Kinder, die nur lächerlich und ganz unschädlich sein werden. Doch alle anderen außer diesen werden sich die Augen reiben und endlich zu sehen anfangen. Das kann außerordentlich wichtige Folgen haben, denn ... denn auf diese Weise kann der Anfang, der erste Schritt zur Vereinigung unseres Standes, der Intelligenz, die so hoch über dem Volke zu stehen meint, mit dem Volke gemacht werden. Ich spreche nur von einer geistigen Vereinigung, denn die nur haben wir nötig, die wird uns zu allem verhelfen, wird alles umschaffen und eine neue Idee bringen. Unsere helle und frische Jugend, denke ich, wird die erste sein, die ihr Herz dem Volke schenken und es verstehen wird. Ich hoffe auch deshalb so sehr gerade auf sie, weil sie selbst so leidet im „Suchen nach Wahrheit“: in der Sehnsucht nach ihr wird sie sofort fühlen, daß auch das Volk nach ihr sucht. Und wenn die Jugend der Seele des Volkes nahestehen wird, dann wird sie auch diese Phantasien lassen, die jetzt so viele Jünglinge beherrschen, alle jene, die sich einbilden, die Wahrheit in den verstiegensten europäischen Lehren zu finden. Oh, ich glaube, daß ich nicht phantasiere und die heilsamen Folgen vergrößere, die aus diesem Ereignisse hervorgehen würden. Der Hochmut würde fallen und die Ehrfurcht vor der mütterlichen Erde wiedergeboren werden. Eine ganz neue Idee würde plötzlich in unsere Seele leuchten und alles erleuchten, was bis jetzt im Dunkeln gelegen, und mit ihrem Lichte die Lüge ertöten. Und, wer weiß, vielleicht wäre das der Anfang einer Reform, die durch ihre Bedeutung hoch über der Reform der Leibeigenschaft stände: wäre sie doch gleichfalls eine Befreiung – eine Befreiung unserer Geister und Herzen von dem Leibeigenschaftsverhältnis zu Europa, in dem wir zwei Jahrhunderte gestanden, ganz ähnlich unserem Bauern – unlängst noch ein Sklave wie er. Und wenn diese zweite Reform sich verwirklichen könnte, so wäre sie auch nur eine Folge der großen ersten Reform, der Aufhebung der Leibeigenschaft zu Anfang der Regierung unseres Zar-Befreiers. Mit der einen wäre die materielle Wand gefallen, die das Volk von der Intelligenz trennte, mit der zweiten fiele diese Wand auch ideell. Was könnte höher stehen, was wäre fruchtbringender für Rußland als dieser geistige Bund aller Stände? Die, welche sich bis jetzt des Volkes schämten, des angeblich barbarischen und jegliche Entwicklung hemmenden, die werden sich dieses Schämens schämen und sich mit dem Volke aussöhnen und vieles wieder achten können, was sie früher verachteten. Und wenn das Volk ihnen geantwortet, seine Sache ihnen vorgelegt hat und sein demütiger Mund verstummt – dann fragen Sie meinethalben auch unsere Intelligenz, und wär’s auch nur nach ihrer Meinung über das Volk, und sie werden sofort die Folgen bemerken. Oh, auch ihr Wort wird dann fruchtbar werden, denn sie ist doch nun einmal die Intelligenz, und das letzte Wort gehört ihr. Das uns alsdann vom Volke gegebene Beispiel würde uns auf jeden Fall von Unüberlegtheiten und Dummheiten abhalten, die von uns, wenn wir zuerst das Wort gehabt hätten, unfehlbar begangen worden wären. Und Sie werden sehen: unsere Intelligenz würde dann nichts mehr im Widerspruch zum Volke sagen, sondern würde dessen Wahrheit in die ganze Breite seiner Bildung hineinentwickeln und sie wissenschaftlich erläutern und begründen – denn auch das Volk hat die Wissenschaft nötig. Ja, und wenn sich auch Widersprüche einstellen würden, Widersprüche gegen gewisse Grundlagen unseres Volkes, so würden sie es doch nicht wagen, sich so heftig gegen den Volksgeist aufzulehnen, und das ist sogar sehr wichtig.
Ja, es ist sogar sehr leicht möglich, daß unsere seelische Ruhe schon bei dem ersten Schritt wiederkehrt. Es würde eine allgemeine, alle vereinigende Hoffnung erstehen, und wir würden uns über unsere Ziele klarer werden. Das aber wäre wichtig: denn unsere bewußte Kraft, unsere Intelligenz, ahnt ja kaum, welchen Inhalts unsere nationalen und staatlichen Ziele sind oder sein können. Gerade hier liegt heute die Unsicherheit, und gerade die ist gewiß auch die Quelle unserer Ruhelosigkeit und Verstimmtheit, und nicht nur dem Gegenwärtigen, sondern noch viel mehr dem Zukünftigen gegenüber. Alles das könnte aufgeklärt und erläutert werden, oder wir bekämen einen Hinweis auf Mittel, mit denen man bei uns etwas erlangen könnte, wir würden auf neue Gedanken kommen ...
Doch genug! Ich habe gesprochen, wie ich es verstanden habe. Wenn man nicht alles versteht, wenn ich mich unzureichend ausgedrückt, so nehme ich die Schuld auf mich – aber das, was man versteht, möge man in einer friedlichen und unverletzenden Weise verstehen. Ich wünschte nur, daß man unparteiisch begriffe: daß ich zuerst und vor allen Dingen für das Volk stehe, daß ich an seine Seele, an seine Kräfte, deren Größe noch niemand von uns zu ahnen scheint, wie an ein Heiligtum glaube, hauptsächlich aber an die errettende Bedeutung des großen, alles erhaltenden und aufbauenden Volksgeistes. Mich verlangt nur nach einem: daß alle ihn erschauten – denn wenn sie ihn nur einmal erschaut haben, werden sie sofort auch alles Übrige verstehen.
... Ich will von einem geistvollen Bureaukraten erzählen, der mir vor kurzem in einer Gesellschaft eine sehr interessante Sache auseinandergesetzt hat – eine, die gerade jene Grundsätze berührt, die für die Veränderung unserer gegenwärtigen[36] Lage in Frage kommen.
Das Gespräch drehte sich um die Finanzen, um die allgemeine ökonomische Situation, und zwar speziell in dem Sinne, daß wir Russen unsere Mittel nicht verschwenden sollten, sondern vernünftig mit ihnen umzugehen versuchen müßten, damit auch nicht eine einzige Kopeke für irgendeine Phantasterei hinausflöge.
Über diese Art Ökonomie wird jetzt bei uns überall gesprochen, und die Regierung beschäftigt sich unausgesetzt mit diesem Problem. Es ist auch tatsächlich so etwas wie eine Kontrolle eingeführt worden, und alljährlich will man in den Etats eine bestimmte Summe zu streichen suchen. In der letzten Zeit sprach man sogar von einer Verringerung der Armeeausgaben. Manche meinten, man könne das stehende Heer auf die Hälfte der Truppen herabsetzen. „Deswegen“, hieß es, „würde doch nichts anders werden“. Das wäre ja alles ganz wunderbar, aber trotzdem gibt es etwas, was sich einem dabei unwillkürlich in die Gedanken einschleicht: Gut, wir reduzieren die Armee vorläufig um fünfzigtausend Mann, das Geld aber geht uns doch wieder durch die Finger, für dieses und jenes, natürlich nur für die Bedürfnisse des Staates, jedenfalls aber für Bedürfnisse, die so radikaler Opfer nicht wert sind. Die abgeschafften fünfzigtausend Mann jedoch werden wir dann niemals wieder einbringen können, oder höchstens mit Mühe und Not; denn was man einmal abgeschafft hat, ist schwer wieder anzuschaffen. Soldaten aber brauchen wir mehr als je und besonders jetzt, da in Europa alle einen Stein für uns bereit halten. Es ist gefährlich, diesen Weg zu betreten, doch nur in der gegenwärtigen Zeit. Wir würden nur dann uns überzeugen lassen, daß dieses heilige Geld wirklich für etwas Notwendiges ausgegeben wird, wenn wir, z. B. den Entschluß faßten, unerbittliche Ökonomie zu treiben, so wie etwa Peter sie durchgeführt haben würde, wenn er sich vorgenommen hätte, zu sparen. Sind wir nun aber dazu fähig, bei den „schreienden“ Nöten unserer gegenwärtigen Lage, in der wir nun einmal stecken? Ich bemerke hierbei, daß dieses einer der ersten Schritte wäre zu einer Umkehr vom alten, phantastischen Gegenwärtigen zum neuen, wirklichen und für uns notwendigen Zukünftigen. Wir reduzieren ziemlich oft die Etats, das Beamtenpersonal usw., doch das Ergebnis ist immer dasselbe: daß die Etats ganz von selbst sich wieder vergrößern und vermehren. Ja, sind wir denn überhaupt fähig zu einer richtigen Reduzierung, fähig, zum Beispiel, von vierzig Beamten mit einemmal auf vier herunterzugehen? Daß vier Beamte ohne Ausnahme dasselbe leisten können, was jetzt vierzig leisten, das wird natürlich niemand bezweifeln, besonders bei einer Vereinfachung des Eingaben- und Verordnungswesens mit all seinen Schreibereien, und überhaupt bei einer radikalen Veränderung der jetzigen Formen der Beamtenarbeit.
Auf dieses Thema kamen wir, wie gesagt, zufällig zu sprechen. Einige bemerkten, daß eine derartige Reform jedenfalls ein großer Bruch mit dem Alten wäre. Andere entgegneten, daß bei uns schon viel kapitalere Reformen als diese durchgeführt worden seien. Die Dritten fügten hinzu, daß man den neuen Beamten, also diesen vier, die die vierzig ersetzen sollen, das Gehalt sogar verdreifachen könnte, und daß diese dann gewiß treffliche Arbeiter abgeben würden. Und selbst wenn man das Gehalt auch für diese vier verdreifachte, so würde ihr Gehalt doch nur dem der jetzigen zwölf entsprechen; folglich wären die Ausgaben immer noch um fast drei Viertel der heutigen vermindert.
Hier aber geschah es, daß mich mein Bureaukrat unterbrach. Ich bemerke noch, daß auch er zu meiner größten Verwunderung gegen die Möglichkeit, durch vier vierzig zu ersetzen, nichts einzuwenden hatte: „Auch mit vieren wird es sich machen lassen.“ Doch was er angriff, war etwas ganz anderes: er wies auf das Grundsätzliche hin, auf die Fehlerhaftigkeit und das Verbrecherische dieses neuen „Prinzips“. Ich kann seine Entgegnung nicht wörtlich wiedergeben, und ich führe sie nur an, weil mir seine Meinung in ihrer Art bemerkenswert erschien und so etwas wie eine pikante Idee enthielt. Er hat sich natürlich nicht herabgelassen, auf Einzelheiten einzugehen, da ich in dieser Sache nicht „Spezialist“ bin: „verstehe wenig davon“, was vorauszuschicken ich mich beeile – aber sein „Prinzip“, so hoffte er, würde mir doch einleuchten.
„Die Reduzierung der Beamten von vierzig auf vier,“ begann er gemessen und in eindringlichem Tone, „ist für die Sache nicht nur unnütz, sondern allein schon ihrem Wesen nach direkt schädlich, trotz der tatsächlich beträchtlichen Verringerung der Staatsausgaben. Unmöglich und schädlich wäre nicht nur, von vierzig auf vier zu reduzieren, sondern selbst von vierzig auf achtunddreißig. Und das aus folgendem Grunde: es wäre ein verderblicher Anschlag auf das Grundprinzip. Jetzt sind es zweihundert Jahre her, d h. seit Peter, daß wir, die Bureaukraten, im Reiche alles sind; ja, im Grunde genommen sind wir das Reich und überhaupt alles; – das Übrige – ist nur Anhängsel. Wenigstens ist es bis vor kurzem, bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft, noch so gewesen. Alle früheren Wahlämter, als da sind ... nun, da, die der Adligen zum Beispiel, haben ganz von selbst, sozusagen infolge einer Anziehungskraft, unseren Geist und Sinn angenommen. Und wir haben uns deswegen, als wir das einsahen, keineswegs beunruhigt; denn das Prinzip, das vor zweihundert Jahren aufgestellt worden ist, wurde dadurch nicht im geringsten angegriffen. Nach der Bauernreform schien allerdings etwas Neues kommen zu wollen: es kam die Selbstverwaltung, es kam das Semstwo usw. ... Jetzt hat es sich deutlich erwiesen, daß auch all dieses Neue sofort und ganz von selbst unsere Form, unsere Seele und unsere Gestalt annimmt, sich sozusagen in unsere Form verwandelt. Und das ist nicht etwa durch Zwang geschehen – das wäre eine total falsche Auffassung –, sondern gerade ganz von selbst; denn es ist schwer, sich Jahrhunderte alter Gewohnheiten zu entledigen, und wenn Sie wollen, ist das auch nicht nötig, besonders nicht in einer so fundamentalen und großen Nationalfrage. Sie können mir das, wenn Sie wollen, nicht glauben; doch wenn Sie tiefer nachdenken, so werden Sie die Richtigkeit des Gesagten, dessen bin ich gewiß, anerkennen. Denn – was sind wir? Wir sind alles, sind bis jetzt alles gewesen und werden fortfahren, alles zu sein, – und wiederum ohne uns darum selber sonderlich zu bemühen, einfach nach dem natürlichen Gang der Dinge, also unwillkürlich! Es ist schon lange her, daß man sagt, unsere Arbeit sei tote, papierene Kanzleiarbeit, und Rußland wäre all dem entwachsen. Vielleicht ist es dem entwachsen, aber vorläufig sind wir immer noch die einzigen, die Rußland halten und es davor bewahren, daß es auseinanderfällt! Denn das, was Sie erstarrtes Kanzleitum nennen, – d. h. also wir, als Einrichtung, und dann auch unsere ganze Tätigkeit – das ist, wenn man sich eines Beispiels bedienen will, wie das Skelett, in einem lebendigen Organismus. Zerstören Sie das Skelett, werfen Sie die Knochen durcheinander – und der ganze lebendige Körper muß vergehen. Schön, mag die Sache auch noch so tot betrieben werden, dafür aber geht es nach dem System, nach dem Prinzip, dem großen Prinzip – erlauben Sie, daß ich Sie darauf aufmerksam mache. Mag es auch auf Kanzleimanier geschehen, meinetwegen sogar schlecht, unvollkommen, so wird es immerhin irgendwie doch gemacht und, die Hauptsache: Rußland steht noch und fällt nicht! Das ist es ja, daß es noch immer nicht fällt! Ich bin bereit, Ihnen zuzugeben, daß wir im Grunde meinetwegen auch nicht gerade alles sind, – oh, wir sind klug genug, um einzusehen, daß wir nicht ganz Rußland sind und besonders jetzt nicht; dafür aber sind wir immerhin etwas, d. h. etwas bereits Wirkliches, tatsächlich Vorhandenes, wenn auch vielleicht teilweise Körperloses. Nun aber, was habt ihr, womit ihr uns ersetzen könntet? Woraufhin könnten wir uns mit der Überzeugung zurückziehen, daß auch bei euch ein Etwas entstanden ist, das uns wirklich ersetzen kann, – ohne daß alles fallen muß? All diese Selbstverwaltungen und Semstwos – das ist doch vorläufig immer noch ein Vogel in den Wolken, meinetwegen ein prachtvoller Vogel, einer, der unter dem Himmel herumfliegt, jedoch immerhin einer, der sich noch niemals auf die Erde herabgelassen hat. Folglich ist er trotz seiner Schönheit als Wert für uns eine Null, wir aber, wenn wir auch durchaus nicht ‚prachtvoll‘ sind und man unser sogar sehr überdrüssig geworden ist, wir aber sind dafür wenigstens etwas, und zwar nichts weniger als eine Null. Ihr nun werft uns vor und beschuldigt uns: wir seien daran schuld, daß der Vogel sich bis jetzt noch nicht auf die Erde herabgelassen hat, und wir bemühten uns, ihn, den prachtvollen Vogel, in unsere Bureauform umzuwandeln, unserem Kanzleigeist anzupassen. Es wäre natürlich sehr nett von uns, wenn das wirklich der Fall wäre; denn damit würden wir beweisen, daß wir für das ewige, grundlegende und edelste Prinzip einstehen, und eine nutzlose Null in ein nützliches Etwas verwandeln. Doch glauben Sie mir, hierbei tragen wir nicht die geringste Schuld, oder doch nur eine verschwindend geringe Schuld, und glauben Sie mir, der herrliche Vogel ist selber im Zweifel: er weiß selbst nicht, was er eigentlich werden soll – das, was wir sind? oder wirklich etwas Selbständiges? Wie gesagt, er ist noch selber unschlüssig und hat vielleicht sogar ein wenig den Kopf verloren. Ich versichere Sie, er ist aus eigenen freien Stücken zu uns gekommen, und wir haben ihn nicht im geringsten zu beeinflussen gesucht. So stellt es sich heraus, daß wir sozusagen ein natürlicher Magnet sind, zu dem in Rußland bis heute noch alles hingezogen wird – und das kann noch lange, lange so fortdauern. Sie glauben mir noch immer nicht? Es erscheint Ihnen vielleicht lächerlich? Und doch bin ich bereit, um einerlei was zu wetten: versuchen Sie es, lösen Sie Ihrem herrlichen Vögelchen die Flügel, gestatten Sie ihm alle Freiheiten, befehlen Sie zum Beispiel Ihrem Semstwo mit aller Strenge: ‚Von jetzt ab mußt du ein selbständiger und nicht mehr ein bureaukratischer Vogel sein!‘ – und, glauben Sie mir, daß alle Vögel, wie sie da sind, ohne eine Ausnahme, sich von selbst noch viel mehr zu uns drängen und schließlich damit enden werden, daß sie sich in echte, rechte Beamte verwandeln, unseren Geist und unsere Gestalt annehmen, alles von uns kopieren! Sogar der Bauer wird zu uns kommen, denn es würde ihm doch gar zu schmeichelhaft sein, uns ähnlich zu werden! Nicht umsonst hat sich der Gefallen, den sie an uns Beamten gefunden haben, zweihundert Jahre lang entwickelt. Und Sie verlangen nun, daß wir, das einzig Reale und Feststehende in Rußland, uns selber gegen dieses Rätsel eintauschen sollen, gegen diese Scharade, gegen diesen Ihren schönen Vogel in den Wolken? Nein, lieber behalten wir unseren Sperling in der Hand. Lieber verbessern wir uns selber irgendwie, nun, sagen wir, indem wir etwas Neues einführen, etwas mehr, wie Sie es nennen, Fortschrittliches, dem Geiste der Zeit Entsprechenderes: wir werden, sagen wir, etwas wohltätiger werden oder sonst irgend etwas von der Art ... Aber gegen das Hirngespinst, den plötzlich erschienenen Traum, tauschen wir nicht unser einziges reales Etwas ein; denn es ist klar, daß wir vorläufig niemanden haben, der uns ersetzen könnte! Wir widersetzen uns der Vernichtung sozusagen durch unseren mächtigen passiven Widerstand. Dieser Widerstand ist es gerade, der an uns wertvoll bleibt, denn nur durch ihn allein hält sich noch alles in unserer Zeit. Darum aber wäre der Versuch, uns von vierzig auf achtunddreißig zu reduzieren (von einem ‚von vierzig auf vier‘ ganz zu schweigen) grundschädlich, ja wäre sogar unmoralisch! Man würde Kopeken sparen, dafür aber das Prinzip zerstören. Vernichten Sie, verändern Sie jetzt noch unsere Formel, wenn Sie nur das Gewissen dazu haben: Es würde ein Verrat an unserem ganzen russischen Europäismus, an unserer ganzen Bildung sein! – wissen Sie das auch? Das wäre die Verneinung dessen, daß auch wir ein Reich, auch wir Europäer sind, das wäre Verrat an Peter! Und wissen Sie, Ihre Liberalen – übrigens die unserigen gleichfalls –, die in den Zeitungen so heftig für die Semstwos gegen das Beamtentum eintreten, widersprechen sich im Grunde genommen alle selbst. Denn diese Semstwos, alle diese Neuheiten ‚im volklichen Geiste‘ – das sind doch dieselben ‚Volksgrundsätze‘, oder die beginnende Formulierung dieser Grundsätze, über die jene Partei, die unseren europäisierenden Russen so verhaßt ist, eben die ‚russische Partei‘ zetert (vielleicht haben Sie schon gehört, daß man sie in Berlin so benannt hat?); das sind diese selben ‚Grundsätze‘, die unser russischer Liberalismus und Europäismus so wütend leugnet, die er verlacht und sogar nicht einmal als vorhanden anerkennen will! Oh, er fürchtet sie sehr: Nun, wie, wenn sie tatsächlich vorhanden sind und sich verwirklichen – dann ist’s doch in gewissem Sinne eine unangenehme Überraschung! Also sind alle Ihre Europäer genau genommen mit uns und wir mit ihnen ... was sie eigentlich schon längst hätten einsehen und sich merken sollen. Wenn Sie wollen, sind wir nicht nur mit ihnen, sondern sogar wir sind sie, denn wir sind ein und dasselbe: in ihnen, in ihnen selber ist unser Geist enthalten und sogar unsere Gestalt, gerade in diesen Ihren Westlern. Ja, das ist tatsächlich so! Und ich werde Ihnen noch etwas sagen: Europa, d. h. das russische Europa oder Europa in Rußland – das sind ja nur wir allein! Wir sind die Verkörperung der ganzen Formel des russischen Europäismus und enthalten sie restlos in uns. Wir allein sind ihre Ausleger. Ich begreife nicht, warum man diesen unseren Europäern nicht für ihren Europäismus gewisse Kennzeichen verleiht, wenn wir mit ihnen doch nun einmal so ohne weiteres zusammenfließen? Mit Vergnügen würden sie sie tragen, und damit könnte man auch noch viele anlocken. Aber bei uns versteht man’s nicht. Nichtsdestoweniger schimpfen sie auf uns – die Eigenen erkennen die Eigenen nicht! Doch, um mit Ihren Semstwos und all diesen Neuheiten endlich abzuschließen, sage ich Ihnen ein für allemal: Nein! Denn dieses ist eine lange Sache und keineswegs so kurz, wie Sie vielleicht annehmen. Dazu bedarf es einer eigenen vorhergehenden Kultur, einer eigenen, neuen, vielleicht noch einmal zweihundertjährigen Geschichte. Nun, sagen wir, einer hundertjährigen, oder meinetwegen auch fünfzigjährigen, da wir ja jetzt das Jahrhundert der Telegraphen und Eisenbahnen haben. Also immerhin doch eine fünfzigjährige Entwicklung: also geht es nicht sofort. Augenblicklich jedenfalls wird nichts anderes entstehen als unseresgleichen. Und so wird es noch lange bleiben.“
Damit verstummte mein Bureaukrat stolz und würdevoll, und, wissen Sie, ich habe ihm auch nichts entgegnet, denn in seinen Worten war gerade solch ein „Etwas“, irgendeine traurige Wahrheit, die wirklich, wirklich da ist. Selbstverständlich war ich innerlich nicht mit ihm einverstanden. Und zudem – in solchem Ton sprechen nur Leute, die sich überlebt haben. Aber trotzdem war in seinen Worten „etwas“ ...
Oh, bitte nur nicht zu glauben, ich beabsichtigte hier wirklich, die „Judenfrage“ aufzuwerfen! Diese Überschrift habe ich nur zum Scherz hingeschrieben. Ein Problem von der Größe, wie es die Stellung der Juden in Rußland und andererseits die Lage Rußlands ist, das unter seinen Söhnen drei Millionen Juden zählt, – solch ein Problem zu lösen geht über meine Kraft. Wohl aber kann ich darüber eine eigene Meinung haben, und zudem hat sich jetzt herausgestellt, daß viele Juden sich plötzlich für diese Meinung interessieren. Seit einiger Zeit schreiben sie mir Briefe, in denen sie mir ernst, bitter und betrübt vorwerfen, ich fiele über sie her, ich haßte den Juden, und zwar nicht wegen seiner „Mängel“, „nicht als Ausbeuter“, sondern gerade als „Juden“, als Volk, also etwa in dem Sinne von: „Judas hat Christus verkauft“. Das schreiben mir „gebildete“ Juden, d. h. solche, die sich immer bemühen, einem zu verstehen zu geben, daß sie bei ihrer Bildung schon längst nicht mehr die „Vorurteile“ ihrer Nation teilen, noch deren religiöse Gebräuche erfüllen, wie die anderen, einfachen Juden, denn sie hielten dies für unvereinbar mit ihrer Bildung; und auch an Gott glaubten sie nicht mehr, schreiben sie. Dazu will ich vorläufig nur bemerken, daß es von diesen „höheren Israeliten“, die doch sonst so für ihre Nation einstehen, einfach Sünde ist, ihren bereits vierzig Jahrhunderte lebenden Jehova zu vergessen und zu verleugnen. Es ist nicht nur aus dem Gefühl der Nationalität heraus Sünde, sondern auch noch aus anderen, tieferen Gründen. Ist es nicht sonderbar, daß man sich einen Juden ohne Gott gar nicht denken kann? Doch dieses Thema gehört schon zu den ganz großen, daher müssen wir von ihm hier vorläufig absehen. Am meisten wundert mich eines: wie und woher kommt es, daß man mich für einen Feind der Juden als Volk, als Nation, ja, für einen Judenhasser hält? Den Juden als Ausbeuter und für einzelne seiner Laster zu verurteilen, wird mir von diesen Herren selbst teilweise sogar erlaubt, aber ... aber nur in Worten: in Wirklichkeit kann man jedoch schwerlich einen reizbareren und kleinlicheren Menschen als den gebildeten Israeliten finden, einen, der sich leichter gekränkt fühlt als ein Jude als „Jude“. Doch wann und wodurch habe ich Haß auf die Juden, als Volk, bewiesen? Da ich in meinem Herzen nie so etwas gefühlt habe und alle Juden, mit denen ich in engere oder auch nur flüchtige Berührung gekommen bin, dieses wissen, so weise ich ein für allemal eine solche Beschuldigung, noch bevor ich auf die Judenfrage näher eingehe, zurück, um es später nicht immer wieder tun zu müssen. Beschuldigt man mich vielleicht deswegen des „Hasses“, weil ich statt „Israelit“ „Jude“ sage? Erstens habe ich nicht geglaubt, daß dieser Name kränken könnte, und zweitens habe ich mich seiner, soweit ich mich erinnere, immer nur zur Bezeichnung einer bestimmten Idee bedient: „Judentum, verjudet, jüdisch“ u. dgl. m. Es hat sich dabei stets um einen gewissen Begriff, eine besondere Richtung, um die Charakteristik irgendeiner Epoche gehandelt. Man könnte wohl über diese Bezeichnung streiten und mit ihr nicht übereinstimmen, aber man kann doch nicht das Wort als beabsichtigte Kränkung auffassen.
Ich erlaube mir, einen Auszug aus dem sehr schönen Schreiben eines äußerst gebildeten Israeliten anzuführen, das mich ungemein interessiert hat: es enthält eine der charakteristischsten Anschuldigungen, die gegen mich wegen meines „Hasses auf die Juden als Volk“ erhoben worden sind.
... nur Eines kann ich mir entschieden nicht erklären: das ist Ihr Haß auf den „Juden“, der fast in jedem Heft Ihres „Tagebuches“ durchbricht.
Ich möchte gerne wissen, warum Sie sich nur gegen den Juden auflehnen und nicht gegen den Ausbeuter im allgemeinen? Ich verabscheue nicht weniger als Sie die Vorurteile meiner Nation – ich habe nicht wenig unter ihnen gelitten –, doch niemals werde ich zugeben, daß schon im Blute dieser Nation das gewissenlose Aussaugen der anderen liege.
Sollten Sie denn wirklich nicht das Grundgesetz jedes sozialen Lebens verstehen können: daß ohne Ausnahme alle Bürger eines Staates, wenn sie nur alle Pflichten ihm gegenüber erfüllen, auch an allen Rechten und an allen Vorteilen, die dieser Staat gewährt, Anteil haben müssen, und daß für die Übertreter des Gesetzes, für die schädlichen Mitglieder der Gesellschaft ein und dasselbe Gesetz gelten muß? ... Warum müssen alle Israeliten in den Rechten beschränkt werden, und warum werden sie nach besonderen Strafgesetzen verurteilt? Wodurch ist die Ausbeutung durch die Ausländer – die Juden sind doch immerhin russische Untertanen –: durch die Deutschen, Engländer, Griechen, deren es in Rußland so unzählige gibt, wodurch ist die besser als die jüdische Ausbeutung? Wodurch sind die russischen rechtgläubigen Aufkäufer, Blutsauger, Schmarotzer, Branntweinverkäufer, die betrügerischen Prozeßführer für die Bauern, wie wir sie jetzt überall in Rußland finden können, besser als dasselbe Handwerk betreibende Juden, die doch immer nur ein begrenztes Feld der Tätigkeit haben? Warum ist dieser schlechter als jener?
Es folgt ein Vergleich zwischen bekannten berüchtigten Juden mit ähnlich berüchtigten Russen, natürlich solchen, die ersteren in nichts nachstehen. Was beweist das aber? Wir sind doch nicht stolz auf sie, heben sie doch nicht als nachahmenswerte Beispiele hervor; im Gegenteil, wir wissen ja alle, daß diese, wie jene, nicht ehrenwert sind.
... Solche Fragen könnte ich Ihnen zu Tausenden stellen. Währenddessen verstehen Sie, wenn Sie vom „Juden“ sprechen, unter diesem Begriff die ganze bettelarme Masse der drei Millionen Israeliten Rußlands, von denen wenigstens zwei Millionen neunhunderttausend einen verzweifelten Kampf um ihre elende Existenz führen und doch sittlicher sind, ja, nicht nur sittlicher als die anderen Völker, sondern auch sittlicher als das von Ihnen vergötterte russische Volk. Ferner verstehen Sie unter diesem Namen die ansehnliche Zahl derjenigen Israeliten, die eine höhere Bildung genossen haben, die sich auf allen Gebieten des Staatswesens auszeichnen, wie z. B. ...
Hier folgen abermals mehrere Namen, die zu veröffentlichen ich nicht das Recht zu haben glaube; denn mehreren von ihnen, außer Goldstein, könnte es vielleicht unangenehm sein, zu erfahren, daß sie israelitischer Herkunft sind. Dann fährt er fort:
... und Goldstein, der in Serbien für die slawische Idee den Heldentod gefunden hat, und alle die anderen, die fürs Wohl der Gesellschaft und der Menschheit arbeiten? Ihr Haß auf den „Juden“ erstreckt sich sogar auf Disraeli, der wahrscheinlich selbst nicht einmal weiß, daß er von spanischen Israeliten abstammt, und der die englische konservative Politik selbstverständlich nicht vom Standpunkt des „Juden“ leitet ... (?)
Bedauerlicherweise kennen Sie nicht unser Volk, weder sein Leben, noch seinen Geist, noch endlich seine vierzig Jahrhunderte alte Geschichte. Bedauerlicherweise, sage ich, weil Sie jedenfalls ein aufrichtiger, unbedingt ehrlicher Mensch sind, doch unbewußt der riesigen Masse eines bettelarmen Volkes Schaden zufügen. Die mächtigen „Juden“ jedoch, die die Mächtigen dieser Welt in ihren Salons empfangen, fürchten natürlich weder die Presse noch selbst die ohnmächtige Wut der Ausgebeuteten. Doch nun genug über dieses Thema! Schwerlich werde ich Sie überzeugen können – wohl aber wünschte ich sehr, daß Sie mich überzeugten ...
Dieser Auszug dürfte genügen. Bevor ich jedoch etwas zu meiner Verteidigung sage – denn solche Anschuldigungen kann ich nicht ruhig hinnehmen – möchte ich noch auf die Wut des Angriffes und den Grad der Empfindlichkeit hinweisen. Erstens, so lange wie mein „Tagebuch“ erscheint, hat in ihm noch kein einziger Satz gegen den „Juden“ gestanden, der einen so erbitterten Angriff rechtfertigen könnte. Zweitens fällt es einem unwillkürlich auf, daß der verehrte Schreiber, wenn er auf das russische Volk zu sprechen kommt, sich in seinen Gefühlen nicht bezwingen kann und das arme russische Volk denn doch etwas zu sehr von oben herab behandelt. Jedenfalls zeigt dieser Ingrimm nur zu deutlich, mit welchen Augen die Juden selbst auf uns Russen sehen. Der Schreiber dieses Briefes ist gewiß ein gebildeter und begabter Mensch – nur glaube ich nicht, daß er auch ohne Vorurteile sei –; was für Gefühle aber soll man nun noch von den zahllosen ungebildeten Juden erwarten? Ich sage das nicht etwa als Beschuldigung: diese Gefühle sind ja ganz natürlich. Ich will nur darauf hinweisen, daß an unserer Unverschmelzbarkeit vielleicht nicht nur wir Russen die Schuld tragen, sondern, daß es auf beiden Seiten Gründe gibt, die eine Vereinigung ausschließen, – und noch fragt es sich, auf welcher Seite es solcher Gründe mehr gibt?
Doch jetzt will ich einige Worte zu meiner Rechtfertigung sagen und überhaupt klarlegen, wie ich mich zu diesem Problem stelle; natürlich – es zu lösen, steht nicht in meiner Kraft, doch irgend etwas ausdrücken werde auch ich vielleicht können.
Es mag vielleicht sehr schwer sein, hinter die vierzig Jahrhunderte alte Geschichte eines Volkes, wie das der Juden, zu kommen – ich weiß es nicht. Eines aber weiß ich bestimmt, nämlich, daß es in der ganzen Welt kein zweites Volk gibt, das so über sein Schicksal klagt, so ununterbrochen, bei jedem Schritt und jedem Wort, über seine Erniedrigung, über sein Leiden, über sein Märtyrertum jammert, wie die Juden. Man könnte ja wirklich denken, daß nicht sie in Europa herrschen. Wenn sie es auch meinetwegen nur auf der Börse tun, so heißt das doch, die Politik, die inneren Angelegenheiten, die Moral der Staaten regieren. Mag auch der edle Goldstein für die slawische Idee gestorben sein, – aber diese selbe „slawische“ Frage würde doch schon längst zugunsten der Slawen und nicht zugunsten der Türken entschieden sein, wenn die jüdische Idee in der Welt nicht so stark wäre. Ich bin bereit, zu glauben, daß Lord Beaconsfield vielleicht selbst seine Herkunft von einstmals spanischen Juden vergessen hat (oh, er wird sie bestimmt nicht vergessen haben!); daß er aber im letzten Jahre die englische „konservative“ Politik teilweise vom Standpunkt des Juden aus geleitet hat, daran, glaube ich, kann man nicht mehr zweifeln.
Doch nehmen wir an, daß alles bisher von mir über die Juden Gesagte noch kein schwerwiegender Einwand ist – ich gebe es selbst zu. Trotzdem aber kann ich dem Geschrei der Juden, daß sie so furchtbar erniedrigt und gequält und verprügelt wären, doch nicht ganz widerspruchslos glauben. Meiner Ansicht nach trägt der russische Bauer oder überhaupt das niedrigere russische Volk noch viel größere Lasten, als die Juden sie zu tragen haben. Im zweiten Brief schreibt mir derselbe Herr, aus dessen erstem Schreiben ich vorhin schon einiges angeführt habe:
... Vor allen Dingen ist es unbedingt notwendig, uns Israeliten alle Bürgerrechte zu gewähren (bedenken Sie doch bloß, daß uns jetzt noch das allererste Recht verwehrt ist: die freie Wahl des Aufenthaltsortes, woraus sich eine Menge furchtbarer Konsequenzen für die große Masse der Israeliten ergeben), Bürgerrechte, wie sie alle anderen fremden Völkerschaften in Rußland genießen, und dann erst von uns die Erfüllung aller Pflichten dem Staate wie dem russischen Volke gegenüber zu verlangen ...
Doch nun bitte auch ich Sie, mein Herr, bloß zu bedenken, da Sie auf der zweiten Seite dieses Briefes selbst schreiben, daß Sie „das schwer arbeitende russische Volk unvergleichlich mehr lieben und bedauern als das israelitische“ (was für einen Israeliten wohl etwas zuviel gesagt ist), bedenken auch Sie doch, bitte, daß zur Zeit, da der Israelit lediglich nicht das Recht hatte, sich seinen Aufenthaltsort frei zu wählen, dreiundzwanzig Millionen des „schwer arbeitenden russischen Volkes“ in der Leibeigenschaft zu leben und zu leiden hatten, was, wie ich glaube, etwas schwerer war. Und wurden sie damals von den Israeliten etwa bedauert? Ich glaube nicht: im Westen und Süden Rußlands wird man Ihnen ausführlichst darauf Antwort geben. Auch damals schrien die Juden ganz ebenso nach Rechten, die das russische Volk nicht einmal selbst hatte, schrien und klagten, daß sie Märtyrer seien, und daß man erst dann, wenn sie größere Rechte bekommen haben würden, von ihnen auch „die Erfüllung aller Pflichten dem Staate wie dem russischen Volke gegenüber verlangen“ könnte. Da kam nun der Befreier und befreite den russischen Bauern, und – wer war der erste, der sich auf ihn wie auf sein Opfer stürzte? – wer benutzte so vorzugsweise seine Schwächen und Fehler zu eigenem Vorteil? – wer umspann ihn sofort mit seinem ewigen goldenen Netz? – wer ersetzte im Augenblick, wo er nur konnte, die früheren Herren, – nur mit dem Unterschied, daß die Gutsbesitzer, wenn sie die Bauern auch stark ausbeuteten, doch darauf bedacht waren, ihre Leibeigenen nicht, wie es der Jude tut, zugrunde zu richten, meinetwegen aus Eigennutz, um ihre Arbeitskraft nicht zu erschöpfen! Was aber liegt dem Juden an der Erschöpfung der russischen Kraft? Hat er das Seine, so zieht er weiter. Ich weiß schon, die Juden werden, wenn sie dies lesen, sofort losschreien, daß es nicht wahr, daß es eine Verleumdung sei, daß ich löge, daß ich all diesen Klatschereien nur glaubte, weil ich ihre „vierzig Jahrhunderte alte Geschichte“ nicht kenne, die Geschichte dieser reinen Engel, die unvergleichlich „sittlicher sind, nicht nur als die anderen Völker, sondern auch sittlicher als das von mir vergötterte russische Volk“ – Zitat aus dem mir gesandten Briefe, siehe oben. Nun schön, mögen sie hundertmal sittlicher sein als alle Völker der Erde, vom russischen schon gar nicht zu reden, so habe ich doch vor kurzem erst in der Märznummer des „Europäischen Boten“ die Nachricht gelesen, daß in Nord-Amerika (in den südlichen Staaten) die Juden sich sofort auf die befreiten Neger gestürzt haben und sie jetzt bereits ganz anders beherrschen, als es die Plantagenbesitzer taten. Natürlich tun sie es wieder auf ihre bekannte Art und Weise mit dem ewigen „goldenen Netz“, – wobei sie sich wieder so trefflich der Unwissenheit und Laster des auszubeutenden Volkes zu bedienen verstehen! Als ich das las, fiel mir sogleich ein, daß ich diese Nachricht schon vor fünf Jahren erwartet hatte: „Jetzt sind die Neger wohl von den Plantagenbesitzern befreit, wie aber sollen sie in Zukunft unversehrt bleiben, denn dieses junge Opferlamm werden doch die Juden, deren es ja so viele in der Welt gibt, ganz zweifellos überfallen.“ Das dachte ich vor fünf Jahren, und ich versichere Sie, ich habe mich nachher noch des öfteren gefragt: „Wie kommt es nur, daß man aus Amerika nichts von den Juden hört, daß die Zeitungen von den Negern nichts zu berichten haben? Diese Sklaven sind doch ein wahrer Schatz für die Juden, sollten sie ihn wirklich ungehoben lassen?“ Nun, er ist ihnen also glücklich nicht entgangen. Und vor zehn Tagen las ich in der „Neuen Zeit“ einen Bericht aus Kowno, der auch ungemein charakteristisch ist: „Die Juden,“ heißt es, „haben dort fast die ganze litauische Bevölkerung durch den Branntwein zugrunde gerichtet, und nur den katholischen Priestern ist es noch gelungen, die Armen durch Hinweisung auf die Höllenqualen und durch Bildung von Mäßigkeitsvereinen vor größerem Unglück zu bewahren.“ Der gebildete Berichterstatter errötet zwar für sein Volk, das noch Priestern und an Höllenqualen glaubt, und so fügt er denn hinzu, daß gleich nach den Priestern sich auch die Reicheren zusammengetan haben, um Landbanken zu gründen – um das Volk vom jüdischen Wucherer zu befreien –, und Landmärkte, damit der „arme, schwerarbeitende Bauer“ die notwendigsten Gegenstände zu angemessenem Preise kaufen könne, und nicht zu dem, den der Jude bestimmt. Ich zitiere nur, was ich gelesen habe; doch weiß ich schon im voraus, was man mir sofort zuschreien wird: „Alles das beweist noch nichts und kommt nur daher, daß die Israeliten selbst arm und unterdrückt sind; alles das ist bloß ‚Kampf ums Dasein‘ – was nur ein beschränkter Zeitungsleser nicht einsehen kann – und die Israeliten würden sich, wenn sie nicht selbst so arm, sondern im Gegenteil reich wären, sofort von der humanen Seite zeigen, und zwar in solchem Maße, daß die ganze Welt darüber in Erstaunen geriete.“ Aber, erstens, diese Neger und Litauer sind doch noch ärmer als die Juden, von denen ihnen das Letzte herausgepreßt wird, und doch verabscheuen sie – bitte, die Zeitungskorrespondenz zu lesen – diese Art Handel, auf die der Jude so erpicht ist. Zweitens ist es nicht schwer, human und moralisch zu sein, wenn man selbst satt ist und im Warmen sitzt; zeigt sich aber ein wenig „Kampf ums Dasein“, so „komm dem Juden nicht zu nah“! Meiner Meinung nach ist das gerade kein Zug, der „wahren Engeln“ zusteht. Und drittens, ich stelle ja diese beiden Nachrichten aus dem „Europäischen Boten“ und der „Neuen Zeit“ keineswegs als kapitale und alles entscheidende Tatsachen hin. Wollte man anfangen die Geschichte dieses Weltvolkes zu schreiben, so könnte man sofort hunderttausend solcher und noch wichtigerer Tatsachen finden, so daß zwei mehr oder weniger nichts zu bedeuten hätten. Doch bei alledem ist eines auffallend: braucht jemand, sei es im Streit oder sonst aus irgendeinem Grunde, eine Auskunft über die Juden und ihre Taten, so gehe er nicht in die Bibliotheken, suche er nicht in alten Büchern oder eigenen Notizen; nein, er strecke nur, ohne sich vom Stuhl zu erheben, die Hand nach irgendeiner ersten besten Zeitung, die neben ihm liegt, aus, und dann suche er auf der zweiten oder dritten Seite: unbedingt wird er etwas finden, das von Juden handelt, unbedingt gerade das, was ihn interessiert, unbedingt das Allercharakteristischste und unbedingt immer dasselbe – d. h. immer die gleichen Heldentaten! Man wird mir wohl zugeben: das hat doch irgend etwas zu bedeuten, das weist doch auf etwas Bestimmtes hin, eröffnet einem doch ein gewisses Etwas über dieses Volk, selbst wenn man ein vollkommener Laie in der vierzig Jahrhunderte alten Geschichte dieses Volkes ist!? Selbstverständlich wird man mir hierauf antworten, daß alle vom Haß verblendet seien und infolgedessen lögen. Natürlich ist es sehr leicht möglich, daß alle, bis auf den Letzten, lügen, doch erhebt sich dann sofort eine andere Frage: wenn alle bis auf den Letzten von so einem Haß beseelt sind, daß sie sogar lügen, so muß doch dieser Haß auch einen Grund, eine Ursache haben, und irgend etwas muß doch dieser allgemeine Haß bedeuten – „irgend etwas bedeutet doch das Wort ‚Alle‘!“, wie einstmals Belinski ausrief.
