*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KULTURGESCHICHTE DER DEUTSCHEN IM MITTELALTER ***

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EX·LIBRIS

Wissenschaft und Bildung

Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens

Im Umfange von 150–180 Seiten
Geh. 1 M. · In Leinenband 1.25 M.

Die Sammlung bringt aus der Feder unserer berufensten Gelehrten in anregender Darstellung und systematischer Vollständigkeit die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung aus allen Wissensgebieten. :: :: :: ::

Sie will den Leser schnell und mühelos, ohne Fachkenntnisse vorauszusetzen, in das Verständnis aktueller wissenschaftlicher Fragen einführen, ihn in ständiger Fühlung mit den Fortschritten der Wissenschaft halten und ihm so ermöglichen, seinen Bildungskreis zu erweitern, vorhandene Kenntnisse zu vertiefen, sowie neue Anregungen für die berufliche Tätigkeit zu gewinnen. Die Sammlung »Wissenschaft und Bildung« will nicht nur dem Laien eine belehrende und unterhaltende Lektüre, dem Fachmann eine bequeme Zusammenfassung, sondern auch dem Gelehrten ein geeignetes Orientierungsmittel sein, der gern zu einer gemeinverständlichen Darstellung greift, um sich in Kürze über ein seiner Forschung ferner liegendes Gebiet zu unterrichten. Der weitere Ausbau der Sammlung wird planmäßig durchgeführt. Abbildungen werden den in sich abgeschlossenen und einzeln käuflichen Bändchen nach Bedarf in sorgfältiger Auswahl beigegeben.

Über die bisher erschienen Bändchen vergleiche den Anhang.


Wissenschaft und Bildung

Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens

88

Kulturgeschichte
der Deutschen
im Mittelalter

Von

Prof. Dr. Georg Steinhausen

Bibliotheksdirektor in Cassel

Zweite neubearbeitete Auflage.

Signet

1916
Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig


Alle Rechte vorbehalten.

Altenburg
Pierersche Hofbuchdruckerei
Stephan Geibel & Co.


Inhaltsverzeichnis.

Seite
Einleitung: Kultur und Volkstum 1
Erstes Kapitel: Zusammenstoß und erste Auseinandersetzung urdeutschen Wesens mit der Weltkultur 3
Zweites Kapitel: Erste Fortschritte deutschen Lebens im Rahmen deutscher Eigenart unter wachsender Führung der Herrenschicht (Ländlich-kriegerische Kultur) 21
Drittes Kapitel: Die stärkere Durchdringung deutschen Lebens mit der antik-kirchlichen Kultur unter zunehmender Beeinflussung durch die Romanen: Aristokratisches Zeitalter 58
Viertes Kapitel: Ausbildung einer allgemeineren Laienkultur volkstümlichen Charakters: Bürgerlich-demokratisches Zeitalter 113

[1]

Einleitung.
Kultur und Volkstum.

Eine nationale Kulturgeschichte muß vor anderen Gesichtspunkten das Verhältnis von Kultur und Volkstum in den Vordergrund stellen. Kaum einem Volke ist es beschieden gewesen, eine Kultur ganz aus sich heraus zu entwickeln, am wenigsten aber den Völkern, die auf jugendlich-barbarischer Entwicklungsstufe in den Bann der antiken, d. h. der orientalisch-griechisch-römischen Weltkultur gerieten. Je zäher und kräftiger das Volkstum, je ausgeprägter seine Eigenart ist, um so schwieriger wird die Auseinandersetzung mit einer siegreichen fremden, überragenden Kultur. Insbesondere ist das deutsche Volk schwerer und später als andere Völker zu einem solchen Ausgleich und damit zu einer einheitlichen höheren Kultur gelangt. Die Entwicklung des Volkstums, dessen Wurzeln zu einem guten Teile in den natürlichen Bedingungen des Bodens und des Klimas liegen, dem aber weiter durch langdauernde wirtschaftliche und soziale Verhältnisse frühzeitlichen Lebens ein Stempel für spätere Zeiten aufgedrückt wird, ist mit jenem natürlichen Grundstock und den in frühester Zeit erworbenen Zügen nicht abgeschlossen. Das Volkstum wird auch durch die äußere Geschichte, durch die äußere politische Zusammenfassung selbst ganz verschiedener Völkerteile, durch die Gemeinsamkeit der Geschicke ebenso wie der kulturellen Verhältnisse in seiner Entwicklung infolge der Neubildung gewisser Wesenszüge, der Änderung oder des Schwindens anderer bestimmt[1]. Werden auf der einen Seite die fremden Elemente höherer Kultur durch das Volkstum aufgenommen und verarbeitet, und bewirkt die Verbindung beider Faktoren wie das Sichdurchsetzen des Volkstums das Entstehen einer eigenen nationalen Kultur, so wird wieder das Volkstum durch die angeeignete Kultur beeinflußt. Aber der Verlauf der Auseinandersetzung wird eben mit dem größeren oder geringeren ursprünglichen Abstand der[2] beiden Faktoren, mit der größeren oder geringeren Anpassungsfähigkeit des Volkes, mit der größeren oder geringeren Neigung, seine Eigenart zu bewahren, ein sehr verschiedener. Er kann überaus wechselvoll und mannigfaltig, im einzelnen vielfach besonders charakteristisch werden. Und das ist bei der Kulturentwicklung der Deutschen der Fall. Man versteht diese nicht, wenn man nicht als bestimmende Faktoren die nationale Eigenart, das bodenständige Volkstum mit seinen Anlagen, Trieben und alten Lebens- und Kulturüberlieferungen einerseits und die sich auf alle Weise durchsetzende Weltkultur, deren Eindringen auch wieder durch einen jener zähkonservativen Art entgegengesetzten Trieb der Deutschen zu höherer Kultur, durch einen überaus bezeichnenden Lerneifer gefördert wird, andererseits ansieht. Wie das Verhältnis beider Faktoren den Gang der Kulturentwicklung und seine größere oder geringere Schnelligkeit bestimmt, wie aber aus diesem Verhältnis gerade auch die deutsche Kultur der einzelnen Zeiten selbst als Ergebnis hervorgeht, das ist ein Hauptgesichtspunkt der nachfolgenden Darstellung, die durchaus nicht etwa einen Auszug aus meiner großen »Geschichte der Deutschen Kultur« darstellt. Gerade die Geschichte der deutschen Kultur im Mittelalter ist von jenem Gesichtspunkt aus besonders merkwürdig. Am Schluß des Mittelalters war dann ein Ausgleich beider Faktoren bis zu einem gewissen Grade erreicht. Aber mit dem Einbruch neuer Wellen der höheren Kultur ergab sich ein neues Aus- und Nebeneinander, bis das bewußte Streben nach höherer und feinerer Kultivierung den Sieg davontrug und zu einer Kulturblüte führte, die dem lange kulturell abhängigen Deutschland die Führung im Reigen der Völker gab. Das wird uns später in einer Darstellung der Geschichte deutscher Kultur in der Neuzeit beschäftigen.

Fußnote:

[1] Vgl. die näheren Ausführungen in meinem Aufsatz: Kultur und Volkstum im »Archiv für Kulturgeschichte« Bd. VIII, Heft 2.


[3]

Erstes Kapitel.
Zusammenstoß und erste Auseinandersetzung urdeutschen Wesens mit der Weltkultur.

Das Gebiet des heutigen Deutschen Reiches ist bekanntlich keineswegs von jeher von germanischen Menschen bewohnt gewesen. Den Hauptteil des Westens, den Süden und den Südosten hatten vielmehr, von den Germanen durch die Gebirge Mitteldeutschlands geschieden, lange die Kelten inne. Den Osten scheinen andererseits Letten und Slawen bewohnt zu haben, aber sehr frühzeitig zurückgedrängt zu sein. Die ersten Sitze der Germanen selbst sucht man, nicht ganz ohne Widerspruch einzelner, in den Gebieten der westlichen Ostsee und auch der östlichen Nordsee. Mächtige Bewegungen der Germanen, hervorgerufen u. a. durch die Übervölkerung infolge der Beschränktheit des Kulturlandes, sind also auf dem Boden unseres Vaterlandes bis kurz vor Beginn unserer Zeitrechnung vor sich gegangen, und auch später zeigt sich deutlich eine außerordentliche kriegerische Beweglichkeit der Stämme, bis zur Völkerwanderungszeit eine zweite, noch gewaltigere Durcheinanderrüttelung und Wanderung einsetzt. Erst nach dieser Zeit, deren Endergebnis im Verhältnis zu den heute deutschen Gebieten auch ein gewaltiger Verlust im Osten durch das Vordringen der Slawen war, beginnt eine zusammenhängende Entwicklung des späteren »Deutschlands«.

Eine Kulturgeschichte der Deutschen kann erst mit dem Abschluß der Völkerwanderung oder eigentlich erst mit der Herausbildung eines »deutschen« Volkes in Staat und Kultur einsetzen. Die einst germanischen Gebiete im Osten können überhaupt erst seit ihrer späteren Kolonisierung in Betracht kommen; denn an die einstige Siedelung der Ostgermanen kann die spätere deutsche Kulturgeschichte nirgends anknüpfen. Im Westen und Süden waren freilich die früher keltischen Gebiete bis zum Rhein und über den Main hinaus bei dem Zusammenstoß mit den ein weiteres Vordringen zunächst verhindernden Römern schon mehr oder weniger lange von Germanen besetzt, die ziemlich frühe den Niederrhein,[4] gegen die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. auch den Mittelrhein überschritten, später nach Böhmen und Ungarn drangen. Vor allem ist ferner das »alte Volksland« zwischen Weser und Elbe seit alters germanisch gewesen. Auch hier hat aber die Völkerwanderung, die nur wenige Stämme, wie die Friesen, nicht mitgemacht haben, störend eingegriffen. Immerhin haben wir im ganzen in diesem Gebiet eine ununterbrochene Entwicklungslinie, und so mögen einige kurze Bemerkungen über die germanischen Zustände vorangeschickt werden[2]. Für unsere Betrachtung müssen freilich gerade die kulturell fortgeschrittensten Germanen im Westen und Südwesten, die zu dem römischen Besetzungsgebiet gehörten oder mit ihm in kultureller Berührung standen, ausscheiden. Einerseits handelt es sich hier nur zum Teil um germanische, viel mehr um keltische Bevölkerung, andererseits fielen diese Gebiete in der Völkerwanderungszeit der Zerstörung anheim, und nur ganz mittelbar wirkten die einstigen entwickelteren Zustände des römischen Germaniens in ihren Resten später nach.