„Freie Wahl des Aufenthaltsortes!“ Können sich denn die unbemittelten Russen so vollkommen frei ihren Aufenthaltsort wählen? Leidet denn der russische Bauer nicht heute noch unter den früheren, aus der Zeit der Leibeigenschaft gebliebenen unerwünschten Freiheitsbeschränkungen in der Wahl seines Aufenthaltsortes, so daß selbst die Regierung dem schon längst ihre Aufmerksamkeit zugewendet hat? Und was die Juden betrifft, so kann sich ein jeder davon überzeugen, daß ihre Rechte in dieser Beziehung im Laufe der letzten zwanzig Jahre bedeutend vergrößert worden sind. Wenigstens sieht man sie jetzt in Rußland in Gouvernements, wo man sie früher nie gesehen hat. Aber die Juden klagen ja immer über Haß und Verfolgungen. Wenn ich auch die jüdische Lebensweise nicht kenne, eines jedoch weiß ich bestimmt und werde es daher allen gegenüber bezeugen: daß in unserem einfachen Russen ein apriorischer, stumpfer, religiöser Haß, in dem Sinne wie: „Judas hat Christus verkauft“, nicht vorhanden ist. Hört man dies auch einmal vielleicht von Kindern oder Betrunkenen, so sieht doch unser ganzes Volk, ich wiederhole es, ohne jeglichen voreingenommenen Haß auf die Juden. Davon habe ich mich fünfzig Jahre lang selbst überzeugen können. Ich habe mit dem Volk in ein und denselben Kasernen gelebt, auf denselben Pritschen geschlafen. Es waren dort auch einige Juden: niemand hat sie verachtet, niemand sie ausgestoßen oder verfolgt. Wenn sie beteten – und die Juden beten mit großem Geschrei und ziehen sich dazu besondere Kleider an – so hat niemand das sonderbar gefunden, noch sie gestört oder über sie gelacht, was man doch gerade von einem, nach unserer Meinung so „ungebildeten“ Volke, wie das russische, erwarten könnte. Im Gegenteil, sie sagten, wenn sie die Juden beten sahen: „Sie beten so, weil sie so einen Glauben haben,“ und ruhig, ja fast billigend, gingen sie an ihnen vorüber. Und diese selben Juden taten diesen selben Russen gegenüber fremd, wollten nicht mit ihnen zusammen essen und sahen auf sie fast von oben herab; und das an welch einem Ort? – im sibirischen Gefängnis! – Überhaupt zeigten sie überall Widerwillen und Ekel vor dem russischen, dem „eingeborenen“ Volke. Dasselbe geschieht auch in den Soldatenkasernen und überall in ganz Rußland. Man erkundige sich doch, ob der Jude in der Kaserne als „Jude“, seines Glaubens, seiner Sitten wegen beleidigt wird? Ich kann versichern: in den Kasernen wie überhaupt im Leben sieht und begreift der einfache Russe nur zu gut, daß der Jude mit ihm nicht essen will, daß er ihn verabscheut und ihn meidet, soviel er nur kann (das geben ja die Juden sogar selbst zu). Nun, und? – Anstatt sich durch solches Benehmen gekränkt zu fühlen, sagt der einfache Russe ruhig und vernünftig: „Das tut er, weil er solch einen Glauben hat,“ – d. h. nicht etwa weil er böse ist. Und nachdem er diesen tieferen Grund eingesehen, entschuldigt er ihn von ganzem Herzen. Nun habe ich mich aber zuweilen gefragt: was würde wohl geschehen, wenn in Rußland 3 Millionen Russen und, umgekehrt, 80 Millionen Juden wären, was würden dann die Letzteren aus den Russen machen, wie würden sie dann diese behandeln? Würden sie ihnen auch nur annähernd die gleichen Rechte geben? Würden sie ihnen erlauben, so zu beten, wie sie wollen? Würden sie sie nicht einfach zu Sklaven machen? Oder, noch schlimmer: würden sie ihnen dann nicht das Fell mitsamt der Haut abziehen? Würden sie sie nicht vollständig ausrotten, nicht ebenso vernichten, wie sie es früher in ihrer alten Geschichte mit anderen Völkerschaften getan? Nein, ich versichere Sie, im russischen Volk ist kein vorurteilsvoller Haß auf den Juden. Es ist aber vielleicht eine Antipathie gegen ihn vorhanden, besonders in gewissen Gegenden, und dort ist sie vielleicht sogar sehr stark. Ohne sie scheint es nun einmal nicht zu gehen, doch beruht diese Abneigung durchaus nicht auf irgendeinem Rassen- oder Religionshaß, sondern auf gewissen Tatsachen, an denen aber nicht das russische Volk schuld ist, sondern der Jude selbst.
Die Juden beschuldigen uns des Hasses gegen sie und dazu noch eines Hasses aus Vorurteilen. Da also von Vorurteilen die Rede ist, will ich zuerst fragen: hat der Jude gegen den Russen etwa weniger Vorurteile als der Russe gegen den Juden? – oder sollte er ihrer nicht doch noch mehr haben? Ich habe Briefe von Juden erhalten, und zwar nicht von einfachen, sondern von gebildeten Juden – und wieviel Haß gegen die „autochthone Bevölkerung“ ist doch in diesen Briefen! Das auffallendste aber – sie bemerken es selbst nicht einmal, daß sie gehässig schreiben.
Ein Volk, das vierzig Jahrhunderte auf der Erde existiert, also fast seit dem Anfang der historischen Zeitordnung, und noch dazu in einem so festen und unzerstörbaren Zusammenhang, ein Volk, das so oft sein Land, seine politische Unabhängigkeit, seine Gesetze, wenn nicht gar seinen Glauben verloren hat, – und sich noch jedesmal wieder vereinigen, sich in der früheren Idee wiedergebären, sich Gesetze und fast auch den Glauben von neuem hat schaffen können, – nein, ein so zähes Volk, ein so ungewöhnlich starkes, energisches, solch ein in der ganzen Welt beispielloses Volk hat nicht ohne status in statu leben können. Und diesen status hat es überall und während der schrecklichsten tausendjährigen Verfolgungen aufrechterhalten. Doch ich will hier keineswegs, indem ich vom status in statu rede, eine Anklage gegen die Juden erheben. Ich frage nur: worin besteht denn dieser status in statu, worin seine ewige, unveränderliche Idee, und worin das Wesen dieser Idee? Allerdings lassen sich Fragen von solcher Größe nicht in einem kurzen Artikel genügend auseinandersetzen, abgesehen davon, daß dies auch aus einem anderen Grunde ganz unmöglich wäre: noch ist die Zeit für das endgültige Urteil über dieses Volk nicht gekommen, trotz der verflossenen vierzig Jahrhunderte; noch steht das letzte Wort aus, das die Menschheit über dieses mächtige Volk zu sagen hat. Aber auch ohne in das Wesen der Sache einzudringen, kann man doch wenigstens einige, wenn auch nur äußerliche Kennzeichen dieses status in statu angeben. Diese Kennzeichen sind: die bis zum religiösen Dogma erhobene Absonderung und Abgeschlossenheit von allem, was nicht Judentum ist, und die Unverschmelzbarkeit mit anderen Völkern, der Glaube, daß es in der ganzen Welt nur ein einziges persönliches Volk gibt – die Juden –, und die Überzeugung, die anderen Völker, wenn sie auch vorhanden sind, doch so behandeln zu müssen, als ob sie nicht vorhanden wären. „Scheide dich aus von den Völkern und bilde deine Besonderheit und wisse, daß du von nun ab allein bei Gott bist. Die anderen vernichte oder mache sie zu deinen Sklaven oder beute sie aus. Glaube an deinen Sieg über die ganze Welt, glaube, daß alles dir untertan sein wird. Alle anderen Völker sollst du verabscheuen und mit keinem von ihnen Umgang pflegen. Und selbst wenn du dein Land und deine politische Persönlichkeit verlierst, selbst wenn du über die ganze Erde hin unter alle Völker verstreut sein wirst – gleichviel: glaube an all das, was dir verheißen ist, ein für allemal, glaube, daß es also geschehen werde, – inzwischen aber lebe, verachte, beute aus und – erwarte, erwarte, erwarte ...“ Das ist die Quintessenz dieses status in statu. Außerdem gibt es natürlich noch innere und geheime Gesetze, die diese Idee lebendig erhalten.
Sie sagen, meine gebildeten Herren Israeliten und Gegner, daß dieses nichts als Unsinn sei, und: „... Wenn es auch einen status in statu gibt, – das heißt, selbstverständlich: früher einmal einen gegeben hat, von dem jetzt vielleicht noch schwache Spuren vorhanden sein mögen, – so haben einzig die Verfolgungen aller Zeiten und besonders des Mittelalters zu ihm geführt; folglich ist dieser status in statu ausschließlich aus dem Trieb der Selbsterhaltung entstanden; setzt er sich auch heute noch fort, besonders in Rußland, so geschieht das nur, weil der Israelit hier noch nicht dieselben Rechte genießt wie der Russe.“ Ich aber glaube, daß er, selbst wenn er die gleichen Rechte hätte, doch auf keinen Fall seinem status in statu entsagen würde. Den status in statu nur den Verfolgungen und dem Selbsterhaltungstrieb zuzuschreiben, geht meiner Meinung nach nicht an. Die Widerstandskraft zur Selbsterhaltung würde dann doch nie und nimmer für ganze vierzig Jahrhunderte ausgereicht haben. Selbst die größten und stärksten Kulturen haben sich nicht einmal durch die Hälfte von vierzig Jahrhunderten erhalten können und haben ihre politische Kraft und selbständiges Volkstum in noch kürzerer Zeit eingebüßt. Hier ist nicht die Selbsterhaltung die erste Ursache, sondern eine Idee, die mit sich fortreißt, die leitet und erhält; hier handelt es sich um etwas Weltbeherrschendes und Ewiges, worüber das „letzte Wort“ zu sagen die Menschheit vielleicht noch gar nicht fähig ist. Daß der religiöse Charakter in dieser Idee das Übergewicht hat – darüber kann kein Zweifel bestehen. Es ist doch klar, daß der Fürsorger dieses Volkes unter dem Namen des früheren alten Jehova fortfährt, mit seinem Ideal und seiner Verheißung sein Volk zum festen Ziele zu führen. Es ist ja ganz unmöglich, wiederhole ich, sich einen Juden ohne Gott vorzustellen, oh, und ich glaube auch nicht an gebildete jüdische Atheisten: alle sind sie eines Wesens, und Gott weiß, was der Welt von der jüdischen Intelligenz noch bevorsteht! Als Kind habe ich oft von den Juden sagen hören, daß sie auch jetzt noch unverzagt ihren Messias erwarten, alle, wie der niedrigste so der höchste von ihnen, der gelehrteste Philosoph wie der kabbalistische Rabbiner; daß sie alle glauben, ihr Messias werde sie wieder in Jerusalem versammeln und alle Völker mit seinem Schwerte zu ihren Füßen legen; daß nur aus diesem Grunde die Juden – wenigstens in ihrer übergroßen Mehrzahl – bloß eine einzige Arbeit allen anderen vorzögen: den Handel mit Gold und mit allem, was sich schnell in Gold verwandeln läßt –, und daß sie dies nur deshalb täten, hieß es, um dereinst, wenn der Messias kommt, kein neues Vaterland zu haben, nicht durch Besitz an das Land Fremder gebunden zu sein, sondern ihr Hab und Gut in Gold und Wertsachen mit sich führen zu können –
„Wenn erglänzt das Licht der Morgenröte
Und Cinellen, Cymbeln, Pauken und Schalmeien tönen –
Dann bringen wir nach Palästina
In den alten Tempel unsres Gottes
Alle Schätze, die wir haben:
Edelsteine, Gold und Silber“ ...
Ich habe das als Legende gehört, doch bin ich fest überzeugt, daß dieser Glaube unbedingt vorhanden ist, vielleicht nicht bewußt im einzelnen, wohl aber in Gestalt eines instinktiven, unbezwingbaren Triebes in der ganzen Masse der Juden. Damit aber ein solcher Glaube lebendig bleibe, ist es natürlich erforderlich, daß der status in statu aufs strengste erhalten werde. Und so wird er denn erhalten. Folglich ist und war nicht nur die Verfolgung die Ursache des status in statu, sondern – die Idee ...
Haben aber die Juden wirklich solch ein besonderes inneres, strenges Gesetz, das sie zu etwas Ganzem und Besonderem zusammenbindet, so kann man ja noch über die Frage, ob man ihnen die volle Gleichberechtigung mit dem eigenen Volke geben soll, nachdenken. Selbstverständlich muß alles, was Menschlichkeit und Gerechtigkeit verlangen, für die Juden getan werden. Doch wenn sie in ihrer vollen Rüstung und Eigenart, in ihrer nationalen und religiösen Absonderung, im Schutze ihrer Regeln und Prinzipien, die den Grundsätzen, nach denen sich bis jetzt die ganze europäische Welt entwickelt hat, so durchaus entgegengesetzt sind, – wenn sie bei alledem noch die vollständige Gleichberechtigung mit der autochthonen Bevölkerung in allen möglichen Rechten verlangen: bekämen sie dann nicht, wenn man sie ihnen gewähren würde, bereits mehr als das, was das autochthone Volk selbst hat, etwas, was sie über letzteres stellen würde? Hierauf wird man natürlich auf die anderen Fremdvölker in Rußland hinweisen: „Die sind gleichberechtigt oder doch so gut wie gleichberechtigt, wir Israeliten aber haben von allen Fremdvölkern die geringsten Rechte, und das nur, weil man uns fürchtet, weil wir Juden, wie es heißt, schädlicher als alle anderen Fremdvölker sein sollen. Doch wodurch sind denn gerade wir Israeliten schädlich? Wenn unser Volk auch einige schlechte Eigenschaften haben mag, so hat es sie doch nur, weil das russische Volk selbst zur Entwicklung dieser Eigenschaften beiträgt, und zwar einfach durch seine eigene Unwissenheit, durch seine Unbildung, durch seine Unfähigkeit, selbständig zu sein, durch seine geringe ökonomische Begabung. Das russische Volk verlangt ja selbst nach einem Vermittler, einem Leiter, einem Vormund in den Geschäften, einem Gläubiger, ruft ihn selbst und verkauft sich ihm freiwillig! Seht doch, wie es in Europa ist: dort haben die Völker einen festen und selbständigen Willen, eine starke nationale Entwicklung und Verständnis für die Arbeit, an die sie von jeher gewöhnt sind – dort fürchtet man sich auch nicht, den Israeliten dieselben Rechte zu geben! Hört man etwa in Frankreich von einem Schaden, den der status in statu der dortigen Israeliten der französischen Nation verursachte?“
Allem Anschein nach ein starker Einwand; aber geht aus ihm nicht hervor, daß die Juden es gerade dort gut haben, wo das Volk noch unwissend ist oder unfrei oder wirtschaftlich wenig entwickelt, – daß es für sie also gerade dort vorteilhaft ist, zu leben? Anstatt nun durch ihren Einfluß das Niveau der Bildung zu heben, das Wissen zu verbreiten, die wirtschaftlichen Fähigkeiten in der eingeborenen Bevölkerung zu entwickeln, wie es die anderen Fremdvölker tun, haben die Juden überall, wo sie sich niedergelassen, das Volk noch mehr erniedrigt und verdorben, überall dort ist die Menschheit noch niedergebeugter, und ist das Niveau der Bildung noch tiefer gesunken, hat sich noch schrecklicher aussichtslose, unmenschliche Armut verbreitet, und mit ihr die Verzweiflung. Man frage doch in unseren Grenzgebieten die eingeborene Bevölkerung, was die Juden treibt, und was sie so viele Jahrhunderte hindurch getrieben hat? Man wird nur eine einzige Antwort erhalten: „Die Unbarmherzigkeit! ... Getrieben hat sie so viele Jahrhunderte bloß ihre Gier, sich an unserem Schweiß und Blut zu sättigen.“ Die ganze Tätigkeit der Juden in unseren Grenzgebieten hat bloß darin bestanden, daß sie die eingeborene Bevölkerung in eine rettungslose Abhängigkeit von sich gebracht haben, und zwar unter einer wirklich bewunderungswürdigen Ausnutzung der Verhältnisse. Oh, in solchen Angelegenheiten haben sie es immer verstanden, die Möglichkeit zu finden, über Rechte zu verfügen. Sie haben es immer verstanden, gut Freund mit denen zu sein, von denen das Volk abhängt; in dieser Beziehung wenigstens sollten sie doch über ihre geringen Rechte im Verhältnis zum russischen Volke nicht klagen. Sie haben ihrer bei uns schon übergenug –, dieser Rechte über das russische Volk! Was in den Jahrzehnten und Jahrhunderten aus dem russischen Volke dort geworden ist, wo die Juden sich niedergelassen haben – davon zeugt die Geschichte unserer russischen Grenzgebiete. Bitte jetzt irgendein anderes Volk von den Fremdvölkern Rußlands zu nennen, das sich in dieser Beziehung mit den Juden messen könnte? Man wird keines finden. In dieser Beziehung behaupten die Juden ihre ganze Originalität, im Vergleich zu den anderen Fremdvölkern Rußlands, und die Erklärung dieser Tatsache ist natürlich in diesem ihrem status in statu zu suchen, dessen Wesen gerade diese Unbarmherzigkeit allem gegenüber, was nicht Jude ist, gerade diese Verachtung jedes Volkes und jeder Rasse und jedes menschlichen Wesens, das nicht Jude ist, ausmacht. Und was ist denn das für eine Rechtfertigung, daß im Westen Europas die Völker sich nicht haben besiegen lassen, und daß somit das russische Volk selbst die Schuld daran trägt, wenn der Jude es knechtet? Weil das russische Volk in den Grenzgebieten sich schwächer als die europäischen Völker erwiesen hat – infolge seiner schrecklichen, viele Jahrhunderte langen politischen Darniederlage –, nur deswegen soll man es also endgültig durch Ausbeutung erwürgen, anstatt ihm zu helfen?
Und im übrigen – da sie auf Europa, auf Frankreich z. B., hinweisen: auch dort ist dieser status in statu wohl kaum so unschädlich gewesen, wie es anfänglich scheinen mag. Das Christentum und seine Idee sinken dort natürlich nicht durch die Schuld der Juden, sondern durch jener Völker eigene Schuld, doch nichtsdestoweniger kann man auch in Europa auf einen großen Sieg des Judentums, das viele früheren Ideen schon durch seine Idee verdrängt hat, hinweisen. Oh, selbstverständlich hat der Mensch zu allen Zeiten den Materialismus vergöttert und ist immer geneigt gewesen, die Freiheit bloß in der Sicherstellung seiner selbst durch „aus allen Kräften angesammeltes und mit allen Mitteln erhaltenes Geld“ zu sehen und zu verstehen. Doch noch niemals sind diese Bestrebungen so offen und so dogmatisch zum höchsten Prinzip erhoben worden, wie in unserem neunzehnten Jahrhundert. „Jeder für sich und nur für sich und alle Gemeinschaft zwischen den Menschen einzig für mich“ – das ist das moralische Prinzip der Mehrzahl der heutigen Menschen[38] und nicht einmal schlechter, sondern arbeitender Menschen, die weder morden noch stehlen. Und die Unbarmherzigkeit zu den niedrigeren Massen, der Verfall der Brüderlichkeit, die Ausnutzung des Armen durch den Reichen – oh, natürlich ist das auch früher schon und überhaupt immer gewesen, aber – aber es ward doch nicht zu einer Wahrheit und Weltanschauung, sondern ist vom Christentum stets bekämpft worden! Jetzt aber wird es im Gegenteil zur Tugend erhoben! So darf man wohl annehmen, es sei nicht einflußlos geblieben, daß an den Börsen dort allenthalben Juden herrschen, daß nicht umsonst sie die Kapitale lenken, nicht umsonst sie die Kreditgeber, und nicht umsonst, ich wiederhole es, sie die Beherrscher der ganzen internationalen Politik sind!
Und das Ergebnis: ihr Reich nähert sich, ihr volles Reich! Es beginnt der Triumph der Ideen, vor denen die Gefühle der Menschenliebe, der Wahrheitsdurst, die christlichen und die nationalen Gefühle, und sogar der Rassenstolz der europäischen Völker sich beugen. Der Materialismus triumphiert, die blinde, gefräßige Begierde nach persönlicher materieller Versorgung, die Gier nach persönlichem Zusammenscharren des Geldes, und – der Zweck heiligt das Mittel –: all das wird als höchstes Ziel anerkannt, als das Vernünftige, als Freiheit, an Stelle der christlichen Idee der Rettung einzig durch engste ethische und brüderliche Vereinigung der Menschen. Man wird hierauf vielleicht lachend erwidern, daß das keineswegs durch die Juden so gekommen sei. Natürlich nicht durch die Juden allein; doch wenn die Juden in Europa gerade seit der Zeit – da diese neuen Grundsätze dort den Sieg davongetragen – die Oberhand gewinnen und gedeihen, sogar in dem Maße, daß ihre Grundsätze zum moralischen Prinzip erhoben werden, so kann man doch wohl sagen, daß das Judentum einen großen Einfluß gehabt hat. Meine Gegner weisen immer daran hin, daß die Juden im Gegenteil arm sind, und zwar überall, in Rußland nur noch ganz besonders; daß nur der kleine Wipfel dieses Volksbaumes reich ist, die Bankiers und die Könige der Börsen, von den übrigen aber fast neun Zehntel buchstäblich Bettler sind, die sich für ein Stück Brot zerreißen und Maklerdienste tun, um eine Kopeke zu erhaschen. Ja, das ist wahr, doch was sagt das schließlich? Sagt das nicht gerade, daß sogar in der Arbeit der Juden, daß sogar in ihrer ausbeutenden Tätigkeit selbst etwas Unrechtes, Unnormales, etwas Unnatürliches ist, das seine Strafe bereits in sich trägt? Der Jude verdient durch Vermittlergeschäfte, er – handelt mit fremder Arbeit. Ein Kapital ist angesammelte Arbeit; der Jude schlägt sein Kapital aus fremder Arbeit! Doch all das ändert bis jetzt noch nichts an dem Gesagten: dafür erobern die reichen Juden immer mehr die Herrschaft über die Menschheit und streben immer eifriger darnach, der Welt ihr jüdisches Antlitz aufzudrücken und ihr jüdisches Wesen zu verleihen. Spricht man über diese Eigenschaft der Juden, so sagen sie immer, auch unter ihnen gäbe es gute Menschen. Herrgott! Handelt es sich denn hier etwa darum? Ich spreche doch in diesem Fall nicht von guten oder schlechten Menschen. Und gibt es unter den Juden nicht gleichfalls gute? War denn der verstorbene James Rothschild etwa ein schlechter Mensch? Ich spreche doch nur im allgemeinen vom Judentum und von der jüdischen Idee, die die ganze Welt ergreift, an Stelle des „mißlungenen“ Christentums.
Aber – was rede ich eigentlich, und wozu? Oder bin ich vielleicht wirklich ein Judenhasser? Sollte es doch wahr sein, was mir eine zweifellos gebildete und edle junge Israelitin schreibt – bin ich wirklich, wie sie sagt, ein Feind dieses „unglücklichen“ Volkes, das ich „bei jeder Gelegenheit grausam angreife“? „Ihre Verachtung für das jüdische Volk, das an nichts anderes als an sich selbst denkt, wie Sie sagen,“ schreibt sie mir, „ist nur zu augenscheinlich“. – Nein, gegen diese Augenscheinlichkeit lehne ich mich auf und bestreite sie. Im Gegenteil, ich sage und schreibe gerade, daß „alles, was Menschlichkeit und Gerechtigkeit verlangen, alles, was die Gebote Christi von uns fordern, für die Juden getan werden muß“. Diese Worte habe ich schon einmal geschrieben und jetzt füge ich nur noch hinzu: ja, trotz aller Bedenken, die von mir ausgesprochen worden sind, bin ich doch für die größte Erweiterung der Rechte unserer Juden in der russischen Gesetzgebung und, wenn es nur durchführbar ist, auch für die vollste Gleichheit der Rechte mit denen der eingeborenen Bevölkerung – NB. obgleich sie schon jetzt vielleicht mehr Rechte haben, oder richtiger, mehr Möglichkeiten, sich ihrer zu bedienen, als das eingeborene Volk selbst. Hier geht mir nun wieder etwas anderes durch den Sinn: wenn unsere Dorfgemeinde, die unseren armen Bauern vor so viel Bösem bewahrt[39] aus irgendeinem Grunde ins Wanken und Zerbröckeln käme – wie, wenn dann diesen befreiten Bauer, der so unerfahren ist und so wenig der Verführung zu widerstehen weiß, und den bis jetzt gerade die Dorfgemeinde bevormundet hat, die Juden überfielen – was dann? Dann würde es ja mit ihm einfach zu Ende sein, dann hätte er im Augenblick alles verloren: sein ganzes Eigentum, seine ganze Kraft würde dann schon am nächsten Tage in die Hände der Juden übergehen – und dann käme eine Zeit, die man nicht nur mit der Zeit der Leibeigenschaft vergleichen könnte, sondern eher mit der des Tatarenjoches.
Doch abgesehen von allem, was mir in den Sinn kommt und was ich geschrieben habe, bin ich für ihre vollständige Gleichstellung in den Rechten, – denn also will es das Gebot Christi. Wozu aber habe ich dann so viele Seiten geschrieben, was habe ich sagen wollen, wenn ich mir so widerspreche? Gerade das habe ich sagen wollen, daß ich mir nicht widerspreche, daß ich russischerseits kein Hindernis für die Erweiterung der jüdischen Rechte sehe. Nur behaupte ich, daß es solcher Hindernisse weit mehr auf der Seite der Juden selbst gibt; und wenn sie bis jetzt noch nicht gleichberechtigt sind, so trägt der Russe weniger Schuld daran als der Jude selbst. Denn gleichwie der einfache Jude mit Russen weder zusammen essen noch mit ihnen verkehren will, und diese sich darüber nicht nur nicht ärgern, sondern es sofort begreifen und verzeihen („das tut er bloß, weil er solch einen Glauben hat“), ebenso sehen wir auch im intelligenten, gebildeten Juden ungemein häufig dasselbe maßlose und hochmütige Vorurteil gegen uns Russen. Oh, man höre nur, wie sie schreien, daß sie die Russen liebten! Einer von ihnen schrieb mir sogar, es bereite ihm großen Kummer, daß das russische Volk „keine Religion hat und sich unter seinem Christentum nichts denkt“! Das ist wohl etwas zu weit gegangen für einen Juden, und es erhebt sich da nur die Frage: was versteht denn dieser hochgebildete Israelit selber vom Christentum? Dieser Eigendünkel und Hochmut ist für uns Russen eine der am schwersten zu ertragenden Eigenschaften des jüdischen Charakters. Wer ist von uns unfähiger, den anderen zu verstehen: der Jude oder der Russe? Ich rechtfertige eher den Russen: der Russe hat wenigstens keinen religiösen Haß auf den Juden – entschieden nicht! Die anderen Vorurteile aber – wer hat davon mehr? Da schreien nun die Juden, daß sie so viele Jahrhunderte lang verfolgt und unterdrückt worden seien, es sogar jetzt noch seien, und daß der Russe dies zum mindesten in Betracht ziehen müsse, wenn er den jüdischen Charakter beurteilt. Gut, wir ziehen es auch in Betracht, was wir sofort beweisen können: in der intelligenten Schicht des russischen Volkes haben sich mehr als einmal Männer erhoben, die für die Rechte der Juden eingetreten sind. Was aber tun die Juden? Ziehen sie etwa die langen Jahrhunderte der Unterdrückung und Verfolgung, die das russische Volk ertragen hat, in Betracht, wenn sie die Russen anklagen? Wäre es möglich, zu behaupten, daß unser Volk weniger Leid und Elend erfahren hätte als die Juden, gleichviel wann und wo? Und wäre es möglich, gleichfalls zu behaupten, daß es nicht der Jude gewesen ist, der sich mehr als einmal mit den Unterdrückern des russischen Volkes vereinigte – daß nicht er zur Zeit der Leibeigenschaft den russischen Bauern aufkaufte und somit sein unmittelbarer Beherrscher war? Das ist doch wahr, ist doch Geschichte, unbestreitbare Tatsache! Doch noch nie haben wir gehört, daß das jüdische Volk darüber Reue empfände; es klagt immer nur den russischen Bauern an und wirft ihm vor, daß er den Juden wenig liebe.
Einmal wird volle und geistige Einheit unter den Menschen herrschen, und es wird kein Unterschied in den Rechten mehr bestehen. Darum bitte ich meine Herren Israeliten-Gegner und -Korrespondenten vor allem, doch auch uns Russen gegenüber nachsichtiger und gerechter zu sein. Ist der Hochmut der Juden, ihr ewiger „mäkelnder Widerwille“ der russischen Rasse gegenüber nur ein Vorurteil, ein „historischer Auswuchs“, und verbirgt sich darunter nicht irgendein viel tieferes Geheimnis ihrer Gesetze oder ihres Wesens – so wird sich all das nur um so früher zerstreuen, und wir werden uns einmütig in guter Brüderlichkeit zusammentun zu gegenseitigem Beistand und für die große Sache: unserer Erde, unserem Staate und unserem Vaterlande zu dienen! Die gegenseitigen Anklagen werden allmählich aufhören, und damit wird auch die Ausnutzung dieser Anklagen, die das klare Verständnis der Dinge verhindern, verschwinden. Für das russische Volk kann man bürgen: oh, es wird dem Juden die größte Freundschaft entgegenbringen, trotz des Glaubensunterschiedes, und doch wird es volle Achtung für die historische Tatsache dieses Unterschiedes bewahren. Trotzdem aber ist zu einer vollständigen Brüderlichkeit – Brüderlichkeit beiderseits erforderlich. Also möge doch der Jude wenigstens ein wenig brüderliche Gefühle zeigen, um den Russen zu ermutigen. Ich weiß, daß es unter den Juden auch jetzt schon viele gibt, die sich nach der Beseitigung der Mißverständnisse sehnen und wirklich äußerst menschenfreundlich sind – ich will die Wahrheit nicht verschweigen. Und eben damit diese nützlichen und menschenfreundlichen Leute nicht den Mut verlieren, ihre Vorurteile ein wenig abzuschwächen und damit den Anfang der Sache zu erleichtern, wünschte ich die Erweiterung der Rechte des jüdischen Volkes, wenigstens soweit sie möglich ist: eben soweit das jüdische Volk die Fähigkeit beweist, sich dieser Rechte zu bedienen, ohne daß die eingeborene Bevölkerung darunter zu leiden hat. Nur eines fragt sich noch: werden diese tapferen und guten Israeliten auch viel erreichen, und inwieweit sind sie selbst befähigt zu der neuen schönen Aufgabe der wirklichen brüderlichen Vereinigung mit Menschen, die ihnen dem Glauben und dem Blute nach fremd sind?
Ich hatte eigentlich die Absicht, mich über sehr vieles in dieser Märznummer meines „Tagebuches“ auszusprechen; doch nun ist es wieder geschehen, daß ich über ein einziges Thema, über das ich nur einige Worte hatte sagen wollen, ganze Seiten geschrieben habe. So nehme ich mir, zum Beispiel, immer vor, etwas über Kunst zu sagen! Auch wollte ich über das neueste Bild Semiradskis sprechen – nur ein wenig –, und vor allen Dingen über den Idealismus und den Realismus in der Kunst, über Repin und Raphael; aber das werde ich noch aufschieben müssen. Und wie lange nehme ich mir schon vor, über die Briefe, besonders die anonymen, die ich so oft erhalte, zu schreiben!
Nun aber will ich doch einen Brief anführen, keinen anonymen, sondern einen von einer mir sehr gut bekannten Dame, Fräulein L., einer jungen Jüdin, deren Bekanntschaft ich in Petersburg gemacht habe. Sonderbarerweise haben wir kein einziges Mal über die „Judenfrage“ gesprochen, obgleich sie eine strenge und ernste Israelitin zu sein scheint. Wie ich sehe, hat ihr Brief eine Beziehung zu dem heute von mir geschriebenen Kapitel über die Juden. Es wäre vielleicht zuviel über dasselbe Thema, doch hier handelt es sich um etwas anderes: der Brief zeigt eine ganz andere Seite der Frage, vielleicht die entgegengesetzte, und außerdem enthält er geradezu einen Hinweis auf die Lösung des Problems. Ich hoffe, Fräulein L. wird mir verzeihen, wenn ich hier jenen Teil ihres Briefes wörtlich wiedergebe, der von der Beerdigung des Doktors Hindenburg in M. handelt. Unter dem frischen Eindruck dieser Beerdigung hat sie so aufrichtige und in ihrer Wahrheit so rührende Worte gefunden. Ich will nochmals hervorheben, daß dieser Brief von einer Jüdin geschrieben ist, daß diese Gefühle – Gefühle einer Jüdin sind ...
„Ich schreibe Ihnen unter dem tiefen Eindruck des Trauermarsches. Der 84jährige Doktor Hindenburg ist heute beerdigt worden. Da er Protestant war, wurde er zuerst in der lutherischen Kirche aufgebahrt, und von dort aus erfolgte dann die Überführung auf den Kirchhof. Solche Trauer, so von Herzen kommende Worte, so heiße Tränen habe ich noch an keinem Grabe gesehen ... Er starb in der größten Armut, so daß man zuerst nicht wußte, wie die Beerdigungskosten bestritten werden sollten.
58 Jahre praktizierte er schon in M. ... Und wieviel Gutes hat er in dieser langen Zeit getan! Wenn Sie wüßten, Fjodor Michailowitsch, was das für ein Mensch war! Er war Doktor und Frauenarzt; sein Name wird hier ewig weiterleben, es sind schon Legenden über ihn entstanden. Alle Armen nannten ihn ‚Vater‘, liebten und vergötterten ihn; doch erst seit seinem Tode begreifen sie ganz, wen sie in ihm verloren haben. Als er noch in der Kirche aufgebahrt lag, gingen alle, aber auch alle hin, um an seinem Sarge zu weinen und seine Füße zu küssen; besonders die armen Jüdinnen, denen er soviel geholfen hat, weinten und beteten für ihn, damit er geradeswegs in den Himmel komme. Heute kam unsere frühere Köchin (sie ist furchtbar arm) zu uns und erzählte, er habe bei der Geburt ihres letzten Kindes, da er gesehen, daß keine Kopeke im Hause war, 30 Kopeken gegeben, damit man ihr eine Suppe koche; und darauf sei er jeden Tag gekommen und habe jedesmal 20 Kopeken hinterlassen; und als sie sich ein wenig erholt hatte, habe er ihr zwei Feldhühner geschickt. So hat er auch einmal bei einer furchtbar armen Wöchnerin (solche wandten sich immer an ihn) sein Hemd ausgezogen und sein Kopftuch abgenommen (sein Kopf war immer mit einem Tuch umwunden) und beides zu Windeln zerrissen. Auch erzählt man sich hier, wie er einen armen Juden, einen Holzfäller, und dessen ganze Familie kuriert hat. Jeden Tag ist er zweimal zu ihnen gekommen und nachdem er alle wieder auf die Füße gebracht, hat er den Mann gefragt: ‚Wie wirst du mir nun alles bezahlen?‘ Der soll ihm geantwortet haben, daß er nichts habe, außer der letzten Ziege, die er sofort verkaufen werde. Das hat er denn auch getan, hat sie für 4 Rubel verkauft und diese dem Doktor gebracht. Der Doktor hat darauf den Holzfäller nach Haus geschickt und seinem Hausknecht 16 Rubel gegeben, damit er eine Kuh kaufe. Nach einer Stunde wird dem Holzfäller eine Kuh gebracht und gesagt, der Doktor habe die Ziegenmilch schädlich gefunden.
So hat er sein ganzes Leben lang Gutes getan. Zuweilen hat er sogar 30 bis 40 Rubel an Arme gegeben. Dafür ist er jetzt wie ein Heiliger begraben worden. Alle Juden hatten ihre Läden geschlossen und folgten dem Sarge. Bei unseren Beerdigungen singen gewöhnlich kleine Knaben Psalmen, doch ist es ihnen verboten, auch zur Beerdigung Andersgläubiger zu singen. Hier aber gingen während der ganzen Prozession unsere kleinen Knaben vor dem Sarge her und sangen ihre Psalmen mit lauter Stimme. In allen Synagogen wurde für seine Seele gebetet, und ebenso läuteten die Glocken aller Gotteshäuser während der Prozession. Die Militärkapelle spielte Trauermärsche und die jüdischen Musikanten waren zum Sohn des Verstorbenen gegangen, um ihn um die Erlaubnis zu bitten, während der Prozession spielen zu dürfen, was sie sich zur Ehre anrechnen würden. Alle armen Israeliten haben 10 oder 5 Kopeken gebracht, um für ihn Kränze zu kaufen; die reichen Israeliten aber haben viel gegeben und einen großen prachtvollen Kranz gestiftet, aus frischen Blumen mit einer schwarz-weißen Schleife, auf der in goldenen Lettern seine Hauptverdienste standen, wie z. B. die Gründung des Krankenhauses und ähnliches. Ich habe nicht alles entziffern können, und kann man denn überhaupt seine Verdienste aufzählen?
An seinem Grabe sprachen der Pastor und unser Rabbiner, und beide weinten. Er aber lag in seinem alten, fadenscheinigen Rock, den Kopf mit dem alten Tuch umwickelt, – dieser liebe Kopf! Es war, als ob er schliefe ...“
Das ist ein einzelner Fall, wird man sagen. Nun, dann ist es wieder meine Schuld, wenn ich in einem einzelnen Fall den Anfang der Lösung eines ganzen Problems sehe ...
Die Stadt M. ist eine große Gouvernementsstadt im Westen, und es gibt dort sehr viele Juden, Deutsche, Russen natürlich, Polen und Litauer, und alle diese Nationalitäten liebten den Alten, als ob er zu ihrer Nationalität gehört hätte. Selbst aber war er Protestant und Deutscher, – gerade ein Deutscher: die Art und Weise, wie er dem armen Juden die Kuh schenkte, ist ein echt deutscher Witz. Zuerst verblüfft er ihn: „Wie wirst du mir nun alles bezahlen?“ Und natürlich hat der Arme, als er hinging, um seine letzte Ziege zu verkaufen, um den „Wohltäter“ bezahlen zu können, keineswegs gemurrt, sondern nur in tiefster Seele bedauert, daß die Ziege im ganzen nicht mehr als 4 Rubel wert war. Was aber sind 4 Rubel für alle von dem armen Doktor ihm und seiner Familie erwiesenen Wohltaten? Und wie zufrieden muß der alte Doktor bei sich gelächelt haben, als die Kuh zum Juden gebracht wurde. „Na, ich werde ihm mal unseren deutschen Witz zeigen,“ sagt er sich und ist womöglich die ganze Nacht, die er am Bette einer armen Wöchnerin verbringt, in froher Stimmung. Wenn ich Maler wäre, würde ich bestimmt ein Bild in diesem Genre malen, so eine Nacht in einer grauenvollen armen Hütte. Über alles liebe ich den Realismus in der Kunst, doch in den meisten Bildern unserer heutigen Realisten fehlt das „sittliche Zentrum“, wie sich vor kurzem ein großer Dichter und feiner Künstler in seiner Kritik über Semiradskis Bild ausgedrückt hat. Hier, in diesem von mir für ein Genrebild vorgeschlagenen Stoff würde, glaube ich, solch ein sittliches Zentrum sein. Und welch ein prachtvoller Stoff für einen Künstler! Erstens, die ideale, die schier unmögliche, schmutzigste Armut der jüdischen Hütte. Man kann sogar noch viel Humor hierbei verwenden; Humor ist ja doch die Spitzfindigkeit eines tiefen Gefühls – diese Bezeichnung gefällt mir ungemein. Mit feinem Gefühl und Verstand könnte der Künstler viel aus dem alten Hausgerät der armen Hütte machen. Und prachtvoll würde sich die Beleuchtung ausnehmen: ein brennendes Stümpfchen Talglicht auf einem schiefen Tisch und durch das einzige bereifte Fenster, durch die Eisblumen der Scheibe, das Morgengrauen des anbrechenden Tages. Die Frau hat erst bei Tagesanbruch geboren, und nun müht sich der alte Doktor um das Neugeborene. Keine Windeln, kein einziger Lappen im Hause (es gibt solche Armut, meine Herrschaften, ich versichere Sie, es ist der reinste Realismus – ein Realismus, der sozusagen bis ans Phantastische reicht) – und da hat denn der Greis schon seinen fadenscheinigen Rock ausgezogen und darauf das Hemd, das er nun zu Windeln zerreißt. Sein Gesicht ist ernst und nachdenklich. Der kleine neugeborene Judenbengel zappelt vor ihm auf dem Bett, und der Christ nimmt das Jüdchen auf seinen Arm und wickelt es in das Hemd, das er von seinen eigenen Schultern gezogen. Darin steckt die wahre Lösung des Judenproblems, meine Herrschaften! Der achtzigjährige nackte und von der Morgenkälte zitternde Körper des Doktors kann im Bilde im Vordergrunde stehen. Viel läßt sich natürlich aus seinem Gesichtsausdruck, sowie dem der jungen Mutter machen: sie sieht auf ihr Neugeborenes und wundert sich über das, was der Doktor mit ihm anstellt. „Dieser arme, kleine Jude wird groß werden und vielleicht auch einmal sein Hemd abziehen, um es einem Christen zu geben, wenn er sich der Geschichte seiner Geburt erinnert“ – denkt vielleicht in naivem und edlem Glauben der Alte bei sich. Wird das je geschehen? Wahrscheinlich nicht, aber es ist doch nicht ausgeschlossen, daß es geschieht. Das Beste, was wir tun können, ist – glauben, daß es geschehen könne und werde. Der Doktor aber hat schon ein Recht, daran zu glauben; denn in ihm ist es ja schon geschehen: „Habe ich es getan, so wird es auch ein anderer tun; bin ich denn besser als ein anderer?“ sagt er sich, um sich zu stärken ... Ja, dieses Bild würde, glaube ich, ein „sittliches Zentrum“ haben.
Ein einzelner Fall! Vor zwei Jahren schrieb man aus dem Süden Rußlands – ich habe vergessen, aus welch einer Stadt – von einem Doktor, der am Morgen eines heißen Tages aus der Badeanstalt kam und gerade schnell nach Hause eilte, um Kaffee zu trinken, und deshalb an einem beim Baden Ertrunkenen keine Wiederbelebungsversuche machen wollte, trotz der Bitte der Volksmenge. Ich glaube, er ist deswegen verurteilt worden. Aber das war vielleicht ein gebildeter Mensch, ein Anhänger der neuen Ideen, ein Fortschrittler, der bloß „im Prinzip“ neue Gesetze und Gleichberechtigung verlangte, „einzelne“ Fälle jedoch nicht weiter beachtete. Vielleicht glaubte er sogar, die einzelnen Fälle könnten eher schaden, indem sie die allgemeine Entscheidung hinausschöben, und daß es in betreff einzelner Fälle „je schlimmer, desto besser“ sei. Jener „Allmensch“, wie ich den anderen Typ, jenen alten Doktor, nennen möchte, hat doch, wenn er auch nur ein einzelner war, über seinem Grabe die Bevölkerung einer ganzen Stadt vereinigt. Die russischen Weiber und die armen Jüdinnen haben gemeinsam seine Füße geküßt, haben sich gemeinsam an seinen Sarg gedrängt und zusammen geweint. Achtundfünfzig Jahre Dienst für die Menschheit, achtundfünfzig Jahre unermüdlicher Liebe haben alle wenigstens einmal um einen Sarg in gleicher Begeisterung und in gemeinsamer Trauer vereinigt. Die ganze Stadt begleitet ihn, die Glocken aller Gotteshäuser läuten, und in allen Sprachen werden die Gebete für ihn gesungen. Der Pastor und der Rabbiner reden an dem offenen Grabe, jeder in seiner Sprache, jeder in seiner Art, und doch mit den gleichen Gefühlen. In diesem Augenblick war doch die „Judenfrage“ überwunden! Der Pastor und der Rabbiner haben sich an diesem Grabe in gemeinsamer Liebe vor allen Christen und Juden vereinigt. Was liegt daran, daß jeder, wenn er vom Kirchhof zurückgekehrt ist, wieder in seine alten Vorurteile verfällt? Steter Tropfen höhlt den Stein: diese „Allmenschen“ besiegen die Welt, indem sie sie vereinigen. Die Vorurteile werden mit jedem „einzelnen“ Fall mehr und mehr verblassen und endlich ganz verschwinden. „Über den Alten haben sich Legenden gebildet,“ schreibt Fräulein L., gleichfalls eine Jüdin. Die Legende aber ist der erste Schritt zur Sache; sie ist eine lebendige Erinnerung und ein unermüdliches Erinnern an diese „Besieger der Welt“, denen die Erde gehört. Hat man aber einmal den Glauben gefaßt, daß das wirklich Besieger sind, und daß solchen Menschen wirklich „die Erde gehören wird“, so hat man sich fast schon mit allem ausgesöhnt. All das ist furchtbar einfach, – schwierig scheint nur eines zu sein: nämlich, sich zu überzeugen, daß jede große Gesamtzahl sich aus Einern zusammensetzt. Alles würde sonst auseinanderfallen, wenn diese Einzelnen nicht wären. Diese Einzelnen geben den Gedanken, geben den Glauben, geben das lebendige Beispiel, somit also auch den Beweis. Es ist durchaus kein Grund vorhanden, so lange zu warten, bis alle oder wenigstens sehr viele ebenso gut geworden sind wie sie: es sind nur sehr wenige solcher Menschen erforderlich, um die Welt zu retten, dermaßen stark und mächtig sind sie. Ist dem aber so, – wie soll man dann nicht hoffen?
Erinnert sich vielleicht noch jemand der Abhandlung über die Orientfrage, die der unvergeßliche Professor und unvergleichliche Russe Timofei Nikolajewitsch Granowski – wenn es wahr ist – im Jahre 1855 geschrieben hat, also gerade zur Zeit unseres Krieges mit Europa, zu Beginn der Belagerung von Sebastopol? Ich habe sie jetzt[40] in Anbetracht der wieder akut gewordenen Orientfrage nach langen Jahren nochmals durchgelesen: und dieses alte ehrwürdige Schriftstück interessierte mich diesmal weit mehr als damals, da ich es zum erstenmal las und mit ihm vollkommen übereinstimmte. Es fiel mir jetzt besonders zweierlei auf: erstens – die Anschauung eines damaligen Westlers über unser Volk; und zweitens, und hauptsächlich – die, sagen wir, psychologische Bedeutung des Artikels. Ich kann es nicht unterlassen, meine Eindrücke hier mitzuteilen.
Granowski war ein beispiellos reiner, edler, guter Mensch: Idealist der vierziger Jahre, dabei zweifellos eine ganz eigene, sonderbare und äußerst originelle Erscheinung in der Reihe unserer damaligen bekannteren führenden Geister. Er war unser ehrlichster Stepan Trophimowitsch Werchowenski (in meinem Roman „Die Dämonen“ der Typ des Idealisten der vierziger Jahre; ich liebe diesen Stepan Trophimowitsch und achte ihn sehr), und vielleicht hatte Granowski nicht einmal den geringsten komischen Zug, der doch sonst diesem Typ gewöhnlich anhaftet. Übrigens sagte ich, daß mich die psychologische Bedeutung dieses Aufsatzes frappierte; und diese Bedeutung erschien mir sogar sehr ergötzlich. Ich weiß nicht, ob man mir zugeben wird, daß unser russischer Idealist, der sogenannte „patentierte“ Priester des „Schönen und Erhabenen“, wenn er plötzlich bei irgendeiner Gelegenheit das Bedürfnis empfindet, seine Meinung über eine Sache kundzutun – nicht etwa über ein Gedicht, o nein, sondern über eine praktische, wichtige und ernste Sache, sagen wir: über eine politische oder soziale Angelegenheit, und wenn er sie nicht nur nebenbei bemerken, sondern ein entscheidendes und richtendes Wort über diese Frage sagen und noch obendrein mit diesem Worte einen Einfluß ausüben will –, sich plötzlich wie durch ein Wunder nicht nur in einen fanatischen Realisten und Prosaiker verwandelt, sondern sogar in einen Zyniker. Ja, und nicht nur das: gerade auf diesen Zynismus, auf diese Prosaik ist er dann noch ganz besonders stolz. Die Ideale läßt er dann ganz beiseite: Ideale sind Unsinn, sind Poesie, sind Gedichte; an ihre Stelle aber setzt er die „reale Wahrheit“. Doch aus ebendieser Wahrheit wird dann immer gleich Zynismus: im Zynismus sucht er sie, im Zynismus allein scheint sie ihm enthalten zu sein. Je gröber, je trockener, je herzloser – desto „realer“ ist es seiner Meinung nach. Warum? Nun, weil unser Idealist im gegebenen Falle sich seines Idealismus schämt. Außerdem fürchtet er, man könnte ihm sagen: „Ach, Sie Idealist, was verstehen Sie denn von solchen Dingen! Predigen Sie doch das Schöne, wenn’s Ihnen Spaß macht, uns aber überlassen Sie die Geschäfte.“ Sogar Puschkin hatte diesen Zug: der große Dichter schämte sich mehr als einmal, daß er „nur Dichter“ war. Vielleicht gibt es diese Charaktereigenschaft auch bei Dichtern anderer Völker, doch ist es kaum anzunehmen, – wenigstens werden sie sie nicht in dem Maße haben wie wir Russen. In Europa haben sich die Menschen dank der uralten Gewöhnung aller und eines jeden an die Arbeit in den vielen Jahrhunderten schon klassifizieren können, je nach ihrer Beschäftigung und Stellung, und fast ein jeder von ihnen kennt, versteht und achtet sich – wie in seiner Tätigkeit so auch in seiner Bedeutung. Bei uns aber ist es nach zweihundertjähriger Entwöhnung von jeglicher Arbeit etwas anderes. Die heimliche, tiefinnerliche Nichtachtung seiner selbst finden wir sogar bei so großen Menschen wie Puschkin und Granowski. Da letzterer, dieser unschuldige, aufrichtige Mensch, es plötzlich für durchaus nötig fand, sich aus einem Professor der Geschichte in einen Diplomaten zu verwandeln, verstieg er sich in seinen Urteilen sofort bis zu den sonderbarsten Behauptungen – z. B., daß wir von Österreich für die Hilfe, die wir ihm während seines Kampfes mit den Ungarn gebracht, überhaupt keine Dankbarkeit erwarten dürften, und das nicht etwa, weil Österreich undankbar und falsch wäre – keineswegs! Nein, er sieht in der Haltung Österreichs nichts Schlechtes und behauptet sogar, daß es so, wie es gehandelt hat, habe handeln müssen, und daß unsere Hoffnung auf seine Dankbarkeit ein unverzeihlicher und lächerlicher Fehler unserer Politik gewesen sei. Ein Privatmann, sagt er, ist einer für sich, ein Staat aber – ist etwas anderes; ein Staat muß seine höheren Ziele, seine eigenen Vorteile im Auge behalten; und daher wäre Dankbarkeit verlangen, und zwar eine, die sogar bis zur Zurücksetzung der eigenen Interessen ginge, – einfach lächerlich. „Bei uns ist die Undankbarkeit und Falschheit Österreichs schon zu einem Gemeinplatz geworden,“ sagt Granowski, „doch ist in politischen Dingen von Dankbarkeit oder Undankbarkeit reden – nur ein Beweis der eigenen Naivität in der Politik. Der Staat ist keine Privatperson; er kann nicht aus Dankbarkeit seine Interessen opfern, um so weniger, als in politischen Dingen selbst die Großmut niemals uneigennützig zu sein pflegt.“ Dem Sinne nach heißt das etwa, daß sie es auch nicht sein soll. Mit einem Wort, der ehrenwerte Idealist behauptet sehr viel Vernünftiges und, was die Hauptsache ist, nur Reales: nicht immer also schreiben wir Gedichte! ... Seine Anschauung ist sehr klug, gewiß, sehr klug, – um so mehr, als sie nichts Neues ist, sondern etwas, das so lange schon existiert, wie es Diplomaten gibt. Doch trotzdem: die Haltung Österreichs mit solch einem Feuer zu verteidigen, ja, nicht nur zu verteidigen, sondern sogar zu behaupten, daß es so hat handeln müssen ... Nun, man kann ja niemandem das Wort verbieten; doch es ist dabei etwas, was man nicht zugeben kann, und das einem verbietet, ihm recht zu geben, trotz der außergewöhnlichen praktischen Klugheit, die unser Historiker, Dichter und Priester des Schönen so unerwartet kundtut. Mit dieser Anerkennung der Heiligkeit des jeweiligen Vorteils, des unmittelbaren und sofortigen Gewinnes, mit dieser Anerkennung, daß es recht und billig sei, auf Ehre und Gewissen zu spucken, wenn man einen Bissen an sich reißen will – allerdings: damit kann man es sehr weit bringen! Damit kann man ja auch die Politik Metternichs durch „höhere reale Ziele des Staates“ rechtfertigen! Aber machen denn nur die praktischen Vorteile, der sofortige Gewinn den wirklichen Vorteil der Nation und ihre „höhere“ Politik aus, im Gegensatz zum „Schillertum“ der Gefühle und Ideale? Das ist doch noch die Frage! Ist nicht im Gegenteil gerade die Politik der Ehre, Großmut und Gerechtigkeit, wenn auch scheinbar zum Nachteil der eigenen Interessen, – in Wahrheit aber nie zum Nachteil – die vorteilhaftere Politik für eine große Nation? Sollte unser Historiker wirklich nicht gewußt haben, daß es nur diese großen und ehrlichen Ideen sind – nicht aber die kleinlichen der zeitweiligen Vorteile –, die zum Schluß in den Völkern und Nationen triumphieren, trotz der ganzen, wie es scheint, lächerlichen „Unvernünftigkeit“ dieser Ideen und ihres ganzen Idealismus, der in den Augen der Diplomaten und Metterniche so erniedrigend ist? Und daß diese Politik der Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit für eine große Nation nicht nur die „höhere“, sondern vielleicht auch die „vorteilhaftere“ ist, eben weil sie großzügig ist? Die Politik, die sich nach dem zeitweilig Praktischeren richtet, das ununterbrochene Hin und Her der Jagd nach dem nächsten Vorteil, führt die Nation ins Kleinliche und schließlich zur inneren Kraftlosigkeit des Staates. Der diplomatische Geist, der Geist des „Praktischen“ und Nächsten, des Tagesvorteils, hat sich stets als geringer denn Wahrheit, Ehre und Anstand erwiesen, und Wahrheit, Ehre und Anstand haben zum Schluß immer gesiegt; oder wenn sie noch nicht immer gesiegt haben, so werden sie siegen, denn also wollen es die Menschen. Als der Negerhandel aufgehoben wurde, gab es da nicht hunderttausend schwerwiegende Einwände, wie z. B., daß diese Aufhebung äußerst unpraktisch sei und sogar den Interessen aller Völker schaden werde? Man verstieg sich sogar bis zu der Behauptung, der Negerhandel sei moralisch durchaus notwendig, und rechtfertigte diese Notwendigkeit dann noch mit dem Rassenunterschied und schließlich mit der Folgerung, daß der Neger eigentlich überhaupt kein Mensch sei ... Als die nordamerikanischen Kolonien sich zum Kampf gegen England erhoben, schrie man da nicht im praktischen England, daß die Befreiung der Kolonien von der Herrschaft Englands der Untergang der englischen Interessen, eine Erschütterung, ein Unglück sein werde? Und erhoben sich nicht auch bei uns solche Stimmen, als unser leibeigener Bauer befreit werden sollte? Sagten da nicht alle praktischen Geister, daß der Staat einen schlechten, unbekannten, gefährlichen Weg einschlage, zum Unglück des ganzen Volkes, und daß nicht darin die höhere Politik bestünde; daß der Staat vielmehr reale Interessen verfolgen müsse, nicht aber Interessen, die bloß auf modernen ökonomischen Erwägungen oder auf noch nicht erprobten Theorien begründet sind, kurz, daß der Staat die Führung niemals dem „Sentiment“ überlassen dürfte!? Doch wozu so weit zurückgreifen! Vor uns steht jetzt die Slawenfrage: – rät man uns etwa nicht, sie auf immer auszuschalten!? Zwar behauptet Granowski, daß wir uns durch die Balkanslawen nur bereichern und im Westen befestigen wollen, doch glaube ich, daß er sich auch hierin täuscht; denn welch einen Vorteil könnte uns der Besitz der Balkanslawen einbringen (selbst in der Zukunft), und wodurch würden wir uns denn bereichern? Durch das Mittelländische Meer etwa, oder gar durch Konstantinopel, „das man uns nie und nimmer geben wird“? Das ist doch nur ein schöner Vogel, der in den Wolken herumfliegt und uns, wenn wir ihn fangen wollten, lediglich Ärger und Mühe bereiten würde – auf tausend Jahre womöglich. Wäre das nun ein praktischer Vorteil? Die Slawen werden uns nur Sorgen und viel Mühe bereiten; besonders jetzt, da sie noch nicht zu uns gehören. Ihretwegen sieht Europa schon hundert Jahre lang eifersüchtig auf uns Russen, und ihretwegen ist es auch jetzt noch bereit, das Schwert zu ziehen und seine Kanonen auf uns zu richten. Da ist es doch das Beste, die Slawen einfach Slawen bleiben zu lassen, um Europa endlich zu beruhigen. Würden wir aber selbst dann das Gewünschte erreichen? Europa würde uns doch bestimmt nicht mehr glauben, daß wir auf den Besitz der Balkanslawen verzichten wollten; also würden wir das Gegenteil erst zu beweisen haben: würden uns selbst auf die Slawen stürzen, sie brüderlichst erwürgen und die Türkei gegen sie unterstützen müssen. „Ja, ja, liebe Brüder, der Staat ist keine Privatperson: er kann doch nicht aus Großmut seine Interessen opfern! Wußtet ihr das wirklich noch nicht?“ Und wieviel praktische Vorteile – reale, nicht nur erträumte – hätte dann Rußland mit einem Schlage! Die Orientfrage würde sofort aufhören zu existieren, Europa würde uns, wenn auch nur auf kurze Zeit, sein Vertrauen schenken, unser Kriegsbudget würde entlastet werden, unser Kredit und der Wert unseres Rubels würden wieder steigen – was will man mehr! Und überdies würde ja der Vogel immer noch über unserem Haupte bleiben ... Aber die Frage muß doch einmal beantwortet werden! Und da sollen wir nun Finten machen und abwarten –: „Der Staat ist keine Privatperson, er darf nicht aus Großmut seine Interessen opfern, – doch mit der Zeit ... wenn es den Slawen nun einmal beschieden ist, ohne uns nicht auszukommen, so werden sie sich uns von selbst anschließen. Nun, und dann werden wir uns wieder mit unserer Liebe und Brüderlichkeit an sie heranschlängeln können.“ Übrigens findet Granowski, daß unsere Politik das ganze letzte Jahrhundert hindurch geradeso gehandelt habe (nämlich die Slawen unterdrückt und sie den Türken ausgeliefert), daß unsere Balkanpolitik immer eine Eroberungspolitik gewesen sei und anders überhaupt nicht hätte sein können, – also nach seiner Meinung so hätte sein „müssen“. Rechtfertigt er doch bei anderen Nationen dieselbe Politik, warum verteidigt er sie dann nicht auch bei uns, wenn wir, wie er sagt, dieselbe Politik treiben –?
Wie ist es nur möglich, daß unsere Politik in der Slawenfrage noch immer nicht allen klar geworden ist!?
Es war im vorigen Jahr im Juni, daß ich schrieb, früher oder später müsse Konstantinopel doch uns gehören.[42] Es war damals eine heiße, eine herrliche Zeit: der Geist und das Herz ganz Rußlands erhoben sich und das Volk zog freiwillig aus, um Christus und die Rechtgläubigen zu verteidigen, um für unsere dem Glauben und dem Blute nach slawischen Brüder zu kämpfen. Wenn ich auch diesen meinen Artikel „Utopische Geschichtsauffassung“ betitelte, so glaubte ich doch fest an meine Worte und hielt sie keineswegs für utopisch. Die Gedanken, die ich in jenem Artikel aussprach, stellte ich durchaus nicht als solche hin, die sofort in Erfüllung gehen müssen, sondern als solche, die sich einmal in der Zukunft, jedenfalls aber bestimmt verwirklichen werden, dann nämlich, wenn die historische Zeit dazu gekommen sein wird, – die Zeit, deren Nähe oder Ferne man allerdings nicht voraussagen, wohl aber vorausfühlen kann.
Seit dem Erscheinen dieses Artikels sind neun Monate vergangen. Wir erinnern uns noch alle dieser begeisterten Zeit, die anfänglich so voll Hoffnungen war, dann aber so aufregend wurde, und die bis jetzt noch zu nichts geführt hat, so daß nur Gott allein wissen mag – ich glaube, nur so kann man sich ausdrücken –, womit sie enden wird: wird es zum Kriege kommen, oder wird sich die Entscheidung wieder auf lange hinausschieben? Doch was da auch kommen mag – aus irgendeinem Grunde drängt es mich, gerade jetzt noch einige ergänzende und erklärende Worte meinen Gedanken, die ich im Juni über das Schicksal Konstantinopels schrieb, hinzuzufügen. Was jetzt auch kommen mag, sei es Friede, sei es wieder ein Nachgeben von seiten Rußlands, früher oder später wird Byzanz doch uns gehören! Das ist es, was ich nochmals betonen will, doch dieses Mal noch von einem anderen, einem neuen Standpunkte aus.
Ja, Byzanz muß unser werden, und nicht nur als berühmter Hafen, als „Pforte“, als „Mittelpunkt der Welt“; nicht nur vom Standpunkt der längst anerkannten Notwendigkeit für solch einen Riesen wie Rußland, endlich aus seinem verschlossenen Zimmer, in dem er schon bis zur Decke gewachsen ist, in die weite Welt hinaustreten und die freie Luft der Meere und des Ozeans atmen zu können. Ich will nur eines hervorheben, etwas, das gleichfalls von großer Wichtigkeit ist, und demzufolge Konstantinopel Rußland nicht entgehen kann.
Sollte es auch seltsam klingen, so ist es doch wahr, daß die vierhundertjährige Bedrückung des Balkans durch die Türken dem Christentum und der Rechtgläubigkeit der Slawen einerseits sogar nützlich gewesen ist, natürlich nur negativ, aber immerhin hat sie den Glauben befestigt. Dasselbe hat ja schließlich auch das zweihundertjährige Tatarenjoch bei uns in Rußland bewirkt. Die bedrängten und gequälten christlichen Balkanvölker sahen in Christus und im Glauben an ihn ihren einzigen Trost, in der Kirche aber – den einzigen und letzten Rest ihrer nationalen Persönlichkeit und volklichen Sonderheit. Das war die letzte Hoffnung, das letzte Brett, das ihnen vom zerschellten Schiff verblieb. Die Kirche erhielt diese Völker immerhin als Nationalität, und der Glaube an Christus verhinderte sie, wenn auch nicht alle, so doch einen großen Teil, sich mit den Besiegern zu vermischen, ihren Stamm und ihre alte Geschichte zu vergessen. Die bedrückten Völker fühlten und begriffen natürlich bald, was sie an ihrem Glauben hatten, und so scharten sie sich denn noch enger um das Kreuz. Andererseits wandte schon seit der Eroberung Konstantinopels (1453) die ganze große christliche Bevölkerung des Ostens unwillkürlich ihren flehenden Blick auf das ferne Rußland, das damals sich kaum erst vom Tatarenjoche befreit hatte, und erriet geradezu in ihm das zukünftige allvereinende Zentrum der Slawen, die Macht, die sie einst erlösen werde. Und Rußland nahm, ohne zu zaudern, die Fahne des Ostens und setzte den zweiköpfigen byzantinischen Adler über sein altes Wappen.[43] Es nahm damit vor der ganzen Rechtgläubigkeit die Pflicht auf sich, diesen Glauben zu schützen und alle Völker, die ihm angehören, vor dem Untergang zu bewahren. Zu gleicher Zeit nahm auch das ganze russische Volk diese neue Bestimmung Rußlands und die Aufgabe seines Zaren auf sich. Seit der Zeit ist für das Volk der liebste und höchste Name seines Rußlands und seines Zaren der, den es damals aussprach: „rechtgläubiges Rußland“, „rechtgläubiger Zar“. Als es seinen Zaren so benannte, erkannte es mit dieser Benennung gleichzeitig auch dessen Bestimmung an: der Hüter, der Vereiniger und, wenn das Gebot Gottes ertönt, auch der Befreier der Rechtgläubigkeit zu sein, – das ganze Christentum, das ihr angehört, von dem muselmännischen Barbarentum und der westlichen Ketzerei zu erretten. Vor zwei Jahrhunderten, und besonders seit der Zeit Peters des Großen, begannen dieser Glaube und diese Hoffnungen der Völker des Ostens schon in Erfüllung zu gehen und sich zu verwirklichen. Und jetzt hat das Schwert Rußlands bereits mehrmals im Osten zu ihrer Verteidigung gekämpft. So ist es nur selbstverständlich, daß die Völker des Ostens in dem Zaren von Rußland nicht nur den Befreiers, sondern auch ihren zukünftigen Zaren sehen. In diesen zwei Jahrhunderten aber drang europäische Bildung und europäischer Einfluß auch bis zu ihnen vor. Die obere, gebildete Schicht des Volkes, seine Intelligenz, wurde im Osten, wie ja auch bei uns, mit der Zeit gleichgültiger in ihrem Verhalten zur Idee der Orthodoxie. Und heute hat sie sogar schon angefangen, zu verneinen, daß in dieser Idee die Erneuerung und Auferstehung zu einem neuen großen Leben für den Osten wie für Rußland enthalten sei. In Rußland, zum Beispiel, hat ein großer Teil der gebildeten oberen Schicht aufgehört, oder richtiger vielleicht, gewissermaßen verlernt, in dieser Idee die Hauptbestimmung Rußlands und dessen Lebenskraft zu sehen. – Im Gegensatz dazu glaubt unsere Intelligenz jetzt, all das in den modernen Anschauungen Europas finden zu können. In der Kirche sehen ja schon viele auf europäische Weise nur toten Formalismus und sinnlose Zeremonie und seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts sogar einfach nur Vorurteil und Heuchelei. Den Geist, die Idee, die lebendige Kraft vergaß man. Mit der Zeit aber kamen ökonomische Ideen westlichen Charakters auf; es kamen neue politische Lehren, es kam eine neue Moral, die sich bemühte, die frühere zu verbessern und zu überflügeln. Endlich kam auch noch die Wissenschaft, die natürlich nicht umhinkonnte, den Glauben an die alten Ideen zu untergraben ... In den Völkern des Ostens begannen außerdem noch, und in vorwiegender Weise, nationalistische Ideen aufzukommen: es überfiel sie plötzlich die Angst, sie könnten womöglich, wenn sie vom türkischen Joch befreit sein werden, unter das russische geraten. Doch in unserem einfachen millionenköpfigen Volke und in seinem Zaren erlosch niemals die Idee der Befreiung des Ostens und der christlichen Kirche. Die Bewegung, die das russische Volk im vorigen Sommer ergriff, hat bewiesen, daß das Volk von seiner alten Hoffnung und seinem alten Glauben nicht abgelassen hat. Und dabei setzte diese Bewegung unsere ganze Intelligenz so in Erstaunen, daß sie an diese „Bewegung“ einfach nicht glauben wollte; sie verhielt sich skeptisch zu ihr und bemühte sich, spöttisch allen zu versichern, diese „Bewegung“ sei von unzuverlässigen Leuten, die von sich reden machen wollten, einfach ausgedacht und vorgetäuscht worden. In der Tat, wer könnte denn in unserer Zeit, von unserer Intelligenz, außer vielleicht einem kleinen, von der allgemeinen Menge abgesonderten Teil derselben, zugeben, daß unser Volk wirklich fähig ist, seine politische, soziale und sittliche Bestimmung bewußt zu verstehen? Wer von ihnen würde es zugeben, daß diese rohe, unaufgeklärte Masse, die vor kurzem noch leibeigen war und jetzt vom Branntwein trunken ist, wissen und überzeugt sein könnte, daß ihre Bestimmung ist: Christus zu dienen? – und die ihres Zaren: den christlichen Glauben zu bewahren und die Völker der Rechtgläubigkeit zu befreien? „Mag diese Masse sich auch von jeher ‚christlich‘ genannt haben, so hat sie doch weder von der Religion, noch selbst von Christus einen Begriff, – sie kennt ja nicht einmal die einfachsten Gebete!“ sagt man gewöhnlich von unserem Volke. Und wer sind es denn, die so sprechen? Ist es vielleicht – der deutsche Pastor, der bei uns die Stundisten bearbeitet, oder der angereiste Europäer, der Korrespondent einer politischen Zeitung, oder irgendein gebildeter „höherer“ Jude (einer von denen, die an Gott nicht mehr glauben) oder gar einer von den im Auslande angesiedelten Russen, die sich Rußland und unser Volk nur in Gestalt eines betrunkenen Weibes mit der Flasche in der Hand vorstellen? Nein, – so denkt der größte Teil unserer russischen, unserer besten Gesellschaft; und er läßt es sich nicht einmal träumen, daß in unserem Volk, wenn es auch keine Gebete hersagen kann, sich doch das Wesen des Christentums beispiellos erhalten hat, daß der Geist Christi und seine Wahrheit es so durchdrungen haben, wie vielleicht kein einziges Volk dieser Erde. Übrigens, der Atheist oder der in Glaubensdingen gleichgültige russische Europäer kann den Glauben ja gar nicht anders auffassen wie als Formalität und Heuchelei. Im Volke aber sehen diese Leute nichts, was daran erinnern könnte, und darum folgern sie, daß das Volk unter seinem Glauben nichts verstehe, daß es vorschriftsmäßig eine bemalte Tafel anbete, im Grunde aber gleichgültig bleibe, da sein Geist bereits von der kirchlichen Formalität ertötet sei. Den christlichen Geist haben sie in ihm überhaupt nicht bemerkt, vielleicht weil sie selbst diesen Geist schon längst verloren haben. Dieses lasterhafte Volk, dieses dunkle, das heißt, unwissende Volk, liebt aber den Demütigen, den, der „schlichten Geistes“ ist: in allen seinen Legenden und Sagen hängt es an dem Glauben, daß der Schwache und ungerecht Erniedrigte und der um Christi willen Duldende über den Vornehmen und Mächtigen erhöht werden wird, wenn einst das Jüngste Gericht anbricht. Auch liebt unser Volk von dem großen Leben seines tapferen und keuschen Ilja von Murom[44] zu erzählen, von dem Kämpfer für die Wahrheit, dem Befreier der Armen und Schwachen, von seinem sich nie überhebenden Lieblingsrecken, dem großen, treuen, mit dem reinen Herzen. Und wenn es so einen Helden schon hat, ihn achtet und so liebt, wie es ihn liebt – wie soll da unser Volk nicht an den Sieg seiner jetzt erniedrigten Brüder glauben? Unser Volk ehrt das Andenken seiner großen, demütigen Einsiedler und Helden und erzählt Kindern mit Vorliebe die Geschichten der christlichen Märtyrer. Diese Legenden kennt es gut; ich selbst habe sie zum erstenmal vom Volk gehört, und sie wurden so andächtig erzählt, daß sie für mein ganzes Leben in meinem Herzen bleiben werden. Zudem scheiden sich täglich aus dem Volk große Büßer aus, die da hingehen und ihr Hab und Gut verteilen, für den großen Sieg der Wahrheit, der Arbeit und Armut ... Doch übrigens, vom russischen Volke will ich später sprechen, – einmal muß es doch erreichen, daß man es versteht. Einmal wird man begreifen, daß auch das Volk etwas bedeutet. Man wird endlich auch jenen wichtigen Umstand beachten, daß man noch niemals in großen oder sogar nur einigermaßen wichtigeren Augenblicken der russischen Geschichte ohne dasselbe ausgekommen ist: daß Rußland volklich ist, das Rußland nicht Österreich ist! Man wird sich erinnern, daß in jedem bedeutenden Moment unseres geschichtlichen Lebens die jeweilig vorliegende Frage immer vom Volksgeist und von der Volksansicht beantwortet worden ist, von den Zaren des Volkes, die stets in einer höheren Verbindung mit ihm gestanden haben. Diese ungemein wichtige historische Tatsache wird von unserer Intelligenz gewöhnlich vollkommen übersehen, und nur dann erinnert man sich plötzlich des Volkes, wenn wieder einmal eine große neue historische Entscheidung herannaht ... Doch ich bin von meinem Thema abgekommen.
Die griechisch-katholische Kirche des Balkans, ihre Vertreter und der ökumenische Patriarch haben in diesen vier Jahrhunderten der Unterjochung ihrer Kirche mit Rußland und untereinander in Frieden gelebt – wenigstens in Glaubensfragen. Es hat weder große Unruhen, noch Ketzereien, noch Abtrünnigkeiten gegeben. Doch siehe, in unserem Jahrhundert, und besonders in den letzten zwanzig Jahren nach dem großen Kriege in Osteuropa,[45] fing es an von der Türkei gleichsam wie Modergeruch einer verwesenden Leiche herzuwehen: die Vorahnung des Todes, der Zersetzung des „kranken Mannes“, und die Ahnung vom Untergang der Herrschaft desselben wurde zum vorwiegenden, fast körperhaften Gefühl. Oh, natürlich: endgültig befreien kann die Balkanslawen trotzdem ja nur Rußland allein, dieses selbe Rußland, das auch jetzt wieder, in den allgemeinen Auseinandersetzungen mit Europa über den Osten, ganz allein für sie einsteht, während alle anderen Völker und Reiche der gebildeten europäischen Welt selbstverständlich froh wären, wenn es alle diese bedrückten Völkerschaften des Ostens überhaupt nicht geben würde. Ruft nun auch die ganze Intelligenz der Balkanslawen Rußland zu Hilfe, so fürchtet sie uns leider vielleicht doch ebensosehr wie die Türken: „Wenn uns Rußland auch von den Türken befreit, so wird es uns doch verschlingen und unsere Nationalitäten nimmer sich entwickeln lassen“ – das ist ihr Schreckgespenst, das alle ihre Hoffnungen vergiftet! Und überdies bricht zwischen ihnen selbst mehr und mehr die nationale Gegnerschaft durch. Der griechisch-bulgarische „Kirchenstreit“, den wir unlängst erlebt haben, war ja schließlich nichts anderes als ein nationaler Streit in dieser Verkleidung und kann gewissermaßen als ein Omen für die Zukunft angesehen werden. Als der ökumenische Patriarch den Ungehorsam der Bulgaren tadelte und sie, wie den eigenmächtig von ihnen erwählten Exarchen, aus der Kirchengemeinschaft ausschloß, hob er besonders hervor, daß man in Sachen des Glaubens weder das Ritual, noch den der Kirche schuldigen Gehorsam dem „neuen und verderblichen Prinzip der Nationalität“ opfern dürfe. Währenddessen aber hat er doch selbst, als er, der Grieche, diesen Bann gegen die Bulgaren schleuderte, zweifellos diesem selben Prinzip der Nationalität gedient, nur zugunsten der Griechen gegen die Slawen. Mit einem Wort, es läßt sich sogar mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit voraussagen, daß, sobald der „kranke Mann“ stirbt, am Balkan sofort überall Unruhen und Streitigkeiten bei der ersten besten Gelegenheit ausbrechen werden, und zwar werden es vornehmlich gerade Kirchenunruhen sein, die zweifellos auch Rußland schaden können. Ja, selbst in dem Falle würden sie schaden, wenn Rußland sich von allen Balkanfragen ganz zurückzöge oder gar zwangsweise von der Teilnahme bei der Entscheidung der Orientfrage ausgeschlossen werden sollte. Das ist es: diese Unruhen werden auf Rußland noch nachteiliger wirken, wenn es sich von einem tätigen und führenden Anteil an der Schicksalsentscheidung des Balkans ganz zurückzieht. Und da wird nun plötzlich geschrieben – nicht nur in Europa, sondern auch bei uns von vielen erstrangigen Politikern –, daß das Türkische Reich eben untergehen und Konstantinopel nur eine „internationale“ Stadt werden müsse, also irgendein Mittelding, etwas Allgemeines, Freies, auf daß es um seinetwillen nur ja keine Streitigkeiten gäbe. Etwas Unsinnigeres hätte man sich wahrlich nicht ausdenken können.