Die Anschauungen über die Kultur der Germanen, wie sie gang und gäbe sind, leiden meist an zwei Grundfehlern. Man mißt ihr einerseits eine viel zu große Eigenart bei, und man unterschätzt doch andererseits wieder die bereits erreichte Höhe. Viele angeblich eigenartige Züge der Germanen sind den meisten Völkern auf niedriger Stufe gemein. Der Erscheinung der großen, aus unzureichendem Kulturland erwachsenen Wanderungen, die schon Thukydides für die Urzeit vieler Völker bezeichnend gefunden hat, entspricht der rücksichtslose Eroberungsgeist solcher Zeiten. Die natürliche, aber auch durch wirtschaftliche Gründe bedingte Raublust zeitigt Viehraub wie Frauenraub. Aus dem letzteren entspringen überall die Fehden des beleidigten Stammes oder der Sippe, und ebenso tritt überall bei den damals leicht vorkommenden Totschlägen die Sippe des Getöteten als Rächerin an der Sippe des Mörders auf (Blutrache). Aus dem kriegerisch-räuberischen Zug ergibt sich auch die überall verbreitete Sklavenhaltung. Ursprünglich verfielen diese erbeuteten Menschen dem Tode, was aber mit sakralen Gedanken zusammentraf: das feindliche Leben wird den Göttern geopfert. Menschenopfer sind auch für die Germanen nicht zu leugnen. Menschenleben, fremde wie eigenes, spielen auf dieser[5] Stufe überhaupt keine Rolle, daher die Todesverachtung des Kriegers, die Tötung von Greisen, das Aussetzen von Kindern, die Grausamkeit des Vaters gegen ein zu strafendes Kind, die blutige Härte des primitiven Strafrechts. Auch gewisse innere, seelische Zeugnisse der ungebändigten Naturkraft sind Gemeingut der primitiven Völker, so der Mangel an Selbstbeherrschung (im Trunk – die Trinkfreude hat bei den Germanen freilich besondere Ausgestaltung erfahren –, im Spiel), weiter die Unbeständigkeit, das Fallen von einem Extrem ins andere, aus »wilder Bewegtheit« in »starre Ruhe«, in die vielberufene »Trägheit«. Dem entspricht überhaupt eine große Wankelmütigkeit, ein rasches Aufflammen im Zorn, eine schnelle Beruhigung. Groß ist sodann die Übereinstimmung auf religiösem Gebiet (Ahnenkult, Seelenglaube, die Abwehr der Seelengeister durch Zaubersegen bei Krankheit usw., die Verehrung von Bäumen, Hainen, Bergen, Gewässern, die aus dem Seelenglauben sich ergebenden Totenbräuche, die Gräberbeigaben, die Totenopfer und Totenschmäuse, das Weissagungswesen [Befragen der beschworenen Seelen], die Gewinnung der höheren Gewalten durch Opfer, die Verbindung von Festen [Tänzen] und Schmäusen [Gelagen] mit den Opfern). Gewisse sittliche Züge entspringen ebenfalls allgemein den primitiveren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, so die Gastfreundschaft. Auch die germanische Achtung vor der inneren Überlegenheit der Frauen, die immerhin als eigenartig gelten darf, ist doch nicht ganz ohne Parallelen bei den klassischen Völkern (Frauen bei Homer). Andererseits ist bei vielen primitiven Völkern und so auch bei den Germanen die Frau die Hauptträgerin der Arbeit. Überall gilt auch die selbstherrliche Macht des Hausvaters, der Frau und Kinder in einer bei den Germanen schon etwas gemilderten Rechtlosigkeit unterstehen. Die Vielweiberei der Naturvölker bestätigt Tacitus für die germanischen Vornehmen. Deren Hauptmachtmittel, die keltisch-germanische Gefolgschaft, findet sich in wenigstens vergleichbarer Form bei den Griechen (die ἑταῖροι der Großen). Feste Formen haben die staatlichen Verhältnisse bei allen Völkern auf dieser Stufe noch nicht angenommen. Herrscher mit bestimmten Rechten sind die »Könige« der Germanen nicht: die versammelte Masse der Freien ist souverän. Noch äußert auch, wie überall, der Verband der Sippe, der auch Kriegs- und Wirtschaftsverband ist und im Rechtsleben als ausschlaggebender Faktor an Stelle des Einzelnen tritt, seine große Bedeutung, wenn auch[6] bei den Germanen bereits die Anfänge locker-staatlichen Lebens diese Bedeutung einschränken. Auch für die wirtschaftlichen Verhältnisse, die vielumstrittenen Agrarzustände der Germanen vor allem, ließen sich, je nach dem Standpunkt, bei anderen Völkern genug Parallelen finden. So vor allem bezüglich des Gemeineigentums am Boden.

Die wirtschaftliche Kulturstufe der Germanen darf man im übrigen nicht zu niedrig einschätzen. Heute ist man über eine verhältnismäßige Höhe des Ackerbaus bei den Germanen im ganzen einig. Sein hohes Alter ist ebenso nachweisbar wie eine sehr frühe Seßhaftigkeit der Germanen. Die dem entgegenstehende, nicht zu leugnende Beweglichkeit, die man als Beweis für nomadische Zustände angesehen hat – auch wegen des anscheinenden Übergewichts der Viehzucht –, meint man heute, wie schon Waitz, als Begleiterscheinung jenes kriegerischen Vorwärtsdringens auffassen zu sollen, wie man ja auch in der Völkerwanderung wieder zu halbnomadischen Zuständen kam. »Den jährlichen Wechsel der Feldmarken und Wohnsitze innerhalb der Sippen eines Gaus zur Zeit Cäsars« muß man dann mit Hoops als »einen kriegerischen Ausnahmezustand« ansehen.

Der wirtschaftlichen Kulturstufe entsprechen eine nicht mehr ganz primitive Lebenshaltung (Woll-, Leinen- und Pelzkleidung, Block- und Fachwerkhäuser, mannigfacher Hausrat, vor allem aus Holz) und eine neben der hauswirtschaftlichen Erzeugung etwas entwickeltere gewerbliche Tätigkeit (Böttcherei, Schnitzerei, bessere Töpferei, Schmiedekunst, in Friesland Weberei). Eine gewisse künstlerische Betätigung zeigt die altnationale Holzschnitzerei und Holzbemalung. Dem Holzschnitzwerk sind auch manche Formen, wie der Kerbschnitt, in der Metalltechnik nachgeahmt: vielleicht ist das dem antiken Stilgefühl so entgegengesetzte Flecht- und Verschlingungswerk, das später noch für den Völkerwanderungsstil als charakteristisch gilt, gleichen Ursprungs.

Vom geistigen Leben der Germanen ist nicht allzu viel zu sagen. In die Frühzeit darf man nicht allzu viel hineindeuten, am wenigsten auf Grund der viel späteren Blüte des nordischen Geisteslebens mit seiner gewaltigen Vorstellungswelt. Die Formenfülle der Sprache, deren Klang den Römern naturgemäß höchst barbarisch und rauh erschien, ist nichts eigenartiges. Auch die poetisch-sakrale Pflege der Sprache in rhythmischer Form bei feierlichen Akten ist primitiven Völkern gemeinsam (mit Tanz, d. h. feierlichem Schreiten im Kreise verbundene sakrale Chorgesänge).[7] Aus den Totenklagen durch einzelne Vorsänger entwickelten sich episch-balladenartige Gesänge einzelner. Episch eingeleitet wurden auch wohl die Zaubersprüche, die Beschwörungen, episch gefärbt war auch die sonstige Spruch-, vor allem die Rätseldichtung, deren uralte Übung jedenfalls auf kein niederes geistiges Leben hindeutet. Eigenartig ist vor allem die rhythmische Form der poetischen Rede bei den Germanen gewesen, die Alliteration, die wir mit Sicherheit für eine sehr frühe Zeit annehmen dürfen.

Trotz der betonten starken Gleichförmigkeit der Menschen und ihrer Einrichtungen auf primitiven Stufen haben sich uns für die Germanen überhaupt manche eigenartigen Züge ergeben. Auch was über den späteren deutschen Menschen im allgemeinen gesagt werden kann, darf vielfach schon auf Züge aus germanischer Zeit zurückgreifen, insbesondere muß der Individualismus, wenn auch nur eine rohe und unausgeglichene Form desselben, bereits für die Germanen hervorgehoben werden. Für diesen individualistischen Zug seien noch einige Belege hinzugefügt. Cäsar (D. b. g. IV, 1) schon hat ihn besonders betont; er spricht von der »Ungebundenheit des Lebens, da sie, von Kindheit an an keine Pflicht oder Zucht gewöhnt, nichts gegen ihren Willen tun«. Und Tacitus (Ann. XIII, 54) fügt, als er von zwei Häuptlingen spricht, die die Friesen »regierten«, ironisch hinzu: »soweit Germanen überhaupt regiert werden.« Ein andermal (Hist. IV, 76) heißt es bei ihm: »Die Germanen lassen sich nichts befehlen noch sich regieren, sondern tun alles miteinander rein nach ihrem Belieben.« Stärker kann der neben der Innerlichkeit wichtigste Zug der späteren Deutschen nicht gut betont werden.

Es kamen die Zeiten der näheren Berührung mit den Römern, die Zeiten des friedlichen Eindringens der Germanen in das Heer und schließlich den Beamtenstaat der Römer, weiter die Ansiedelung germanischer Stammesteile in dem entvölkerten Römerreich, endlich der kriegerische Ansturm gegen dasselbe und dessen Zertrümmerung während der sogenannten Völkerwanderung, deren Anstoß aus dem fernen Osten kam. Für die Entwicklung der späteren deutschen Kultur ist es nun von größter Bedeutung, wie weit die Innergermanen – nur um diese handelt es sich für uns – in diesen Jahrhunderten von der römischen, d. h. der Weltkultur bereits beeinflußt wurden.

[8]

Hierbei ist zunächst festzustellen, daß südliche Einwirkungen durch den Handel schon lange vorher bestanden. In der Bronzezeit kamen die Bronze und das Gold nach Norden wie der begehrte Bernstein in das südliche Europa auf alten, häufig durch reiche Depotfunde feststellbaren Handelswegen, die, meist Flußläufen folgend, über Land Europa durchquerten. Viel südliches vermittelten auch die Kelten. Jetzt soll es sich aber um unmittelbare römische Einflüsse handeln. Da sind einmal die Jahrhunderte schärfer als bisher auseinanderzuhalten. Es ist ferner wohl zu beachten, ob es sich um Übernahme rein äußerlicher, durch den Handel eingeführter Dinge oder um innere, wirklich kulturelle Beeinflussung handelt. In der Tat waren die Einwirkungen anfänglich recht gering, die Beeinflussung des eigentlichen Germaniens rein äußerlich. Die frühen Römerzüge in das Innere blieben ohne Nachwirkung. Folgenreicher war die germanische Reisläuferei: mancher Söldner mochte allerlei Römisches später in die Heimat bringen. Das wichtigste bleibt aber der Handel. Der Handelsverkehr zwischen Römern und Germanen scheint sich früh besonders auf den Menschen-(Sklaven-)handel erstreckt zu haben; für Menschen wurde Wein eingeführt. Natürlich haben die römischen, uns auch durch Cäsar und Tacitus bezeugten Händler, die kühn sogar weit nach Norden drangen – selbst in Skandinavien kannte man römisches Geld –, bald auch andere Dinge gebracht, wie die Funde zeigen, vor allem Metallgeräte und -gefäße, Schmucksachen, Waffen, vielleicht auch Pfeffer.