Erstens schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil man einen so prachtvollen Punkt der Erde doch nicht als internationale Stadt, also als keinem einzigen gehörig, sich selbst überlassen würde. Bestimmt würden sofort die Engländer mit ihrer Flotte erscheinen, in der Eigenschaft als Freunde natürlich, um diese selbe „Internationalität“ zu beschützen und zu bewahren, in Wirklichkeit aber, um Konstantinopel sich anzueignen. Die Engländer aber von einer Stelle zu verdrängen, wo sie sich bereits niedergelassen haben, ist nichts weniger als leicht – sie sind nun einmal ein schnell Fuß fassendes und zäh stehendes Volk! Und überdies werden ja die Griechen, Slawen, Muselmänner Konstantinopels sie selbst rufen, werden sich mit beiden Händen an sie klammern, sich an ihre Rockschöße hängen und sie nicht fortlassen. Und der Grund dieser Anhängigkeit? – Immer dieses selbe Rußland! „Sie werden uns vor Rußland bewahren, vor unserem Befreier!“ Ja, wenn sie nicht wüßten, was die Engländer für sie sind, und überhaupt ganz Europa! Aber sie wissen ja auch jetzt schon besser als alle anderen, daß ihr Glück, d. h. das Glück der ganzen christlichen Rajah, die Engländer (wie auch in ganz Europa niemanden außer Rußland) überhaupt nichts angeht. Diese ganze Rajah weiß es vorzüglich, daß die Engländer, wenn es nur möglich wäre, die bulgarische Metzelei des vorigen Sommers irgendwie unauffällig und im geheimen zu wiederholen (was, wie es scheint, sehr leicht möglich wäre), die ersten sein würden, die die zehnmalige Wiederholung dieser Metzeleien wünschten. Und das nicht etwa aus Blutdurst – oh bewahre! In Europa sind doch die Völker human und aufgeklärt! Sondern einfach, weil solche Metzeleien, zehnmal wiederholt, die Rajah endgültig ausrotten würden und dann niemand mehr am Balkan gegen die Türken Aufstände machen könnte – das aber ist doch die Hauptsache. Es würden nur noch die lieben Türken übrigbleiben, und die türkischen Papiere würden dann mit einem Schlage auf allen europäischen Börsen schwindelnd hoch steigen. Rußland aber müßte alsdann mit seinem „Ehrgeiz und seinen Eroberungsplänen“ einpacken, da es am Balkan niemanden mehr zu verteidigen hätte. Die Rajah weiß, wie gesagt, nur zu gut, daß sie jetzt von Europa keine anderen Gefühle erwarten darf.
Ganz anders aber wäre die Sache sofort, wenn der „kranke Mann“ auf irgendeine Weise, sei es durch sich selbst, oder sei es durch Rußlands Schwert, endlich umgebracht werden würde. Dann würde sogleich ganz Europa in zärtlichster Liebe zu den befreiten Völkern entbrennen und sofort zu ihnen eilen, um sie „vor Rußland zu retten“. Anzunehmen ist, daß Europa selbst die Idee von der „Internationalität“ in deren neue Staatsordnung bringen werde: es wird zunächst voraussehen, daß über dem Leichnam des „Kranken“ zwischen den befreiten Völkern alsbald Streit und Hader und Eifersucht aufkommen müssen, – das aber ist es ja, was Europa will. Somit wäre der Vorwand gefunden, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen, und vor allen Dingen der Vorwand, sie aufzuhetzen gegen dieses Rußland, das ihnen bestimmt nicht wird erlauben wollen, um das Erbe des „Kranken“ zu streiten. Und dann wird es keine Verleumdung mehr geben, die gegen uns zu verbreiten Europa sich scheuen wird. „Nur der Russen wegen haben wir euch nicht gegen die Türken helfen können,“ werden ihnen sofort die Engländer zuflüstern. Die Völker des Ostens wissen auch jetzt schon ganz genau, daß „England sich niemals an ihrer Befreiung beteiligen und dazu auch anderen nie seine Zustimmung geben wird; denn es haßt diese Christen wegen ihrer geistigen Verbindung mit Rußland. England will, und hat es auch nötig, daß die orientalischen Christen uns ebenso großen Haß, wie England selbst, entgegenbringen ...“ schreiben die „Moskauer Nachrichten“. Das also ist es, was diese Völker vorläufig wissen und was sie schon jetzt auf Rußlands zukünftige Rechnung gesetzt haben. Wir aber glauben immer noch, daß sie uns vergöttern!
In der „internationalen“ Stadt werden aber trotz aller beschützenden Engländer doch die Griechen die Herren sein – so wie sie dort von jeher die Herren gewesen sind. Nun bitte ich, nicht zu vergessen, daß die Griechen mit noch größerer Verachtung auf die Slawen blicken als die Deutschen. Da aber die Griechen die Slawen auch noch werden fürchten müssen, so wird sich die Verachtung in Haß verwandeln. Untereinander Schlachten schlagen, sich gegenseitig den Krieg erklären, werden sie natürlich nicht können; denn die Beschützer würden es so weit jedenfalls nicht kommen lassen, wenigstens nicht zu einem Krieg im ernsten Sinne. Nun und dann werden eben infolge der Unmöglichkeit eines offenen und ehrlichen Kampfes alle möglichen kleinen Streitigkeiten zwischen ihnen ausbrechen, Unruhen, die natürlich zuerst den Charakter von Kirchenwirren annehmen – damit fängt es ja in solchen Fällen gewöhnlich an, weil dieser doch der bequemste Vorwand ist. Das war es, worauf ich hinweisen wollte!
Ich kann ja darüber nur reden, weil das Programm doch schon aufgestellt wurde: die Bulgaren, hieß es, sollten Konstantinopel bekommen. Dazu aber sind wieder die Griechen zu stark, und das wissen sie selbst ganz vorzüglich. Dabei kann es in Zukunft nichts Furchtbareres für den ganzen Balkan und für Rußland geben als die Wiederholung eines solchen Kirchenstreites, – die leider so leicht möglich ist, wenn Rußland nur auf einen Augenblick mit seiner Protektion und der strengen Aufsicht über die Balkanslawen beiseite geschoben werden sollte. Wenn das nun auch alles noch in der Zukunft liegt und meine Ansichten nur Vermutungen sind, so wäre es doch unverzeihlich, diese Konflikte aus dem Auge zu lassen, und wär’s auch nur als Möglichkeiten. Oder sollen auch wir wünschen, daß die Herrschaft der Türken noch lange dauere? Sollten auch wir so weit gehen? Sollte es wirklich nicht klar sein, daß dann am Balkan die ganze Kircheneinigung höchstwahrscheinlich ins Wanken geraten wird und die Folgen dieser Erschütterung sich vielleicht noch weiter in den Osten erstrecken werden? Ja, man könnte sogar folgendes sagen: ob es nun diese Streitigkeiten geben wird oder nicht, – jedenfalls ist es wahrscheinlich, daß ein großes Konzil zur Ordnung der Angelegenheiten der neu erstehenden Kirche nicht zu umgehen sein wird. Warum das nicht beizeiten erwägen? In diesen vier Jahrhunderten der Verfolgung und Unterdrückung sind die Vertreter der östlichen Kirche immer den Ratschlägen Rußlands gefolgt; doch werden sie morgen von den Türken befreit und bietet ihnen noch außerdem Europa seinen Schutz an, so werden sie sich zu Rußland sofort anders verhalten. Die Vertreter der griechisch-katholischen Kirche, vorwiegend Griechen, würden, sobald Rußland sich ein wenig auf die Seite der Slawen neigen wollte, ihm vielleicht unverzüglich zu verstehen geben, daß sie weiterhin seiner Ratschläge nicht mehr bedürfen. Gerade deswegen würden sie sich damit beeilen, weil sie alle vier Jahrhunderte hindurch zu diesem Rußland nur mit andächtig gefalteten Händen emporgesehen haben. Und wie wird dann Rußlands Lage sein? Diese selben Bulgaren werden dann natürlich losschreien, daß in Konstantinopel sich ein neuer Papst auf den Thron gesetzt habe, und – wer weiß – vielleicht werden sie damit nicht einmal eine Unwahrheit sagen. Das internationale Konstantinopel kann tatsächlich einmal, wenn auch nur zeitweilig, einem neuen Papste zum Piedestal dienen. Dann wird für Rußland „die Griechen verteidigen“ gleichbedeutend sein mit „die Slawen verlieren“, und wiederum „für die Slawen eintreten“ vielleicht gleichbedeutend mit „auch sich die unangenehmsten und ernstesten Kirchensorgen zuziehen“. Augenscheinlich kann all dieses nur durch die Standhaftigkeit Rußlands in der Orientfrage, d. h. durch die energische Durchführung jener Politik, die uns unsere ganze Geschichte zur Pflicht gemacht hat, vermieden werden. In dieser Angelegenheit dürfen wir Europa keine einzige Konzession machen, denn hier handelt es sich für uns um Leben oder Tod. Konstantinopel muß unser werden, ob früher oder später bleibt sich gleich, und wenn auch nur zur Vermeidung schwerer Kirchenunruhen, die so leicht zwischen den jungen Völkern des Ostens ausbrechen können, da ihnen doch schon einmal im Streite der Bulgaren mit dem ökumenischen Patriarchen ein Beispiel geboten worden ist. Erobern wir aber Konstantinopel, so kann von alledem nichts eintreten. Die Völker des Westens, die so eifersüchtig jeden Schritt Rußlands beobachten, wissen und ahnen im gegenwärtigen Augenblick nicht einmal alle diese noch phantastischen und doch so leicht möglichen zukünftigen Konflikte. Würden sie dieselben aber jetzt erfahren, so wären sie doch unfähig, sie zu verstehen, oder sie würden ihnen keine besondere Wichtigkeit zuschreiben – das werden sie erst später tun, dann, wenn es zu spät sein wird. Das russische Volk, das die Orientfrage ausschließlich als Befreiung der ganzen orthodoxen Christenheit versteht, und von der großen Zukunft Rußlands die Vereinigung der ganzen Kirche erhofft, würde durch neue Unruhen und neue Uneinigkeiten rein kirchlichen Charakters zu sehr erschüttert werden, und fraglos würden diese in seinem ganzen Leben einen tiefen Widerhall finden. Das ist der einzige Grund, warum wir für keinen Preis und in keiner Weise unsere in die Jahrhunderte zurückreichende Anteilnahme an dieser großen Frage weder ganz aufgeben noch auch nur verringern können. Nicht nur der prachtvolle Hafen, nicht nur die Pforte zu den Meeren und Ozeanen verbinden Rußland so eng mit dieser verhängnisvollen Orientfrage, und nicht einmal die Vereinigung und Auferstehung der Balkanslawen tun dies ... Unsere Aufgabe ist tiefer, unendlich tiefer. Wir, Rußland, sind in der Tat unumgänglich notwendig für die ganze orientalische Christenheit wie auch für die Vereinigung der ganzen zukünftigen rechtgläubigen Menschheit. So haben es immer das Volk und seine Herrscher verstanden ... Mit einem Wort, diese furchtbare Orientfrage – das ist in Zukunft beinahe unser ganzes Schicksal. In ihr liegen geradezu alle unsere Aufgaben und, vor allem, unsere einzige Möglichkeit, in die große Geschichte der Menschheit einzutreten. In ihr liegt auch unser endgültiger Zusammenstoß und unsere endgültige Vereinigung mit Europa, und zwar auf neuer, mächtiger, fruchtbarerer Grundlage. Wie sollte Europa diese ganze uns vom Schicksal bestimmte Lebensbedeutung, die für uns in der Entscheidung dieser Frage liegt, jetzt schon begreifen?!
Nein: gleichviel, womit die gegenwärtigen, vielleicht notwendigen diplomatischen Unterhandlungen und Verträge mit Europa enden, früher oder später muß Konstantinopel doch uns gehören, und sei es auch erst im nächsten Jahrhundert! Das müssen wir Russen immer im Auge behalten, ein jeder von uns unverwandt und fest. Nur dies war es, was ich allen Russen sagen und ans Herz legen wollte, besonders in unserer jetzigen europäischen Zeit.
„Krieg!! der Krieg ist erklärt!“ rief man bei uns vor zwei Wochen.[46] „Wird es auch zum Kriege kommen?“ fragten sofort die Zweifler. „Er ist schon erklärt, ist erklärt!!“ antwortete man ihnen. „Wissen wir, – aber wird es überhaupt zum Kriege kommen?“ fuhren jene fort zu fragen.
Solche Fragen gab es damals und gibt es vielleicht noch jetzt. Und nicht nur wegen der langen diplomatischen Unterhandlungen glaubt man nicht an den Krieg; nein, hier ist noch etwas anderes mit im Spiel, das Grund zum Zweifeln gibt: hier ist es einfach – der Instinkt. Alle fühlen, daß etwas Entscheidendes beginnt, daß das Ende von etwas Früherem, jahrhundertelang Gewesenem herannaht, und daß ein Schritt zu etwas ganz Neuem getan wird, zu etwas, was das Frühere zersprengt und zu neuem Leben auferweckt, und ... daß dieser Schritt von uns getan wird, von – Rußland! Das ist es ja, was die „klugen“ Leute nicht glauben können. Instinktives Vorgefühl ist vorhanden, doch der Zweifel währt noch immer: „Rußland! Wie kann es denn, wie wagt es überhaupt? Ist es denn dazu vorbereitet? – innerlich, moralisch, nicht nur materiell? Dort ist Europa, das ist leicht gesagt – Europa! Aber Rußland, was ist denn Rußland? Und nun solch ein Schritt!?“
Das Volk aber glaubt, daß es reif ist zu diesem neuen und großen Schritt. Es ist das Volk, das sich mit seinem Zaren an der Spitze zum Kriege erhoben hat. Als das Zarenwort sich über die russische Erde verbreitete, da zog das Volk in die Kirchen, um zu Gott zu beten; als die Bauern auf dem Lande das Manifest ihres Zaren lasen, bekreuzten sie sich und beglückwünschten einander zu diesem Kriege. Das haben wir selbst hier in Petersburg gesehen und gehört. Und wieder geschieht dasselbe, was im vorigen Jahr geschah. Die Dorfbauern geben je nach ihrem Vermögen Geld oder den durchmarschierenden Truppen Lebensmittel, Pferde und Wagen und plötzlich sagt dieses Volk: „Was sind Spenden, was Vieh und Pferde, wir gehen selbst kämpfen!“ Hier in Petersburg werden von einzelnen mehrere tausend Rubel für die Verwundeten gegeben – ihre Namen kennt man nicht, denn sie wollen ungenannt bleiben. Solche Tatsachen erleben wir jetzt in Unmengen und keinen nehmen sie wunder. Sie bedeuten nur, daß das ganze Volk sich für die Wahrheit erhoben hat, zum Kriege für die heilige Sache. Was unsere „Klugen“ anbetrifft, so werden sie natürlich auch diese Tatsachen leugnen – ganz wie sie im vorigen Sommer die Beweise der Sympathie unseres Volkes für die Balkanslawen leugneten. Auch jetzt lachen sie über das Volk, doch sind ihre Stimmen schon merklich leiser geworden. Warum aber lachen sie nur, woher haben sie soviel Selbstvertrauen? Nun, weil sie sich immer noch für eine Macht halten, immer noch für dieselbe Macht, ohne die man nichts vollbringen kann. Indessen ist das Ende dieser ihrer Macht nicht mehr fern und immer schneller nähern sie sich ihrem furchtbaren Untergang. Wenn aber der Boden unter ihnen anfangen wird zu weichen, dann werden sie sich beeilen, in einer anderen Sprache zu reden, doch dann wird es zu spät sein: alle werden begreifen, daß sie fremde Worte aufs Geratewohl zusammenstellen, und werden sich von ihnen abwenden und ihre Zuversicht dorthin tragen, wo der Zar und mit ihm sein Volk ist.
Wir haben diesen Krieg auch für uns selbst nötig: nicht nur für unsere von den Türken gequälten „slawischen Brüder“ erheben wir uns, sondern auch zur eigenen Rettung. Der Krieg wird die Luft, die wir atmen, erfrischen, die Luft, in der wir in der Ohnmacht unserer Verwesung und geistigen Beengtheit zu ersticken drohten. Die „Klugen“ und „Allweisen“ prophezeien zwar, daß wir an unseren eigenen inneren Unordnungen ersticken und verderben würden und darum an Stelle des Krieges lieber einen langen Frieden wünschen sollten, damit wir uns aus Tieren und Dummköpfen in Menschen verwandeln, zunächst Ordnung, Ehrlichkeit und Ehre lernen können: „Dann erst geht und helft euren slawischen Brüdern,“ schließen sie übereinstimmend ihre Episteln. Es wäre wirklich interessant zu erfahren, wie sie sich diesen Entwicklungsprozeß, durch den sie es besser machen würden, eigentlich denken? Und auf welche Weise sie sich durch evidente Unehre Ehre erwerben wollten? Interessant wäre ferner, wie und wodurch sie ihre Feindschaft gegen das allgemeine, allenthalben durchbrechende Gefühl ihres Volkes rechtfertigen wollen. Nein, wie man sieht, läßt sich die Wahrheit nur durch Märtyrertum erkaufen. Millionen von Menschen bewegen sich und leiden und verschwinden dann spurlos, als ob es ihnen bestimmt gewesen wäre, niemals die Wahrheit zu erkennen. Sie leben mit fremden Gedanken, sie suchen das fertige Wort und Beispiel, klammern sich an die von anderen ihnen suggerierte Tat. Sie prahlen, daß die Autoritäten, daß Europa ihnen recht gebe. Alle anderen, die mit ihnen nicht übereinstimmen, die die Gedankenknechtschaft verachten und an ihre eigene und ihres Volkes Selbständigkeit glauben, pfeifen sie aus. Aber in der Wirklichkeit sind diese Schwärme schreiender Menschen doch nur dazu bestimmt, ein passives Mittel zu sein, auf daß nur wenige Einzelne von ihnen sich der Wahrheit nähern oder von dieser wenigstens so etwas wie ein Vorgefühl bekommen. Diese Einzelnen aber sind es, die dann alle nach sich ziehen, die Führung ergreifen, die Idee gebären und sie als Vermächtnis den sich quälenden Menschenmassen hinterlassen. Solche Einzelne haben wir schon bei uns gehabt. Manche von uns verstehen sie schon, oder sogar viele. Doch die „Klugen“ fahren noch fort, zu lachen und immer noch von sich zu glauben, sie seien eine große Macht! „Die gehen ein wenig spazieren, werden bald zurückkehren,“ sagen sie jetzt von unseren Truppen, die schon die Grenze überschritten haben, sagen es sogar laut. „Wo soll’s denn Krieg geben? Wie könnten wir denn Krieg führen? Es ist einfach ein militärischer Spaziergang und einige Manöver mit Verschwendung Hunderter von Millionen – zur Aufrechterhaltung der Ehre.“ Das ist ihre intime Auffassung der Sache, oder richtiger, ihre nicht intime.
Sollte es nun geschehen, daß wir besiegt werden, oder unter dem Druck der Verhältnisse für Lappalien Frieden schließen, – oh, dann würden die „Klugen“ natürlich triumphieren! Und welch ein Auspfeifen und Heidenlärm und Zynismus wird dann wieder beginnen, welch ein Bacchanal von Selbstbespeiung, Selbstbeschimpfung und Selbstverspottung wird dann wieder anheben! – Und das nicht etwa, um ein neues Leben bei uns zu erwecken, sondern gerade wegen des Triumphes der eigenen Ehrlosigkeit, Unpersönlichkeit und Kraftlosigkeit. Und der neue Nihilismus wird ganz genau so, wie der alte, mit der Verneinung des russischen Volkes und seiner Selbständigkeit beginnen, und – das Wichtigste – wird solche Macht ergreifen und so tief Wurzel treiben, daß er fraglos das Heiligste Rußlands unterdrücken wird. Und wieder wird die Jugend ihre Familien und ihr Elternhaus beschimpfen und vor der Weisheit der Greise davonlaufen, weil diese doch nur ein und dasselbe wiederholen: immer die alten, allen überdrüssig gewordenen Lieder von der europäischen Herrlichkeit und von unserer Pflicht, möglichst unpersönlich zu sein. Das ist ja das Schrecklichste, daß es dann wieder dieselben alten Lieder, dieselben alten Worte geben wird und die Hoffnung auf etwas Neues dann auf lange, lange hinausgeschoben werden muß!! Nein, wir brauchen Krieg und Siege! Mit Krieg und Siegen wird das neue Wort kommen und wird das lebendige Leben beginnen und nicht das ertötende Geschwätz von früher sich fortsetzen ... was sag’ ich, „von früher“! – von heute, meine Herren.
Nichtsdestoweniger muß man auf alles gefaßt sein: setzen wir den für uns schlechtesten Ausgang des begonnenen Krieges voraus, so wird doch, selbst wenn wir viel Schändliches, viel schon so zuwider gewordenes altes Leid werden ertragen müssen, so wird doch der Koloß nicht ins Wanken gebracht werden und früher oder später das Seine nehmen. Das ist nicht nur meine Hoffnung – das ist meine volle Überzeugung. In dieser Unmöglichkeit, den Koloß ins Wanken zu bringen, liegt unsere ganze Macht Europa gegenüber. Dieser Koloß ist unser Volk. Und der jetzige volkstümliche Krieg und all die ihm kurz vorhergegangenen Bewegungen haben allen, die zu sehen verstehen, deutlich unsere volkliche Einheit und Frische gezeigt, und bis zu welch einem Grade unsere Volkskräfte von jener Zersetzung, die unsere „Klugen“ überfallen hat, bewahrt geblieben sind. Und welch einen Dienst uns diese „Weisen“ in den Augen Europas erwiesen haben! Noch vor kurzem schrien sie, so daß die ganze Welt es hörte, wir seien arm und nichtig; sie versicherten spöttisch allen, einen Volksgeist hätten wir überhaupt nicht, einfach weil kein Volk vorhanden wäre; weil auch unser „Volk“ ganz so wie sein „Geist“ nur von der Phantasie einheimischer, moskowitischer Denker erfunden worden sei; daß die achtzig Millionen russischer Bauernkerle im ganzen nur Millionen passiver, betrunkener, steuerpflichtiger Nummern wären; daß von einer Verbindung des Zaren mit dem Volke überhaupt nicht die Rede sein könne – letzteres stehe nur in alten Schriften; daß, im Gegenteil, alles losgelöst und vom Nihilismus angefressen sei; daß unsere Soldaten die Gewehre wegwerfen und wie die Lämmer zurücklaufen würden; daß wir weder Munition noch Proviant hätten; und zu guter letzt, hieß es, sähen wir selbst ein, daß wir uns zuviel zugemutet hätten, und warteten jetzt nur auf einen Vorwand, um uns zurückziehen zu können, ohne gerade die ganzschimpflichsten Ohrfeigen davontragen zu müssen, und beteten zu Gott, daß Europa uns diesen Vorwand ausdächte! Das ist die Meinung unserer „Weisen“ von uns ... Wahrlich, man kann sich schlechterdings kaum über sie ärgern: das ist nun einmal ihre eingefleischte Überzeugung. Und es ist ja auch wahr: ja, wir sind arm, ja, in vielem sind wir sogar bedauernswert; ja, wir haben wirklich so viel Schlechtes, daß der „Kluge“, und besonders wenn er noch unser „Kluger“ ist, nichts anderes tun kann, wenn er sich „treu“ bleiben will, als ausrufen: „Wozu das Ende Rußlands noch bedauern!“ Und diese lieben Gedanken unserer Klugen sind bereits durch ganz Europa geflattert, besonders mit Hilfe der europäischen Korrespondenten, die schwarmweis seit dem Ausbruch des Krieges zu uns kommen, um uns an Ort und Stelle zu studieren, uns mit ihren europäischen Äuglein zu durchschauen und unsere Kräfte mit ihrem europäischen Zentimetermaß zu messen. Selbstverständlich haben sie nur unsere „Klugen, Allwissenden und Vernünftigen“ angehört. Die Volkskraft und der Volksgeist sind ihnen allen entgangen. Und so ist denn auch schon die Nachricht, daß Rußland untergeht, daß es nichts ist, nichts war und nichts werden wird, nach Europa telegraphiert worden. Als diese erste Botschaft noch vor dem Kriege hinauszog, da erbebten die Herzen unserer uralten Feinde und Neider, denen wir schon zwei Jahrhunderte lang Verdruß bereiten, vor Freude, und mit ihnen frohlockten die Herzen vieler Tausende europäischer Juden und die Herzen vieler Millionen verjudeter „Christen“. Es freute sich auch das Herz Beaconsfields: ihm ward gesagt, Rußland werde eher alles ertragen, alles, bis zur beleidigendsten letzten Ohrfeige, als daß es einen Krieg begönne – dermaßen groß, hieß es, sei seine „Friedensliebe“. Gott jedoch schützte uns und schlug sie alle mit Blindheit. Da sie fest an den Untergang und die Nichtigkeit Rußlands glaubten, konnte ihnen das Wichtigste entgehen: sie übersahen das ganze russische Volk als lebendige Kraft und übersahen die kolossale Tatsache: das Einssein des Zaren mit seinem Volke! Ja, nur das ist ihnen entgangen! Außerdem konnten sie unmöglich begreifen und glauben, daß unser Zar wirklich friedliebend sei und wirklich nicht Menschenblut vergießen wolle; sie dachten, all das werde bei uns nur „aus Politik“ gesagt. Und sogar jetzt noch sehen sie nichts von alledem: sie schreiben, daß bei uns plötzlich nach dem Manifest des Zaren der „Patriotismus“ ausgebrochen sei. Ist denn das Patriotismus, ist denn diese Verbindung des Zaren mit dem Volk für die große Sache etwa nur Patriotismus? Darin besteht ja unser Talisman, daß sie nichts von Rußland verstehen, nichts in Rußland sehen! Sie wissen nicht, daß wir durch nichts in der Welt besiegt werden können, daß wir meinetwegen Schlachten verlieren können, doch nichtsdestoweniger unbesiegbar bleiben, gerade durch die Einheit des Volksgeistes in dem Bewußtsein: daß wir nicht Frankreich sind, das ganz in Paris liegt, daß wir nicht Europa sind, das ganz von den Börsen seiner Bourgeosie abhängt und von der „Ruhe“ seiner Proletarier, die bereits durch die letzten Anstrengungen der dortigen Regierungen erkauft wird – nur auf eine Stunde. Sie begreifen es nicht und wissen es nicht, daß, wenn wir wollen, uns alle Juden der Welt zusammengenommen nicht werden besiegen können, nicht die Millionen ihres Goldes, nicht die Millionen ihrer Armeen; daß, wenn wir wollen, man uns nicht wird zwingen können, etwas gegen unseren Willen zu tun, daß es keine einzige irdische Macht gibt, die dazu fähig wäre! Das Unglück ist nur, daß man über diese Worte nicht nur in Europa lachen wird, sondern auch bei uns, und daß es hier nicht bloß unsere „Weisen“ tun werden, nein, auch die wirklichen Russen unserer intelligenten Schicht – dermaßen wenig kennen wir uns selbst und unsere Urkraft, die sich, Gott sei Dank, bis jetzt noch ungeschwächt erhalten hat. Die guten Leute begreifen es nicht, daß bei uns, in unserem unabsehbaren und eigenartigen, Europa im höchsten Grade ungleichen Lande sogar die Kriegstaktik – eine doch so allgemeine Sache! – der europäischen vielleicht ganz unähnlich ist; daß die Grundlagen der europäischen Taktik – Geld und wissenschaftliche Organisation militärischer Einfälle in unser Land – über dieses Land straucheln und hier bei uns auf eine neue, ihnen noch vollkommen unbekannte Kraft stoßen können, auf die Kraft, deren Wurzeln in der Natur des unabsehbaren Russenlandes und in der Natur des allvereinenden russischen Geistes liegen. Doch mögen es vorläufig auch noch so viele gute Leute bei uns nicht wissen – nicht wissen und sich ängstigen –; dafür wissen es unsere Zaren und fühlt es unser Volk. Alexander I. wußte um diese unsere eigenartige Kraft Bescheid, als er sagte, er werde sich einen langen Bart wachsen lassen und mit seinem Volke in die Wälder gehen, doch könne er nicht das Schwert niederlegen und sich dem Willen Napoleons fügen. An dieser Kraft wäre auch ganz Europa zerschellt; denn zu solch einem Kriege reicht weder sein Geld noch die Einheitlichkeit seiner Organisation aus. Wenn einst bei uns alle Russen wissen werden, daß wir so stark sind, dann werden wir es auch erreichen, daß wir nicht mehr Krieg zu führen brauchen; dann wird man an uns glauben und dann wird uns Europa zum erstenmal entdecken, so wie es einst Amerika entdeckte. Auf daß nun aber dies möglich werde, müssen wir uns selber, und zwar vor ihnen, entdecken, und muß unsere Intelligenz endlich begreifen, daß sie sich nicht mehr von unserem Volke absondern darf ...
Doch unsere „Klugen“ haben sich auch an die andere Seite der Sache gemacht: sie predigen Nächstenliebe und „Humanität“, sie trauern um vergossenes Blut und sind tief unglücklich, daß wir zu unserer Vertierung in den Krieg ziehen, uns somit noch weiter von dem inneren Fortschritt, dem richtigen Wege, der Wissenschaft entfernen. Ja, der Krieg ist schließlich ein Unglück, doch vieles ist auch kurzsichtig gesehen in diesem Urteil der „Humanen“; vor allem aber haben wir wirklich genug von ihren bourgeoisen Moralpredigten! Die Heldentat des Selbstopfers für all das, was wir heilig halten, ist doch wohl ethischer als der ganze bourgeoise Moralkatechismus. Der Aufschwung des Geistes der Nationen für eine hochherzige Idee – ist ein Schritt nach vorn, aber nicht „Vertierung“. Natürlich können wir uns ja irren in dem, was wir eine hochherzige Idee nennen; ist aber das, was wir heilig halten, schimpflich und lasterhaft, so werden wir der Strafe der Natur nicht entgehen: das Schimpfliche und Lasterhafte trägt seinen Tod in sich und richtet sich früher oder später doch selbst. Der Krieg, der zur Eroberung fremder Reichtümer geführt wird, auf Wunsch der unersättlichen Börse, – wenn er auch vielleicht im tiefsten Grunde auf dem allen Völkern gemeinsamen Gesetz der Ausbreitung ihrer nationalen Persönlichkeit beruhen mag, so gibt es doch eine Grenze, die bei dieser Ausbreitung nicht überschritten werden darf, über die hinaus jede Aneignung schon Überfluß ist –: solch ein Krieg zeugt bereits von der Dekadenz der Nation und kann ihr nur den Tod bringen. So würde England, wenn es in diesem Kriege für die Türken eintreten und aus Interesse für seine handelspolitischen Vorteile die Leiden gequälter Menschen ganz und gar vergessen wollte, zweifellos ein Schwert erheben, das früher oder später auf sein eigenes Haupt zurückfallen würde. Und umgekehrt: welch eine Tat könnte reiner und heiliger sein als dieser Krieg, den Rußland jetzt unternommen hat? Man wird vielleicht sagen: „Auch Rußland will sich doch in diesen Völkern, die es jetzt, nehmen wir an, aus tatsächlich uneigennützigen Gründen zu befreien und selbständig zu machen beabsichtigt, durch diese selbe Tat für die Zukunft Verbündete, d. h. also, eine neue Kraft erwerben; – das aber geschieht natürlich nach diesem selben Gesetz der Ausbreitung der nationalen Persönlichkeit, dem zufolge auch England zu erobern strebt. Da aber das Ziel des ‚Panslawismus‘ durch seine Kolossalität Europa fraglos schrecken kann, so hat Europa allein schon nach dem Gesetz des Selbsterhaltungstriebes das Recht, uns aufzuhalten, ganz so wie wir das Recht haben, vorwärts zu gehen, ohne uns durch seine Angst auch nur im geringsten aufhalten zu lassen, und uns in unserem Gang nur nach dem zu richten, was uns die eigene politische Umsicht und Klugheit rät. Auf diese Weise gibt es hierbei weder Heiliges noch Schmähliches, sondern nur einen ewigen, sagen wir, tierischen Instinkt der Völker, dem sich ausnahmslos alle noch ungenügend und unvernünftig entwickelten Nationen der Welt unterwerfen. Trotzdem aber müssen die erworbene Erkenntnis, die Wissenschaft und Menschlichkeit endlich einmal, sei es wann es sei, den ewigen tierischen Instinkt der unvernünftigen Nationen schwächen und in ihnen allen den Wunsch nach Frieden, nach allvolklicher Vereinigung und philanthropischem Fortschritt entfachen. Daraus folgt, daß man Frieden und nicht Blut verkünden muß.“
Heilige Worte! Im gegenwärtigen Augenblick jedoch kann man sie nicht gut auf Rußland anwenden, oder, um es besser auszudrücken –: in der jetzigen historischen Epoche ganz Europas stellt Rußland gewissermaßen eine Ausnahme dar. Sollte sich Rußland, das sich jetzt uneigennützig zur Errettung der geknechteten Völker gerüstet hat, späterhin auch durch dieselben verstärken, so würde es doch selbst dann ein Ausnahmebeispiel bleiben, was natürlich Europa, das Rußland nur nach sich beurteilt, vorläufig noch keineswegs für möglich hält. Rußland wird sich, selbst wenn es sich durch das Bündnis mit den von ihm befreiten Völkern ungemein verstärkt, doch nicht mit seinem Schwerte auf Europa stürzen, nichts von ihm verlangen, nichts von ihm fortnehmen, wie es umgekehrt Europa bestimmt tun würde, wenn es die Möglichkeit fände, sich wieder als Ganzes gegen Rußland zu vereinigen, und wie es in Europa alle Nationen von jeher tun – wenn sich nur eine Gelegenheit findet, sich auf Kosten der lieben Nachbarin zu verstärken. Das geschieht dort seit den ältesten Zeiten, und noch kürzlich ist es wieder geschehen: die gelehrteste, aufgeklärteste aller Nationen stürzte sich auf die andere, ebenso gelehrte und aufgeklärte Nation und packte sie wie ein grimmes Tiers, sog ihr das Blut aus, preßte ihre Kräfte in Gestalt von Milliarden heraus und hieb ihr eine ganze Seite – die beste – ab! Ist es wirklich noch Europas Schuld, wenn es nach alledem Rußlands Bestimmung nicht verstehen kann? Wie sollten sie, die Stolzen, Gelehrten, Starken, sich auch nur träumen lassen, daß Rußland vielleicht gerade zu ihrer Rettung bestimmt und geschaffen ist, und daß es vielleicht erst zum Schluß sein erlösendes Wort aussprechen wird! – Oh, wahrlich wahrlich, wir werden ihnen nichts wegnehmen! – Doch gerade durch den Umstand, daß wir uns so ungemein verstärken – und zwar durch eine Vereinigung in Liebe und Brüderlichkeit, und nicht durch Überfall, Eroberung und Gewalt – gerade durch diese Tatsache wird es uns endlich möglich sein, das Schwert ruhen zu lassen und in der Ruhe unserer Kraft das Beispiel des wahren Friedens zu geben, der internationalen Allvereinigung und Uneigennützigkeit. Wir werden die ersten sein, die der Welt kundtun, daß wir nicht durch Unterdrückung der Persönlichkeit uns fremder Nationalitäten das eigene Gedeihen erreichen wollen, sondern, im Gegenteil, Letzteres nur in der freiesten und selbständigsten Entwicklung aller anderen Nationen sehen und in der brüderlichen Vereinigung mit ihnen, die einen die anderen ergänzend, indem wir uns ihre organischen Besonderheiten einimpfen und ihnen auch von uns Pfropfreiser geben, uns gegenseitig seelisch und geistig aufnehmen, von ihnen lernen und wiederum sie lehren – bis die Menschheit dereinst sich durch den universalen Umgang der Völker bis zur allgemeinen Einheit vervollständigen und wie ein großer prachtvoller Baum die glückliche Erde beschatten wird. Mögen sie doch lachen über diese „phantastischen“ Worte, unsere jetzigen Kosmopoliten und Selbstbespeier! Wir aber fühlen keine Schuld in uns, wenn wir mit unserem Volke, das daran glaubt, Hand in Hand gehen. Fragt doch das Volk, fragt die Soldaten: warum erheben sie sich, warum ziehen sie jetzt westwärts, und was ersehnen sie von diesem begonnenen Kriege? Alle werden sie wie aus einem Munde antworten, daß sie gehen, um Christus zu dienen, und um die bedrückten Brüder zu befreien, – und keiner ist unter ihnen, sage ich euch, der da an Eroberung dächte! Ja, jetzt, gerade in diesem Kriege werden wir den Europäern unsere ganze Idee der zukünftigen Bestimmung Rußlands in Europa beweisen, indem wir uns nach der Befreiung der slawischen Länder von ihnen keine Scholle aneignen – was Österreich bereits heute beabsichtigt, in Zukunft für sich zu tun –; sondern indem wir, im Gegenteil, nur über ihr gegenseitiges Einverständnis wachen und ihre Freiheit und Selbständigkeit, sollte es darauf ankommen, auch gegen ganz Europa verteidigen. Ist dem aber so, dann ist unsere Idee heilig und unser Krieg nicht „ewiger tierischer Instinkt unvernünftiger Nationen“, wohl aber der erste Schritt zur Verwirklichung jenes ewigen Friedens, an den zu glauben wir das große Glück haben, zur Verwirklichung der fürwahr internationalen Vereinigung und des wahrhaften Gedeihens! Also sage ich euch: nicht immer muß man den Frieden predigen, und nicht im Frieden allein liegt einzig die Erlösung – die kann zuweilen auch der Krieg bringen.