Eben die Funde helfen uns besser über die Einzelheiten des römischen Einfuhrgutes unterrichten als die Lehnwörter, auf die man sich sonst stützt. Von den Funden zeigen zunächst die Münzen, daß stärkerer römischer Handel vor Nero nur bis an die Ems drang und nach dem eigentlichen Innergermanien erst gegen Ausgang des 2. Jahrhunderts einsetzt. An eingeführten römischen oder provinzialrömischen Gegenständen kommen in Betracht: Bronzegefäße (italische [kapuanische Bronzeeimer und Kasserollen], später gallische, besonders vom Niederrhein stammend), Gläser, Tongefäße (Terra sigillata), daneben seltener und meist erst später Gürtelschnallen, Fibeln u. dergl., möglicherweise auch Trinkhornbeschläge, die aber ebenso wie die Hängezierate unter römischem Einfluß in Germanien selbst hergestellt sein können. Daß derlei im germanischen Norden und auch im inneren Deutschland begehrt wurde, bestätigt wieder, was bereits über die nicht zu unterschätzende Lebenshaltung und Kulturstufe der Germanen[9] gesagt wurde. Die Gefäße scheinen übrigens durchweg mit dem Weinhandel zusammenzuhängen. Was wir sonst von Entlehnungen wissen, betrifft die römischen Besetzungs- und Grenzgebiete an Rhein und Donau, von denen sie erst viel später durch Vermittlung des fränkischen Staates und der Kirche ins Innere drangen. Dahin gehören die römisch gearteten Bezeichnungen der Wochentage (zum Teil nur Übersetzungen) und die Übernahme der römischen Zeitrechnung; die Germanen zählten sonst nach Nächten (noch im 16. Jahrhundert Briefschlußformel: Hiermit viel guter Nächt) und hatten das Mondjahr. Dahin gehört alles, was mit der Weinkultur, mit der feineren Obst- und Gemüsekultur, der Kochkunst, auch schon mit dem Steinbau zusammenhängt; dahin die Reihe der Münz- und Gewichtsbezeichnungen u. a. In jenen Gegenden wird aber infolge der innigen Berührung auch eine starke, freilich nicht zu übertreibende und im eigentlichen Sinne wesentlich nur für die westlichsten, wirklichen Grenzgebiete (Moselland) geltende[3] Romanisierung des ganzen Lebens bis zu einem gewissen Grade behauptet werden können, und das Fundmaterial soll sogar zeigen, daß gerade die wenigen germanischen Stämme dieser Gebiete derselben viel geringeren Widerstand entgegensetzten als die keltischen. Wie der Saterdag (Saturntag, engl. saturday) nur in niederrheinischen Landen vorkommt, so ist dieses den Römern (Plinius) am besten bekannte Gebiet auch sonst eine Hauptstätte römischen Einflusses, wie sich diesem ja schon früh die Ubier oder, wie sie sich lieber nennen hörten, die Agrippinenser gern hingaben. Im übrigen verfielen hier aber diesem Einfluß weniger Germanen als Kelten; von ihnen kam durch Händler manches Römische auch zu den Friesen und weiter zu den übrigen Küstengermanen, viel mehr als zu den anscheinend allem Römischen und Keltischen mehr abgeneigten Germanen am rechten Ufer des Niederrheins.

Wohl zu unterscheiden von diesem römischen Einflußbereich ist aber Innergermanien, vor allem Nordwestdeutschland. Hier ist, wie gesagt, in den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. von wirklichem römischen Einfluß keine Rede, auch noch kaum von römischer Handelsware. Auch Tacitus bestätigt für seine Zeit, daß nur die Grenzgermanen allerlei Römisches annahmen und erhandelten, nicht die Innergermanen. Der Überlandverkehr[10] im Osten (Bernstein) hat dorthin allerdings namentlich seit Neros Zeiten schon viel römisches Handelsgut gebracht; ebenso mag der Seehandel den Küstengermanen mancherlei eher vermittelt haben als denen im Binnenlande. Vor allem zeigt dies die fehlende Beeinflussung der heimischen Keramik. Im Laufe der Zeit aber wuchsen die Einflüsse infolge der Beziehungen zu den römischen Provinzen und des wachsenden Einströmens von Germanen in römische Dienste. In spätrömischer Zeit muß z. B. die Wein- und Obstkultur schon weiter nach Osten gedrungen sein. Man hat in Pfahlbauten in Fulda aus dieser Zeit Trauben- und Pfirsichkerne gefunden. Später wirkten sodann Einflüsse von der Donau her. Die die Grenzen bedrängenden Markomannen mochten auch durch friedliche Berührungen mannigfache Einwirkung erfahren. Am meisten gewannen in dieser Beziehung die Goten, zumal in der von ihnen besetzten dazischen Provinz, von der höheren Kultur, bekanntlich auch bereits vom Christentum. Im Westen aber waren es die neuauftretenden großen Stämme der Franken und Alemannen, die immer heftiger die römischen Grenzlande bedrängten und sie weiter und weiter in Besitz nahmen oder sich durch Einwanderung festsetzten. Franken und Alemannen stellten auch das Hauptkontingent als Söldner für das römische Heer, das zu Ende des 4. Jahrhunderts überhaupt überwiegend germanisch war. Trotzdem nun die Alemannen als die typischen Barbaren, als rohe, wilde Zerstörer galten, zeigen sie ebenso wie die Franken bald erheblichere römische Einwirkungen. Beide wurden nun zu wirklichen Bauernvölkern; die Lebenshaltung nahm mancherlei Römisches an. Die Alemannen hatten nach Ammianus Marcellinus um die Mitte des 4. Jahrhunderts nach römischer Art erbaute Dörfer, d. h. sie wohnten z. T. schon in Steinhäusern oder verwendeten bei ihren Häusern wenigstens schon stärker die Steine. Ganz anders steht es aber noch immer bei den Stämmen des Nordwestens, den Friesen und den jetzt ältere Stämme vereinigenden Sachsen. Immer bleibt es zwar bei dem erwähnten römischen Einfuhrgut: sonst ist aber weder von höherer Landwirtschaft, Obst- und Weinkultur, Steinbau noch von sonstigen vorgeschritteneren Kulturerscheinungen wichtiger Art die Rede. Indessen ist auch für die zum Teil stärker romanisierten Westgermanen, insbesondere die Franken, festzuhalten, daß die germanische Eigenart trotz allen äußerlichen Entlehnungen durchaus bewahrt wird. Das zeigt im Kunsthandwerk vor allem jener sogenannte[11] »Völkerwanderungsstil«, auf den hier nicht näher eingegangen sei.

Das zeigt aber auch Art und Wesen der Franken selbst dann noch, als sie nach den Stürmen der Völkerwanderung ihr großes Reich gegründet hatten. Es sollte von all den Reichsgründungen auf römischem Boden – von dem Sonderreich der Angelsachsen abgesehen – allein dauernden Bestand haben und für die späteren Deutschen eine grundlegende kulturelle und staatliche Bedeutung gewinnen. Vom Standpunkt der Weltkultur aus gesehen bedeutete die Zeit der Völkerwanderung, der Zertrümmerung des römischen Reiches, zweifellos eine schwere Erschütterung. Immerhin ist von einer Vernichtung der bisherigen Kultur nicht die Rede. Die Zeitgenossen empfanden nichts von einem Abschneiden der bisherigen Entwicklung. Das römische Reich ist in den Augen der Völker nicht zugrunde gegangen: Kaisertum und Christentum blieben lebendig. Die kulturellen Überlieferungen lebten vor allem in der Kirche fort, abgesehen von Byzanz, dem eigentlichen Rückzugsort der Kultur und des staatlichen Wesens der Antike. Für den neuen Entwicklungsabschnitt des Abendlandes war eine eigenartige Mischung von Römertum, dem mit ihm schon verbundenen Christentum und germanischem Barbarentum bezeichnend. Aber als kriegerisch-politische Macht von urwüchsiger Kraft hat gerade das Frankenreich die Verhältnisse des gesamten Abendlandes neu gefestigt: als karolingisches Universalreich trat es auch äußerlich an die Stelle des römischen Reiches. Für die romanische Welt bedeutete das Frankenreich die Fortdauer der Barbarenherrschaft, die Franken selbst aber wurden gelehrige Schüler der Romanen, ohne doch ihre Eigenart aufzugeben. Als sich später ein östliches, eigentlich deutsches Reich bildete, blieb wieder bei diesem die militärisch-politische Vorherrschaft, und die Idee der Fortdauer des römischen Reiches haftete auch an ihm: aber für Franzosen und Italiener blieben die Deutschen die »Barbaren«, und diese suchten von jenen immer wieder zu lernen, als den Erben der auch in ihren Trümmern überlegenen alten Kultur.

Schon im Frankenreiche selbst bestand ein ähnliches Verhältnis. Der kulturelle Schwerpunkt lag in seinem romanisierten Westen, aber der politisch wirksame Teil war der schon ganz germanisch gewordene Osten mit seiner frischeren Volkskraft. Dazu kam nun die Richtung der kulturell-politischen Betätigung des Frankenreichs nach Osten, wodurch auch die auf altem Germanenboden[12] gebliebenen Stämme, zuletzt die urwüchsigsten von allen, die Sachsen, dem Frankenreich einverleibt wurden. Für diese Stämme bedeutete das eine (nach Osten immer geringere) Annäherung an die höhere römisch-germanische, fränkische Kultur, einen neuen Abschnitt der Entwicklung. Das fränkische Reich wurde der Vermittler der von ihm aufgenommenen Elemente der römisch-christlichen Kultur. Freilich handelt es sich um eine aus den verschiedenen Elementen neu schaffende, eigenartige fränkische Mischkultur. Trotz der Durchdringung römischen und germanischen Wesens ist es aber nützlich, kurz die römischen Elemente, die zunächst dem Frankenreich, dann durch dieses und vor allem später durch die Kirche den Deutschen vermittelt wurden, für sich zu überblicken, wie ich das ausführlicher in meiner »Geschichte der deutschen Kultur« (I², S. 74 ff.) getan habe.