„Aber es wird doch Blut dabei vergossen! – Menschenblut!“ rufen unsere Klugen entsetzt, und wieder beginnen sie ihr altes Lied. Alle diese Rumpelkammerphrasen von vergossenem Blut sind mitunter wirklich nichts weiter als eine Häufung der allernichtigsten schönen Worte zu einem bestimmten Zweck. Die Börsenspekulanten z. B. lieben es jetzt geradezu auffallend, über die Humanität zu philosophieren, – doch für wie viele von ihnen ist sie nur ein Geschäft! Indessen wäre ohne Krieg vielleicht noch mehr Blut vergossen worden. Glaubt mir, in nicht wenigen Fällen, wenn nicht in allen – abgesehen von Bürgerkriegen –, ist der Krieg ein Mittel, durch das man mit dem geringsten Blutvergießen, dem geringsten Weh und der geringsten Kraftverschwendung internationale Ruhe erreicht, und durch die sich, wenn auch nur annähernd, einigermaßen normale Beziehungen zwischen den Nationen herstellen. Selbstverständlich ist das traurig, doch was tun, wenn es so ist! Lieber einmal mit dem Schwerte dreinschlagen, als endlos Leid tragen. Und wodurch ist denn der jetzige Friede zwischen zivilisierten Nationen besser als – Krieg? Im Gegenteil: weit eher als der Kampf vertiert der Friede, besonders der lange Friede, den Menschen und macht ihn grausam. Ein langer Friede züchtet stets Gemeinheit, Feigheit und rohen, feisten Egoismus, vor allem aber – geistigen Stillstand. In der Zeit eines langen Friedens werden nur die Ausbeuter des Volkes fett. Man glaubt im allgemeinen, daß Friede Reichtum erzeuge, – aber das trifft doch nur für ein Zehntel der Menschheit zu! Und dieses Zehntel, das gar bald von den Krankheiten des Reichtums angesteckt ist, überträgt dann diese Krankheiten natürlich auch auf die übrigen neun Zehntel, versteht sich, ohne Reichtum. Krank aber ist es durch Verderbnis und Zynismus. Durch die übermäßige Anhäufung des Reichtums in den Händen Einzelner verrohen deren Gefühle bis zur Stupidität. Das Gefühl für das Vornehme verwandelt sich in die Gier launischen Übermutes und launischer Anormalitäten. Sinnenlust gebiert Grausamkeit und Feigheit. Die betrunkene rohe Seele des Wollüstlings ist grausamer als jede andere, selbst lasterhafte Seele. Mancher Wollüstling, der beim Anblick eines abgeschnittenen Fingers in Ohnmacht fällt, kann einem armen Schlucker nicht einmal eine lumpige Schuld verzeihen und bringt ihn ruhig ins Gefängnis. Grausamkeit aber erzeugt verstärkte, schon allzu feige Sorge um die Sicherstellung seiner selbst, und diese verwandelt sich am Ende eines langen Friedens in eine geradezu krankhafte Angst um die eigene Person, durchdringt schließlich alle Schichten der Gesellschaft und bringt die furchtbarste Gier nach Gelderwerb hervor. Der Glaube an die Solidarität der Menschen, an ihre Brüderlichkeit, an die Hilfe der Gesellschaft, geht verloren und die These: „Ein jeder für sich und nur für sich“ wird laut auf den Märkten verkündet. Der Arme sieht nur zu gut, was der Reiche ist, und was er ihm für ein „Bruder“ sein kann; und so sondern sich alle ab und vereinsamen. Großmut und Hochherzigkeit werden vom Egoismus ertötet. Nur die Kunst erhält in der Menschheit noch das höhere Leben: sie hält noch die Seelen wach, die in den Perioden langen Friedens einzuschlafen drohen und auch pflegen. Deswegen glaubt man auch, daß die Kunst nur zur Zeit eines langen Friedens blühen könne – welch ein Irrtum! Die Kunst, d. h. die wirkliche Kunst, entwickelt sich im Frieden ja nur deshalb, weil sie allen trunkenen, lasterhaften Einschläferungen der Seelen entgegengesetzt ist und durch ihre Schöpfungen in diesen Perioden stets zum Ideal ruft, Protest und Tadel aufwirbelt, die Gesellschaft bewegt und oftmals Menschen leiden macht, die da lechzen nach der Errettung aus der übelriechenden Grube. Und so erweist es sich, daß der lange bourgeoise Friede zu guter Letzt selber das Bedürfnis nach Krieg erzeugt, ihn wie eine traurige Folge gleichsam von selbst aus sich hervorbringt. Doch leider kommt es dann nicht zu einem Kriege mit einem großen, gerechten Ziele, das einer großen Nation würdig ist, sondern zu einem aus irgendwelchen erbärmlichen Börseninteressen, zur Erwerbung neuer Märkte für die Besitzer der Goldsäcke, mit einem Wort: zu einem Kriege aus Gründen, die nicht einmal durch die Notwendigkeit der Selbsterhaltung gerechtfertigt werden, sondern umgekehrt, nur von dem launischen, krankhaften Zustande des Nationalorganismus zeugen. Diese Interessen und die Kriege, die um ihretwillen geführt werden, verderben die Völker, ja, richten sie völlig zugrunde; während der Krieg mit einem hochherzigen Ziele – zur Befreiung Unterdrückter, für eine uneigennützige und heilige Idee – nur die von giftigen Miasmen erfüllte Luft reinigt, die Seele heilt, die schmähliche Feigheit und Faulheit verjagt, ein festes Ziel setzt und schließlich eine Idee gibt und sie verständlich macht, eine Idee, zu deren Verwirklichung diese oder jene Nation berufen ist. Ein solcher Krieg stärkt jede Seele durch das Bewußtsein des Selbstopfers und den Geist der ganzen Nation durch das Bewußtsein der Solidarität und Vereinigung aller, die die Nation ausmachen, vor allem aber durch das Bewußtsein der erfüllten Pflicht, der vollbrachten guten Tat –: „so sind wir doch noch nicht ganz gefallen und verderbt, so gibt es auch in uns noch Menschliches!“ Und womit fingen denn diese unsere jüngsten Prediger des Friedens und der „Menschlichkeit“ ihre Reden an? Mit der allerunmenschlichsten Härte. Sie wollten selbst nicht helfen und ließen auch nicht zu, daß andere den Gemarterten, die nach uns riefen, halfen. Sie, die scheinbar so „human“ und gefühlvoll sind, leugneten kaltblütig und spöttisch die Notwendigkeit des Selbstopfers und der geistigen Heldentat für uns. Sie wollten Rußland auf den erbärmlichsten, einer großen Nation unwürdigsten Weg stoßen, – ganz zu schweigen von ihrer Verachtung für das Volk, das in den slawischen Märtyrern seine Brüder anerkannte, und ihrer hochmütigen Abwendung vom Volkswillen, über den sie ihre falsche „europäische“ Bildung stellten. Ihre Lieblingsthese war: „Arzt, heile dich selbst.“ „Ihr drängt euch, andere zu heilen und zu retten, während bei euch noch nicht einmal Schulen gebaut sind,“ hoben sie ganz besonders hervor. „Nun gut, dann wollen wir uns heilen. Schulen sind eine wichtige Sache, das wird niemand leugnen; doch Schulen brauchen einen Geist und eine Richtung, – so gehen wir denn jetzt in den Krieg, um uns mit Geist zu versehen und eine gesunde Richtung zu erlangen. Und das werden wir auch erreichen, und werden es doppelt, wenn Gott uns Sieg schickt. Mit dem Bewußtsein, daß wir eine uneigennützige Tat vollbracht, daß wir mit unserem Blute ruhmvoll der Menschheit gedient, mit dem Bewußtsein unserer erneuten Kraft und Energie werden wir dann zurückkehren – und werden all das an die Stelle unseres jetzigen kläglichen Wankelmutes setzen, an die Stelle unseres ertötenden Stillstandes in dem sinnlos übernommenen Europäismus. Und wir schließen uns dem Volke an und vereinigen uns fester mit ihm; denn nur in ihm allein werden wir die Heilung von unserer Krankheit finden – von unserer zwei Jahrhunderte langen unfruchtbaren Kraftlosigkeit.“
Im allgemeinen kann man sagen, daß, wenn die Menschheit ungesund und voll Ansteckungsstoff ist, selbst eine so nützliche Sache, wie ein langer Friede, der Gesellschaft anstatt Nutzen nur Schaden bringt. Das ließe sich im allgemeinen auf ganz Europa anwenden. Nicht umsonst ist in der europäischen Geschichte, wenigstens seit der Zeit, da wir uns ihrer erinnern, noch keine einzige Generation ohne Krieg ausgekommen. So ist, wie man sieht, wohl auch der Krieg zu irgend etwas nötig, kann auch der Krieg die Menschheit heilen und ihr das Leben erleichtern. Es mag empörend sein, wenn man es theoretisch überdenkt, doch in der Praxis ergibt sich diese eine Tatsache gerade aus der anderen Tatsache, daß nämlich für einen kranken Organismus auch der schöne Frieden nur Schaden bringt. Wirklich nützlich erweist sich freilich nur der Krieg, der für eine große Idee unternommen wird und nicht wegen materieller Interessen, nicht zu gieriger Eroberung, nicht um hochmütiger Vergewaltigung willen. Solche Kriege haben die Nationen bis jetzt nur auf falsche Wege verschlagen und sie stets verdorben. Wenn nicht wir, so werden es unsere Kinder erleben, wie England enden wird. Jetzt aber ist für alle in der Welt bereits „die Stunde nah“. Und wahrlich, es ist auch die höchste Zeit.
Man hat mir vor kurzem einen Auszug aus einem Buch zugesandt, das im vorigen Jahr in Kiew erschienen ist. Es heißt: „Das Moskowitische Reich zur Zeit des Zaren Alexei Michailowitsch und des Patriarchen Nikon nach den Aufzeichnungen des Archidiakonus Pawel Alepski.“ Herausgegeben ist es von Iwan Obolenski.
Ich will nun einen Teil dieses Auszuges hier in meinem „Tagebuch“ anführen, da es vielleicht meine Leser interessieren wird, zu erfahren, wie Rußlands „sanftester Zar“ Alexei Michailowitsch (1645–1676) die Orientfrage aufgefaßt hat. Zugleich ersehen wir aus dieser charakteristischen Aufzeichnung, welch einen Kummer es ihm bereitet hat, nicht der „Zar-Befreier“ der unterdrückten Balkanslawen sein zu können:
Und man sprach, daß der Zar zum heiligen Osterfest (1656), als er mit den griechischen Kaufherren, die alsdann in Moskau weilten, den Osterkuß tauschte, zu ihnen auch also gesprochen habe: „Wollt ihr vielleicht und erwartet ihr, daß ich euch aus der Gefangenschaft befreie und loskaufe?“ und als sie geantwortet: „Wie kann es anders sein? wie sollen wir das nicht wollen?“ habe er weitergesagt: „So bittet denn, wenn ihr heimkehrt in euer Land, alle Bischöfe und Mönche, zu Gott für mich zu beten und Messen zu lesen, auf daß mir durch ihre Gebete die Kraft zuteil werde, das Haupt ihres Feindes zu fällen.“ Und nachdem er hierauf viele Tränen geweint, habe er sich an die Edlen gewandt und also zu ihnen gesprochen: „Mein Herz ist betrübt und verzehrt sich in Kummer um das Los dieser Armen, die von den Feinden unseres Glaubens unterdrückt werden; am Tage des Gerichtes wird Gott mich zu sich rufen und von mir Rechenschaft fordern, warum ich, wenn ich die Macht hatte, sie zu befreien, selbiges zu tun unterlassen ... Ich weiß nicht, wie lang er währen wird, dieser schlechte Zustand der Reichssachen, doch seit der Zeit meines Vaters und meiner Väter Väter haben nicht aufgehört Patriarchen, Bischöfe, Mönche und viel arme Leute mit Klagen über ihre Bedrängung durch die Unterdrücker zu uns zu kommen, und keiner von ihnen hatte anders die Heimat verlassen, als verfolgt von rauhem Leid und auf daß er der Grausamkeit entginge. Und Angst erfaßt mich vor den Fragen des Schöpfers an jenem Tage! So habe ich denn beschlossen in meinem Sinn, wenn es Gott gefällig ist, meine treuen Heere und mein ganzes Gold dahinzugeben und mein Blut bis auf den letzten Tropfen zu vergießen, auf daß ich sie befreie.“ Darauf haben die Edlen geantwortet: „Herr, tue also, wie dein Herz es dir befiehlt.“
Und man hat mir auch noch von einem sehr sonderbaren Dokument Mitteilung gemacht. Es ist das eine alte, schleierhafte und allegorische Weissagung der heutigen Ereignisse und des heutigen Krieges. Einer unserer jungen Gelehrten hat in London, in der Königlichen Bibliothek, einen alten Folianten gefunden: „Das Buch der Weissagungen“, „Prognosticationes“ von Johannes Lichtenberger, eine Ausgabe in lateinischer Sprache aus dem Jahre 1528. Jedenfalls ein seltenes Exemplar, – vielleicht das einzige in der Welt. In nebelhaften Bildern wird in diesem Buch die Zukunft Europas und der Menschheit geschildert. Ein sonderbar mystisches Buch. Ich führe nur die Zeilen an, die für uns nicht ohne Interesse sind.
Nach der Prophezeiung der Französischen Revolution (1789) und Napoleons I., der aquila grandis genannt wird, heißt es weiter von den zukünftigen europäischen Ereignissen wie folgt:
Post haec veniet altera aquila
Hierauf wird ein anderer Adler kommen,
quae ignem fovebit in gremio sponsae Christi
der im Schoße der Braut Christi Feuer erwecken wird,
et erunt tres adulteri unusque legitimus
und es werden drei Uneheliche sein und ein Rechtmäßiger,
qui alios vorabit.
der die anderen verschlingen wird.
Aufsteigen wird der große Adler
Oriente, aquicolae occidentales
im Osten, die westlichen Inselbewohner
moerebunt. Tria regna
werden anfangen zu weinen. Drei Reiche wird er
comportabit. Ispa est aquila grandis,
verschlingen. Dieses ist der große Adler,
quae dormiet annis multis, refutata
der viele Jahre schläft, der besiegte
resurget et contremiscere faciet aquicolas
wird sich wieder erheben und die westlichen
occidentales in terra Virginis
Wasserbewohner im jungfräulichen Lande
et alios montes Superbissimos; et volabit
zittern machen und noch andere stolze Gipfel; und
ad meridiem recuperando amissa.
fliegen wird er gegen Süden, um das Verlorene
Et amore charitatis inflammabit Deus
wiederzunehmen. Und mit der Liebe der Barmherzigkeit wird Gott den östlichen
aquilam orientalem volando ad ardua
Adler entflammen, der zu Großem fliegt
alis duabus fulgens in montibus christianitatis.
mit zwei leuchtenden Schwingen auf die Gipfel des Christentums.
„Der große östliche Adler, der viele Jahre schläft, und der besiegte“ (bezieht sich das nicht auf unseren Krieg mit Europa vor 22 Jahren?) „wird sich wieder erheben und die westlichen Bewohner im jungfräulichen Lande zittern machen,“ – sollte sich das nicht auf die Gegenwart anwenden lassen, natürlich wenn man von unseren europäisierenden „Weisen“ absieht, die immer noch gewissermaßen vor den Bewohnern des Westens Angst zu haben scheinen, im Widerspruch zu dieser Weissagung, und das in einer Zeit, in der sich der Adler „mit zwei leuchtenden Schwingen“ schon erhoben hat. Doch es sind ja nur die „Weisen“, die da zittern, nicht der Adler! Dann: „die Bewohner im jungfräulichen Lande“ könnte sich, wenn man an die heutigen Verhältnisse denkt, auf England beziehen. In dem Falle jedoch – warum das „jungfräuliche Land“? Im Jahre 1528 gab es noch keine Königin Elisabeth. Oder meint Lichtenberger mit dieser Allegorie vielleicht Großbritannien in dem Sinne, wie sich einst Napoleon über die europäischen Hauptstädte, in die er eingezogen war, geäußert: „Eine Residenz, die sich vom Feinde hat einnehmen lassen, gleicht einer Jungfrau, die ihre Jungfräulichkeit verloren hat“ –? Doch der Adler wird nach der Weissagung auch andere „stolze Gipfel zittern machen“, wird „gegen Süden fliegen, um das Verlorene wieder zu nehmen“, und – was am auffallendsten ist – „mit der Liebe der Barmherzigkeit wird Gott den östlichen Adler entflammen“. Nun, dieses könnte schon stimmen. Hat sich nicht unser Adler aus Barmherzigkeit für die Unterdrückten und Gequälten erhoben? War es nicht die christliche Liebe, die unser Volk zur „schweren Tat“ zog, im vorigen wie in diesem Jahre? Wer will das leugnen? Diese Bauern, diese Soldaten aus diesem unserem Volke, das die „Gebete nicht auswendig kann“, haben einstweilen in der Krim, vor Sebastopol, zuerst die verwundeten Franzosen aufgehoben und zum Verbandsplatz getragen, und dann erst die Russen: „Lassen wir die noch etwas liegen: einen Russen wird jeder aufheben, aber solch ein armes Französchen ist hier doch ganz fremd und allein, für ihn muß man zuerst sorgen.“ Ist nicht Christi Geist in diesen gutmütig gesagten Worten? Ist nicht die Seele Christi in unserem Volke – in dem „dunklen“, doch guten, unwissenden, aber niemals barbarischen Volke? Ja, Christus ist seine Kraft, ist unsere russische Kraft, jetzt, da der Adler gegen Süden fliegt! Was bedeutet da irgendeine Anekdote von den Sebastopoler Soldaten gegenüber den Tausenden von Beweisen des christlichen Geistes und der „barmherzigen Liebe“, die in unserer Zeit offenbar geworden sind, wenn auch die „Weisen“ sich immer noch aus allen Kräften bemühen, den Gedanken zu unterdrücken und die Tatsache zu begraben, daß unser Volk mit Herz und Geist an dem heutigen Schicksal Rußlands und des Balkans Anteil nimmt? Ihr „Gebildeten“, weist nicht auf die „Roheit und Stumpfheit“ des Volkes hin, auf seine Unwissenheit und Rückständigkeit, bei der es, wie es heißt, unmöglich begreifen könne, was jetzt vor sich geht. Seid überzeugt, das Wesen der Sache versteht es vorzüglich – schon seit vier Jahrhunderten. Nur die jetzigen Diplomaten würde es nicht verstehen, wenn es sie kennen lernte; doch wer kann denn diese überhaupt verstehen? Ja, unser großes Volk ist wie ein Tier auferzogen worden, hat Qualen seit seinem ersten Tage und die ganzen tausend Jahre seiner Geschichte erduldet, Marter, wie sie kein einziges Volk der Welt ertragen hätte, sondern unter ihnen zerfallen und vergangen wäre. Unser Volk aber ist in ihnen nur stärker und fester geworden. So werft ihm doch, meine Herren Gelehrten, nicht „Roheit und Unwissenheit“ vor; denn ihr, gerade ihr habt für euer Volk nichts getan. Ihr habt es vor zweihundert Jahren verlassen und euch von ihm endgültig getrennt, habt es in zinspflichtige Nummern verwandelt, in eine für euch arbeitende Maschine; und so ist es aufgewachsen, meine europäisch gebildeten Herren, von euch vergessen und verstoßen, von euch wie ein Tier in seine Höhle verjagt. Doch mit ihm war Christus und mit dem allein hat es bis zu dem großen Tage gelebt, da vor zwanzig Jahren der nordische Adler sich erhob und seine Flügel ausbreitete und es segnete. Ja, es ist viel Roheit in unserem Volke, doch weist nicht auf sie hin! Diese Roheit – das ist der Schlamm der dunklen Jahrhunderte, von dem die Zeit das Volk befreien wird. Doch nicht das ist schlimm, daß noch Roheit vorhanden ist, schlimm ist es, wenn Roheit für Tugend angesehen wird. Ich habe Verbrecher gesehen, die viel Tierisches getan und mit ihrem verderbten, geschwächten Willen tiefer als tief gesunken waren; doch selbst diese Tiere wußten wenigstens von sich, daß sie Tiere waren, sie fühlten, wie tief sie gesunken, und in reinen, hellen Augenblicken, die Gott auch solchen „Tieren“ schickt, verstanden sie, sich selber zu verurteilen, wenn sie auch oftmals nicht mehr die Kraft hatten, sich wieder aufzurichten. Etwas ganz anderes aber ist es, wenn die Roheit wie ein Idol über alles erhoben wird und die Menschen es anbeten und gerade deswegen glauben, Helden zu sein. Der Earl of Beaconsfield und nach ihm alle anderen russischen wie europäischen Beaconsfields halten sich die Ohren zu und schließen die Augen, um nicht die Marter zu sehen, die man ganzen Völkern auflegt, und verraten Christus aus Liebe zu den „Interessen der Zivilisation“, und weil die Gemarterten Slawen sind, also etwas Neues in sich tragen und man sie folglich mit der Wurzel ausrotten muß – und das gleichfalls für die Interessen der alten angefaulten Zivilisation! Das ist meiner Meinung nach Roheit, bloß gebildete und zur Tugend erhobene. Und vor diesem Idol beugt man sich nicht nur im Westen, sondern auch in Rußland! Und der „allerheiligste Papst, der unfehlbare Stellvertreter Gottes“, – hat der nicht in seinen letzten Tagen noch den Türken, den Quälern der Christenheit, Sieg gewünscht über die Russen, die im Namen Christi für die Christenheit auszogen? – Und warum? Weil nach seiner „unfehlbaren“ Definition die Türken immerhin besser seien als die russischen Ketzer, die den Papst nicht anerkennen! Ist das nicht Roheit, ist das etwa nicht barbarisch? Die Weissagung Johannes Lichtenbergers scheint sich wirklich auf unsere Zeit zu beziehen. Und ist nicht einer der „stolzen Gipfel“ – der Papst? Übrigens, was mag Lichtenberger mit diesen Worten gemeint haben: „Hierauf wird ein anderer Adler kommen, der im Schoße der Braut Christi Feuer erwecken wird, und es werden drei Uneheliche sein und ein Rechtmäßiger, der die anderen verschlingen wird“? In der religiösen, mystischen Sprache hat man unter der „Braut Christi“ immer die „Kirche“ im allgemeinen verstanden. Was oder wer sind nun die drei Illegitimen und der eine Legitime? Man könnte annehmen, hiermit seien die drei verschiedenen Kirchen gemeint: die katholische, die protestantische und ... welche ist nun die dritte illegitime? Und welche dann die legitime?
Doch das ist ja nur eine mystische Allegorie. Jenes Buch ist im Jahre 1528 geschrieben und gedruckt, was immerhin sehr beachtenswert ist: in jener Zeit sind wahrscheinlich des öfteren solche Bücher entstanden. Obgleich die Zeit den Stürmen der großen protestantischen Reformation voranging, gab es doch schon viele Protestanten, Reformatoren und Propheten. Bekannt ist auch, daß später, besonders unter protestantischem Kriegsvolk, verzückte „Propheten“ sich erhoben und geweissagt haben. Diesen lateinischen Auszug aus dem alten Buch habe ich nicht etwa als Wunder angeführt, sondern weil diese Weissagung doch eine merkwürdige Tatsache bleibt. Und überhaupt: sind es denn nur die Wunder allein, die ein Wunder sind? Das größte Wunder ist häufig das, was in der Wirklichkeit geschieht. Wir sehen die Wirklichkeit immer nur so, wie wir sie sehen wollen, wie wir sie uns selbst voreingenommen, vorurteilsvoll erklären. Sehen wir aber dann plötzlich in dem Sichtbaren nicht das, was wir sehen wollten, sondern das, was in Wirklichkeit ist, so halten wir es sofort für ein Wunder. Oh, das geschieht keineswegs selten! Bisweilen aber, wahrlich glauben wir eher an Wunder und Unmöglichkeiten als an die Wirklichkeit, an die wir nicht glauben wollen. Und so ist es immer in der Welt gewesen, darin besteht ja die ganze Geschichte der Menschheit.
Als Don Quijote, der allbekannte Ritter von der traurigen Gestalt, der hochherzigste aller Edlen, die je in der Welt gelebt, sich einst mit seinem treuen Waffenträger Sancho auf der Jagd nach Abenteuern herumtrieb, ward er plötzlich von einem Zweifel angefochten, der ihn zwang, lange und tief nachzudenken.[47] Es kam ihm plötzlich in den Sinn, daß schon seit Adam de la Halle die alten Ritter, deren Lebensgeschichten in den wahrheitsgetreuesten Büchern bis auf den heutigen Tag erhalten sind – in den sogenannten Ritterromanen, zu deren Erwerb Don Quijote sich nicht scheute, einige der besten Landstücke seines sowieso nicht großen Besitztums zu verkaufen –, daß häufig diese Ritter während ihrer ruhmreichen und aller Welt Nutzen bringenden Streifzüge plötzlich ganze Heere von nicht weniger als hunderttausend Kriegern antrafen! Diese furchtbaren Heere wurden ihnen gewöhnlich von irgendeiner feindlichen Macht auf den Hals geschickt, oder auch von bösen, neidischen Zauberern, die alles mögliche ersannen, um sie zu verhindern, ihr großes Ziel zu erreichen und dann endlich zu ihren holden Damen heimkehren zu können. Gewöhnlich geschah es dann, daß der Ritter, wenn er so einem ungeheuerlichen feindlichen Heere begegnete, sein Schwert zog, noch schnell zu seinem Schutz den Namen seiner Dame anrief, sich darauf allein, wie er war, auf die hunderttausend Feinde stürzte und sie natürlich alle bis auf den letzten niederhieb. Man sollte meinen, daß diese Tatsache keinem Zweifel unterliegt. Doch Don Quijote verfiel darob plötzlich in tiefes Nachdenken. Und worüber denn eigentlich? Ja, es schien ihm mit einem Male unmöglich, daß ein einziger Ritter, wie stark er auch sei, und selbst wenn er mit einem siegbringenden Schwerte vierundzwanzig Stunden lang ohne jegliche Ermüdung um sich schlüge, hunderttausend Feinde töten könnte, und zwar – in einer einzigen Schlacht! Um einen Menschen zu töten, braucht man immerhin etwas Zeit; um hunderttausend Menschen zu töten, braucht man ungeheuer viel Zeit, und wie man da auch mit dem Schwerte fuchteln wollte, – in irgendwelchen fünf, sechs Stunden und ohne jede Ruhepause könnte das ein einzelner denn doch nicht fertigbringen, meinte weise Don Quijote. Nun aber steht es in diesen wahrheitsgetreuesten Büchern ausdrücklich, daß die Sache gerade in einer einzigen Schlacht geschah. Wie war das möglich?
„Ich habe dieses Rätsel gelöst, mein Freund Sancho,“ sagte endlich Don Quijote. „Da alle diese Riesen, alle diese bösen Zauberer unreine Mächte waren, so waren ihre Heere gleichfalls von dieser unreinen Art. Ich nehme an, daß sie nicht aus ganz solchen Menschen wie wir zum Beispiel bestanden. Jene Menschen wurden durch Zauberei hervorgerufen, also waren aller Wahrscheinlichkeit nach auch ihre Leiber nicht den unsrigen ähnlich, sondern eher denen der ... sagen wir, Mollusken, Weichtiere, Würmer, Spinnen. Auf diese Weise konnte ein festes, scharfes Schwert, von mächtiger Ritterhand geführt, alle diese Leiber in einem Augenblick durchschlagen, fast ohne Widerstand zu finden, – es ging wie durch die Luft! So konnte es denn tatsächlich mit einem Hieb durch drei oder vier Leiber gehen, ja sogar durch zehn, wenn sie eng beieinander standen. Jetzt erst wird es einem klar, wie sich die Sache für den Ritter so ungemein vereinfachte, daß er wirklich in wenigen Stunden ganze Heere dieser bösen Araber und anderer Ungeheuer vernichten konnte ...“
Hiemit hat der große Dichter und Menschenkenner eine der tiefsten, geheimnisvollsten Saiten des Menschenherzens berührt. Oh, das ist ein großes Buch: es gehört zu den ewigen, zu denen, die der Menschheit nur in langen Abständen geschenkt werden. Und solche Beobachtungen des Tiefsten in unserer menschlichen Natur findet man in diesem Buch auf jeder Seite. Schon der eine Umstand, daß dieser Sancho, diese Verkörperung der gesunden Vernunft, der Schlauheit und der goldenen Mitte, des allerwahnsinnigsten Menschen Freund und Reisegefährte wurde, gerade er und kein anderer! Die ganze Zeit über betrügt er ihn wie ein kleines Kind, und doch ist er unerschütterlich von seines Herrn großem Verstande überzeugt, ist er bis zur Rührung von dessen Herzensgröße bezaubert, glaubt er felsenfest an alle phantastischen Träume des Ritters, und kein einziges Mal bezweifelt er, daß dieser ihm endlich doch noch eine Insel erobern werde! Wie wünschenswert wäre es, daß unsere Jugend dieses große Werk kennen lernte. Ich weiß zwar nicht, was man jetzt in den Schulen von der Literatur durchnimmt; doch weiß ich, daß dieses größte und traurigste aller Bücher, die vom Genie des Menschen geschaffen worden sind, die Seele gar manches Jünglings durch einen großen Gedanken erhöhen würde, in sein Herz die Keime großer Fragen säen und seinen Geist von der ewigen Anbetung des dummen Idols der Mittelmäßigkeit, der selbstzufriedenen Eigenliebe und der gemeinen „Lebensweisheit“ ablenken könnte.
Dieses traurigste der Bücher wird der Mensch nicht vergessen, zum letzten Gericht Gottes mit sich zu nehmen. Er wird auf das im Buche enthaltene tiefste, unheilvollste Geheimnis des Menschen und der Menschheit hinweisen: daß die größte Schönheit des Menschen, seine höchste Reinheit, Keuschheit, Treuherzigkeit, sein ganzer Mut und endlich sein größter Verstand – leider nur zu oft ohne Nutzen für die Menschheit vergehen und sich sogar in einen Gegenstand des Spottes verwandeln, nur weil dem Menschen, dem diese reichen Gaben so häufig zuteil werden, bloß die eine letzte Gabe fehlt: das Genie, den Reichtum und die Macht dieser Gaben zu beherrschen, zu lenken und sie – das ist das Wichtigste – nicht auf den phantastischen, wahnsinnigen, sondern auf den richtigen Weg zu leiten, sie zum Heile der Menschheit zu gebrauchen. Doch leider wird den Rassen und Völkern so wenig, so selten Genie geschenkt, daß wir häufig das Schauspiel dieser Schicksalsironie sehen müssen: wie die Tätigkeit der edelsten und glühendsten Menschheitsfreunde – dem Spottgelächter und der Steinigung preisgegeben wird, weil sie es in der Schicksalsstunde nicht verstehen, in den wahren Sinn der Dinge einzudringen und ihr neues Wort zu finden. Dieses Schauspiel aber des zwecklosen Unterganges so großer, edler Kräfte kann in der Tat gar manchen Menschenfreund zur Verzweiflung bringen, in ihm nicht mehr Gelächter, wohl aber heiße Tränen hervorrufen, und sein bis dahin gläubiges Herz auf ewig mit Zweifeln vergiften ...
Übrigens habe ich ja nur auf einen einzigen Charakterzug Don Quijotes hinweisen wollen, auf eine der unzähligen tiefen Beobachtungen, die Cervantes am Menschenherzen gemacht und so meisterhaft dargestellt hat.
Der phantastischste Mensch, der bis zum Wahnsinn von der phantastischsten Illusion, die man sich nur denken kann, überzeugt ist, wird plötzlich von Zweifeln befallen, die seinen ganzen Glauben zu erschüttern drohen. Und merkwürdig ist, was diese Zweifel hervorruft: nicht die Ungereimtheit seines anfänglichen Wahnes, noch die Schilderung jener zum Wohle der Menschheit abenteuernden Ritter, noch der Unsinn der Zauberwunder, von denen die „wahrheitsgetreuesten“ Bücher erzählen; nein, es ist ein gänzlich nebensächlicher Umstand, der plötzlich Zweifel in ihm erweckt. Der phantastische Mensch wird plötzlich von der Sehnsucht nach dem Realismus erfaßt! Nicht die Tatsache, daß plötzlich Heere hervorgezaubert werden, verwirrt ihn: oh, das ist nicht dem geringsten Zweifel unterworfen! Wie hätten denn sonst diese prächtigen Ritter ihren Heldenmut beweisen können, wenn ihnen nicht solche Prüfungen geschickt worden wären, wenn es nicht neidische Riesen und böse Zauberer gegeben hätte? Das Ideal des fahrenden Ritters ist so hoch, so schön und nützlich und hat das Herz des edlen Don Quijote so bezaubert, daß der Verzicht auf den bedingungslosen Glauben an dasselbe für ihn bereits unmöglich geworden ist, ja dem Verrat der Pflicht, dem Verrat der Liebe zu Dulcinea und zur Menschheit gleichgekommen wäre. (Als er aber auf alles verzichtet hatte, als er von seinem Wahn geheilt und „klüger“ geworden war, – nach der Rückkehr von seiner zweiten Ausfahrt, auf der er von dem Barbier Carasco, dem Verneiner und Satiriker mit der „gesunden Vernunft“, geschlagen worden war – da starb er alsbald, still und mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen, indem er noch den weinenden Sancho tröstete, die ganze Welt liebte mit der großen Kraft jener Liebe, die in seinem heiligen Herzen eingeschlossen war, und doch noch einsah, daß er auf dieser Welt nichts mehr zu tun hatte.) Nein, es verwirrte ihn nur – eine durchaus richtige, vollkommen mathematische Erwägung: daß es, wie sehr der mächtige Ritter auch mit dem Schwerte um sich schlagen und wie stark er auch sein mag, immerhin unmöglich ist, ein Heer von hunderttausend Mann in wenigen Stunden, oder sagen wir, selbst in einem Tage, zu besiegen, und zwar: bis auf den letzten Mann! So aber steht es in den wahrheitsgetreuesten Büchern. Folglich steht dort ein Lüge? Ist aber schon eines Lüge, dann ist auch alles andere Lüge. Wie nun die Wahrheit retten? Und siehe, da denkt er sich denn zur Rettung der Wahrheit eine andere Illusion aus, eine, die zweimal, dreimal phantastischer, einfältiger und unsinniger ist als die erste, denkt sich hunderttausend hervorgezauberte Menschen mit Molluskenleibern aus, durch die aber dafür das scharfe Schwert des Ritters zehnmal leichter und schneller hindurchgehen kann als durch die gewöhnlichen Menschenleiber! Der Realismus ist also befriedigt, die Wahrheit gerettet, und an die erste Hauptillusion kann er nun ruhig weiterglauben; und das wiederum einzig dank der zweiten, viel unsinnigeren Illusion, die er sich bloß zur Rettung des Realismus der ersten ausgedacht hat.
Man gehe doch in sich und prüfe sich: ist nicht mit jedem von uns ganz dasselbe schon hundertmal im Leben geschehen? Nehmen wir an, ihr habt einen eurer Träume liebgewonnen, eine Illusion, eine Idee, eine Überzeugung oder irgendeine äußere Tatsache, die euch erschüttert, oder schließlich ein Weib, das euch bezaubert hat. Mit eurer ganzen Seele gebt ihr euch dem Gegenstande eurer Liebe hin. Doch – seid ihr auch noch so verblendet, noch so von eurem Herzen bestochen: ist in diesem Gegenstand eurer Liebe eine Lüge, irgend etwas, das ihr selbst durch eure Leidenschaft entstellt habt, das ihr in dem ersten Drang und Aufschwung eurer Seele nicht sehen gewollt – nur um aus diesem Gegenstande euer Idol machen und es dann anbeten zu können, – so wird doch schon der Zweifel an euch herankriechen. Nur im geheimen natürlich, nur im tiefsten Innersten werdet ihr es fühlen, werdet ihr es bangend fühlen, wie der Zweifel an euch herankriecht, euch benagt, euren Verstand zerrt, sich durch eure Seele windet und euch ewig hindert, mit eurem liebgewonnenen Traume in Frieden zu leben. Nun, erinnert ihr euch vielleicht, womit ihr euch dann beruhigt habt? Habt ihr euch dann nicht einen neuen Traum ausgedacht, eine neue Lüge, vielleicht sogar eine furchtbar unvollkommene, grobe Lüge, an die aber zu glauben ihr euch in Liebe beeiltet, nur weil sie euch von eurem ersten Zweifel befreite?
Heutzutage hat sich Europa in die Türken verliebt, natürlich – mehr oder weniger. Früher, zum Beispiel vor einem Jahr, da wußte man im Westen wenigstens, daß es nur aus Haß gegen Rußland geschah, wenn man sich bemühte, in den Türken irgendeine große nationale Kraft zu entdecken. Wie hätten die klugen Europäer es auch nicht einsehen sollen, daß in der Türkei die Kräfte eines regelrechten gesunden Nationalorganismus weder sind noch sein können, ja, daß ein Organismus vielleicht überhaupt nicht mehr vorhanden ist (dermaßen faul und zerfressen ist er), und daß die Türken nur eine asiatische Horde, nicht aber einen regelrechten Staat bilden. Jetzt jedoch, seit der Zeit, da die Türkei gegen Rußland Krieg führt, hat sich allmählich an bestimmten Stätten Europas die tatsächlich ernste Überzeugung festgesetzt, daß diese Nation nicht nur überhaupt einen Organismus ausmache, sondern außerdem noch ein sehr starker Organismus sei, sogar einer, dem man große Entwicklung und große Fortschritte prophezeien könne. Dieser Gedanke bezaubert gar viele europäische Geister immer mehr, und schließlich ist er auch zu uns herübergekommen: auch hier in Rußland spricht man schon von Kräften, die die Türkei plötzlich bewiesen haben soll. In Europa hat sich diese Auffassung wiederum nur aus Haß gegen Rußland verbreitet, bei uns aber – aus Kleinmut und der ungeheuren Eilfertigkeit zu pessimistischen Schlüssen, die nun einmal eine charakteristische Eigenschaft der intelligenten Klassen unserer Gesellschaft ist; eine Eigenschaft, die sich immer wieder kundtut, sobald irgendwo unsere „Mißerfolge“ beginnen!
So ist denn jetzt in Europa dasselbe vor sich gegangen, was einstmals im armen Geiste Don Quijotes vor sich ging, nur in umgekehrter Form, doch das Wesen der Sache ist hier wie dort dasselbe: jener dachte sich, um die Wahrheit zu retten, Menschen mit Molluskenleibern aus, die Europäer dagegen haben jetzt, um ihre Illusion von der Nichtigkeit und Schwäche Rußlands, die sie so wohlig beruhigt, zu retten, – eine echte Molluske für einen Menschenorganismus erklärt und ihn mit Fleisch und Blut, mit Kraft und Gesundheit ausgestattet. Über Rußland aber verbreitet man jetzt selbst in den gebildetsten Staaten den größten Unsinn. Auch früher kannte man uns in Europa wenig, sogar so wenig, daß man sich immer nur wundern mußte, wie dermaßen aufgeklärte Völker so wenig bestrebt sein konnten, jenes Volk kennen zu lernen, das sie doch alle von jeher hassen und fürchten. Diese Unkenntnis unseres Wesens in Europa und sogar die gewisse Unfähigkeit Europas, uns in manchen Beziehungen zu verstehen, ist ja für uns Russen teilweise auch vorteilhaft gewesen, und so wird sie uns schließlich auch fernerhin nicht schaden. Mögen sie nur schwatzen von Rußlands „schmachvoller Rückständigkeit als Militärmacht“, ungeachtet der Zeugnisse ihrer eigenen Kriegsberichterstatter, die über die militärische Begabung, die Festigkeit und Ausdauer und die Disziplin des russischen Soldaten wie Offiziers erstaunt sind; mögen sie selbst die bedeutendsten Fehler des russischen Generalstabes zu Anfang des Krieges nicht nur für unverbesserlich halten, sondern auf organische Mängel unseres Heeres zurückführen, – wobei sie natürlich vergessen, wie oft wir sie in diesen letzten zwei Jahrhunderten geschlagen haben. Mögen schließlich die ernstesten ihrer politischen Blätter der Welt als wahr melden, daß es bei uns zu einer riesigen Volksverschwörung auf der Wyborger Seite in Petersburg gekommen sei, und daß die Regierung zwei Regimenter aus Dünaburg zur Rettung Petersburgs herbeigerufen habe, – schön, mögen sie das in ihrer blinden Wut von uns sagen! Ich wiederhole: für uns ist es sogar vorteilhaft; denn sie ahnen ja nicht einmal, was sie anstiften! Sie würden doch so gern in allen ihren Völkern Haß gegen uns erwecken, gegen die „gefährlichen Gegner unserer europäischen Zivilisation“. Und doch sind sie es dann selbst, die uns wiederum als verloren hinstellen, uns in einer „bis zur Schmach lächerlichen Schwäche als Militärmacht und Staatsorganismus“ schildern. Wer aber wirklich so schwach und nichtig ist, der bringt doch wahrlich nicht in dieser Weise ganze Koalitionen gegen sich zusammen!
Man stelle sich nur vor, Europa sollte genaue Kenntnis von dieser Kraft unseres Geistes, unseres Gefühls haben, von dem unerschütterlichen Glauben unseres Volkes an die Gerechtigkeit der großen Tat, für die sein Zar jetzt das Schwert gezogen hat, und an den unfehlbaren Sieg dieser Idee, wenn auch nicht sofort, dann doch in der Zukunft! Man stelle sich nur vor, Europa könnte endlich begreifen, was dieser im höchsten Grade nationale Krieg für Rußland bedeutet, und daß unser Volk keineswegs eine tote, seelenlose Masse ist, wie sie es sich dort immer vorstellen, sondern ein mächtiger und sich seiner Macht bewußter Organismus, der als Ganzes wie ein einziger Mann fest zusammengefügt dasteht und eines Herzens und eines Willens mit seinem Heere ist. Welch einen Schreck und welch eine Aufregung würde dieses Wissen dort überall hervorrufen! Und das würde natürlich schon eher zu einer offenen Koalition Europas gegen uns führen, als die so gern gelesenen Berichte über unsere Kraftlosigkeit und Dekadenz. Nein, da ist es denn doch besser, wenn wir sie ruhig an die „Volksverschwörung in der Wyborger Vorstadt“ glauben lassen – ihnen zum Troste und uns zur Erheiterung.
Daß man in Europa jetzt an die Türken glaubt, ist ja schließlich ganz begreiflich; wir wissen doch, warum man es dort tut. Wie aber kann man bei uns sich deswegen aufregen und sogar an irgendwelche neue, plötzlich aufgetauchte Lebenskräfte der türkischen Nation glauben? Wodurch hat die Türkei diese Kräfte bewiesen? Durch den Fanatismus? „Fanatismus ist nicht Kraft“, haben bei uns schon hundertmal diese selben Leute verkündet, die jetzt plötzlich an die türkischen Kräfte glauben. Man spricht von den türkischen Siegen. Die Türken haben nur ein- oder zweimal unsere Angriffe zurückgeworfen, und das sind, wie man weiß, nur negative, nicht positive Siege. Als wir aber in Sebastopol einen Angriff der Franzosen und Engländer mit furchtbaren Verlusten der letzteren zurückschlugen, da sprach Europa kein Wort von einem russischen „Siege“. Wir haben während der ganzen zwei letzten Monate bedeutend weniger Truppen gehabt, als die Türken: warum haben sie das nicht ausgenutzt? warum uns nicht über den Balkan zurückgedrängt, warum nicht über die Donau zurückgeworfen? Dagegen haben wir überall unsere wichtigsten Stellungen behauptet und überall die Türken zurückgeschlagen. Zuweilen haben sieben oder acht unserer Bataillone zwanzig der ihrigen geschlagen, wie z. B. noch vor kurzem bei Zerkownjä. Die von der Kraft der Türken überzeugten Pessimisten weisen auf das Gewehr und die Artillerie der Türken hin, die, wie es heißt, besser sein sollen, als unser Gewehr und unsere Artillerie. Trotzdem wollen sie nicht zugeben, daß wir im Grunde genommen nicht nur mit den Türken, sondern mit den europäischen Mächten kämpfen, da unzählige fremde Offiziere im türkischen Heere dienen und letzteres mit europäischem Gelde ausgerüstet ist, da die europäische Diplomatie seit dem Ausbruch des Krieges uns überall Stangen in die Räder schiebt, wie z. B., wenn sie uns der Hilfe unserer natürlichen Verbündeten beraubt und uns sogar das Recht entzieht, auf dem einzigen direkten Wege in die Türkei einzudringen. Außerdem hat Europa durch seinen Haß auf uns zweifellos den Fanatismus der Türken angefacht. (In Europa wurde ja noch kürzlich eine Verschwörung ganzer Horden aufgedeckt, die, organisiert und mit Geld und Gewehren versehen, uns plötzlich in den Rücken fallen sollten.) Und zum Überfluß hat Europa den Türken auch noch eine riesige Anleihe gewährt – zum großen Nachteil für den eigenen Beutel. Und all dieses Unmögliche ist doch nur möglich gewesen, weil man in Europa die Illusion, daß die Türkei kein Molluskenreich sei, sondern ein Organismus von Fleisch und Blut wie alle anderen europäischen Reiche, so liebgewonnen hat! Dabei geschah dies zu derselben Zeit, als in mehreren Provinzen der Türkei das Blut in Strömen floß, als unter den Machthabern der Türkei eine regelrechte Verschwörung aufgedeckt wurde, die die Bulgaren bis auf den letzten Mann ausrotten wollte! Jetzt aber erhalten die Türken ihr Heer in den bulgarischen Provinzen mit solchen Requisitionen von Lebensmitteln, Pferden und Vieh, daß sie sicher sein können, ihr Ziel zu erreichen, nämlich: ihre reichste Provinz von Grund aus zu verwüsten. Und diesen Zerstörern des eigenen Landes leihen die gebildeten, zivilisierten Engländer noch Geld und glauben sogar an die türkische Zahlungsfähigkeit! Doch schön, schön, mag das alles in Europa geglaubt werden, dort ist das doch immerhin verständlich. Aber bei uns, wie kann man nur bei uns die Türken für eine Kraft halten!? Die Zerstörung ihres eigenen Landes und die Ausrottung der ganzen christlichen Bevölkerung – ist denn das eine Kraft? Die wird ja nicht einmal bis zum Ende des Krieges ausreichen. Die erste Wendung zu unseren Gunsten: und dieses ganze phantastische Gebäude ihrer Militärmacht und Nationalkraft wird im Augenblick zusammenstürzen und zergehen, wie eine richtige Schimäre, – sogar samt ihrem Fanatismus, der wie stickiger Rauch durch eine geöffnete Tür entfliehen wird.
Viele klugen Leute verwünschen jetzt einfach diese ganze Orientfrage. „Wer hat uns eigentlich,“ fragen sie, „diese Slawen und dieses Hirngespinst von einer Vereinigung aller blutsverwandten Stämme auf den Hals geladen? und wozu überhaupt? Zu ewigem Streit mit Europa, zu ewigem Mißtrauen uns gegenüber, damit nur ja der Haß des Westens auf uns nicht abnehme! Daß sie der Teufel hole, diese Slawophilen!“ usw., usw. Diese klugen Leute haben jedoch, wie es scheint, vollkommen falsche Vorstellungen wie von den Slawophilen so auch von der Orientfrage. Ja, wie sollte es auch anders sein! Haben sich doch viele von ihnen bis zur jüngsten Zeit überhaupt nicht für diese Sache interessiert. Deshalb kann man mit ihnen auch nicht streiten. Sie wissen es ja tatsächlich nicht, daß diese Orientfrage – und mit ihr die Slawenfrage – keineswegs von den Slawophilen heraufbeschworen oder ausgedacht worden ist (so etwas kann man sich doch nicht ausdenken), sondern, daß diese Frage von selbst entstanden ist, und das schon vor sehr langer Zeit: längst vor den Slawophilen, längst vor uns, ja sogar vor Peter dem Großen und dem russischen Staat. Entstanden ist sie mit der ersten Kristallisierung der großrussischen Rasse zu einem einzigen russischen Reich, das heißt also, zusammen mit dem Zarentum Moskau.
Die Lösung des Orientproblems ist eine Aufgabe, die das moskowitische Zarentum fast schon am Tage seiner Entstehung auf sich nahm, und die Peter der Große durchaus anerkannte und deshalb auch, als er Moskau verließ, keineswegs abschüttelte, sondern mit sich nach Petersburg hinübernahm. Peter begriff die organische Verbindung dieser Idee mit dem Russischen Reiche und der russischen Seele. Darum ist sie auch in Petersburg nicht nur nicht untergegangen, sondern von allen Nachfolgern Peters geradezu als russische Bestimmung angesehen worden. Darum können wir sie auch jetzt nicht aufgeben – das wäre ein Verrat an uns selbst. Die slawische Idee nicht mehr tragen und das Problem einer Schicksalsentscheidung des östlichen Christentums – das Wesen der Orientfrage – ungelöst aufgeben, wäre dasselbe, wie ganz Rußland zerbrechen, in Splitter zerhauen und an seiner Stelle sich irgend etwas Anderes und Neues ausdenken, was dann aber nichts mehr mit Rußland zu tun hätte. Das wäre sogar nicht einmal Revolution, sondern einfach Vernichtung, und darum ganz undenkbar: denn wie sollte man solch ein Ganzes vernichten und es in einen von Grund auf neuen Organismus umgebären können? So sind es denn auch nur noch die auf beiden Augen blinden russischen „Europäer“, die diese Idee nicht einsehen können und sie daher verleugnen, und mit ihnen höchstens noch die Börsenspekulanten, – so nenne ich nun einmal grundsätzlich alle Russen, die keine andere Sorge haben als die um ihren Geldbeutel, und die infolgedessen auf Rußland nur vom Standpunkt ihrer Tasche aus sehen. Jetzt klagen sie alle im Chor über die Stockung des Handels, über die Börsenkrisis und das Sinken des Rubels. Wären aber diese Börsenspekulanten nur so weit aufgeklärt, daß sie irgend etwas auch außerhalb ihrer Sphäre verstünden, dann würde ihnen wohl aufgehen, daß sie weit schlimmer daran wären, wenn Rußland diesen Krieg nicht begonnen hätte. Damit es ein „Steigen“ gibt – selbst ein Steigen des Rubels an der Börse –, muß die Nation auch wirklich leben, muß sie ein lebendiges Leben führen und ihre natürliche Bestimmung erfüllen, nicht aber wie eine galvanisierte Leiche in den Händen der Juden und Börsenjobber liegen. Wenn wir nach allen zynischen, beleidigenden Herausforderungen unserer Feinde diesen Krieg nicht begonnen hätten und den erschöpften Märtyrern nicht zu Hilfe gekommen wären, so würden wir uns jetzt selbst verachten müssen. Selbstverachtung aber, moralisches Sinken, und nach ihm Zynismus, – sind sogar für die Geschäfte der Börsenjobber nicht günstig. Die Nationen leben durch große Gefühle, durch große, alle vereinende und alles erhellende Gedanken, und endlich durch die Einheit des ganzen Volkes, die dann entsteht, wenn das Volk unwillkürlich seine führende Intelligenz als mit ihm übereinstimmend anerkennt, woraus dann die stärkste Nationalkraft strömt. Das ist es, wodurch die Nationen leben, nicht aber durch Börsenspekulationen und die Sorge um den Wert des Rubels! Je geistig reicher eine Nation ist, desto materiell reicher wird sie sein ... Übrigens, was sind das doch wieder für alte Worte, die ich da rede!
Bekanntlich sind alle intelligenten Russen außerordentlich taktvoll in Fällen, in denen es sich um Europa handelt, oder wenn sie glauben, daß Europa auf sie sehe – obgleich Europa sie im Grunde niemals beachtet.[48] Zu Haus aber, da entschädigen sie sich dafür: zu Hause wird der ganze Europäismus in den allermeisten Fällen beiseite geschoben ... Und wer von ihnen glaubt denn auch im Ernst an diese uns so lange schon gepredigten „europäischen Ideen“? Freilich, manch ehrlicher und guter Mensch glaubt einfach aus Herzensgüte an sie; aber gibt es denn viele solcher Menschen bei uns? Um die Wahrheit zu sagen: genau genommen, gibt es doch keinen einzigen Europäer unter uns; denn wir sind ja überhaupt nicht fähig, Europäer zu sein. Unsere Börsengeister und andere führende Geister haben die europäischen Ideen anscheinend bloß gepachtet. Russen aber mit großen, gesunden Gedanken, die glauben freilich nicht an diese „europäischen Ideen“; denn da ist auch wirklich nichts, woran zu glauben sich lohnte. Nichts ist uns unklarer, nebelhafter, unbestimmbarer als dieser Zyklus von Ideen, den wir in der Periode unserer zweihundertjährigen europäischen Nachahmung uns angeeignet haben, – in Wahrheit kein Zyklus, sondern ein Chaos abgerissener Gefühle, fremder, unverstandener Gedanken, fremder Schlüsse und fremder Gewohnheiten, – und alles in allem doch nur Worte und Worte, europäische liberale Worte vielleicht, aber für uns doch nur Worte und Worte.
Mit Papageieninstinkten läßt sich das gerade auch nicht erklären, ebensowenig mit einem Lakaientum russischer Gedanken Europa gegenüber. Lakaiengedanken gibt es ja sonst sehr viele bei uns, aber der höhere Grund unserer europäischen Knechtschaft ist doch wohl nicht ein Lakaientum, sondern schon eher unser angeborenes Zartgefühl Europa gegenüber. Man wird sagen, daß Zartgefühl und Lakaientum in dem Falle ein und dasselbe sei. In vielen Fällen – vielleicht, aber nicht in allen. Ich spreche hier selbstverständlich nicht von den Geistern, die ich vorhin erwähnte; diesen „Europäern“ ist es niemals weder um Europa noch um Rußland zu tun gewesen. Die hatten als kluge Menschen im Trüben gut fischen, und das taten sie denn auch zwei Jahrhunderte lang.
Da äußert sich, zum Beispiel, der Engländer Gladstone über den jetzigen russischen Krieg mit den Türken folgendermaßen:
„Was man auch sonst über einige Kapitel der russischen Geschichte sagen könnte, durch die Befreiung vieler Millionen Menschen unterdrückter Völker von einem harten und erniedrigenden Joch erweist Rußland der Menschheit einen der größten Dienste, deren sich die Geschichte der Menschheit erinnern wird.“
Was glauben sie wohl, würde solche Worte ein russischer Europäer je auszusprechen wagen? Nie und nimmer! Eher würde er sich die Zunge abbeißen, würde aus Zartgefühl über und über erröten, nicht nur vor Europa, sondern auch vor sich selbst, wenn er Ähnliches nur hörte oder es womöglich noch von einem Russen auf russisch geschrieben lesen müßte. „Um Gottes willen! Wie sollten wir uns unterstehen ... und noch dazu für die ganze Menschheit ... wir Russen? Wir, die wir noch nicht einmal mit der Nase an solche Aufgaben heranreichen, wir, mit unserem schiefen, unausgeglichenen Gesicht, sollen ‚die Menschheit befreien‘! Welch unliberaler Gedanke! Rußland befreit die Völker!!“
Das wäre die aufrichtige Meinung des russischen Europäers, und er schlüge sich eher die Finger ab, als daß er Gladstones Worten Ähnliches niederschriebe. „Gladstone kann ja vieles zu irgendwelchen Zwecken erfinden, aber von Rußland versteht er doch nichts,“ würde er behaupten. Einige von unseren Europäern aber würden nicht ohne Stolz noch hinzufügen: „Wir russischen Europäer sind vielleicht doch noch liberaler als die europäischen Europäer; denn wer von unseren nüchternen Köpfen würde jetzt auch nur mit einer Silbe von der Befreiung der Völker reden? Welch ein Rückschritt! Und Gladstone schämt sich nicht einmal, so etwas zu sagen!“
Wie soll man das nun nennen, meine Herren? Lakaientum oder Zartgefühl Europa gegenüber?
Ich bleibe doch bei der Ansicht, daß in der europäischen Periode unserer Geschichte das Zartgefühl eine große Rolle gespielt hat. Viele von unseren Europäern sind doch achtenswerte und tapfere Leute, Ehrenmänner durch und durch – wenn auch nach den Begriffen einer fremden, anerzogenen und von diesen unseren Rittern selbst nicht allemal verstandenen Ehre –, aber immerhin irgendeiner Ehre; sind Leute, die es nicht erlauben, daß man ihnen auf die Füße tritt. Wie kann man sie nur so mir nichts, dir nichts Lakaien nennen? Nein, das Zartgefühl beherrscht sie, nicht das Lakaientum!
Unsere Damen, die begeistert den gefangenen Türken Konfekt und Zigaretten bringen, tun das ja gleichfalls nur aus Zartgefühl. Jetzt haben einige undelikate Leute diese Damen zur Vernunft gewiesen, aber vorher ... Nehmen wir an, daß nach dem Eisenbahnzuge mit den gefangenen Türken, denen unsere Damen Buketts und Konfekt verehrten, ein zweiter Zug mit echten Baschi-Bozuks ankäme – mit dieser berühmten Landwehr, die sich ganz besonders durch das Zerreißen von Säuglingen auszeichnet und durch die Kunst, aus den Rücken der Mütter Riemen zu schneiden – ja, ich glaube, unsere Damen würden diesen zweiten Zug mit einem Schrei des Entzückens empfangen, würden die interessante Landwehr mit Süßigkeiten überschütten und in ihren Komitees womöglich Stipendien am Gymnasium für sie erwirken. O, man glaube mir, meine Voraussetzung ist durchaus nicht so phantastisch: dieses Zartgefühl kann sich bei uns bis zum Äußersten steigern. Wenn diese Damen sich im Spiegel betrachten, so denken sie sicher ganz verliebt in sich selbst: „Wie human, wie liberal wir doch sind!“ Ich glaube nicht, daß ich übertreibe! Dieser hochmütige Blick, zum Beispiel, den der sogenannte russische Europäer für unser Volk nur übrighat, und dieses Lächeln, mit dem er das Streben des Volkes kritisiert und ihm jegliches Denken abspricht – „außer einigen schreiend blöden Einfällen von einigen tausend Bauernköpfen und irgendeinem Dummkopf“ –: kommt das nicht dem gleich, was ich von unseren Damen gesagt habe?
Dieses Zartgefühl, das wir Europa entgegenbringen, verläßt uns bei keiner Gelegenheit. Die türkischen Gefangenen verlangten Weißbrot und sie erhielten es sofort. Ja, die türkischen Gefangenen weigerten sich sogar, zu arbeiten. Fürst Meschtscherski schreibt in seinem „Tagebuch“ als Augenzeuge aus dem Kaukasus:
Unsere Gefangenen verließen Tiflis. Man wollte sie in offenen Wagen transportieren, sie aber revoltierten und erdreisteten sich, zu erklären, daß sie in solchen Wagen nicht fahren würden. Daraufhin gab man ihnen Postequipagen, jede Equipage mit sechs Pferden bespannt. Darüber drückten sie ihre Zufriedenheit aus. Die Folge davon aber war, daß aus Mangel an Pferden die Reisenden auf der großen Grusinischen Heerstraße dreimal vierundzwanzig Stunden warten mußten. Die russischen Offiziere aber, die die gefangenen Türken begleiteten, und die nur 50 Kop. täglich erhielten, setzte man nicht in die Equipage, sondern wie Bediente in einen Omnibus! Das nennt man dann „Humanität“! (Moskauer Nachrichten.)
Das ist freilich nicht Humanität, sondern eben jenes besagte Zartgefühl der europäischen Meinung gegenüber. „Europa sieht auf uns, folglich muß man in Galauniform den Paschas die besten Wagen anbieten.“
Die „Moskauer Nachrichten“ berichten unter anderem auch von dem Erstaunen der Moskowiter bei der Ankunft der gefangenen Türken, als sie sahen, wie man sie transportierte:
Die gefangenen türkischen Soldaten waren bequem in Waggons dritter Klasse untergebracht, die Offiziere in Waggons zweiter Klasse, und der Pascha nahm einen ganzen Waggon erster Klasse ein. „Warum wird ihnen so viel Luxus geboten?“ hörte man im Publikum fragen. „Unsere Grenadiere wurden aus Moskau in Viehwaggons transportiert, diese türkischen Gefangenen aber fahren in Luxuszügen.“
„Was, Grenadiere,“ rief darauf aus der Menge ein Kaufmann – „sogar unsere verwundeten Soldaten wurden in Viehwaggons transportiert, und dabei hatte man ihnen nicht einmal Stroh untergebreitet. Diesen feisten Pascha da, diesen Aufgefütterten, den hätte man in den Viehwagen einsperren sollen, damit er wenigstens etwas von seinem Fett verliert!“
„Dort unten haben sie unsere Verwundeten zu Tode gequält, ihnen die Sehnen herausgezogen, sie mit glühendem Eisen gebrannt, und jetzt werden sie bei uns dafür verhätschelt ...“
Solche Stimmen, bemerkt die Moskauer Zeitung, waren nicht vereinzelt; in ihnen tat sich die Volksmeinung kund: ist es doch schmerzlich zu sehen, daß diese Baschi-Bozuks, dieser ganze türkische Abschaum besser behandelt wird als unsere eigenen Soldaten.
Wir, die Intelligenz, sehen nichts Besonderes darin: es ist eben Zartgefühl oder richtiger die äußere Form eines Zartgefühls der europäischen Meinung gegenüber – und weiter nichts. Das ist doch schon zweihundert Jahre lang bei uns so Sitte gewesen – es wäre Zeit, sich daran zu gewöhnen!
Da ich einmal auf diese Dinge zu sprechen gekommen bin, will ich noch ein kennzeichnendes Beispiel wiedergeben. Ich las diese Geschichte vor kurzem in der Petersburger Zeitung, die sie einem Briefe entnommen hatte.
In seinem Bericht vom Kriegsschauplatz erzählt Herr Krestowski unter anderem von einem spaßigen Fall. „In der Suite des Großfürsten erschien ein sonderbarer Engländer: er trug einen Korkhelm und einen Mantel von erbsgrüner Farbe. Es heißt, er sei Mitglied des Parlaments und benutze seine freie Zeit, um vom Kriegsschauplatz an eine der großen Londoner Zeitungen (Times) Bericht zu erstatten. Andere versichern, er sei nur ein ‚reisender Engländer‘, wiederum andere, er sei einfach ein Russenfreund. Doch wie dem nun auch sei, jedenfalls führt sich dieser Herr etwas exzentrisch auf. In Gegenwart des Großfürsten, wenn alle stehen, Seine Hoheit nicht ausgenommen, bleibt er z. B. ruhig sitzen, und bei Tisch erhebt er sich, wann es ihm gefällt. Vor kurzem wandte er sich an einen bekannten Offizier mit der Bitte, ihm seinen erbsfarbenen Mantel zu halten. Der Offizier maß ihn mit etwas erstauntem Blick, lächelte darauf ein wenig ironisch, zuckte die Achsel und half ihm schließlich widerspruchslos in den Mantel. Freilich, es blieb ihm auch nichts anderes übrig. Der Engländer aber berührte nur flüchtig mit der Hand den Schirm seines Korkhelms ...“
Die Petersburger Zeitung findet diesen Fall spaßig. Zu meinem Bedauern kann ich wirklich nichts Spaßiges in ihm entdecken, sondern nur sehr viel Ärgerliches. Bei uns hat sich aus Romanen und französischen Vaudevilles der Glaube ein für allemal festgesetzt, daß jeder Engländer ein Sonderling sei. Aber was ist denn ein Sonderling? Nicht immer braucht so ein Sonderling gleich dermaßen naiv zu sein, nicht einmal erraten zu können, daß in der Welt nicht überall dieselben Sitten und Gebräuche herrschen, die irgendwo dort in England allgemein angenommen sein mögen. Die Engländer sind, im Gegenteil, ein kluges Volk; als Seefahrer, und zudem noch als gebildete Seefahrer, haben sie mit ihrem scharfen Blick besser als alle Europäer die Völker aller Erdteile und ihre Sitten zu beobachten verstanden; sie sind ganz ungewöhnlich begabte Beobachter. Solch ein Engländer nun, und noch dazu einer, der Mitglied des Parlaments ist, sollte nicht wissen, wo und wann er stehen, wo und wann er sitzen muß!? Es gibt ja kein einziges Land, in dem die Etikette eine so große Rolle spielt wie gerade in England. Die englische Hofetikette ist die komplizierteste der ganzen Welt. Wenn dieser Engländer Parlamentarier ist, so muß er als solcher doch wenigstens wissen, wie sich die Mitglieder des Unterhauses zu denen des Oberhauses zu verhalten haben, und zwar gerade in dem Sinne: wer vor wem sitzen bleiben, und wer vor wem aufstehen muß. Und wenn er noch gar zur höheren Gesellschaft gehört – wo geht es denn zeremonieller zu als bei den Diners und auf den Bällen oder in den Empfangssälen der Londoner Aristokratie? Nein, dieser Engländer scheint mir keineswegs ein Sonderling zu sein – soweit man ihn nach dieser Beschreibung beurteilen kann. Nein, das ist englischer Stolz, und nicht nur Stolz, sondern ist einfach Anmaßung, Herausforderung. Dieser „Russenfreund“ kann doch kein großer Freund von uns sein. Er bleibt ruhig sitzen und denkt bei sich über die russischen Offiziere: „Meine Herren, ich weiß, daß Sie ein Löwenherz haben! ... Sie unternehmen ja fast Unmögliches und führen es auch aus. Furcht vor dem Feinde kennen Sie nicht; jeder einzelne von Ihnen ist ein Held, und was Ehre ist, wissen Sie alle nur zu gut. Ich kann nicht abstreiten, was ich mit meinen eigenen Augen sehe. Doch nichtsdestoweniger bin ich Engländer, Sie aber sind nur Russen; ich bin Europäer, und Europa gegenüber sind Sie verpflichtet, zartfühlend und aufmerksam zu sein. Welche Löwenherzen Sie auch haben mögen – im Vergleich mit Ihnen bin ich doch ... nun eben ein höherer Typ Mensch. Es ist mir sehr angenehm, sehr angenehm, Ihr Zartgefühl mir gegenüber zu beobachten ... Sie denken, daß das alles nur Kleinigkeiten sind, aber gerade diese Kleinigkeiten sind es, die mich amüsieren. Ich habe diese Vergnügungsreise gemacht, weil ich hörte, daß Sie Helden seien; ich bin hergekommen, um Sie mir näher anzusehen, aber ich werde wieder einmal mit der Überzeugung heimkehren, daß ich als Sohn Old-Englands“ – sein Herz erbebt vor Stolz – „auf der Welt doch ein Mensch ersten Ranges bin und bleibe: Sie aber, meine Herren, sind als Russen doch nur zweitrangige Kreaturen ...“
Am interessantesten sind in dem Briefe zweifellos die letzten Zeilen: „Der Offizier maß ihn mit etwas erstauntem Blick, lächelte darauf ein wenig ironisch, zuckte die Achsel und half ihm schließlich widerspruchslos in seinen Mantel. Freilich, es blieb ihm auch nichts anderes übrig.“
Wieso: „freilich“? Warum blieb ihm nichts anderes übrig? Im Gegenteil, da hätte man gerade das Entgegengesetzte tun sollen: man hätte ihn vom Kopf bis zu den Füßen mit nicht mißzuverstehendem Blick messen, ironisch lächeln, mit den Schultern zucken und vorübergehen sollen, ohne den Mantel anzurühren. Hatte man denn wirklich nicht bemerkt, daß der aufgeklärte Seefahrer bloß seine Stückchen machte, daß der feinste Kenner der Etikette den Augenblick benutzte, um seinen kleinlichen Stolz zu befriedigen? Das ist es ja, daß man in dem Augenblick nicht darauf verfallen konnte, denn unser „Zartgefühl“ verhinderte es. Doch, das war nicht etwa Zartgefühl diesem Engländer gegenüber – weder als Mitglied des Parlaments, noch als Besitzer jenes Korkhelms –, sondern unser Zartgefühl Europa, der europäischen Aufklärung gegenüber, unser Zartgefühl, in dem wir aufgewachsen sind, und das uns bis zum Verlust unserer eigenen Selbständigkeit und Persönlichkeit beherrscht, und von dem wir uns noch lange nicht werden befreien können. Die Lieferung von Patronen an die Türkei, die England und Amerika besorgen, soll wirklich enorm sein. Wir wissen ja ganz genau, daß der türkische Soldat bei Plewna bisweilen an 500 Patronen täglich verbraucht: die Türkei aber hat weder so viel Geld, noch solch einen Kredit, um ihre Armee dermaßen mit Munition versehen zu können. Daß die Engländer ihnen in jeder Beziehung helfen, liegt auf der Hand; ihre Schiffe bringen den Türken alles, was zum Kriege nötig ist. Bei uns aber schweigen die Zeitungen darüber – aus „Zartgefühl“ natürlich: „Ach, sprechen Sie nicht davon, werfen Sie doch nur nicht solche Fragen auf, wir wollen nichts davon sehen, nichts hören, sonst würden wir die gebildeten Seefahrer womöglich erzürnen und dann ...“
Nun, und was dann? Warum fürchtet ihr euch? Wahrlich, über dieses Thema „Zartgefühl“ könnte man noch vieles hinzufügen.
Selbst wenn es diese gewissen Wechsel und Wechselchen gibt, die wir Europa in Gestalt verschiedener Versprechungen eingehändigt haben sollen, so ist doch auch das nur aus Zartgefühl Europa gegenüber und aus Verehrung für seine Kultur geschehen. Doch vorläufig will ich dieses Thema fallen lassen. Ich erinnere mich, zu Anfang dieses Kapitels noch hinzugefügt zu haben, all das geschehe ja nur Europa gegenüber, bei uns zu Hause kämen wir schon auf unsere Rechnung. Ich möchte nun die Gelegenheit benutzen, zu zeigen, wie wir es verstehen, uns dafür zu entschädigen.
Erinnern Sie sich noch, meine Herren, wie wir im Sommer, als wir kurz vor Plewna in Bulgarien eindrangen, plötzlich vor Unwillen einfach erstarrten? Übrigens waren nicht alle so ungehalten, das muß ich vorausschicken. Doch die Stimmen der Herren Kriegsberichterstatter fanden in unseren Petersburger Zeitungen einen lebhaften Widerhall.
Es handelte sich um folgendes: Uns, wie der ganzen Welt, ist es bekannt, daß wir auszogen, um die unterdrückten, erniedrigten und gequälten Balkanslawen zu befreien. Ich erinnere mich noch, ganz zu Anfang des Krieges in einer unserer besten Zeitungen gelesen zu haben: „Wenn wir in Bulgarien einziehen, werden wir nicht nur unsere Armee zu ernähren haben, sondern auch die bulgarische Bevölkerung, die bereits dem Hungertode nahe ist.“ Und siehe da, nachdem wir uns eine solche Vorstellung gemacht hatten – von den Bedrückten, Gepeinigten und Hungernden, und von allen Flüssen und aus allen Gauen Rußlands hinzogen, um uns für sie aufzuopfern –, stehen wir plötzlich vor reizenden Bulgarenhäuschen, die, umgeben von Blumen und Obstgärten, weidenden Viehherden und Ackerland, keineswegs unseren Erwartungen entsprechen. Und zur Vollendung des Ganzen gibt es gleich im ersten bulgarischen Städtchen drei orthodoxe Kirchen und nur eine Moschee. Das war im Lande der Bulgaren, der des Glaubens wegen Unterdrückten! „Wie wagen sie es nur!“ ereiferten sich gleich die beleidigten Herzen der Befreier, und das Blut stieg ihnen zu Kopf. „Wir sind doch hergekommen, um sie zu befreien! – Auf den Knien müßten sie uns empfangen! Und statt über unser Kommen froh zu sein, sehen sie uns noch mißtrauisch an! Uns! ... Allerdings, sie bringen uns Salz und Brot, das ist schließlich wahr, aber von der Seite sehen sie uns doch mißtrauisch an! ...“ Was meinen Sie, meine Herren, wenn Sie plötzlich ein Telegramm bekämen mit der Nachricht, daß ein Ihnen nahestehender Mensch, ein Freund oder Bruder, im Sterben liegt oder verunglückt ist, oder daß man ihn beraubt hat, so werden Sie sich doch so schnell wie möglich zu ihrem unglücklichen Bruder begeben, nicht wahr? Und siehe da: plötzlich ist nichts von alledem geschehen: Sie treffen den Menschen bei vorzüglichster Gesundheit beim Mittagstisch an! Freudig lädt er sie ein, mit ihm zu speisen, und er lacht von ganzem Herzen über das Mißverständnis, über das qui pro quo. Ob Sie nun diesen Menschen lieben oder nicht lieben: es wird Ihnen doch niemals einfallen; es ihm zu verübeln, daß er nicht in Lebensgefahr schwebt, daß man ihn nicht beraubt hat, oder daß ihm nicht sonst ein Unglück zugestoßen ist? Oder gar, daß er so gesund aussieht, zu Mittag speist und dazu Wein trinkt? Ich glaube, doch nicht! Im Gegenteil, Sie würden sich freuen, daß er lebt und womöglich noch wohler aussieht als Sie selbst. Nun, freilich wäre es menschlich, sich ein bißchen zu ärgern – aber doch nicht etwa darüber, daß man ihm, sagen wir, nicht die Beine abgefahren hat? Sie werden doch nicht gleich vom Tische aufstehen und über ihn Bericht erstatten, Anekdoten von ihm erzählen, seine schlechten Charaktereigenschaften hervorheben ...? Bei den Bulgaren hat man es aber getan. „Bei uns kann sich ein wohlhabender Bauer nicht so gut ernähren wie dieser unterdrückte Bulgare,“ hieß es. Andere kamen sogar zu der Überzeugung, daß nur die Russen die Ursache des Unglücks der Bulgaren seien: „Wenn wir nicht den Türken gedroht hätten und nicht hingezogen wären, um diese angeblich geplünderten und unterdrückten Bulgaren zu ‚befreien‘, so lebten sie noch heute wie im Wollkorbe.“ Das kann man auch jetzt noch hören.
Und so mußten wir uns denn für unser Zartgefühl Europa gegenüber und für unseren aufgeklärten Europäismus zu Hause entschädigen, mußten, wo Europa nicht auf uns sieht, unser Herz erleichtern können. Und in Bulgarien waren wir ja so gut wie zu Hause. „Wir sind gekommen, um sie zu befreien, folglich gehören sie ja fast zu uns. Besitzt der Bulgare einen Garten oder ein Gut, so hat er es jetzt gleichsam geschenkt von uns wiedererhalten: wir nehmen dafür nichts von ihm und genau genommen haben wir ja auch nicht das Recht dazu, aber er muß es doch empfinden und uns ewig dafür dankbar sein, daß wir ihm zu Hilfe gekommen sind, ihn und sein Hab und Gut von dem Türken, seinem Unterdrücker, befreit haben. Das müßte er doch begreifen!“ Und da sehen wir plötzlich, daß ihn niemand unterdrückt! Welch eine beleidigende Situation, nicht wahr?
Und welch ein Lakaientum im Grunde, statt wirklichen Zartgefühls! Und welch eine Komik! Es ist schlechthin die komischste aller Entschädigungen „bei uns zu Haus“ für die unbequeme Uniform des europäischen Zartgefühls, in der wir uns Europa zu präsentieren lieben! Welch ein Lakaientum in den Gedanken dieser leicht erregbaren Herren! Die Situation überraschte viele von unseren Tapferen dermaßen, daß sie einfach ihre Geistesgegenwart verloren; und diese Verblüffung ist schon etwas ernster zu nehmen als jene Überrumpelung unseres Offiziers durch den Engländer mit dem erbsgrünen Mantel.
Später klärte sich natürlich alles auf, die Wahrheit enthüllte sich den Entrüsteten. Es stellte sich heraus, daß der Bulgare arbeitsam und sein Land sehr fruchtbar ist. Und wenn er auch mißtrauisch auf die russischen Truppen sieht, so muß man doch bedenken, daß er schon vier Jahrhunderte lang Sklave ist und infolgedessen, wenn er seinem neuen Herrn entgegentritt, nicht gut glauben kann, daß der ihm ein Bruder sein wolle. Außerdem muß er doch noch seinen früheren Herrn fürchten und sich unwillkürlich sagen: „Wenn der nun wiederkommt und es erfährt, daß ich diesem hier Salz und Brot gereicht habe, – was dann?“ Und der Arme hatte durchaus recht. Nachdem wir unseren ersten tapferen Angriff jenseits des Balkan gemacht hatten, traten wir den Rückzug an. Zu den Bulgaren aber kamen wieder die Türken – und wie sie von diesen behandelt wurden, wird die Weltgeschichte erzählen! Ihre hübschen Häuschen, diese Aussaaten, Gärten und Viehherden, alles wurde geplündert, in Staub und Asche verwandelt, dem Erdboden gleichgemacht. Nicht zu Hunderten, sondern zu Tausenden und Zehntausenden wurden die Bulgaren durch Feuer und Schwert vernichtet, ihre Kinder wurden in Stücke gerissen und sie starben unter den schrecklichsten Qualen, ihre Frauen und Töchter wurden geschändet, zum Verkauf fortgeschleppt oder totgeschlagen. Die Männer, die, welche die Russen mit Salz und Brot begrüßt hatten und obendrein auch noch jene, die die Russen nicht begrüßt hatten, mußten alle auf dem Scheiterhaufen oder am Galgen dafür büßen. Man nagelte sie am Abend mit den Ohren an die Zäune, und am anderen Morgen mußte einer von den Verurteilten alle seine Gefährten aufhängen, zum Schluß aber wurde er selbst aufgeknüpft – unter dem Gelächter dieser wollüstigen Bestien, die sich eine türkische Nation nennen.
Auf diese Weise kamen die über das gute Leben der Bulgaren so entrüsteten Herren bald zu der Erkenntnis, daß dieses Leben im Grunde genommen nur eine Dekoration gewesen war, daß alle diese Häuser und Gärten und die Frauen und Kinder, die unmündigen Knaben und Mädchen in diesen Häusern, dem Türken gehörten. Und der nahm sie, wann es ihm gefiel: auch in friedlichen Zeiten überfiel er sie, nahm ihnen Geld und Vieh, Frauen und Mädchen.
Doch jetzt, da sie in Wut geraten sind, plündern und zerstören sie die unglücklichen bulgarischen Provinzen bis auf den nackten Erdboden. Wenn wir lange vor Plewna liegen müssen und nur langsam vorrücken, so werden die Türken, wenn sie sehen, daß sie Bulgarien vielleicht auf immer verlieren, das Land ganz und gar in Asche verwandeln, solange sie noch Zeit dazu haben. Jedenfalls aber sind die Ansichten unserer Klugen darüber wirklich bemerkenswert; sie behaupten: wenn wir uns nicht in türkische Angelegenheiten eingemischt hätten, würden die Bulgaren noch heute gleichsam im Wollkorbe leben, und wir Russen allein seien an ihrem Unglück schuld. Der bekannte Korrespondent der „Daily News“, Mr. Forbes, sagt uns darüber in einem seiner vorzüglichen Berichte vom Kriegsschauplatz seine ganze englische Wahrheit. Er gesteht den Türken aufrichtig zu, daß sie das volle Recht gehabt hätten, alle Bulgaren, die nördlich vom Balkan lebten, in der Zeit zu vernichten, als die russische Armee sich über die Donau zurückzog. Mr. Forbes bedauert fast – natürlich nur politisch –, daß dies nicht geschehen ist, und kommt zu dem Schluß, daß die Bulgaren den Türken zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet seien, weil diese sie nicht wie eine Herde Schafe geschlachtet haben. Wenn man jetzt an die russische Auffassung denkt, an die „Bulgaren im Wollkorbe“, und sie dem Ausspruch Forbes’ gegenüberstellt, könnte man sich ja mit folgenden Worten an den Bulgaren wenden: „Wie solltest du nicht im Wollkorbe leben, da man dich nicht einfach geschlachtet hat?“ Sonderbar ist dabei nur eines: Wie ist es möglich, daß ein solches Recht den Türken kaltherzig zugesprochen werden kann, und noch dazu von einem so gebildeten Menschen wie Mr. Forbes, der doch einer so aufgeklärten und großen Nation angehört? Sind das die letzten Blüten und Früchte der englischen Zivilisation? Selbstverständlich hätte er sich anders ausgedrückt, wenn es sich, anstatt um Bulgaren, um Franzosen oder Italiener gehandelt hätte. Es handelte sich hier aber nur um Slawen, um Bulgaren! In Europa scheint man eine geradezu blutliche und ererbte Verachtung für die Slawen, für die slawische Rasse überhaupt zu haben. Man zählt sie dort zu den Hunnen. Europa würde es ruhig zulassen, daß man sie alle, mit Weibern und Kindern bis auf den Letzten vernichtete. Und bitte vor allen Dingen nicht zu vergessen, daß es nicht ein Earl of Beaconsfield ist, der jenen Ausspruch getan – der könnte solche Überzeugungen noch aus Rücksicht auf die „englischen Interessen“ haben –, sondern Mr. Forbes, ein Privatmann, der doch keineswegs verpflichtet ist, die Interessen Englands um jeden Preis, und was es auch koste, zu wahren, ein ehrlicher, talentvoller, „wahrhaft humaner Mensch“, wie er uns in seinen ersten Briefen erschien. Nein, diesem Urteil liegt eine westeuropäische Antipathie gegen alles, was Slawe heißt, zugrunde. Diese Bulgaren kann man mit siedendem Wasser übergießen, wie ein Wanzennest in einem alten Holzbett. Ist es bei den Europäern vielleicht ein Instinkt, eine Vorahnung, daß die östlichen Slawenstämme, wenn sie einmal befreit sein werden, eine große Rolle in der neu heraufkommenden Menschheit spielen und den Platz der alten, vom Wege abgekommenen Kulturträger einnehmen könnten? Bewußte Westler können das natürlich weder zulassen, noch sich vorstellen, daß dieses Wanzennest sich wirklich zu etwas Höherem zu entwickeln vermöchte. Aber da ist ja noch Rußland, das augenscheinlich der Träger einer neuen Idee ist und die Fahne der Zukunft, zum Ärger und Erstaunen aller, hochhebt. Da Rußland aber kein Wanzennest ist, sondern ein Gigant und eine Kraft, die man nicht leugnen kann, und da Rußland gleichfalls aus einer slawischen Nation besteht, – wie müssen diese Europäer da Rußland in ihrem Herzen hassen, wie müssen sie sich unwillkürlich und vielleicht noch ganz unbewußt über unsere Mißerfolge freuen, wie über jegliches Unglück, das uns trifft! Sollte das nicht aus Instinkt, aus Vorgefühl geschehen?
Da ich nun einmal darauf zu sprechen gekommen bin, will ich noch ein ganz persönliches Wort über die Slawen und die Slawenfrage sagen. Wer diskutiert heutzutage bei uns nicht über die Möglichkeit eines baldigen Friedens, über die Möglichkeit irgendeiner Entscheidung in der Slawenfrage? Geben wir also unserer Phantasie einmal volle Freiheit und stellen wir uns vor, daß Rußland durch sein Blut die Slawen bereits befreit habe, daß das Türkische Reich überhaupt nicht mehr existiere und die Balkanvölker nun ein neues, freies Leben führen können. Es ist natürlich schwer vorauszusagen, welche Form diese Freiheit der Slawen annehmen, ob es zu einer Föderation der befreiten kleineren Völker kommen wird, oder ob sich die einzelnen Völker zu selbständigen kleinen Reichen emporschwingen werden, mit Herrschern, die man natürlich aus den verschiedenen regierenden Häusern Europas wählen würde. Und schließlich: werden alle diese Länder und Ländchen vollständig unabhängig sein, oder werden sie unter dem Schutze und der Aufsicht eines „europäischen Bundes der Mächte“, zu dem auch Rußland gehören wird, stehen? Ich glaube, alle diese kleinen Völker werden sich auf jeden Fall einen „europäischen Bund der Mächte“ ausbitten, auch wenn Rußland in diesen einbegriffen sein wird. Denn was sollten sie sonst zum Schutz vor Rußlands Herrschsucht tun?
Alles das läßt sich heute noch nicht im einzelnen voraussagen, doch zwei Dinge kann man auch jetzt schon mit Bestimmtheit wissen: erstens, daß bald, oder vielleicht auch noch nicht so bald, alle slawischen Stämme sich vom Türkenjoch befreien und ein neues, und vielleicht sogar unabhängiges Leben führen werden; und zweitens ... Doch gerade über diesen zweiten Punkt wollte ich schon seit langer Zeit meine persönliche Meinung sagen.