In der äußeren Lebenshaltung handelt es sich da zunächst um den (übrigens auch im Frankenreich noch sehr beschränkten) Steinbau, um Hausgerät (Tafeltuch, Kissen, Sack, Flasche, Kelch, allerlei Metallgeschirr, Metallspiegel, Schlüssel, Kette u. a.), Beleuchtungsgerät (Kerze, Öllampe), von Trachtstücken nur um das Hemd und die Socke und gewisses Schuhwerk, um allerlei Schmuck und Zierat, um den Kopfputz der Frauen, den Siegelring, weiter um neue oder veränderte Waffen (Hakenlanze, Langschwert), um Verfeinerung der Körperpflege (Haar- und Bartpflege) und des Badewesens, um die Bekanntschaft mit einer vorgeschritteneren ärztlichen Kunst, um neue Musikinstrumente (Pfeife, Fiedel) und Spiele (Brettspiel). Man lernte sodann eine feinere Kochkunst, namentlich auch die bald übertriebene Verwendung neuer Gewürze – vom Pfeffer war schon die Rede –, eine feinere Backkunst, gewöhnte sich z. T. auch an leichtere Kost (Gemüse, Früchte, Fische), worauf später auch die Kirche hinwirkte, und an größere Mäßigkeit im Essen, namentlich bezüglich des Frühmahls. Am Wein, den man auch würzte, fand man immer mehr Geschmack; das Bier galt seit der Christianisierung zunächst als heidnisches Getränk. Die Weinkultur drang immer weiter vor, im 7. Jahrhundert in die Pfalz, nicht minder die gleichfalls von den Römern übernommene Obst- und Gemüsekultur, auch das Okulieren und Pelzen. Man lernte zu den früher schon eingedrungenen Arten neue weitere kennen. Von den Römern übernahm man ferner die Wiesenkultur, die Düngung des Bodens, die Wassermühle, bessere Butter- und Käsebereitung, die Wollschur. Weiter beruhte der Handel vielfach auf römischen Elementen. Für das fränkische[13] Münzwesen war Rom selbstverständlich das Vorbild: von einer wirklichen Geldwirtschaft konnte bei den wieder ganz naturalwirtschaftlichen Zuständen sonst keine Rede mehr sein. Zu den heimischen, übrigens jetzt vielfach vervollkommneten Gewerbsarten kamen neue hinzu, die der Maurer, der Glaser, der Schlosser.

Gewisse Elemente höherer Technik, etwa beim Straßenbau (strata), und auch der großen Kunst retteten sich aus der Antike in die spätere Überlieferung. Letzteres geschah wesentlich durch die Kirche. Schon der Kirchenbau geht in seiner Grundform, der Basilika, auf die Antike zurück, und selbst in den eigenartig entwickelten späteren Kirchenstilen, dem romanischen vor allem, ist doch an römische Grundelemente angeknüpft. Aber eben nur die von der Kirche übernommenen Kunstelemente konnten noch wirken, nicht mehr die eigentliche Antike. Ganz treffend weist Dehio darauf hin, wie verständnislos die Barbaren die römischen Baudenkmäler in den Rheinlanden anblickten. Aber immerhin wirkte die antike Kunst auch in der kirchlichen Vermittlung doch eben noch als lebendige, wenn auch beschnittene und verkümmerte Antike, so zuletzt in der karolingischen Renaissance.

In sozialer Beziehung blieben bei der nunmehr sich bildenden Grundherrschaft – die eindringenden Germanen setzten sich von Anfang an als große und kleine Grundherren fest – die Abhängigkeitsverhältnisse der Zinsleute nicht ohne römische Beeinflussung (durch die Domänenwirtschaft und die Übertragungsformen der Precarei [von der Kirche ausgebildet] sowie die eigentliche Kommentation, durch die sich einer in den Schutz eines Mächtigen begab) (s. S. 38 f.). An die römische Immunität knüpfte sich später eine bedeutsame Entwicklung (s. S. 42). Das Staatswesen, die Verfassung und die Auffassung der öffentlichen Ämter blieben im Grunde germanisch, aber, soweit es die sich immerhin entwickelnden Verhältnisse erforderten, waren römische Einrichtungen doch nicht ganz ohne Einwirkung. Dem entwickelten Finanz- und Steuerwesen waren die Franken, wie ja in Westeuropa nun allgemein ein naturalwirtschaftlicher Rückschlag hereinbrach, nicht gewachsen, aber das später so wichtige Zollwesen behielten sie dauernd. Infolge der Verwendung im öffentlichen Leben vor allem übernahmen sie die römischen Monatsnamen. Die Verwaltung der späteren Zeit zeigt in manchen Dingen Spuren römischen Einflusses, vor allem die Kanzlei. Gewisse Einzelheiten des Beamtenstaats ferner, die man aber auch noch umgestaltete, wurden übernommen (Grafenamt)[14] oder mit germanischen Dienstverrichtungen verknüpft. Das seit der Wanderungszeit viel fester ausgebildete Königtum wurde nun römisch gefärbt, wenn auch sein Grundcharakter, ebenso wie der der fränkischen Verfassung überhaupt, germanisch bleibt. Es wirkte aber die absolutistische Auffassung der Romanen; die Ausübung der Regierungsgewalt ähnelte mehr und mehr dem Wesen des Imperiums, dem man auch gewisse Titel entnahm. Die Salbung und die Insignien wie Zepter und Krone kamen später auch hinzu. Schließlich ist dann der Begriff des universalen Kaisertums selbst wieder aufgetaucht, wohl durch den Einfluß der Kirche, und als eine sehr hochgehaltene Erbschaft von den Germanen dauernd bewahrt worden. Das römische Recht war zu entwickelt und fremdartig, als daß es auf die Germanen übergehen konnte. Das geschah erst im ausgehenden Mittelalter. Die Kirche lebte aber natürlich nach römischem Recht, und in Italien war es überhaupt nicht nur einigermaßen lebendig geblieben, sondern auch weiter entwickelt. Aus dem Strafrecht gingen übrigens das Gefängniswesen (Kerker, Kette) und die Folter früh auf die Franken über. Die entwickelteren Verhältnisse erforderten ferner die Aufzeichnung des heimischen Rechts, d. h. der einzelnen Stammesrechte. Sie erfolgte unzweifelhaft nach römischem Beispiel – wie denn auch die Zeitfolge der Aufzeichnungen der stufenmäßigen Annäherung der Stämme an die höhere Kultur entsprach, von der noch unter Chlodwig (Ende des 5. Jahrhunderts) niedergeschriebenen Lex Salica bis zu der erst unter Karl d. Großen erfolgten Aufzeichnung des friesischen und sächsischen Rechts. Sie erfolgte auch durch lateinisch gebildete Leute und in lateinischer Sprache.

Das war insofern kaum anders möglich, als schreiben noch lange nur lateinisch schreiben bedeutete. Dieses Schriftwesen mit dem damals so wichtigen Urkundenwesen war eine der wichtigsten Kulturerrungenschaften, die die Franken und die späteren Deutschen dem Römertum verdankten, aber es blieb lange ein fremder, bald mit Respekt, bald mit Scheu betrachteter Bestandteil im deutschen Leben, wie die gesamte höhere Bildung und die völlig römisch-romanische Wissenschaft überhaupt. Schrift-, Schul- und Bildungswesen wie die Gelehrsamkeit waren unter gründlicher Minderung des in Gallien erreichten Hochstandes auf den eigentlichen Träger der Romanisierung, auf den Klerus, als Monopole übergegangen und wurden in elementaren Formen weiter überliefert. Der Geistliche pflegte allein die Sprache, die das Mund- und Ausdrucksstück[15] für alle diese höheren Dinge war und die Grundlage aller Bildung und Kultur darstellte, das Latein, das sich freilich immer mehr den neuen Ansprüchen anpaßte und von Klassizität weit entfernte. Da das entwickeltere Leben die Beurkundung so vieler Vorgänge erforderte, wurde der Geistliche als Handhaber der Schrift auch der Beherrscher der weltlichen, der staatlichen Verwaltung, der Kanzlei. Aber das unerhörte Joch dieser fremden Sprache war vor allem deshalb dauernd aufgerichtet, weil sie die Sprache derjenigen Macht war, die als ein fremdes, orientalisches Element schon der Antike siegreich eingefügt war, die nun als durchaus romanisch von vornherein zu dem germanisch gebliebenen Staat wie erst recht zu dem eigentlichen Volksleben im Gegensatz stand, gleichwohl, wenn auch ihrerseits beeinflußt und »barbarisiert«, auf beide einen immer stärker beherrschenden Einfluß ausübte, der christlichen Kirche. Sie war das Gefäß des neuen Glaubens, der freilich schon wie der Steinbau vor der Gründung des Frankenreichs von den Römerstädten am Rhein und in Noricum aus sich ein wenig verbreitet hatte, zum Teil in der Form des Arianismus, wie manche griechische Lehnwörter (Kirche, Engel, Pfingsten, Samstag u. a.) zeigen sollen[4], der nun aber allgemein, wenn auch zunächst nur äußerlich, auf die Franken und Deutschen überging. Seine Verbreiter, die Geistlichen, schon durch ihre römische Tracht vom Volk geschieden, waren überhaupt die Vertreter des fremden Kulturgeistes, der später auch über das zunächst bei seiner Art bleibende deutsche Volk kommen sollte, Erzieher zu höherer Religion und Sittlichkeit, zu geistiger Kultur, ebenso aber Träger antiker künstlerischer Überlieferungen sowie vor allem jener segensreichen wirtschaftlichen Fortschritte und Bereicherungen. Aber diese Geistlichen, anfangs aus Romanen ergänzt, waren schließlich auch Deutsche, und so färbte denn wieder deutsche Volksart auch sie, und man kam miteinander aus.

Bei der Übermittelung der Elemente der höheren Kultur, also bei der Romanisierung, war die Kirche überhaupt sehr bald die eigentlich treibende Kraft geworden, nicht um der Kulturmission selbst, vielmehr um der Ausbreitung des Christentums willen, bei der jene Mitteilung der absichtslos bewahrten Kulturgüter sich ganz von selbst ergab. Das erste ist also immer die Christianisierung, und so haben denn auch die späteren »deutschen«[16] Stämme aus dem Frankenreich von all dem genannten römischen Gut zuerst nur gerade das am wenigsten antike, aber um so mächtigere Element des Christentums übernommen, trotzdem ihrem jugendlich-frischen Geist der starr-fanatische orientalische Gottesglaube, das formalistische, metaphysische Gedankengewand, das ihm der überkultivierte hellenistische Geist in seinem Absterben, die Kulturmüdigkeit des späteren Altertums, gegeben hatte, das hierarchische Organisations- und Machtsystem, das Rom hinzugefügt hatte, geradezu entgegengesetzt waren. Aber wie der Frankenkönig Chlodwig das Christentum wesentlich nur aus äußeren Gründen annahm, so konnte auch die später vom Frankenreich ausgehende Christianisierung der innerdeutschen Stämme nur äußerlich sein. Der langsame äußere Fortgang der Christianisierung bleibe hier beiseite. Unter Karl d. Gr. erreichte sie endlich auch die Sachsen. Auf die Art des Christentums kommen wir im nächsten Kapitel (S. 28 ff.) noch zurück.