Es ist meine feste Überzeugung, daß Rußland noch nie solche Neider, Verleumder und sogar so bittere Feinde gehabt hat, wie es alle diese Slawen sein werden, wenn Rußland sie befreit haben wird und Europa sie als Befreite wird anerkennen müssen. Möge man deswegen nicht glauben, daß ich die Slawen hasse! Im Gegenteil, ich liebe die Slawen sehr und werde mich deshalb nicht lange verteidigen; weiß ich doch, daß alles, was ich jetzt behaupte, in Erfüllung gehen wird, und daß diese Feindschaft nicht etwa einer besonderen slawischen Charakterlosigkeit oder Undankbarkeit entspringen wird – in dieser Beziehung sind die Slawen wie alle anderen Völker –, sondern es wird geschehen, weil solche Dinge in der Welt nun einmal keinen anderen Lauf nehmen können. Doch ich werde mich nicht weiter dabei aufhalten; ich will nur sagen, daß wir jetzt keine Dankbarkeit von den Slawen verlangen können, uns vielmehr darauf gefaßt machen müssen, daß sie uns keine entgegenbringen werden. Nach der Befreiung werden sie ihr neues Leben sicherlich damit beginnen, daß sie Europa, wahrscheinlich England und Deutschland, um die Sicherstellung ihrer Freiheit bitten. Sie werden sich die größte Mühe geben, sich selbst davon zu überzeugen, daß sie Rußland nicht die geringste Dankbarkeit schuldig, sondern gezwungen seien, beim Friedensschluß Europas Schutz zu erflehen, auf daß Rußland, nachdem es sie von den Türken befreit, sie nicht etwa selber verschlinge – „zur Erweiterung seiner Grenzen und Gründung des großen allslawischen Reiches durch die Unterwerfung der Slawen unter den gierigen, schlauen, barbarischen Staat der Großrussen“. Lange, oh, lange noch werden sie nicht imstande sein, weder die Uneigennützigkeit Rußlands, noch seine große heilige Idee anzuerkennen: eine jener mächtigen Ideen, durch die die Menschheit lebt, ohne die aber die Menschheit, wenn sie aufhören sollte, in ihr zu leben – erstarren, verkrüppeln und sterben würde an ihren Seuchen und ihrer Kraftlosigkeit. Nehmen wir zum Beispiel den gegenwärtigen Krieg, diesen volkstümlichen russischen Krieg, der ein Kampf gegen die türkischen Ungeheuer zur Befreiung unglücklicher Völker ist, – haben die Slawen diesen Krieg etwa verstanden? Jetzt haben sie uns noch nötig, wir kämpfen ja noch für sie. Wenn aber der Krieg beendet sein wird, werden sie ihn dann auch noch für eine große Tat ansehen, für die sie uns Dankbarkeit schuldig sind? Nie und nimmer werden sie das tun!
Im Gegenteil, sie werden es als politische und womöglich gar wissenschaftliche Wahrheit aufstellen, daß sie sich, wenn nicht Rußland dagewesen wäre, schon längst allein, durch eigenen Heldenmut, oder mit Hilfe Europas zu befreien verstanden hätten. Europa hätte, wenn wieder dieses Rußland nicht auf der Welt gewesen wäre, nichts gegen ihre Freiheit einzuwenden gehabt, sondern sie womöglich selber von den Türken befreit. Diese schlaue Lehre hat ja schon jetzt viele Anhänger unter ihnen und wird sich in der Folge noch zu einem wissenschaftlichen und politischen Axiom entwickeln. Sogar von den Türken werden diese Balkanslawen mit größerer Ehrfurcht sprechen als von uns. Vielleicht werden sie ein ganzes Jahrhundert oder noch länger für ihre Freiheit bangen und vor der Herrschsucht Rußlands zittern; sie werden sich bei den europäischen Mächten einschmeicheln, werden Rußland verleumden und überall gegen uns intrigieren. O, ich spreche nicht von einzelnen Personen: gewiß wird es auch unter ihnen Menschen geben, die wissen werden, was Rußland für sie war und immer sein wird. Diese Menschen verstehen auch sicher die ganze Größe und Heiligkeit der Tat Rußlands und seiner großen Idee, die es hochhält vor der ganzen Menschheit. Aber dieser Menschen wird es zuerst so wenige geben, daß man sie auslachen oder sogar politisch verfolgen wird. Besonders gern werden die befreiten Slawen aller Welt verkünden, daß sie gebildete Völker seien, sogar höchst kulturfähig, im europäischen Sinne, während Rußland ein barbarisches Land, ein dunkler nordischer Koloß, dabei längst nicht vom reinsten slawischen Blute, ein Unterdrücker und Feind der europäischen Zivilisation sei und bleibe. Sie werden natürlich eine konstitutionelle Regierung haben, ein Parlament, verantwortliche Minister, Redner und Reden. Das wird sie außerordentlich beruhigen und entzücken. Es wird ihnen ungeheuer schmeicheln, in den Pariser und Londoner Blättern Telegramme zu lesen, die durch die ganze Welt gehen und allen melden, daß z. B. nach langem Parlamentssturm endlich das bulgarische Ministerium gefallen sei und eine neue liberale Mehrheit sich gebildet habe, daß ein Bulgare namens Iwan Tschiftlik endlich eingewilligt, das Portefeuille des Ministerpräsidenten anzunehmen ... Ja, in Rußland muß man sich jetzt ernsthaft darauf vorbereiten, daß alle diese von uns befreiten Slawen sich zunächst begeistert auf Europa stürzen, bis zum Verlust der eigenen Persönlichkeit europäische Formen, politische wie soziale, annehmen und auf die Weise erst eine lange Periode des Europäismus durchleben werden, ehe sie etwas von ihrer slawischen Bedeutung und ihrer eigenen Berufung unter den Völkern werden begreifen lernen. Übrigens werden sie sich ewig untereinander streiten, ewig sich gegenseitig beneiden und gegen einander intrigieren. Sollte ihnen aber Gefahr drohen, so würden sie alle natürlich wieder Rußland um Hilfe bitten. Denn wie sie uns in Europa auch verleumden, wie sie mit Europa auch liebäugeln mögen, sie werden doch immer instinktiv fühlen (selbstverständlich erst im Augenblick der Gefahr, nicht früher), daß Europa der einzige Feind ihrer Selbständigkeit ist, war und immer sein wird. Sie werden begreifen, daß sie auf der Welt nur noch existieren, weil der große feststehende Magnet Rußland unwiderstehlich sie alle an sich zieht und so ihre Nationalität und Einheit erhält. Es wird auch Minuten geben, da sie imstande sein werden, beinahe bewußt einzugestehen, daß, wenn sie nicht Rußland hätten, das große östliche Zentrum der großen aufkommenden Ideen, ihre volkliche Einheit und Selbständigkeit im Augenblick auseinanderfallen, ihre ganze Nationalität sich auflösen und im europäischen Ozean wie einzelne Wassertropfen im Meere verschwinden würde. Noch auf lange aber wird Rußland die Sorge verbleiben, sie zu versöhnen, ihnen Vernunft beizubringen und vielleicht sogar noch das Schwert für sie zu ziehen. Natürlich wirft sich dabei die Frage auf, welch einen Vorteil Rußland denn für sich erwartet, warum Rußland sich so oft für sie geschlagen, sein Blut, seine Kräfte, sein Geld für sie hingegeben? Doch nicht etwa, um so viel kleinlichen Haß und so häßliche Undankbarkeit zu ernten? Freilich hat Rußland immer gewußt, daß es das Zentrum der slawischen Einheit ist, daß, wenn die Slawen in Zukunft ein freies, nationales Leben führen werden, Rußland das gewollt und durchgesetzt haben wird. Welch einen Vorteil bringt uns nun dieses Bewußtsein, außer Arbeit, Ärger und Sorgen?
Die Antwort darauf ist schwer, und vielleicht werden nicht alle sie verstehen können. Wir wissen ja, daß Rußland niemals auch nur auf den Gedanken kommen wird, sein Territorium auf Kosten der Slawen erweitern, sie politisch an sich ketten oder gar ihre Länder zu russischen Gouvernements machen zu wollen. Alle Slawen verdächtigen jetzt Rußland dieser Absicht, und Europa wird noch weitere hundert Jahre diesen Argwohn gegen uns hegen. Möge Gott Rußland vor solchen Absichten bewahren! Denn je mehr es seine politische Uneigennützigkeit den Slawen gegenüber aufrechterhält, desto sicherer wird es eine volle Einigung der Slawen unter einander erreichen, vielleicht schon im Verlauf von einem Jahrhundert. Wenn es den Slawen von Anfang an politische Freiheit gibt und sich jeder Vormundschaft enthält, doch zu jeder Zeit bereit ist, sein Schwert für die Freiheit ihres Glaubens und ihrer Nationalität zu ziehen, so wird Rußland zu seinem und zu ihrem Wohl mehr erreichen, als wenn es mit Gewalt seinen politischen Einfluß auf die Slawen aufrechtzuerhalten strebte. Ja, gerade ... wenn Rußland seine vollständige Uneigennützigkeit ihnen gegenüber bewahrt, wird es sie besiegen und ihr Vertrauen gewinnen. Zuerst werden sie vielleicht nur im Notfalle zu uns kommen, dann aber werden sie sich mit dem vollen Vertrauen eines Kindes an uns schmiegen. Alle werden sie in das heimatliche Nest, zu Rußland, zurückkehren. Oh, viele Russen, Gelehrte wie auch Dichter, setzen schon große Hoffnungen auf diese Vereinigung. Sie erwarten, daß die befreiten und auferstandenen slawischen Völkerschaften viele neue und noch nie dagewesene Elemente ins russische Leben bringen, das Slawentum Rußlands erweitern und auf die Seele Rußlands einen großen Einfluß ausüben werden; ja, sogar die russische Sprache, die russische Literatur, das russische Schaffen überhaupt sollen sie geistig bereichern und ihm neue Horizonte eröffnen. Ich muß gestehen, daß mir diese Begeisterung immer etwas literarisch erschienen ist. Vielleicht wird Ähnliches einmal wirklich geschehen, aber wohl nicht früher als in hundert Jahren; für dieses ganze Jahrhundert dagegen wird Rußland von den Slawen nichts zu nehmen brauchen, weder von ihren Ideen, noch von ihrer Literatur, denn was könnten sie uns jetzt geben? Rußland wird dieses ganze Jahrhundert hindurch nur gegen ihre Beschränktheit und ihren Eigensinn zu kämpfen haben, desgleichen gegen ihre schlechten Angewohnheiten und ihren Verrat am Slawentum, ihren Verrat um europäischer Formen willen in politischen wie sozialen Dingen. Nach der Slawenfrage steht Rußland noch die Orientfrage bevor. Die Slawen werden heute überhaupt nicht verstehen, was diese Orientfrage eigentlich bedeutet! Ganz so, wie sie auch die slawische Einigung zu einer allgemeinen Brüderschaft noch lange nicht verstehen werden. Ihnen diese durch die Tat und das Beispiel zu erklären, wird in Zukunft die Aufgabe Rußlands sein. Wieder wird man fragen, wozu und warum soll Rußland eine solche Arbeit auf sich nehmen? Wozu? um ein höheres Leben zu führen, um die Welt mit einer großen uneigennützigen Idee zu durchleuchten, um einen großen, mächtigen Organismus brüderlicher Einigung von Völkerstämmen zu schaffen, – nicht durch politische Gewalt, nicht mit Feuer und Schwert, sondern durch Überzeugung, Liebe, Uneigennützigkeit und Aufklärung: um endlich alle Kleinen um sich zu scharen und ihnen die mütterliche Aufgabe Rußlands zu beweisen. Das ist unser Ziel und das ist meinetwegen auch unser Vorteil. Denn wenn eine Nation für keine höheren Ideen, nicht mit höheren Zielen zum Wohle der Menschheit, sondern nur ihren eigenen „Interessen“ lebt, so wird diese Nation untergehen. Höhere Ziele für Rußland kann es aber nicht geben, als uneigennützig den Slawen zu dienen, ohne von ihnen Dankbarkeit zu erwarten, nach ihrer sittlichen und geistigen, nicht nur nach ihrer politischen Einigung zu streben. Nur durch diese Tat würde das Slawentum der Menschheit eine neue, wertvolle Idee geben ... Höhere Ziele als solche gibt es nicht auf dieser Welt, und es kann für Rußland nichts „vorteilhafter“ sein, als solche Ziele zu haben, sie sich mehr und mehr klarzumachen, um die eigene Seele zu heben in dieser ewigen, unermüdlichen, heldenhaften Arbeit für die Menschheit. Darum aber ist eines gewiß: füllt dieser Krieg für Rußland günstig aus, so tritt Rußland in eine neue und höhere Phase seines Seins ...
Vor einiger Zeit fing man bei uns an, über die baldige Beendigung des Krieges zu sprechen, und heute spricht bereits alle Welt von möglichen und unmöglichen Friedensbedingungen. Es freut mich sehr, daß große politische Zeitungen Rußlands unsere Mühen und Opfer hochschätzen und Friedensbedingungen vorschlagen, die diesen gebrachten Opfern angemessen sind. Auch ist es beruhigend zu hören, daß die Mehrzahl der Urteile die selbständige Entscheidung Rußlands beim Friedensschluß verlangt, das Recht, einen persönlichen, separaten Frieden zu schließen, ohne Europa herbeizurufen, und wenn möglich, ohne sich um die europäischen Meinungen überhaupt zu kümmern. Das Los der Slawen wird gleichfalls in Betracht gezogen. Man streitet über die Kriegsentschädigungen und verlangt in der Begeisterung sogar die türkischen Panzerschiffe. Das Recht, uns Kars und Erserum einzuverleiben, gestehen uns fast alle zu. Natürlich gibt es auch wieder Leute, die schon bei der bloßen Annahme, wir könnten es wagen, Kars zu annektieren, beleidigt sind. Und wiederum gibt es andere, die nicht nur über Kars, sondern selbst über Konstantinopel verfügen und sogar behaupten, daß Konstantinopel einmal uns gehören müsse! Diese Debatten über den Frieden werden sich natürlich nach jeder größeren Aktion unseres Heeres wiederholen. Ich will hier nur darauf hinweisen, daß in den Urteilen unserer großen Blätter ein Irrtum sich bemerkbar macht. Alle halten sie das Europa von heute noch für das Europa von früher – das heißt, man nimmt bei uns an, daß die europäischen Großmächte immer noch dieselben sind, man setzt immer noch das alte „europäische Gleichgewicht“ voraus. Indessen verändert sich Europa jetzt von Stunde zu Stunde: was vor einem halben Jahr war, wird vielleicht schon nach drei Monaten nicht mehr sein – so sehr kann sich bis zum nächsten Frühling Europas früheres Aussehen verändert haben. Die ungeheuren und verhängnisvollen Gegenwartsprobleme, die sich erst noch herausarbeiten müssen, und die vielleicht sehr bald eine Entscheidung heischen werden, zieht man noch immer nicht in dem Umfange in Betracht, den sie tatsächlich in der Welt einnehmen. Sogar der Bestand jenes Europas, das sich beim Friedensschluß einmischen könnte, ist schwer schon jetzt festzustellen. Deshalb aber kann man, meiner Meinung nach, auf Grund der früheren Verhältnisse die Friedensbedingungen unmöglich im voraus bestimmen, ohne zu berücksichtigen, daß Europa selber von der Stelle rückt und selber neuer Bestimmungen harrt. Übrigens, davon später. Jetzt will ich, da schon einmal von Konstantinopel die Rede ist, noch eine sehr sonderbare Meinung Nicolai Jakowlewitsch Danilewskis[49] über das „nächste Schicksal Konstantinopels“ vermerken.
Ich werde sie übrigens nicht in allen Einzelheiten wiedergeben können.
Nach vielen durchaus richtigen Bemerkungen – wie zum Beispiel, daß Konstantinopel nach der Vertreibung der Türken nicht eine freie Stadt werden kann, wie es etwa Krakau einmal war, ohne zu riskieren, ein Sammelplatz und Zufluchtsort von Verbrechern und Verschwörern der ganzen Welt, eine Beute der Juden, Spekulanten und Intriganten zu werden – fordert N. J. Danilewski, daß Konstantinopel in den „gemeinsamen Besitz aller östlichen Völker“ übergehe. Allen Völkern sollen die gleichen Rechte über diese Stadt zugestanden werden: Russen, Slawen, Griechen, Bulgaren sollen alle zusammen Konstantinopel besitzen. Eine solche Ansicht ist meiner Meinung nach denn doch etwas sonderbar. Wie kann Rußland den Besitz dieser Stadt mit anderen Völkern teilen, wenn Rußland ihnen in jeder Beziehung weit überlegen ist, nicht nur jedem einzelnen kleinen Balkanvolk, sondern auch allen diesen Völkern zusammen genommen? Der Riese Gulliver könnte, wenn er wollte, den Liliputanern hundertmal versichern, daß er ihnen in jeder Beziehung gleich sei, es würde ihm doch niemals geglaubt werden. Wie kann man nur eine solche Geschmacklosigkeit behaupten und dazu noch selbst mit aller Gewalt an so etwas glauben? Nein, Konstantinopel muß uns gehören, muß von uns Russen erobert werden und muß bis in alle Ewigkeiten in unserem Besitz verbleiben. Uns allein soll die Stadt gehören; wir aber können dann, wenn wir sie beherrschen, alle Slawen und meinetwegen auch noch alle anderen Völker der Welt mit der Gewährung der größten Freiheiten in ihr aufnehmen – aber keine Föderation zusammen mit den Slawen! Man bedenke doch nur, daß eine solche Föderation kaum in einem Jahrhundert durchgesetzt werden kann! Nur Rußland ist der Aufgabe gewachsen, Konstantinopel zu beherrschen, denn wir dürfen nicht die dazu gehörige Umgebung, den Bosporus und die Dardanellen vergessen. Nur Rußland kann dort ein Heer und eine Flotte halten. O, natürlich wird es jetzt sofort heißen: „Also ist die Hilfe, die die Russen den Slawen bringen, doch nicht so uneigennützig!“ – Darauf können wir antworten: Rußland wird nie aufhören, den Slawen zu dienen und wird sie durch seine große zentrale Kraft ewig am Leben erhalten; solch ein Dienst läßt sich aber mit nichts entgelten, und wenn Rußland jetzt auch Konstantinopel einnehmen sollte, so würde das doch nur geschehen, weil zu seinen Aufgaben, außer der Lösung der slawischen Frage, noch die Lösung einer viel größeren, der Orientfrage, gehört. Diese Aufgabe aber kann nur durch die Eroberung Konstantinopels erfüllt werden. Eine föderative Verwaltung Konstantinopels durch verschiedene Völker könnte die Orientfrage einfach vernichten, während wir doch, im Gegenteil, eine baldige Lösung derselben vor allem wünschen müssen, da sie mit dem Schicksal und der Bestimmung Rußlands so eng verbunden ist. Ganz abgesehen davon, daß alle diese Völkchen sich um den Einfluß und die Vorherrschaft in der Stadt nur streiten würden ... Mit einem Wort, Konstantinopel wäre nur ein Stein des Anstoßes für die ganze östliche Welt, würde nur die Einigung der Slawen verhindern und ihre gesunde Lebensentwicklung aufhalten. Die einzige Rettung ist, daß Rußland allein und auf eigene Rechnung Konstantinopel nimmt; denn nur Rußland kann ruhig sagen, daß es ganz allein dieser Aufgabe gewachsen sein wird. Und ist das denn nicht wahr? Rußland ist das geistige Zentrum, das Haupt des Ostens, Konstantinopel aber ist die Stadt, das Zentrum der östlichen Welt. Rußland hat es nötig – und es wäre ihm sogar nützlich –, sich jetzt dem Orient zuzuwenden und auf einige Zeit Petersburg, wenn auch nur ein wenig, zu vergessen – in Anbetracht der baldigen Veränderung seines Schicksals, sowie der Schicksale ganz Europas. Doch wozu schon jetzt alle Mißstände erörtern, die durch einen gemeinsamen Besitz der Stadt unter den Slawen entstehen würden! Wenden wir uns lieber dem Schicksal der Griechen und der rechtgläubigen Bevölkerung Konstantinopels zu – dem Schicksal, dem sie bestimmt nicht werden entgehen können, wenn Byzanz „Gemeingut“ wird.
Die Griechen werden eifersüchtig auf die neue slawische Basis in Konstantinopel sehen und werden die Slawen sogar noch mehr hassen und noch mehr fürchten, als vorher die Mohammedaner. Der jüngste Streit zwischen den Bulgaren und dem ökumenischen Patriarchen kann für die Zukunft als Beispiel dienen. Die Repräsentanten der Rechtgläubigkeit in Konstantinopel werden sich bis zu Intrigen und kleinlichen Verschwörungen, bis zu gegenseitigen Exkommunikationen und weiß Gott wozu noch erniedrigen, werden vielleicht sogar Ketzer werden – und alles das aus nationalen Gründen, aus nationaler Empfindlichkeit. „Warum stehen die Slawen über uns?“ werden die Griechen fragen, „warum wird ihnen ein unumschränktes Recht auf Konstantinopel zugesprochen, ... wenn auch mit uns zusammen?“ Beherrscht aber Rußland allein Konstantinopel, hat Rußland allein die Autorität in der Stadt, so fällt selbst die Möglichkeit solcher Fragen fort. Sogar die Griechen würden dann Rußland nicht um den Besitz Konstantinopels beneiden und sich nicht gekränkt fühlen. Rußland würde in Konstantinopel gleichsam auf der Wacht stehen für alle Slawen und alle Balkanvölker, ohne etwa letztere den Slawen nachzustellen. Die Herrschaft der Mohammedaner war in diesen Jahrhunderten für die Balkanvölker keine vereinigende, sondern eine unterdrückende Macht, unter der sie sich nicht zu rühren, nicht einmal wie Menschen zu leben wagten. Nach der Vernichtung der mohammedanischen Herrschaft kann aus diesen Völkern, die aus der Knechtschaft zur Herrschaft kommen, ein Chaos entstehen; so daß nicht nur eine regelrechte Föderation, sondern selbst eine Übereinstimmung unter ihnen höchstens in ferner Zukunft möglich sein wird. Dagegen würde Rußland zweifellos die alle Balkanvölker vereinigende Kraft sein, wenn es sich in Konstantinopel festsetzte ... Auch ist doch nur Rußland allein fähig, die Fahne der neuen Idee des Ostens zu erheben und der ganzen östlichen Welt ihre neue Bestimmung zu erklären. Denn was ist die Orientfrage im Grunde anderes als die Schicksalsfrage der Rechtgläubigkeit überhaupt? Das Schicksal der Rechtgläubigkeit aber ist wiederum untrennbar mit der Bestimmung Rußlands verbunden. „Was ist denn das für ein Schicksal?“ wird man fragen.
Der römische Katholizismus, der Christus für weltlichen Besitz verkaufte, was die Menschheit veranlaßte, sich von ihm abzuwenden, und was zur Hauptursache der Verbreitung des europäischen Materialismus und Atheismus wurde, – dieser Katholizismus erzeugte in Europa naturgemäß auch den Sozialismus. Denn die Aufgabe des Sozialismus ist, das Schicksal der Menschheit nicht durch Christus, sondern außerhalb von Gott und Christus zu bestimmen. Er hat sich in Europa auf ganz natürliche Weise bilden müssen zum Ersatz für das dort gefallene christliche Prinzip. Doch die im Westen entstellte Lehre Christi hat sich in ihrer ganzen Reinheit in der Rechtgläubigkeit erhalten. Aus dem Osten wird das neue Wort an die Welt ausgehen, wird dem Sozialismus entgegenziehen und von neuem die europäische Menschheit erlösen. Das ist die Bestimmung des Ostens, das ist die Bedeutung der Orientfrage für Rußland! Ich weiß, sehr viele nennen eine solche Überzeugung „Besessenheit“; doch Herr N. J. Danilewski wird verstehen, was ich sagen will. Infolge dieser Bestimmung hat Rußland Konstantinopel nötig, denn Konstantinopel ist, wie ich schon sagte, das Zentrum der östlichen Welt. Rußland – ich meine das Volk zusammen mit seinem Zaren – erkennt und fühlt, daß es allein der Träger der Christenidee ist, und daß das Wort der Rechtgläubigkeit sich in ihm zu einer großen Tat gestaltet, daß diese Tat schon mit dem jetzigen Kriege begonnen hat, und daß uns noch Jahrhunderte der Arbeit und Selbstverleugnung bevorstehen, um die Brüderschaft der Völker zu verwirklichen, jener Völker, denen wir mit heißer Mutterliebe wie teuren Kindern dienen wollen.
Diese große christliche Tat, diese neue Tätigkeit des Christentums und der Rechtgläubigkeit, hat schon mit dem jetzigen Kriege begonnen, mit der bloßen Tatsache, daß wir diesen Krieg führen ... Doch Herr N. J. Danilewski glaubt noch immer nicht daran. Augenscheinlich glaubt er nicht daran, weil er Rußland nicht für würdig hält, Konstantinopel zu beherrschen. Sollten die Russen wirklich dem nicht gewachsen sein – oder was will er sonst damit sagen? Natürlich ist es schwer, eine Herrschaft in dieser Stadt zu errichten; aber Herr Danilewski gibt doch zu, daß Rußland Konstantinopel vorläufig allein beherrschen könnte, d. h. natürlich nur, um die Stadt später den Völkern als Gemeingut zu übergeben. Es fragt sich bloß, warum und wozu übergeben? Wie es scheint, glaubt Herr Danilewski, daß der Besitz Konstantinopels für Rußland verderblich sein würde, in ihm schlechte, eroberungsgierige Instinkte wachrufen könnte. Aber es wäre doch Zeit, endlich an Rußland zu glauben, besonders nach der Heldentat dieses Krieges, denn es ist dieser Aufgabe doch tatsächlich gewachsen ...
Und plötzlich kann sich der Autor nicht einmal entschließen, diese Stadt auch nur zeitweilig diesem Rußland anzuvertrauen! Und – man stelle sich nur vor, womit er schließt: man müsse vorläufig die Existenz der Türkei noch verlängern, ihr zwar alle Slawen und den Balkan nehmen, Konstantinopel jedoch ihr noch auf einige Zeit überlassen – und das sei für Rußland jetzt sogar das Vorteilhafteste, sei sozusagen ein Fingerzeig Gottes! Warum ein Fingerzeig Gottes, warum? Herr Danilewski setzt natürlich voraus, daß die Türkei in ihrer neuen Existenz ganz unter dem Einfluß Rußlands, d. h. von Rußland abhängig sein werde. Aber wozu denn diese Maskerade? Bedenken wir bloß, daß Europa in eine solche Konstellation erst recht nicht einwilligen würde. Europa wäre eine vollständige Besiegung der Türkei, wäre die vollendete Tatsache lieber, als einen neuen Orientkrieg in der allernächsten Zukunft befürchten zu müssen. Somit stimmt ja Herr Danilewski zum Schluß mit der politischen Meinung Lord Beaconsfields überein, nach der die Existenz der Türkei durchaus nötig sei und sie nicht vernichtet werden dürfe.
„Von der Türkei wird nur ein Schatten übrigbleiben,“ sagt Herr Danilewski – „dieser Schatten aber muß (?) vorläufig noch die Ufer des Bosporus und der Dardanellen verdunkeln; denn ihn schon jetzt durch einen lebendigen und dazu gesunden Organismus zu ersetzen, ist noch nicht möglich (!?) ...“
Also wäre Rußland ein so ungesunder und toter Organismus, daß es die Hauptstadt der Rechtgläubigkeit an Stelle der in Fäulnis übergegangenen Türkei nicht besetzen dürfte? Das scheint mir doch sonderbar! Oder will Herr Danilewski damit vielleicht sagen, daß Rußland Konstantinopel nicht besetzen dürfe, weil Europa es ihm nicht gestatten würde? Er sagt an einer Stelle seines Aufsatzes: „Der Besetzung Konstantinopels durch die Russen werden die meisten europäischen Mächte den größten Widerstand entgegensetzen.“ Freilich, wenn er die Unmöglichkeit darin sieht, so wird seine Behauptung – bezüglich der Notwendigkeit, den Türken vorläufig noch Konstantinopel zu überlassen – verständlicher. Nichtsdestoweniger kann man in betreff des „Widerstandes der meisten europäischen Mächte“ eines positiv behaupten: erstens, daß Europa, wie ich schon gesagt habe, eher die Besetzung Konstantinopels durch uns wünschen würde als ein Fortbestehen der Türkei „unter voller Vormundschaft Rußlands, ohne den Balkan, ohne Slawen, ohne Flotte“ – mit einem Wort, als ein „Schatten“ der früheren Türkei, wie sich Herr Danilewski ausdrückt. Wen würden wir mit diesem Gespenst betrügen können? Die Europäer würden sich doch sagen: „Wenn die Russen nicht heute in Konstantinopel einziehen, so werden sie es morgen tun.“ Und deshalb würden sie auch eine endgültige Form einem zeitweiligen Schatten vorziehen. Und zweitens: wir müssen doch einsehen, daß es niemals eine für uns so günstige Zeit geben wird – in Anbetracht der gegenwärtigen politischen Lage Europas.
Zum letztenmal noch eine „Prophezeiung“. Man sagt: „Die Mehrzahl der europäischen Mächte wird es nicht erlauben.“ Aber aus welchen Reichen besteht denn jetzt diese „Mehrzahl der europäischen Mächte“? Ich wiederhole hier schon einmal von mir Gesagtes: „Europa verändert sich von Stunde zu Stunde: was noch vor einem halben Jahr war, wird vielleicht in drei Monaten nicht mehr sein!“ Wir befinden uns am Vorabend der allergrößten und erschütterndsten Ereignisse und Umwälzungen in Europa. Augenblicklich, also jetzt im November, besteht „diese Mehrzahl der europäischen Mächte“, die uns beim Friedensschluß ihr drohendes Veto entgegenstellen könnten, nur aus England und kaum noch aus Österreich, obgleich England alles tut, um Österreich zu einem Bündnis gegen uns zu zwingen und nebenbei noch eines mit Frankreich zu schließen. Doch wir werden nicht allein sein: soviel ist jetzt schon klar. In Europa gibt es ja noch Deutschland, und Deutschland wird zu uns halten.
Europa stehen große Umwälzungen so sonderbarer Art bevor, daß der Verstand des Menschen sich sträubt, an sie zu glauben, und ihre Verwirklichung für unmöglich hält, weil sie ihm viel zu phantastisch erscheinen. Doch vieles, was man in diesem Sommer noch für phantastisch, unmöglich und für übertrieben hielt, ereignete sich zu Ende des Jahres in Europa buchstäblich, und die Meinung, zum Beispiel, daß die katholische Verschwörung eine Macht habe – eine Meinung, über die alle noch im Sommer zu lachen bereit waren, oder im äußersten Falle zog man es vor, sich einer Kritik über sie zu enthalten – wird jetzt von allen geteilt und durch Tatsachen als keineswegs übertrieben bestätigt. Ich erwähne dies nur, damit die Leser auch meiner jetzigen „Prophezeiung“ mehr Glauben schenken und sie nicht für ein phantastisches und übertriebenes Hirngespinst erklären.
Der einzige Politiker Europas, der mit seinem genialen Blick bis in die Tiefe der Erscheinungen dringt, ist – Fürst Bismarck. Den schrecklichsten Feind Deutschlands, seiner Einheit und seiner erneuten Zukunft hat er schon vor langer Zeit, früher als alle anderen erkannt: im römischen Katholizismus und in dem vom Katholizismus erzeugten Ungeheuer – dem Sozialismus. Deutschland ist durchsetzt von Sozialismus. Bismarck hält es für unumgänglich nötig, dem Katholizismus im Augenblick der Wahl des neuen Papstes den Todesstoß zu versetzen. Oh, er weiß, daß er den Papst nicht endgültig wird vernichten können, und daß er ihn höchstens in eine neue Phase des Kampfes drängen wird. Denn der Kampf des Katholizismus wird so lange fortdauern, wie Frankreich lebt. Solange Frankreich noch lebt, hat der Katholizismus ein starkes Schwert in der Hand und die Möglichkeit, eine europäische Koalition gegen Deutschland zustande zu bringen. Was Frankreich anbetrifft, so ist dieses Land in den Augen des Fürsten Bismarck freilich schon seinem Schicksal verfallen. Für Bismarck gibt es jetzt nur noch eine Frage: Frankreich – oder Deutschland? Fällt aber Frankreich, so tritt der Katholizismus zusammen mit dem Sozialismus in eine neue Phase seines Daseins. Während nun die europäischen Politiker den sich hinziehenden Kampf Mac-Mahons mit den Republikanern verfolgen und von ganzem Herzen den Republikanern den Sieg wünschen, da sie glauben, die Republik sei in Frankreich eine volkliche Regierung und fähig, Frankreich zu einigen, – weiß Fürst Bismarck, daß Frankreich seine Zeit bereits überlebt hat und die französische Nation innerlich auf ewig zerstückt ist, daß es in ihr niemals mehr eine alle vereinende, starke und gesunde nationale Regierung geben wird. Nun könnte allein schon diese Schwäche Frankreichs in Deutschland große Hoffnungen erwecken; doch Fürst Bismarck weiß, ich wiederhole es: solange Frankreich lebt, wird auch der römische Katholizismus noch lebendig sein, – ganz abgesehen davon, daß der Katholizismus noch einmal, und wenn auch nur auf kurze Zeit, wenn auch nur außenpolitisch, diesem zersetzten Lande als vereinigende Idee dienen kann. Denn anders kann es ja gar nicht kommen: früher oder später wird Frankreich – selbst wenn es Republik bleiben sollte – sein Schwert doch für den Papst und den Katholizismus ziehen. Die Republikaner werden es noch selbst einsehen, daß ihre Stellung in Frankreich unhaltbar werden würde, wenn sie den Papst und den Katholizismus fallen ließen. Oder vielleicht werden sie zu dieser Einsicht nicht fähig sein und so bis zu ihrem Ende die Protégés des Fürsten Bismarck bleiben, – Protégés, die er im geheimen schon zum Tode verurteilt hat, obschon sie immer noch den Anspruch auf die Fähigkeit haben, Frankreich von neuem zu einem festen Ganzen zu vereinigen. Ja, die französischen Republikaner sind nicht nur Bismarcks Schützlinge, sondern auch Deutschlands Sklaven, die ganz Frankreich an Deutschland nicht bloß zu politischer, sondern auch zu innerer, geistiger Sklaverei ausliefern, und zwar tun sie dies, indem sie Frankreich gerade seiner selbständigsten politischen und historischen Idee berauben, wenn sie ihrem Vaterlande jene Fahne aus der Hand reißen, die es so viele Jahrhunderte hindurch als Vertreter des romanischen Elements in der europäischen Menschheit hochgehalten hat. Dafür aber werden sich diejenigen, welche die unbegabten, unnützen Republikaner gerade deswegen stürzen wollen, unbedingt sofort bemühen – Bismarck weiß das bereits –, zum letztenmal die katholische Fahne gegen Deutschland zu erheben, die Fahne, an die Frankreich nicht mehr glaubt, die fast schon von der ganzen Nation verneint wird, doch den Franzosen politisch noch zum letzten Vereinungs- und Stützpunkt dienen kann gegen den verhängnisvollen (und gleichfalls letzten) Angriff des protestantischen Deutschland, das ewig gegen die vom alten Rom geerbten Grundsätze der ganzen westlichen Hälfte der europäischen Menschheit protestiert und protestieren wird.
Deshalb aber hat Fürst Bismarck Frankreichs Schicksal wahrscheinlich schon bestimmt. Das Schicksal Polens erwartet auch Frankreich, und politisch wird es tot sein oder Deutschland müßte aufhören zu sein. Wenn Bismarck das erreicht haben wird, dann wird er auch den kämpfenden römischen Katholizismus – der bestimmt bis zum Ende der Welt kämpfen wird – zwingen, in eine neue Phase des Daseins und des Kampfes um das Dasein einzutreten, – in die Phase des unterirdischen, reptilhaften Verschwörerkrieges. Bismarck aber erwartet ihn schon in dieser neuen Phase. Und je früher dies geschehen wird, desto besser für ihn, denn hier erwartet er bereits die Vereinigung beider Feinde Deutschlands und der Menschheit, die Vereinigung des Katholizismus mit dem Sozialismus, und hofft, sie gerade so leichter vernichten zu können, beide auf einmal ...
Man muß den Augenblick benutzen. Diese Vereinigung der beiden Feinde wird zweifellos stattfinden, sobald Frankreich politisch gefallen ist, denn diese beiden Feinde haben in Frankreich immer einen organischen Zusammenhang gehabt. Der Katholizismus war fast bis zur jüngsten Zeit Frankreichs vereinigende und wesentlichste Idee. Und aus ihr heraus ist in Frankreich der Sozialismus entstanden. So hofft denn Fürst Bismarck, auch dem Sozialismus einen starken Schlag zu versetzen, wenn er Frankreichs politisches Leben vernichtet. Der Sozialismus aber als Fortsetzung des Katholizismus und als Ausdruck Frankreichs – ist für den echten Germanen das Verhaßteste von allem Verhaßten, und so ist es wohl verzeihlich, daß die führenden Männer Deutschlands glauben, leicht mit ihm fertig werden zu können, wenn sie Frankreich als seine Quelle und Basis politisch vernichten. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach wird etwas ganz anderes geschehen, wenn Frankreich politisch fällt. Der Katholizismus, der mit dem Sturze Frankreichs sein Schwert verliert, wird sich dann zum erstenmal an das von ihm so lange verachtete Volk wenden. Früher hatte er noch die Könige und Kaiser dieser Welt, jetzt jedoch hat er niemanden mehr, außer dem Volk. Und so wird er sich denn an die beweglichsten, unruhigsten Elemente desselben wenden – an die Sozialisten. Dem Volke wird Rom sagen, daß alles, was die Sozialisten den Menschen verkünden, schon von Christus gepredigt worden sei. Noch einmal wird Rom Christus entstellen und diesmal an das Volk verkaufen, so wie es ihn früher schon so oft für weltliche Herrschaft verkauft hat, wie z. B. damals, als es für das Recht der Inquisition eintrat. Vergessen wir nicht, daß diese Inquisition die Menschen für ihre Gewissensfreiheit im Namen Christi folterte, – Christi, dem nur ein freiwilliger Jünger lieb war, nicht aber ein abgekaufter oder durch Furcht gezwungener. Und der Katholizismus verkaufte Christus, als er die Jesuiten segnete und ihren Wahlspruch „Der Zweck heiligt das Mittel“ guthieß. Die ganze christliche Lehre hat er ja nur zum Erwerb irdischen Gutes und zur Erlangung der erträumten Herrschaft über die ganze Welt benutzt. Als die katholische Menschheit sich von jenem Ungeheuer, als das ihnen Christus zu guter Letzt gezeigt wurde, abwandte, da tauchen denn – nach einer Reihe von Jahrhunderten der Proteste und Reformationen – zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts Versuche auf, sich ohne Gott und Christus einzurichten. Doch ohne den Instinkt der Bienen und Ameisen zu haben, die sich fehlerlos ihre Stöcke und Ameisenhaufen schaffen, wollten auch die Menschen sich in der Art der Ameisen von neuem einrichten. Sie verstießen die von Gott herkommende und durch die Offenbarung dem Menschen verkündete einzige Formel seiner Rettung: „Liebe deinen Nächsten als dich selbst“, und ersetzten sie durch praktische Folgerungen von der Art des „Chacun pour soi et Dieu pour tous“, oder durch wissenschaftliche Axiome von der Art des „Kampf ums Dasein“. Da die Menschen den Instinkt der Tiere, der diese lehrt, ihren Staat fehlerlos einzurichten, nicht haben, verließen sie sich stolz auf die Wissenschaft, – wobei sie natürlich ganz vergaßen, daß die Wissenschaft einer solchen Tat, wie es die Schaffung der Gleichheit wäre, noch längst nicht gewachsen ist, ja, im Verhältnis zu ihr gleichsam noch in den Windeln liegt. Man baute Luftschlösser. Der zukünftige Turm von Babel wurde einerseits zum Ideal und andererseits zum Schreckgespenst der Menschheit. Doch nach den Träumern kamen bald andere Lehrer, die einfach und allen verständlich ungefähr folgendes predigten: „Zuerst die Reichen plündern, die Welt mit Blut überschwemmen, dann aber wird alles schon von selbst irgendwie von neuem entstehen!“ Schließlich ging man noch weiter: es kam die Lehre vom Anarchismus. Wenn dieser sich einmal verwirklichen könnte, dann würde bestimmt wieder eine Periode der Menschenfresserei eintreten, und die Menschen wären gezwungen, alles von neuem zu beginnen, wie vor zehntausend Jahren. Der Katholizismus begreift das alles vorzüglich und wird es verstehen, die Führer des unterirdischen Kampfes für sich zu gewinnen. Er wird ihnen sagen: „Ihr habt kein Zentrum, keine Ordnung in der Führung eurer Sache, ihr seid eine über die ganze Welt verbreitete, aber zerstückelte Kraft und seid jetzt durch den Fall Frankreichs sogar völlig haltlos. Ich werde euch vereinigen und euch auch alle diejenigen noch zuführen, die an mich glauben.“ Wie es auch kommen mag: eine Einigung wird jedenfalls stattfinden. Der Katholizismus will nicht sterben; eine soziale Revolution jedoch, eine neue soziale Periode, stehen Europa sicher bevor: diese zwei, wenn auch verschiedenen, Kräfte werden sich unbedingt vereinigen, die zwei Strömungen werden ineinanderfließen müssen. Selbstverständlich wäre für den Katholizismus Zerstörung, Blutvergießen, Plünderung, ja selbst die Menschenfresserei sehr vorteilhaft. Kann er doch hoffen, gerade dann im trüben Wasser noch einmal seinen Fisch zu fangen: im rechten Augenblick, wenn die gequälte Menschheit sich ihm wieder in die Arme wirft, von neuem der „unumschränkte Alleinherrscher und die einzige Autorität dieser Welt“ zu werden und somit endgültig sein Ziel zu erreichen. Dieses Zukunftsbild ist leider – keine Phantasie. Ich bin fest überzeugt, daß es im Westen schon von vielen gesehen wird, und wahrscheinlich sieht man es auch in Deutschland. Doch die Führer des deutschen Volkes täuschen sich bloß in einem: in der Leichtigkeit, die beiden furchtbaren und dann bereits vereinten Feinde zu besiegen. Sie hoffen auf die Kraft des erneuten Deutschland, auf seinen protestantischen, gegen das alte und neue Rom, gegen Roms Grundsätze und deren Folgen protestierenden Geist. Doch nicht sie werden das Ungeheuer zum Stehen bringen: stellen und besiegen wird es nur der wiedervereinte Osten durch das neue Wort, das er der Menschheit bringen wird.