Die Christianisierung ist also in ziemlich früher Zeit für das spätere Deutschland äußerlich vollendet, von sonstiger Romanisierung kann man aber noch auf lange hinaus nicht sprechen. Mit Ausnahme gewisser Äußerlichkeiten waren die Stämme eben doch für die höheren Kulturelemente einfach noch unempfänglich. Die Romanisierung machte schon im Osten des eigentlichen Frankenreichs, der selbst ziemlich weit links des Rheines überwiegend germanisch geworden war, nur langsame Fortschritte. Der Hauptteil der Franken blieb überhaupt nicht nur städte-, sondern auch bildungsfeindlich. Es waren Bauern geworden auf eigenen Höfen mit eigenen Äckern, Bauern, die nun auch schon Wein, Obst und Gemüse bauten, aber noch ihre Waffen nicht abgelegt hatten; sie lebten in der Markgenossenschaft als Nachbarn in gemeinsamer, alle bindender Ausübung der Wirtschaft mit gemeinsamen Rechten an der Allmende. Der Sippenverband hatte mit den Zeitverhältnissen freilich schon an Bedeutung verloren, aber fest stand das alte Gefüge der eigentlichen Familie. Schon hatte aber größere soziale Ungleichheit durch vermehrten Besitz, Verleihung von Königsland usw. Platz gegriffen. Schon suchte der neue Adel kleine Leute zu Zinsbauern herabzudrücken, oft mit Gewalt. Andererseits trieben wirtschaftliche Nöte oder Kriegslasten manchen in den Schutz eines Mächtigen oder der Kirche. Eine Sonderung der Stände ist indes noch nicht eingetreten. Von der souveränen Macht der Gesamtheit der Freien ist freilich nicht mehr die Rede: außerordentlich ist die Königsmacht, die[17] auch die Mitwirkung des Volkes im Rechtsleben in gewisser Weise schmälerte[5], gewachsen – sogar über die Befugnisse der alten Volksgemeinde hinaus –, aber auch schon die Macht der Großen. In deren Lebenshaltung ging auch mehr Römisches über als in die der übrigen Franken, die auch in der Tracht trotz einiger Zutaten (dem leinenen Hemd), der Ausbildung des Gürtels und mancher Vervollkommnung germanisch blieben, freilich nicht mehr, wie jetzt nur noch der König, das Haar herabwallen ließen und nur einen Lippenbart trugen. Der Luxus im Gürtelschmuck, in Spangen, Ringen, Halsschmuck, beim Hausrat und bei den Waffen, die Verwendung von Perlen, Edelsteinen, Silber und Gold bleibt auf die Vornehmeren beschränkt. Dergleichen Zierat verstanden aber die Franken bereits selbständig herzustellen; und in der Verzierungsweise bewahrten sie durchaus germanische Eigenart (Flecht- und Verschlingungswerk). Echt volkstümlich war die alte Gelagefreude, war der alte Brauch der Chorgesänge, die Bewahrung der Zauberlieder, war die Freude an epischen Vorträgen. Gerade aus den sturmreichen Zeiten der Völkerwanderung heraus war erst bei den Goten und dann bei den übrigen Stämmen der Heldensang erblüht, getragen von einer Art Sängerstand.

Alles dies gilt wesentlich von den östlichen Franken: die westlichen, die unter einer viel stärkeren romanischen Bevölkerung saßen, haben sehr rasch viel mehr von romanischer Art angenommen, ähnlich den Goten usw. Wenn nun aber von dieser Art schon durch die Zugehörigkeit zum Frankenreiche allmählich vieles auch auf die östlichen Franken überging, so folgten dieser Entwicklung die übrigen östlichen und nördlichen Stämme doch viel, viel langsamer. Anders liegt die Sache naturgemäß nur im Süden, im einstigen Noricum und Raetien, also auch in Teilen, die jetzt die Bayern besetzt hatten. Hier war von der romanisch-keltischen Bevölkerung, trotzdem Odoaker große Teile nach Italien hatte bringen lassen, doch viel sitzen geblieben, so in den »Walchenorten« (mit Walch-, Wal- zusammengesetzte Ortsnamen), so in dem wesentlich von Romanen bewohnten Regensburg, das ganz als römische Stadt weiter bestand. Vieles von der römischen Kultur blieb so ungestört erhalten. In den eigentlichen Alpenländern, in Oberbayern, dem heutigen Tirol und der rätischen Schweiz, steigt der romanische Anteil und damit die romanische Beeinflussung der Lebenshaltung, die sich in manchen[18] Resten (wie in der Sprache) noch heute zeigt. Die Almwirtschaft ist wesentlich romanisch; ebenso trieb man den Weinbau in den Talgegenden in römischer Weise weiter und verbreitete ihn auch nach Norden. Romanische Einflüsse zeigt weiter nördlich überhaupt die Landwirtschaft, aber auch Handwerk und Kunstgewerbe, wie die weiter blühende Waffenindustrie in Regensburg. Römische Münzen liefen noch lange um. Auch in den nunmehrigen Sitzen der Alemannen (Schweizer Vorlande, Schwaben, Baden, Elsaß) wirkte zum Teil die Kultur der einst keltischen, dann romanisierten Bevölkerung einigermaßen nach (vgl. schon oben S. 10). Diese Alemannen, ein einheitlicher Stamm, wie ihr Recht und wie die nur ihnen eigene Kultur des Dinkels zeigen, kamen den Franken am nächsten, aber waren durchaus die Empfangenden ebenso wie die Bayern. Wieder etwas mehr zurück standen die Thüringer, die im übrigen von den Franken besonders beeinflußt wurden, noch mehr zurück die erst spät dem fränkischen Reich angegliederten Friesen, die trotz ihres frühen Seeverkehrs, ihrer Wollweberei und ihres Tuchhandels, trotz ihrer ständigen Berührung mit den Franken und ihrer frühen Bekanntschaft mit den Erzeugnissen höherer Kultur zäh am Alten hingen, und die Sachsen, die das Gegenbild zur fränkischen Kultur darboten. Auch bei den vorgeschrittensten Stämmen ist aber von einer Romanisierung nicht die Rede. Folgenreich war nur, daß sie alle, die Sachsen unter Trennung von den mit ihnen enger verbundenen, noch länger ihre volle Eigenart bewahrenden Nordgermanen[6], zu einem politischen Ganzen, zunächst gewaltsam, vereinigt und an das jetzige Ausgangsgebiet höherer Kultur angegliedert wurden. Damit waren die Möglichkeiten, die die starken Stammesgegensätze, die wenig beschränkte politische Selbständigkeit z. B. der Bayern, Alemannen usw. und die große kulturelle Verschiedenheit in sich bargen, beseitigt und auch die Grundlage zu einer späteren, zunächst nur christlichen, noch nicht nationalen Kulturgemeinschaft gegeben. Andererseits war ja auch der politische Charakter des Frankenreichs überwiegend germanisch geworden, nur die Kirche stellte das Romanentum dar. Das Werk Karls d. Gr. war dann noch jene Angliederung der Sachsen. Die nunmehr im Frankenreich vereinigten großen Teile germanischer Herkunft konnten freilich auf die Dauer mit den romanischen Teilen im Westen[19] nicht vereinigt bleiben. Aus dem fränkischen Reich und der karolingischen Universalmonarchie, die bald zerfiel, blieb aber die dauernd wirksame Grundanschauung bestehen, daß die später im ostfränkischen, dann im deutschen Reich vereinigten »Barbaren« bezüglich der höheren Kulturelemente auf den romanischen Westen bzw. Süden angewiesen waren.

Bewußt nahm diese Aufgabe der »Kultivierung«, d. h. der Romanisierung Karl d. Gr., der als Ostfranke weit mehr als einst die romanisierten Merowinger seine eigene Zurückgebliebenheit empfand, trotz aller Vorliebe für das germanische Volkstum in Angriff. Die von ihm geförderte Bildungsbewegung, die man nicht ganz treffend als karolingische Renaissance bezeichnet – denn noch war die Antike eine von selbst wirkende Kraft, und es handelt sich um ein letztes Zeichen dieser unmittelbaren Wirkung –, ist insofern besonders geartet, als Karl durch die Verbindung mit Italien wieder auf die reineren Elemente der Antike zurückging. Besser als in Gallien, wo allerdings die Kirche die Reste der verfallenden römischen Bildung rettete, hatte sich diese bei den Angelsachsen gehalten; auf sie, die überhaupt auf die Franken einen bedeutenden kulturellen Einfluß übten, d. h. auf Alkuin stützte sich auch Karl. Aber es war doch eine rein auf der Person des großen Herrschers beruhende, durchaus höfische Bewegung. Und der wichtigste Faktor dieser karolingischen Kulturpolitik war doch die mächtiger gewordene orthodoxe Kirche, die schon Pipin viel zu verdanken hatte und die von Karl äußerlich und innerlich gestärkt, freilich selbst in rein kirchlichen Fragen noch völlig beherrscht wurde. Seine wesentlich formalen Bildungsbestrebungen (Neubelebung des Lateinischen) waren auch durchaus von christlichem Geiste erfüllt und sollten namentlich den Geistlichen zugute kommen. Eben diese christliche Zielsetzung aller Bildungspflege entstammte vor allem dem Geiste Alkuins. Die Kirche sah andererseits, was auch für die spätere Aufnahme des Kaisertums durch die Ottonen, überhaupt für das ganze Mittelalter bestimmend wurde, im fränkischen Reich ihre Stütze, wie ja gerade das Papsttum erst durch die Verbindung mit den »nordischen Barbaren« groß geworden ist, und zugleich das berufene Organ für die Durchführung ihrer Ideen. Karl sah wieder im Christentum das gegebene Mittel, seine Völker zu höherer Gesittung und Bildung zu bringen; seine Schulbestrebungen gehen nur auf christliche Unterweisung aus. Und wenn Karl, dessen »Renaissance«streben später rasch vergessen wurde, gerade durch seinen persönlichen Eifer die kulturelle Betätigung[20] der Kirche förderte, stärkte, ja diese Betätigung ihr als selbstverständliche Aufgabe ein für allemal einprägte, überhaupt die eigenartige Verquickung des Christlichen mit dem Weltlichen im Mittelalter begründete, so kam die Zeit, wo alle höhere Kultivierung und damit eben die Romanisierung allein von der Kirche ausging. Selbst die auf romanische Vorbilder zurückgehende Hebung der wirtschaftlichen Kultur, für die Karl eifrig tätig gewesen war, wenn auch seine vielgerühmten Musterwirtschaftsordnungen im ganzen nur für Westfranken in Betracht kommen, wurde nun wesentlich Sache der Kirche, insbesondere der Klöster, die z. B. von den Agilulfingern in Bayern geradezu wegen der Rodung und Kolonisierung des Wildlandes gefördert wurden. So war es auch mit den romanischen Überlieferungen der äußeren Zivilisation, z. B. mit dem Steinbau. Wesentlich von der Kirche und dem Hofe des Herrschers gerettet, beeinflußten sie zunächst nur die Herrenschicht. Dem Volke blieben diese Dinge noch lange fremd, gingen auch nur sehr langsam auf weitere Kreise über, zu allerletzt die geistigen Kulturgüter. Die spätere Übertragung dieser wie der wirtschaftlichen römischen Kulturgüter sollte, vor allem durch das Klosterwesen, das Werk der Kirche sein, die durch ihren internationalen Charakter, durch ihre römische Spitze ja auch fortwährend innige Berührungen mit dem französischen und italienischen Klerus und so mit den besser erhaltenen antiken Überlieferungen der romanischen Länder hatte, im übrigen aber auf das Volk als Inbegriff alles Höheren einen überwältigenden Einfluß üben mußte.

Fußnoten:

[2] Im übrigen sei auf mein Büchlein: »Germanische Kultur in der Urzeit«, 3. Aufl., verwiesen.

[3] Es sei auf das in dieser Sammlung (Nr. 112) erschienene treffliche Bändchen von H. Dragendorff, Westdeutschland zur Römerzeit, verwiesen.

[4] Vgl. dazu Steinhausen, Geschichte der deutschen Kultur I², S. 87.

[5] Vgl. Steinhausen, Gesch. d. d. Kultur I², S. 84.

[6] Das ist ein wichtiger Vorgang. Bis dahin hängen das skandinavische und das südliche Germanentum noch eng zusammen.


[21]

Zweites Kapitel.
Erste Fortschritte deutschen Lebens im Rahmen deutscher Eigenart unter wachsender Führung der Herrenschicht.

(Ländlich-kriegerische Kultur.)

In dem großen fränkischen Reiche war der einstige Gegensatz zwischen »Römern« und fränkischen Barbaren zu einem kulturellen Gegensatz des überwiegend romanischen, kultivierteren Westens (Neustriens) zu dem rückständigeren germanischen Austrasien, dem nun die innerdeutschen Stämme angegliedert waren, geworden. Nationale Gefühle spielten dabei noch nicht mit. Die Germanen selbst empfanden zwar ganz dumpf eine gewisse Verwandtschaft, aber der Franke sah den Sachsen doch keineswegs als Glied eines gemeinsamen Gesamtvolkes an, und die Angliederung und Christianisierung der Sachsen vollzog sich so blutig und grausam, wie später etwa die Sachsen gegen die Slawen vorgingen. Man empfand nur den Gegensatz zwischen Christen und Heiden. Das nationale Moment war auch nicht für die Abtrennung des ostfränkischen, später deutschen Reiches entscheidend: aber es war doch nicht bedeutungslos, daß in ihm sprach- und stammverwandte Völker, wenn auch nur äußerlich, vereinigt und im wesentlichen von den Romanen geschieden waren. Freilich bestand auch ein Sprachgegensatz der Franken zu den Sachsen, die ebenso wie die Friesen und Niederfranken die sogenannte Lautverschiebung nicht mitgemacht hatten, also der für die Zukunft so wichtige Sprach-(überhaupt Kultur)gegensatz zwischen Ober- und Niederdeutschen, aber er wurde doch weniger empfunden als der nun deutlich werdende Sprachunterschied von den Romanen, der bei der Eidesleistung zu Straßburg 842 schon beachtet wurde. Karl der Kahle schwor in teudisca lingua. Von der Volkssprache her kam man denn auch zu der Bezeichnung der »Deutschen«. Das Wort, zuerst 786 vorkommend, bezeichnet zunächst nur den Gegensatz zur[22] lateinischen Sprache. Es bezeichnet die »volkstümliche« (thiudisc) Mundart, zunächst auch nur die des betreffenden Stammes. Als Gesamtname wird »Teutisci«, das Walahfrid Strabo schon 840 für deutschsprechende Leute anwendet, zuerst bei den Romanen, so 845 in einer Trienter Urkunde, gebraucht. Erst im 10. Jahrhundert beginnen die Deutschen in ihrer Gesamtheit sich selbst als »Deutsche« (Teutonici) zu bezeichnen.

Der Ausgangspunkt war also wieder ein kultureller, der Gegensatz der Volkssprache zur lateinischen Kultursprache, des Volkstums zur höheren Kultur. Wie diese Volkssprache sich nicht besiegen läßt, so ist es mit dem ganzen Leben. Das romanische, internationale Kulturelement ist dem deutschen Volke eingefügt; man empfindet seine Übermacht und läßt es in seinem höheren Bereich wirken: aber ebenso bleibt man, für die Aufnahme jener Kultur in weiterem Maße noch gar nicht reif, in Wesen und Art durchaus bei der eigenen Kultur und entwickelt diese, meist nur äußerlich (und zwar besonders im Westen) romanisch beeinflußt, langsam weiter. So wenig gestört und so eigenartig germanisch verlief diese Entwicklung nicht wie im skandinavischen Norden, wo trotz der später auch dahin gelangten christlichen und antiken Einflüsse Poesie und Mythologie eine Welt großartig-gewaltiger Eigenart widerspiegeln. Auf der anderen Seite schloß die Bodenständigkeit der deutschen Stämme ein Erliegen gegenüber der höheren Kultur wie bei den in das römische Reich eingedrungenen Germanen aus. In der Hauptsache müssen wir also für die nun sich kräftig entwickelnden deutschen Stämme von einer eigenen Kultur reden. Die später so bezeichnende Bildungskluft freilich bestand schon. Ein Teil des Volkes, damals der Klerus, lebte in einer ganz anderen Kulturwelt als der andere, so wenig seine Glieder sich von ihrem eigentlichen Volkstum völlig freimachen konnten. Viele Elemente der romanischen Lebensverfeinerung gingen sodann immer stärker auf die Herrenschicht, die sich dadurch wieder in einen Gegensatz zu der unteren Schicht setzte, über; an der höheren Bildung aber nahm auch diese Herrenschicht, abgesehen von ihren weiblichen Gliedern, die meist im Kloster erzogen wurden, nicht teil, dachte und fühlte vielmehr im wesentlichen wie das Volk. So entwickelte sich in der großen Masse der Laien bis etwa zu den Kreuzzügen im wesentlichen alles aus dem Alten heraus, wenn auch der Pfahl im Fleisch saß und der geistige, sittliche, künstlerische, wirtschaftliche Einfluß des Klerus langsam auf eine Erziehung zu höherer Kultur hinwirkte. Freilich war der großen[23] Masse des Volkes gegenüber der Frühzeit vieles genommen. Von einer Mitwirkung im öffentlichen Leben war nicht mehr die Rede; Könige und Herren, gestützt auf die Geistlichen, waren allein ausschlaggebend. Die große Masse beschränkte sich auf ein bäuerliches Dasein, das sich im Rahmen der Markgenossenschaft abspielte. Die Landwirtschaft war auch die Grundlage des Lebens der Herren, freilich mit einem starken Einschlag kriegerischer Interessen. Mit den rasch fest gewordenen Sitzen hatte nach der Völkerwanderung, der letzten großen Störung organischer Fortentwicklung, ein langes Zeitalter des Ausbaus der deutschen Stammesgebiete begonnen, vom 6. Jahrhundert bis zum 13. reichend und vor allem durch gewaltige Rodungen charakterisiert, durch die Erschließung immer neuen Kulturlandes für die immer zunehmende Bevölkerung. Man rodete in der Sucht nach Neuland auch auf solchen Gebieten, die sich zum Ausbau nicht eigneten und daher später wieder zu Wüstungen wurden. Allmählich hielten sich Wildland und Kulturland etwa die Wage, aber die Waldmasse bleibt lange noch stark und schreckend genug. Im übrigen litt der Wald auch unter rücksichtslosester Nutzung (Weide, Holzverbrauch usw.) Von der Bruchlandschaft der Flußtäler blieb das Kulturland noch ziemlich lange fern. Das Gesamtergebnis war aber eine außerordentliche Vermehrung dieses Kulturlandes.

Zunächst hatte nun das junge »deutsche« Leben noch große äußere Fährnisse zu bestehen. Das ostfränkische Reich bedrohten die Normanneneinfälle, weniger freilich als das westfränkische, weiter das Vorfluten der Slawen, die zerstörenden Ungarneinfälle, die vor allem in Bayern auch die Bevölkerung stark mitnahmen. Dazu kam die dauernde Schwächung der Reichsgewalt durch die einst von Karl d. Gr. unterdrückten, jetzt neuerstandenen Stammesherzogtümer. Aus dem Chaos rettete Reich und Volk eigentlich erst die Übertragung der Königswürde an den Sachsenherzog Heinrich. Gerade dadurch wurde der deutsche Charakter von Staat und Kultur erst recht befestigt; von einem ostfränkischen Reich ist nicht mehr die Rede, so sehr auch Hof, Kanzlei und Verwaltung an die fränkische Grundlage anknüpften.

Jenes Übergewicht der Stammesherzöge hängt mit der Bedeutung der Stämme überhaupt zusammen. Die neue deutsche Volkskultur ist zunächst Stammeskultur. Politisch ist weder von einem Nationalbewußtsein noch von einem Einheitsstaat die Rede. Franken und Sachsen, einst gleichsam zwei feindliche Völker,[24] sind nur äußerlich vereinigt. »Das Reich der Sachsen und Franken« hieß jetzt das Reich. So haben auch die fremden Völker des öfteren die mittelalterlichen Deutschen je nach dem Stamm bezeichnet, der ihnen gegenübertrat, als Alemannen (Allemands), als Sachsen (so im Norden), als Schwaben. Der Unterschied der Stämme beruhte zum Teil auf der schon hervorgehobenen Verschiedenheit des Kulturgrades. Im ganzen glichen sie sich freilich in jener einfachen ländlichen Haltung. Überall hatte sich nun der Eigenbesitz des einzelnen völlig durchgesetzt; es herrschte Naturalwirtschaft, und von irgendwie bedeutendem Handel und Verkehr ist noch keine Rede. Aber je weiter nach Westen und auch nach Süden, um so weiter war man. Vom Westen her kamen vor allem, wie schon erwähnt, Obstkultur und Weinbau, von Westen her schritt der Steinbau fort, von dort kamen allerlei Fortschritte und Verfeinerungen des Lebens sowie die von der Kirche gepflegten Elemente geistiger Bildung und künstlerischen Schaffens, kamen die Formen der staatlichen Verwaltung.