In jedem Fall aber ist eines klar: Deutschland hat uns sogar weit nötiger, als wir denken. Denn Deutschland braucht uns nicht zu einem zeitweiligen politischen, sondern zu einem ewigen Bündnis. Die Idee des wiedervereinten Deutschland ist groß und stolz und reicht hinab bis in die Tiefe der Jahrhunderte. Doch was will denn Deutschland mit uns teilen? Die ganze westliche Menschheit ist sein Objekt, die ganze westliche Welt Europas hat es für sich bestimmt: statt der römischen und romanischen Idee soll hier die germanische die Führung übernehmen. Uns aber, Rußland, überläßt es den Osten. Zwei großen Völkern, uns und ihm, ist es bestimmt, das Angesicht der ganzen Welt zu verändern. Das ist kein menschliches Hirngespinst, das ist kein menschlicher Ehrgeiz, der sich das erdacht: so setzt sich die Welt selbst auseinander. Neue und sonderbare Fakta tauchen auf und bestätigen es von Tag zu Tag. Als man bei uns vom Besitze Konstantinopels noch nicht einmal zu träumen wagte, sprachen die deutschen Zeitungen von der Besetzung Konstantinopels durch uns Russen schon wie von einer ganz selbstverständlichen Sache. Das ist beinahe sonderbar im Vergleich zu den früheren Beziehungen Deutschlands zu uns. Man kann annehmen, daß die Freundschaft Rußlands zu Deutschland aufrichtig und stark ist, und daß diese Freundschaft mehr und mehr im Volksbewußtsein beider Nationen erstarken wird. Infolgedessen aber ist für Rußland noch keine Zeit zur endgültigen Entscheidung der Orientfrage so günstig gewesen wie gerade die gegenwärtige. In Deutschland wartet man auf die Beendung des Krieges vielleicht noch ungeduldiger als bei uns. Und doch kann man jetzt noch nichts voraussagen, und wäre es auch nur auf drei Monate. Werden wir den Krieg noch vor den letzten und schicksalsschweren Umwälzungen in Europa beenden? Alles dies ist noch ungewiß. Doch ob wir Deutschland noch werden zu Hilfe eilen können oder nicht, jedenfalls rechnet Deutschland auf uns nicht als zeitweiligen, sondern als ewigen Bundesgenossen. Was aber die Gegenwart anbetrifft, so kann man nur sagen, daß der Schlüssel zur Katastrophe in Frankreich und in der Wahl des neuen Papstes liegt. So kann denn der jetzt schon so gut wie sichere Zusammenstoß Deutschlands mit Frankreich bald erfolgen, besonders da England sich die größte Mühe gibt, sie aufeinander zu hetzen, und dann auch Österreich das Seine dazu beitragen wird ...
Auf jeden Fall muß Rußland diesen günstigen Augenblick benutzen, denn wir wissen nicht, wie lange er noch währen wird. Solange die jetzigen großen Führer Deutschlands noch am Ruder sind, ist die Zeit für uns wahrscheinlich am günstigsten ...
Geok-Tepe, die Festung der Achal Teke, ist erstürmt! Die Tekinzen sind geschlagen, und wenn sie sich uns auch noch nicht ganz unterworfen haben, so ist doch unser Sieg gewiß![50]
Die Gesellschaft und die Presse sind wieder einmal stolz ... Doch wie lange ist es denn her, daß sich diese wie jene noch vollkommen gleichgültig zu unseren transkaspischen Angelegenheiten verhielten? War das nicht, wenn ich mich recht erinnere, noch vor kurzem, noch nach dem ersten Mißerfolge General Lomakins, und sogar noch zu Anfang der Vorbereitungen zum zweiten Angriff?
„Was suchen wir dort, was schert uns dieses Asien?“ hieß es damals. „Wieviel Geld ist dafür verschwendet worden, während bei uns Hungersnot und Diphtheritis herrschen und Schulen gebaut werden müssen!“
Natürlich waren längst nicht alle derselben Meinung – o nein! Doch trotzdem laßt es sich nicht leugnen, daß es eine Zeit gab, in der sich sogar sehr viele zu unserer Offensivpolitik in Asien feindselig verhielten. Allerdings trug die Ungewißheit der unternommenen Expedition manches zu dieser Feindseligkeit bei. Aber trotz alledem kann man nicht sagen, daß unsere Gesellschaft sich unserer Mission in Asien klar bewußt sei, noch dessen, was Asien überhaupt für uns bedeutet oder in Zukunft bedeuten wird. Die meisten europäischen Russen sehen auf unser russisches Asien – auch Sibirien einbegriffen – immer noch wie auf irgendein Anhängsel, an das man am liebsten überhaupt nicht denkt. „Wir sind Europäer,“ heißt es, „was sollen wir in Asien machen?“ oder: „Ach, dieses ewige Asien! Wir können ja nicht einmal in Europa Ordnung schaffen, da lädt man uns nun zum Überfluß auch noch Asien auf den Hals! Ach was, – schütteln wir es einfach ab!“ Diese Auffassung wird selbst jetzt noch von unseren „Klugen“ geteilt (die haben sie natürlich nur von ihrem allzu großen Verstande) ...
Der Sieg Skobeleffs wird in ganz Asien, selbst in seinen weltfernsten Winkeln, Widerhall finden. „Also hat sich wieder ein wildes und stolzes mohammedanisches Volk dem weißen Zaren unterworfen,“ werden jetzt die asiatischen Völker denken. Möge das Echo unseres Sieges über ganz Asien hallen, bis nach Indien hin! Möge es in diesen Millionen von Menschen den Glauben an die Unbesiegbarkeit des weißen Zaren verstärken! Auf diesem Wege können wir nicht mehr stehenbleiben. Diese Völker können ihre Chans und Emire behalten, in ihrer Phantasie mag England, dessen Macht sie in Erstaunen setzt, als drohende Wolke fortbestehen, – doch der Name des weißen Zaren muß über den Chans und Emiren stehen, muß über dem der Kaiserin von Indien leuchten, ja sogar über dem des Kalifen. Der weiße Zar ist Zar auch des Kalifen. Diese und keine andere Überzeugung muß dort Wurzel schlagen! Und das geschieht ja auch schon von Jahr zu Jahr immer mehr, und das ist es, was not tut, denn es bereitet die Zukunft vor und gewöhnt jene Völker an das Unvermeidliche.
„Was für eine Zukunft? Worin besteht die Notwendigkeit, Asien uns einzuverleiben? Was sollen wir denn in Asien tun?“
„Es ist eine Notwendigkeit, weil Rußland nicht nur in Europa liegt, sondern auch in Asien, weil der Russe nicht nur Europäer, sondern auch Asiate ist. Weil in Asien vielleicht noch mehr unserer Hoffnungen liegen als in Europa. Und das ist noch nicht alles: in unserem zukünftigen Schicksal wird gerade Asien unser Ausweg sein!“
Ich fühle schon im voraus den Unwillen, mit dem viele meine rückständige Anschauung lesen werden; – für mich aber ist das Gesagte bereits ein Axiom. Ja, wenn es eine wichtige kranke Wurzel bei uns gibt, eine, die man um jeden Preis heilen muß, so ist das gerade unsre Auffassung von Asien. Wir müssen die knechtische Furcht, Europa könnte uns asiatische Barbaren nennen und von uns sagen, wir seien überhaupt noch nicht Europäer geworden, doch endlich einmal überwinden. Diese Angst vor der „Schande“, Europa könnte uns vielleicht doch für Asiaten halten, verfolgt uns ja fast schon zweihundert Jahre lang. Doch in diesem neunzehnten Jahrhundert hat diese Scham sich in uns noch ganz besonders verstärkt: sie ist beinahe schon in Panik ausgeartet. Diese falsche Scham und falsche Selbstbeurteilung, wenn wir uns ausschließlich für Europäer halten und nicht auch für Asiaten (die zu sein wir nie aufgehört haben), sind uns in diesen letzten zwei Jahrhunderten teuer, sehr teuer zu stehen gekommen: wir haben ihretwegen unsere geistige Selbständigkeit eingebüßt und sie mit unserer mißlungenen europäischen Politik bezahlt, und schließlich noch mit Geld, und Geld, und Geld, das, Gott weiß wieviel, dafür verschwendet worden ist, nur um Europa zu beweisen, daß wir ausschließlich Europäer seien und keineswegs Asiaten ... Aber der Vorstoß Peters nach Europa ist denn doch zu stark gewesen, wenn er am Anfang auch notwendig und erlösend war, und so tragen eigentlich nicht wir die Schuld an unserer schiefen Stellung. Was haben wir nicht alles getan, damit Europa uns als die Seinigen anerkenne, als Europäer, als Nur-Europäer und Nicht-Tataren! Allstündlich und unermüdlich sind wir hingelaufen und haben uns immer wieder aufdringlich angeboten. Bald haben wir Europa durch unsere Kraft erschreckt, unsere Heere hingeschickt, um die „Könige zu retten“; bald wiederum haben wir uns vor ihm gebeugt und geschworen, unsere einzige Aufgabe sei, nur ihm, Europa, zu dienen und es glücklich zu machen! Als wir 1812 Napoleon vertrieben hatten, versöhnten wir uns nachher nicht mit ihm, wie es damals einige kluge und einsichtsvolle Russen rieten und wünschten, sondern rückten in geschlossenen Reihen weiter, um Europa zu beglücken, da wir es nun einmal von dem großen Thronräuber befreit hatten. Das gab natürlich ein schönes Bild ab: auf der einen Seite stand der Despot und Räuber, auf der anderen – der Friedensstifter und Befreier. Doch unser politisches Glück lag damals durchaus nicht in diesem Bilde, sondern wäre anderswo zu finden gewesen. Dieser Räuber war nämlich gerade zu der Zeit, zum ersten Male während seiner ganzen Laufbahn, in einer solchen Lage, daß er sich aufrichtig und fest mit uns verbündet haben würde. Unter der Bedingung, ihn in Europa nicht zu stören, hätte er uns den Orient überlassen, und unsere heutige Orientfrage – das Unglück und das drohende Gewitter unserer Gegenwart und Zukunft – wäre jetzt schon längst abgetan. Der Usurpator hat es später selbst gesagt und hat bestimmt nicht nachträglich gelogen; denn er hätte wahrlich nichts Klügeres tun können, als auch hinfort mit uns verbündet zu bleiben, – unter der Bedingung, wie gesagt, daß wir für den Osten ihm den Westen überließen. Die europäischen Völker waren damals noch viel zu schwach, um uns im Orient zu stören; selbst England hätte es nicht gekonnt. Napoleon wäre später vielleicht gestürzt oder, wenn nicht er, dann nach seinem Tode seine Dynastie; der Orient aber wäre uns verblieben, und wir hätten jetzt das Meer und könnten England auch zur See entgegentreten. Wir aber gaben alles hin für dieses schöne lebende Bild! Und was war die Folge? Alle diese von uns befreiten Völker blickten sofort, noch bevor sie Napoleon gänzlich geschlagen hatten, mißgünstig und mit den gehässigsten Verdächtigungen auf uns. Auf den Kongressen verbündeten sie sich alle gegen uns und nahmen alles für sich, uns aber ließen sie nichts, und außerdem zwangen sie uns noch zu Versprechungen, die für Rußland selbst nur nachteilig waren. Und trotz dieser erhaltenen Lehre, – was haben wir in all den folgenden Jahren des Jahrhunderts und noch bis auf den heutigen Tag getan? Haben wir nicht zur Verstärkung der deutschen Mächte noch beigetragen? Haben wir nicht ihre Kraft so anwachsen lassen, daß sie jetzt vielleicht mächtiger sind als wir selbst? Es ist wirklich nicht übertrieben, wenn man sagt, daß wir ihr Wachstum und ihre Stärke gefördert haben. Sind wir nicht auf ihren Ruf hingegangen, um ihre Zwietracht beizulegen, haben wir nicht ihren Rücken geschützt, wenn ihnen Gefahr drohte? Und siehe – waren es nicht gerade sie, die uns in den Rücken fielen, als uns Gefahr drohte, und wollten sie uns nicht in den Rücken fallen, als eine andere Gefahr sich uns näherte? Und die Folge ist, daß jetzt jeder in Europa, jede Rasse, jede Nation einen Stein für uns in der Tasche bereit hält und nur auf den ersten Anlaß wartet, um ihn auf uns zu schleudern. Was haben wir also von den Europäern dadurch erworben, daß wir ihnen so oft gedient? – Nur ihren Haß!
Warum nur haßt uns Europa so sehr, warum können die Menschen dort nicht ein für allemal Zutrauen zu uns fassen und uns glauben, daß wir ihre Freunde und Diener sind, ihre guten, treuen Diener? Und daß sogar unsere ganze europäische Bestimmung nur ist: Europa und seiner Wohlfahrt zu dienen. Oder wenn das vielleicht auch nicht ganz stimmen sollte, so haben wir doch das ganze Jahrhundert hindurch danach gehandelt. Haben wir denn etwas für uns getan, etwas für uns erstrebt? Alles doch nur für Europa, immer nur für Europa! ... Nein, sie können kein Zutrauen zu uns fassen! Warum nicht? – Weil es ihnen unmöglich ist, uns als Ihresgleichen anzuerkennen.
Niemals und für keinen Preis werden sie es glauben, daß wir fähig sind, zusammen mit ihnen und auf ihrer Höhe an der ferneren Entwicklung der Kultur mitzuwirken. Sie sagen, wir seien unfähig, ihre Kultur zu begreifen, seien Fremdlinge in Europa, Namensusurpatoren. Sie nennen uns Diebe, die ihre Bildung stehlen und sich mit ihren Kleidern schmücken. Türken und Semiten stehen ihrem Herzen näher als wir Arier. All dieses hat nun natürlich einen gewichtigen Grund: wir tragen eine ganz besondere Idee, eine andere als sie, in die Menschheit – das ist die Ursache! Und das tun wir – trotz der krampfhaften Versicherungen unserer „russischen Europäer“ in Europa, daß es bei uns überhaupt keine besondere Idee gebe, und es auch weiterhin keine geben werde, daß Rußland überhaupt nicht fähig sei, eine eigene Idee zu haben, sondern höchstens nachahmen könne, und es dabei auch bleiben werde, also beim Nachahmen, und daß wir keineswegs Asiaten oder Barbaren seien, sondern durchaus ganz so wie sie – „Europäer“. Europa jedoch glaubt unseren „russischen Europäern“ wenigstens dieses eine nicht. Was dies anbetrifft, so stimmt es in seinen Schlüssen eher mit den Slawophilen überein, obgleich es die letzteren höchstens vom Hörensagen kennt, oder selbst das nicht einmal. Diese Übereinstimmung besteht in folgendem: Europa glaubt, ganz wie die Slawophilen, daß wir eine „Idee“ haben, eine eigene, besondere und nicht europäische Idee, und daß Rußland fähig sei, eine Idee zu haben. Vom Wesen dieser Idee weiß Europa natürlich noch nichts, – denn wenn es etwas von ihm wüßte, würde es sich sofort beruhigen, ja sogar freuen. Doch einmal wird es unsere Idee bestimmt kennen lernen, und zwar gerade in dem Augenblick, wenn seine kritische Zeit anbricht. Jetzt jedoch traut uns Europa noch nicht; indem es uns überhaupt eine Idee zugesteht, fürchtet es sie bereits. Und schließlich: wir erregen in den Europäern doch nur Ekel, sogar persönlichen Ekel, obgleich man dort zuweilen auch höflich gegen uns ist. Man gibt dort gerne zu, daß die russische Wissenschaft, so jung sie sei, doch schon mehrere bemerkenswerte Vertreter aufzuweisen hat, sowie mehrere gute Arbeiten, die sogar ihrer europäischen Wissenschaft zustatten gekommen sind. Doch um nichts in der Welt würde uns Europa jetzt glauben, daß bei uns in Rußland nicht nur Arbeiter in der Wissenschaft – sogar sehr begabte – geboren werden können, sondern auch Genies, Führer der Menschheit, von der Art der europäischen! Daran werden die Europäer niemals glauben, denn sie können doch nicht uns Kulturfähigkeit zugestehen, und von unserer aufsteigenden Idee wissen sie ja noch nichts. Nach den Tatsachen zu urteilen, haben sie ja schließlich auch recht; denn ganz gewiß werden wir weder einen Bacon, noch einen Newton, noch einen Kant hervorbringen, so lange wir uns nicht „gerade“ auf den Weg stellen und geistig selbständig werden. Was das übrige betrifft, so ist es dasselbe – in der Kunst, wie im Gewerbe: Europa ist bereit, uns zu loben, uns wie einem braven Jungen den Kopf zu streicheln, doch als die Seinigen erkennt es uns nicht an, o nein! Dazu verachtet es uns innerlich und äußerlich viel zu sehr! Es hält uns für niedriger als Menschen, niedriger als Rasse, und zuweilen flößen wir ihm sogar Ekel ein, Ekel im allgemeinen – und Ekel im besonderen, wenn wir uns mit brüderlichen Küssen ihm an den Hals werfen.
Es ist schwer, sich von dem Fenster nach Europa, das Peter für uns durchbrochen hat, abzuwenden – das ist nun einmal unser Verhängnis. Indessen ist aber Asien ... – Ja, das kann doch tatsächlich unsere Rettung sein! Wenn sich bei uns nur ein etwas richtigeres Verständnis für Asien, für diese Idee „Asien“ durchsetzen würde, welch eine große nationale Wurzel würde dann gesunden! Asien, unser asiatisches Rußland –, das ist ja gleichfalls eine unserer kranken Wurzeln, eine, die man nicht nur pflegen, nein, die man ganz ausgraben und von neuem pflanzen muß! Ein Prinzip, ein neues Prinzip, eine neue Anschauung – das ist es, was uns not tut!
„Ja, aber warum denn, wozu?“ höre ich gereizte Stimmen fragen. „Asien kostet uns sowieso schon viel verlorenes Geld und ununterbrochen Militär. Und wo ist denn dort Industrie? Und wo findet man dort Abnehmer für unsere Waren? Und da verlangen Sie nun, aus unbekannten Gründen, wir sollen uns auf ewig von Europa abwenden!“
„Nicht auf ewig, nur zeitweilig und auch nicht ganz; wir würden uns doch nicht losreißen können, selbst wenn wir es wollten. Wir dürfen Europa nicht ganz verlassen. Aber das ist auch durchaus nicht nötig. Europa ist und bleibt ‚das Land der heiligen Wunder‘ – wie es der eifrigste Slawophile benannt hat. Europa ist uns gleichfalls eine Mutter, wir haben viel von ihr genommen und werden noch vieles von ihr nehmen, und wir wollen doch nicht undankbar sein. Ich habe einmal über die; große zukünftige Bedeutung des russischen Volkes für Europa – meine Überzeugung – einige Worte im vorigen Jahr zur Puschkinfeier in Moskau gesagt, und man hat mich dafür später mit Schmutz und Schimpf beworfen, und sogar diejenigen haben es getan, die mich damals für meine Worte umarmten – ganz, als ob ich etwas Schmutziges, Gemeines begangen hätte, als ich mein Wort sagte.
Doch vielleicht wird man dieses Wort nicht vergessen. Übrigens, lassen wir das ruhen. Wir haben nichtsdestoweniger das Recht, für unseren Auszug aus Ägypten Sorge zu tragen; denn wir selbst haben uns aus Europa gewissermaßen ein geistiges Ägypten gemacht.“
„Erlauben Sie mal! Wodurch kann uns denn Asien selbständig machen? Wir können dort höchstens asiatisch einschlafen, nicht aber selbständig werden!“
„Sehen Sie, durch die Wendung nach Asien und durch unsere neue Auffassung dieses Landes kann mit uns vielleicht dasselbe geschehen, was zum Beispiel mit Europa geschah, als Amerika entdeckt wurde. Denn genau genommen ist Asien für uns dieses selbe von uns bisher noch nicht entdeckte damalige Amerika. Mit der Strömung nach Asien wird sich unser Geist wieder erheben und werden sich unsere Kräfte wieder stärken. Sind wir erst selbständiger geworden, so werden wir auch sofort wissen, was wir zu tun haben; in und mit Europa aber haben wir uns in zweihundert Jahren nur von jeglicher Arbeit entwöhnt und sind zu Schwätzern und Faulenzern geworden.“
„Na, wie wollen Sie uns dann bis nach Asien bringen, wenn wir Faulenzer sind? Und wer wird denn von uns hingehen, selbst wenn man es so sicher wie zweimal zwei beweisen könnte, daß dort unser Glück liegt?“
„In Europa waren wir aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommen, waren wir Sklaven; nach Asien aber kommen wir als Herren. In Europa waren wir Tataren, in Asien aber sind auch wir Europäer. Unsere Mission, unsere zivilisatorische Mission in Asien, wird unseren Geist verlocken und uns dorthin ziehen, wenn nur erst einmal die Bewegung angefangen hat. Baut nur zwei Eisenbahnen, beginnt nur mit dem Bau, – eine nach Sibirien und die andere nach Mittelasien, und ihr werdet euch von den Folgen überzeugen können.“
„Haha, Sie wollen wirklich wenig!“ ist die Antwort, und man lacht mich aus. „Woher die Mittel dazu nehmen, und was bringt uns das ein: Unkosten und Verlust und weiter nichts.“
„Wenn wir in den letzten fünfundzwanzig Jahren im ganzen nur drei Millionen jährlich für diese Bahnen zurückgelegt hätten – und drei Millionen jährlich gleiten uns so manches Mal für nichts und wieder nichts aus den Fingern –, so wäre jetzt schon für fünfundsiebzig Millionen Eisenbahn in Asien gebaut, also ungefähr tausend Werst – mindestens! Sie sprechen von Verlust. Oh, wenn in Rußland an unserer Stelle Engländer oder Amerikaner lebten: die würden Ihnen diesen ‚Verlust‘ schon beweisen! Die hätten schon längst unser Amerika entdeckt! Wissen Sie auch, daß es dort Länder gibt, die uns weniger bekannt sind als das Innere Afrikas? Und wissen wir denn, was für Reichtümer im Schoße dieser unermeßlichen Länder verborgen liegen? Oh, die Engländer und Amerikaner, die würden schon alles hervorkratzen, Metalle und Mineralien und unzählige Steinkohlenlager, – alles würden sie finden, alles aufsuchen! Und die würden auch schon wissen, wie das Material zu gebrauchen ist, und wozu es sich verwenden läßt. Sie würden die Wissenschaft hinrufen und die Erde zwingen, fünfzigmal zu gebären, – diese selbe Erde, von der wir hier glauben, daß sie eine wie unsere Handfläche nackte Steppe sei. Zu dem erworbenen Brote würden die Menschen hinziehen und Gewerbe und Industrie mitbringen. Und um Abnehmer und den Weg zu ihnen braucht man sich nicht zu beunruhigen! – die würden sie auch dort in den Eingeweiden Asiens, wo sie jetzt noch zu Millionen schlafen, finden – und sie würden neue Wege zu ihnen bauen!“
„Wie, Sie singen das Lob der Wissenschaft und bereden uns doch zur Abwendung von der Wissenschaft und Bildung, indem Sie uns auffordern, Asiaten zu werden!?“
„Aber dort wird ja noch mehr Wissenschaft nötig sein! – Was sind wir jetzt in der Wissenschaft anderes als Laien und Dilettanten? Dort aber werden wir Schöpfer sein. Die Not wird uns zwingen zu schaffen und wird uns zu allem geschickt machen, sobald sich erst nur ein wenig selbständiger, unternehmender Geist erhebt! – So werden wir auch in der Wissenschaft Meister sein und nicht nur ewig verehrende Jünger, wie wir es bis jetzt sind. Doch das Wichtigste: unsere zivilisatorische Mission in Asien wird – das unterliegt keinem Zweifel – vom ersten Schritte an von uns verstanden werden, und sie wird uns begeistern. Sie wird unseren Mut erheben, sie wird uns Würde und Selbstbewußtsein geben – die aber hat jetzt keiner von uns, oder höchstens wenige nur ein wenig. Der Zug nach Asien würde außerdem, wenn er bei uns erst einmal anfangen wollte, für unzählige unruhige Geister ein Ausweg sein, für alle Sehnsüchtigen, alle Gelangweilten, alle grundlos Faulen, alle grundlos Müden. Baut nur einen Abzug für das Wasser, und der Schimmel und Gestank werden von selbst verschwinden. Ist aber die Sache erst einmal im Gange, dann wird sich schon niemand mehr langweilen, alle werden sich verändern. Sogar mancher Unfähige mit verwundetem, quälendem Stolz würde dort seine Erlösung finden. Wie oft haben wir es erlebt – besonders in den europäischen Kolonien –, daß Menschen, die an einem Ort die Unfähigkeit selber waren, am anderen sich womöglich als Genies erwiesen ... Rußland wird deshalb nicht zur Wüste werden, das braucht ihr wahrlich nicht zu fürchten. Zuerst werden nur wenige hingehen, doch bald werden Nachrichten von ihnen zurückkommen und wieder neue Menschen hinziehen. Und doch wird es in dem russischen Meere unbemerkbar sein. Zieht die Fliege auf dem Honigseim und richtet ihr ein wenig die Flügel zurecht! Es wird ja nur ein ganz geringer Prozentsatz der Bevölkerung hinziehen; man wird es hier nicht einmal merken, daß wir Asien bevölkern. Dort aber, – Gott, wie man es dort merken wird! Wo sich in Asien ein Russe niederläßt, dort wird auch das Land gleich russisch. Es würde ein neues Rußland entstehen, ein Rußland, das mit der Zeit das alte erneuen und ihm seinen Weg weisen und erklären könnte. Zu all dem gehört aber ein neues Prinzip und der Entschluß zur Umkehr. Und am allerwenigsten braucht es dazu großen Lärmes und großer Erschütterungen. Möge man nur ein wenig begreifen – aber auch wirklich begreifen –, daß in Zukunft Asien unser Ausweg sein wird, daß dort unsere Reichtümer liegen, daß wir dort den Ozean haben. Wenn in Europa der erniedrigende Kommunismus eingeführt sein wird, wenn sie sich dort alle zuhauf um einen Herd versammeln und mit der Zeit die einzelnen Haushaltungen auflösen und alle in Kommunen leben, wenn dort die Kinder in Erziehungsanstalten aufwachsen – drei Viertel von ihnen als Ausgesetzte –, dann wird bei uns noch überall Weite und Licht sein, Wiesen und Wälder und weiter Horizont; und unsere Kinder werden von den eigenen Vätern erzogen werden, nicht in steinernen Massen, sondern zwischen Gärten und Saatfeldern, und werden über sich noch den klaren Himmel schauen. Ja, viele unserer Hoffnungen liegen dort, und unbegrenzte Möglichkeiten, von denen wir uns hier überhaupt noch keinen Begriff machen können! Nicht nur Gold allein liegt dort verborgen. Doch zuerst tut ein neues Prinzip not! Haben wir erst das, dann werden wir auch das zur Sache nötige Geld haben. Wozu sollen wir, und besonders jetzt, in Europa, sagen wir, so viel Gesandtschaften mit so teuerem Aufwand, mit ihrem feinen Esprit und ihren noch feineren Diners, mit so zahlreichem, überflüssigem Personal unterhalten? Und was gehen uns denn – besonders jetzt – alle Gambettas an und der Papst samt dem ihn erwartenden Schicksal, und ob er auch noch so sehr von Bismarck bedrängt wird!? Wäre es nicht besser, zeitweilig sich diesem Europa ärmer zu zeigen, sich an den Weg zu setzen und die Kopeken in die Mütze zu sammeln? – ‚La Russie se recueille‘ würde es dann heißen – und währenddessen sich zu Hause zu sammeln, sich innerlich vorzubereiten? ...“
„Wozu sich denn erniedrigen?“ wird man fragen.
„Das täten wir ja gar nicht, ich habe das mit der Mütze doch nur allegorisch gemeint. Nein, wir würden uns nicht erniedrigen, sondern uns mit einem Schlage erhöhen, ja, so würde es sein! Europa ist schlau und klug und würde uns sofort durchschauen und, glaubt mir, würde uns sofort auch achten! Unsere Selbständigkeit würde zuerst natürlich stutzig machen, doch würde sie teilweise auch gefallen. Wenn Europa jedoch sieht, daß wir uns entschlossen haben, uns nach der Decke zu strecken, und daß auch wir sparsam zu sein verstehen und unseren Rubel selbst hüten und schätzen und ihn nicht mehr aus Papier machen, so wird auch Europa unseren Rubel auf seinen Märkten sofort höher bewerten. Und wenn die Europäer gar sehen, daß wir selbst Defizite und Bankerotte nicht fürchten, vielmehr unentwegt auf unser festes Ziel zuschreiten, so werden sie von selbst zu uns kommen, um uns ihr Geld anzubieten, – und sie werden es dann wie ernsten Menschen anbieten, wie Leuten, die ihre Sache gelernt haben und schon wissen, wie man etwas anfassen muß ...“
„Erlauben Sie ...“ unterbricht mich eine Stimme, „Sie sprachen da von Gambetta. Wir können doch unmöglich dort alles im Stich lassen! Nehmen wir allein die Orientfrage: die bleibt doch bestehen, und wie sollen wir sie denn nun plötzlich aufgeben?“
„In betreff der Orientfrage würde ich jetzt, in unserer Zeit, folgendes sagen: so, wie die Dinge heute nun einmal liegen, findet sich in den politischen Sphären vielleicht kein einziger, der es als selbstverständlich zugeben würde, daß Konstantinopel unser werden muß – außer vielleicht in ferner, dunkler Zukunft einmal. Worauf sollen wir also noch warten? Das ganze Wesen der Orientfrage ist augenblicklich im Bündnis Deutschlands mit Österreich enthalten, und außerdem noch in der türkischen Beute, die Österreich mit Bismarcks Genehmigung einstecken will. Wir können und werden natürlich dagegen protestieren, in irgendeinem, sagen wir, äußersten Fall; doch so lange, wie diese beiden Nationen zusammen sind, – was können wir da ohne große Gefahr für uns tun? Und eines nicht zu vergessen: die Verbündeten warten vielleicht nur darauf, daß wir endlich in Zorn geraten. Die slawischen Völker können wir wie immer beschützen und lieben, und wenn es nottut, können wir ihnen auch, so viel wie in unseren Kräften steht, helfen. Zudem werden sie in nächster Zeit wohl nicht allzu große Gefahr laufen, unterzugehen. Und wer weiß, ob diesem Zustande nicht sowieso bald ein Ende bereitet wird? Wenn wir zeigen, daß wir nicht mehr Lust haben, uns wie früher in Europa einzumischen, so werden sie sich dort, ohne uns, alle wahrscheinlich noch früher in den Haaren liegen. Denn nie und nimmer wird Österreich glauben, daß Deutschland es einzig wegen seiner schönen Augen dermaßen liebgewonnen habe. Es weiß sogar ganz genau, daß Deutschland zu guter Letzt doch die österreichischen Deutschen sich einstecken will. Österreich jedoch wird um nichts in der Welt auf seine Deutschen verzichten wollen, bewahre! – selbst dann nicht, wenn man ihm als Ersatz für sie Konstantinopel geben würde, – dermaßen hoch schätzt es sie! Somit wäre Grund zum Streit bereits genügend vorhanden. Und dann haben unsere Nachbarn immer noch diese unentschiedene französische Frage zu bewältigen, die jetzt für Deutschland vielleicht schon zur ‚ewigen‘ geworden ist. Und dann kann es noch geschehen, daß sich plötzlich selbst die ganze Einigung Deutschlands als nicht nur unvollendet erweist, sondern tatsächlich ins Wanken gerät. Und dann könnte es sich womöglich noch erweisen, daß der europäische Sozialismus immer drohender wird. Kurz, wir brauchen nur abzuwarten und uns nicht einzumischen, auch nicht, wenn sie uns rufen, und dann – wenn dort der Streit ausbricht und ihr ‚politisches Gleichgewicht‘ erzittert – dann mit einem Schlage auch unsere ganze Orientfrage erledigen, den richtigen Augenblick wählen und einfach erklären: ‚Wir wollen die österreichischen Aneignungen in der Türkei nicht anerkennen‘, und die Aneignungen werden verschwinden, vielleicht sogar mit Österreich zusammen ...
Nun, und dann werden wir schon wieder einholen, was wir zeitweilig scheinbar versäumt haben ...“
„Aber England? Sie vergessen England? Unser Zug nach Asien würde es fraglos sofort beunruhigen.“
„‚Wer England fürchtet, – der bleibe zu Haus‘ könnte auch ein Sprichwort sein. Und was würde denn England so besonders beunruhigen? Was unsere Absichten für die Zukunft betrifft, so erwartet es von uns doch sowieso das Allerschlimmste. Wenn es dagegen den wahren Charakter unserer Absichten in Asien begriffe, würde es wahrscheinlich viele seiner Befürchtungen aufgeben ... Übrigens, ich gebe zu, daß es sie nicht aufgeben würde. Doch wie gesagt: ‚wer England fürchtet, – der bleibe zu Haus!‘ Und darum nochmals: Es lebe der Sieg von Geok-Tepe! Hoch Skobeleff und seine Soldaten! Und ewiger Ruhm den Helden, die dort gefallen sind!“
[1] Tag des Attentats auf den Zaren Alexander II. E. K. R.
[2] Peter der Große. Ausdruck Puschkins. E. K. R.
[3] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1873. E. K. R.
[4] Henri von Bourbon, Graf von Chambord, letzter Sproß der älteren bourbonischen Linie, geb. 1820, gest. 1883, Prätendent auf den französischen Thron nach dem Sturz Napoleons III. E. K. R.
[5] Französischer klerikaler Schriftsteller, seit 1848 Chefredakteur des „Univers“, dem obiges Zitat entnommen ist. E. K. R.
[6] Der Graf von Chambord hatte dadurch, daß er die Gewährleistung einer Verfassung ablehnte, selbst seine Thronbesteigung unmöglich gemacht. E. K. R.
[7] Auf das Schreiben Pius’ IX. an Wilhelm I., in dem der erstere in den Kulturkampf eingreifen wollte und die ganze Christenheit für sich in Anspruch nahm, hatte letzterer bekanntlich geantwortet, er lehne als Protestant im Namen seiner Vorfahren und dem des größten Teiles seiner Untertanen jegliche Einmischung des Papstes als Anmaßung ab. E. K. R.
[8] Von Dostojewski veröffentlicht im März 1876. E. K. R.
[9] Von Dostojewski veröffentlicht im Januar 1877. E. K. R.
[10] Gemeint sind die Kämpfe der Balkanslawen gegen die Türkei im Jahre 1876, die unter begeisterter Anteilnahme des ganzen russischen Volkes geschahen und im Jahre 1877 dann auch um Eingreifen Rußlands und zum Ausbruch des Russisch-Türkischen Krieges führten. E. K. R.
[11] Von Dostojewski veröffentlicht im Mai 1877. E. K. R.
[12] Im Original gesperrt gedruckt. E. K. R.
[13] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1877. E. K. R.
[14] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1877. E. K. R.
[15] vgl. S. 88 Forts. „Das schwarze Heer.“ E. K. R.
[16] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1877. E. K. R.
[17] Von Dostojewski veröffentlicht im Februar 1876. E. K. R.
[18] Russischer Mönch, lebte im 12. Jahrhundert in Kiew, Begründer des russischen Mönchtums, Verfasser von Predigten. E. K. R.
[19] Russischer Bischof, Zeitgenosse Peters des Großen, dessen Reformen er billigte, gleichfalls Verfasser von Predigten, die im russischen Volke sehr beliebt sind. E. K. R.
[20] Von Dostojewski im April 1876 veröffentlicht, als die Möglichkeit eines neuen russisch-türkischen Krieges zum ersten Male festere Gestalt annahm. E. K. R.
[21] Von Dostojewski veröffentlicht im Juni 1876. E. K. R.
[22] Kritiker (1811 bis 1848). Bahnbrecher einer westeuropäisch, atheistisch und sozialistisch gefärbten russischen Literatur- und Gesellschaftsauffassung. E. K. R.
[23] Großfürst von Moskau (von 1462 bis 1505), heiratete 1472 Sophie Paläolog, die letzte byzantinische Prinzessin. E. K. R.
[24] Von Dostojewski veröffentlicht im Januar 1877. E. K. R.
[25] Russischer General, kämpfte 1876 mit den Serben unglücklich gegen die Türken. E. K. R.
[26] 1675–1826, Historiker und Schriftsteller. E. K. R.
[27] Held eines sehr bekannten Romanes von Turgenjeff. E. K. R.
[28] Von Dostojewski veröffentlicht im Februar 1877. E. K. R.
[29] Gestalt in einem Gedicht von Nekrassoff. E. K. R.
[30] Von Dostojewski veröffentlicht im Mai 1877. E. K. R.
[31] Karamsin schrieb damals seine „Briefe eines russischen Reisenden“. E. K. R.
[32] Von Dostojewski veröffentlicht im Oktober 1877. E. K. R.
[33] Von Dostojewski veröffentlicht im Januar 1881. E. K. R.
[34] Anspielung auf die russischen Westler und einen ihrer damaligen Lieblingsaufenthaltsorte. E. K. R.
[35] Stundisten = lutheranisierende Sekte im Süden Rußlands, wo die protestantischen Pastoren der deutschen Kolonisten für die russischen Bauern „Bibelstunden“ eingeführt hatten. Daher die Benennung „Stundisten“. E. K. R.
[36] Von Dostojewski veröffentlicht im Januar 1881. E. K. R.
[37] Von Dostojewski veröffentlicht im März 1877. E. K. R.
[38] Die Grundidee der Bourgeoisie, die am Ende des vorigen Jahrhunderts die frühere Weltanschauung ersetzt hat und jetzt zur Hauptidee unseres Jahrhunderts in der ganzen europäischen Welt geworden ist. Anmerkung von F. M. Dostojewski.
[39] In Rußland wird das zu einem Dorf gehörige Land von der Dorfbewohnerschaft gemeinsam zu gemeinsamem Nutzen bearbeitet. E. K. R.
[40] Von Dostojewski veröffentlicht im Juli 1876. E. K. R.
[41] Von Dostojewski veröffentlicht im März 1877. E. K. R.
[42] Siehe den Aufsatz „Utopische Geschichtsauffassung“. Seite 191. E. K. R.
[43] Im Jahre 1483 durch Iwan III., Großfürsten von Moskau. E. K. R.
[44] Die Lichtgestalt unter den Helden der russischen Volkssagen. E. K. R.
[45] Gemeint ist der Krimkrieg (1853–1856), dessen Veranlassung die Weigerung des Sultans war, Rußland als Protektor der griechischen Kirche in der Türkei anzuerkennen. E. K. R.
[46] Von Dostojewski veröffentlicht im April 1877. E. K. R.
[47] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1877. E. K. R.
[48] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1877. E. K. R.
[49] 1822–1885. Slawophiler Schriftsteller. E. K. R.
[50] Von Dostojewski veröffentlicht im Januar 1881 gelegentlich der Siege Skobeleffs in Mittelasien. E. K. R.
Anmerkungen zur Transkription
Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach:
F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
Zweite Abteilung: Dreizehnter Band
Politische Schriften
R. Piper & Co. Verlag, München, 1917.
Zweite Auflage
3. bis 5. Tausend
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Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben. Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.
Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
Mac-Mahon (Mac Mahon)
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