Dieses wichtige westliche Vermittlungsgebiet, das neben der materiellen namentlich auch seine geistlich-geistige Kultur dauernd an das Innere Deutschland weitergab, war jetzt in dem künstlich entstandenen Herzogtum Lothringen, das ja zum Teil mehr westfränkischen Charakters war, begriffen; Cöln, Aachen, Trier, Metz gehörten dazu. Dagegen stellte das neugegründete jetzige Herzogtum Franken mit den Hauptorten Mainz, Frankfurt, Worms, Speier sowie Würzburg im Osten nur einen Teil des fränkischen Gebiets dar und war schon mehr von der unmittelbaren Berührung mit dem romanischen Westen abgedrängt. Allmählich machten sich nun aber auch stärkere Beziehungen zu dem italienischen Süden bei den ohnehin z. T. auf altem Römerboden sitzenden Schwaben (Alemannen) und Bayern (s. S. 17) geltend. Freilich traten die Schwaben zunächst vor den Bayern, die ja schon im ostfränkischen Reich auch eine kräftigere politische Rolle gespielt hatten, zurück. Wichtiger als jener, die spätere Handelsgröße des Südens langsam vorbereitende Verkehr über die Alpen waren aber in dieser Zeit die Beziehungen der Bayern nach Südosten. Die Donau verband sie mit der überragenden Handels- und Kulturstätte Byzanz, und Regensburg gewann besondere Bedeutung. Das Wesentliche war aber natürlich auch in Bayern die ländliche Haltung, und der Stand des Ackerbaus und der Viehzucht wird schon in einer Quelle des 8. Jahrhunderts sehr gerühmt. Die wirtschaftliche Kultur machte auch durch zahlreiche frühzeitige[25] Klostergründungen Fortschritte. Gerade in Bayern bildete sich auch ziemlich früh die große Grundherrschaft aus, während bei den Alemannen die Siedelungen vollfreier Bauern weit länger vorherrschen. Immerhin sind es neben den noch zu nennenden Sachsen gerade die Bayern, die ihre volkstümliche Eigenart am meisten bewahren, trotzdem sie z. T. früh von der römischen Kultur beeinflußt sind. Aus Sachsen und Bayern stammt, wie Vogt hervorgehoben hat, unser Besitz an deutscher Alliterationsdichtung, bei Sachsen und Bayern-Österreichern lebt in der mittelhochdeutschen Zeit die alte nationale Epik wieder auf. Es ist daher auch nicht wunderbar, daß den Westdeutschen wie die Sachsen, so auch die Bayern später als rückständig galten. Selbst ein Bayer, Wolfram von Eschenbach, hat ironisch den »Preis« (»Lob«) der Bayern einmal auch den »Wâleisen« zuerteilt: »die sind toerscher (noch einfältiger) denne beiersch her.« In unserem Zeitalter lebten auch große Teile namentlich der nördlichen Bayern in sehr einfachen Verhältnissen. Dasselbe gilt von den Schwaben im Schwarzwald und anderswo, während im Bodenseegebiet und im Westen (Straßburg) wie auch im Osten (Augsburg) sich alte Kulturstätten befanden. Erst viel später sollten die Schwaben in politischer wie in kultureller Beziehung eine Zeitlang an die Spitze der Stämme treten. Ziemlich primitiv waren sodann die Zustände der mitteldeutschen Stämme der Hessen und der Thüringer, von denen jene, mit diesen zum Teil gemischt und am wenigsten von den Stürmen der Völkerwanderung berührt, einen Teil des fränkischen Herzogtums bildeten, diese aber jetzt zu dem sächsischen, dem größten und eigenständigsten aller, gehörten. Die Sachsen hatten immerhin trotz ihrer zähkonservativen Art, mit der sie die früheren Zustände bis ins 9. Jahrhundert bewahrten, einige Fortschritte gemacht. In fränkischer Zeit hatten sie auch äußerlich in ihrer weiten Leinentracht mit dem langwallenden Haar noch der Frühzeit nahegestanden, hatten ohne Könige unter einer alten Führeraristokratie ziemlich zersplittert und nur durch den Kult zusammengehalten gelebt, treu der alten Sitte und trotz der (nur äußeren) Christianisierung treu dem alten Glauben an Wotan und Donar und Saxnot, überaus stolz und unbändig. Römerreste, Städte und Castelle, gab es im Lande nicht. Ihre großen Fluchtburgen waren besonders eigenartig ausgebildet. Der Ackerbau hatte seit germanischer Zeit nicht allzugroße Fortschritte gemacht, die Viehzucht war noch vielfach bevorzugt. Vom Meer waren sie, seit Karl d. Gr. ganze[26] Stämme aus ihren Küstensitzen fortgeführt hatte, fast ganz abgedrängt. Das Herzogtum, das sich bei ihnen über jene Aristokratie erhoben hatte, war durchaus bodenständig und kraftvoll. Aber es war ein besonders begabter Stamm, und als die Berührung mit der fränkischen Kultur lebhafter wurde, vor allem jedoch, als die deutsche Königswürde an die Sachsenherzöge überging, da erblühte in diesen sächsischen Landen eine nicht zu verachtende Kultur, die indes weit mehr als die des Westens durchaus jenen eigenständigen Charakter, freilich auch eine gewisse Spröde und Herbheit bewahrte. Ja, diese sächsische Frühkultur wurde nun vielfach maßgebend für den jetzt feindlich gesinnten germanischen Norden; vor allem aber trat sie, wie die bayerische in der südlichen Ostmark, den Slawen überlegen entgegen und beeinflußte sie. Weitaus am rückständigsten von den deutschen Stämmen waren die Friesen, die jetzt fast die ganze Küste der Nordsee besetzt hatten und zum Teil in ihrem alten kühnen Seefahrer- und Strandräuberleben aufgingen – schon im 9. Jahrhundert waren sie zu gut gebauten, hochbordigen Segelschiffen (Koggen) ohne Rudereinrichtung gekommen –, die aber auch als Bauern ihre Unabhängigkeit und Freiheit gegenüber der im Binnenlande immer auffälligeren Herabdrückung der Freien durch die Grundherrschaft tapfer aufrechterhielten. Es war ein rohes und trotziges Volk, das sich um die Kirche nicht viel und immer weniger auch um das Reich kümmerte. Die Friesen standen noch viel später in bösem Rufe. Der westliche Teil hatte sich freilich früh über das rein ländliche Dasein erhoben. Diese Friesen verhandelten die selbsthergestellten groben und die feineren englischen Tuche weit in die Lande, trieben daneben auch früh sonstigen Handel, z. B. Weinhandel. Vermittler mit England, aber auch mit Skandinavien, gingen sie ihrerseits den Rhein hinauf und sonst in die aufkommenden westdeutschen Städte, wo es zum Teil besondere Friesenviertel gab.

Es sind nun nicht nur die kulturellen Unterschiede, die die wichtige Verschiedenheit der einzelnen Stämme ausmachen: es ist auch eine besondere Art und Veranlagung, die aus langem Zusammenleben anfangs nur äußerlich vereinigter Gruppen entsteht, aber auch an Himmel und Boden gebunden und aus dem Urgrund des Volkstums entsprungen ist (vgl. S. 1). Die Verschiedenheit der äußeren wirtschaftlichen Verhältnisse (Viehzucht, Besitzformen), weiter der Landschaft, des Bodens, der Stammesart, auch z. T. römische Beeinflussung bringen dann die Mannigfaltigkeit[27] der später zäh festgehaltenen Haustypen hervor, die hier nicht im einzelnen besprochen werden können und deren Ausbildung etwa in unser Zeitalter (10./11. Jahrh.) fällt. Sie sind gewissermaßen das äußere Hauptmerkmal der gerade damals so wichtigen Stammesunterschiede, obwohl die Benennung der Haustypen nach Stämmen mit gutem Recht angefochten wird und die Hausformen durchaus nicht ausschließlich an einen bestimmten Stamm gebunden sind.

Diese Stammesunterschiede, namentlich bezüglich der größeren oder geringeren Annäherung an romanisch-fränkische Traditionen, sind nun immer im Auge zu behalten, wenn jetzt im allgemeinen dargelegt werden soll, daß trotz der erwähnten Einflüsse das nun erblühende deutsche Kulturleben – gerade die äußere Zusammenfassung ergibt, abgesehen von dem überhaupt Gemeinsamen, auch wieder Annäherung und Ausgleich – eine große Eigenart bewahrte. Die Art der Menschen zunächst, die auch physisch noch im wesentlichen den germanischen Typus zeigten, hatte noch immer viel Ursprüngliches, Triebhaftes. Die alte individualistische Unbändigkeit ward freilich mehr und mehr für die Herrenschicht bezeichnend, von deren Unbotmäßigkeit und gegenseitigem ewigen Hader die Geschichte genug Belege gibt. Und mochte es ähnlich in kleinen Kreisen gelegentlich zugehen, so war für die niederen Schichten doch jene Herabdrückung der kleinen Freien ebenso ein beschränkendes Moment wie die Gebundenheit durch den genossenschaftlichen Charakter nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des sozialen Lebens. Gewalttätige Übergriffe der Herrenschicht gegen die Niederen wurden immer häufiger. Freilich hatte die Gewalttat unter diesen natürlich auch ihre Stätte, und selbst den Herren gegenüber fehlte trotziger Widerstand und Rachedurst nicht. Die Freien trugen alle noch Waffen, auch sonst die besseren Abhängigen, und nur der ganz Niedere mußte sich schon waffenlos ducken. Blutige Szenen waren nirgend selten, namentlich durch die alte Trunksucht hervorgerufen. Auch die Geistlichen verleugneten vielfach solche Züge nicht. Der rohe Barbar, bei dem die natürlichen Leidenschaften zum offenen Ausdruck kommen, ist noch vollkommen erkennbar, im Westen freilich weniger. Der Lothringer urteilte über den Sachsen schon nach Art der Romanen. Wie man sich etwa im geschlechtlichen Leben unbefangen und naturwüchsig gab, so herrschte auch sonst kräftige Derbheit. Ein rauher, fast brutaler Zug ging durch das Dasein. Auf Menschenleben legte man[28] wie früher keinen besonderen Wert, auch auf das eigene nicht. Den persönlichen Feind schlug einer nieder, wo er ihn traf. Man griff noch immer leicht zur Selbsthilfe, kannte auch kaum ein Billigkeitsgefühl. Die unsicheren Zeiten des ostfränkischen Reiches hatten ferner eine starke Neigung zu gewalttätigen Räubereien, namentlich bei den Herren, hervorgerufen. Auch niedere Räuber fuhren zahlreich umher. Hier griff die unter den Sachsen erstarkte Königsgewalt, von der man vor allem eine gesicherte Rechtspflege erwartete, schärfer durch, namentlich unter Otto d. Gr. und Heinrich II., der streng strafte. In den Strafen war man noch grausam wie in der Urzeit, ebenso im Behandeln der Kriegsgefangenen, die man zuweilen erst folterte und dann hinmordete. Solche Wildheit war naturgemäß mit der alten Kampfesfreude eng verbunden, und unbändige Tapferkeit war ein Zug, den die anderen Völker, vor allem die sich überlegen dünkenden Italiener, den Deutschen als hervorstechendsten zugestanden. Nach dem nunmehrigen christlichen Schutzpatron der Kämpfer, dem heiligen Michael, dessen Namen die Mannen im alten Schlachtgesang, ähnlich wie im germanischen Barditus, brüllten, benannte man die Deutschen selbst. Von sonstigen barbarischen Zügen mag die alte, häufig belegte Treulosigkeit hervorgehoben werden, die neben sympathischen Eigenschaften, Treuherzigkeit und Gutmütigkeit, durchaus einherging. Selbstverständlich ist, den noch immer primitiven Verhältnissen entsprechend, die Gastlichkeit, die in weitgehendem Maße nunmehr vor allem auch von den Klöstern geübt wurde.

Wie stand im übrigen eben die Kirche zu diesem von Naturtrieben erfüllten deutschen Menschen? Unzweifelhaft hat sie bereits eine gewisse Milderung des barbarischen Wesens herbeigeführt, zum Teil freilich nur mittelst Formen, die das gewaltige Naturmenschentum auf andere Weise sich übertrieben ausströmen ließen. Aber vorher ist zu fragen: hat das Christentum überhaupt eine innere Umwandlung des deutschen Menschen bewirkt? Schon das oben Angeführte zeigt, daß davon nur in geringem Maße die Rede sein kann. Es ist andererseits eine überaus starke Beeinflussung des geistigen und des Gemütslebens ganz selbstverständlich, ohne daß jedoch alte, tiefgewurzelte Vorstellungen und Gemütsregungen vernichtet wurden. Es kam vielmehr zu einer ganz eigenartigen Mischung, ohne die wir das ganze spätere Geistesleben des Volkes nicht verstehen können. Wenn noch im Italien der Renaissancezeit das antike Heidentum innerhalb der[29] katholischen Kirche in allerlei mehr oder weniger abergläubischen Formen und Auffassungen fortlebte, wenn man dasselbe noch zum Teil von der heutigen Volksreligion im romanischen Süden sagen kann, so wird man nicht erwarten dürfen, daß die Christianisierung der deutschen Stämme die wirkliche Annahme eines Glaubens, für den jene noch lange nicht reif waren, bedeutete. Das erwartete die Kirche damals selbst nicht. Getreu der Anweisung Gregors d. Gr. an einen Missionar der Angelsachsen begnügte man sich vielfach mit einer christlichen Verbrämung heidnischer Bräuche, mit einer äußerlichen Umwandlung alter Kultstätten in christliche Gotteshäuser, der Verquickung heidnischer Naturfeste mit christlichen Festen, der Göttergestalten mit christlichen Heiligen. Man darf in solcher Gleichsetzung freilich nicht zu weit gehen. Dem alten Volksglauben an Seelen und Dämonen, deren schädigende Macht man durch Zauberspruch und Opfer bannen oder zum Heil, zur Wohltat wenden könne, kam ferner der schon von der fränkischen Kirche ausgebildete Wunderglaube und Heiligenkult geradezu entgegen und hatte die Heiligen schon damals volkstümlich gemacht. So sah man auch jetzt im Gebet, im Bekreuzigen, im Besprengen mit Weihwasser treffliche Zaubermittel. Die Wundersucht zeigt jetzt natürlich eine rein kirchliche Beeinflussung in Anlehnung an die biblischen Wundererzählungen: zugleich nimmt sie außerordentlichen Umfang an. Die Tätigkeit der Heiligen wird in der Hauptsache als Wundertun insbesondere zur Heilung der Gebrechen und Krankheiten aufgefaßt, ihre Reliquien dienen nur diesem Zweck. Dabei erhalten die Wundergeschichten einen jugendlich rohen, stark übertriebenen Charakter. Die Geistlichen förderten die ganze Sache, trieben den bösen Dämon aus, suchten durch Handauflegen und Gebet eine Heilwirkung zu erzielen, priesen die geschehenen Wunder der Reliquien usw. Wenn aber die Kirche andererseits streng ein Abschwören der heidnischen Götter verlangte, ja diese mit dem Schimmer des Bösen, des Teuflischen umgab, so blieb in Sinn und Brauch des Volkes doch noch lange Zeit vieles auch von dem Heidentum bewahrt, das die Kirche nicht verchristlicht hatte oder sonst nicht duldete. Man ersetzte auch wohl in einem alten Zauberspruch Götternamen durch Christus oder Maria, bewahrte aber ebenso oft entstellt auch jene Namen (z. B. Wodan). Freilich brachte jene Verfluchung das Scheuverborgene, Unheimlich-Düstere in den nicht christlich verbrämten alten Volksglauben, und wer den christlichen Zauber nicht kräftig genug erachtete – trotzdem im ganzen eben der Zauber des neuen Gottes und seiner[30] Heiligen in den Augen des Volkes die Kraft der alten Gestalten übertraf –, der begab sich heimlich nächtlich zu den Bewahrern oder, man denke an die weisen Frauen der Germanen, den greisen Bewahrerinnen heidnischen Zaubergutes, die die Kirche nun ihrerseits heftig verfolgte und grausam strafte. Manche wieder machten gerade diese heidnischen Zauberer für Schädigungen und Übel verantwortlich und feindeten sie, ganz im Sinne der Kirche, obwohl diese solchen Glauben verwarf, ingrimmig an. Im übrigen herrschte ja bereits in vorchristlicher Zeit der Glaube an zauberisch schädigende Menschen (Weiber), und man verbrannte sie schon damals. Umgekehrt ging wieder auf den Geistlichen der Nimbus des mit geheimnisvollen Kräften Begabten über, und ebenso ist es im Grunde das Vertrauen auf die Zauberkraft der Kirche, wenn man ihr Schenkungen machte, d. h. opferte. Diese Opferung erweiterte sich jetzt vor allem zur Hingabe von Landbesitz, der eigentlichen Machtquelle jener Zeit. Dazu trieb nun aber jetzt besonders auch der neue Gedanke an das Jenseits. Man stimmte die dämonische Macht nicht nur wie einst für das irdische Leben günstig, bannte Schädigungen usw., man erkaufte sich auch den Himmel. Der Sporn dazu war die von der Kirche als wirksames Mittel namentlich später benutzte Sorge um das Seelenheil, die Furcht vor der Verdammnis, die andererseits die noch zu schildernde aufgeregte, zum Teil krankhafte Stimmung der Zeit mächtig förderte.

So war also die Christianisierung zunächst kein so ungeheures Erlebnis der Deutschen, vielmehr blieb dabei wieder die alte Eigenart zum guten Teil bewahrt. Wenn nun weiter die Geschichte des Heilandes den von jeher auf das Hören alter Geschichten erpichten Deutschen in einfachen Formen erzählt wurde, so fesselte sie solche Rede sicherlich. Aber ihrem Geschmack entsprach sie nicht: da wurde nicht von Helden aus edlem Geschlecht gesagt, nicht von kriegerischen Taten, rauher Härte und ruhmvollem Ende, sondern von Menschenliebe, von demütiger Ergebung und Duldung und ungerächtem, bitterem Leidenstod. Aber man machte wohl durch manche Zutaten diese Kost schmackhafter. Davon zeugen die von Geistlichen getragenen ersten dichterischen Gestaltungen des Lebens Christi in deutscher Sprache, Otfrieds Dichtung und der niedersächsische Heliand, in denen deutlich nationale Töne anklingen, kriegerischer Geist noch lebendig ist. Aber selbst diese Dichtungen entsprachen nur dem Verständnis der schon mehr geistlich geschulten Deutschen, nicht etwa dem der Masse überhaupt.[31] Auch Heiligenlegenden wurden wohl also zugestutzt, die Heiligen selbst gewannen zum Teil in der Vorstellung des Volkes das Ansehen von Helden und wurden so, wie St. Michael und St. Georg, Lieblingsgestalten des Volkes.

Daß die Kirche nun überhaupt ihre Macht im Volke immer mehr befestigte, das lag an ihrer praktischen Wirksamkeit, an ihrem fördernden Einfluß in wirtschaftlicher Beziehung, an ihrem humanitären Charakter, an ihrer Fürsorge für die Armen, der Organisation der Krankenpflege, an dem Schutz, den sie Bedrängten lieh, der größeren Wertung des Menschenlebens, an der Zurückdrängung der Todesstrafe wie der Sklaverei u. a. Ebenso festigten natürlich der äußere Pomp, das feierliche Drum und Dran das Ansehen der Kirche, deren Machtgeheimnis aber vor allem ihre feste Organisation und die unbeirrbare Folgerichtigkeit ihres Vorgehens waren. So konnte von einem Widerstand gegen die eigentliche Lehre, deren Elemente namentlich seit Karls d. Gr. »volkserzieherischen«, d. h. lediglich christianisierenden Bestrebungen auch weiter in die Masse gedrungen waren, um so weniger die Rede sein, als das Dogma und dogmatische Erörterungen damals und später eine sehr geringe Rolle spielten. Man nahm die Lehre gläubig hin, unklar aufgenommen oder unverstanden. Eine selbständige Erfassung derselben war ausgeschlossen. Praktisch sie zu betätigen, daran dachte man wenig, wie ja noch heute. Aber die Kirche hatte im Zusammenhang mit ihrer auf eine hohe Kulturstufe gegründeten Sittenlehre, überhaupt ihren kulturellen Überlieferungen noch jene andere, kulturgeschichtlich sehr wichtige und in der Verbindung von Sittlichkeit und Religion ganz neue Aufgabe, die Sittigung des noch immer wenig gebändigten, halbbarbarischen Menschen. Und mit dieser zunächst durch Lehre und Predigt, weiter durch das geistliche Beispiel erstrebten inneren Umwandlung kam der härteste Zusammenstoß mit der nationalen Eigenart. Hier griff die Kirche auch durch ihre Strafmittel, durch die Kirchenzucht ein. Und wirklich erreichte die Kirche viel, im wesentlichen freilich nur eine gleichmäßige äußerliche Handhabung gewisser Ausdrucksformen für eine im Grunde wenig vorhandene neue Gesinnung. Mit einem gewissen Erfolg bekämpfte sie die Gewalttaten (Mord und Raub) und auch die tiefeingewurzelte Selbsthilfe durch schwere Bußen; sie drängte die Vielweiberei stark zurück, mäßigte etwas die Habgier durch Erziehung zur Opferwilligkeit für die Kirche usw. Vergeblich war ihr Kampf gegen die Trunksucht. Die am meisten ungermanische[32] Forderung der Kirche war die Demut. Hochfahrender Stolz und Leidenschaftlichkeit sollten verschwinden, Heldenruhm und Glanz nichts mehr gelten, Rache am Feinde ein Frevel und Wehrlosigkeit kein Übel sein. Solche Anschauungen konnten unmöglich durchdringen. Aber schon im 10. Jahrhundert begann man bei bestimmten Vorgängen auch außerhalb der geistlichen Kreise Formen gewohnheitsmäßig anzuwenden, die unterwürfige Demut, etwa wenn man Verzeihung oder Hilfe heischte oder Reue zeigte, oft übertrieben ausdrückten. Wichtig ist dabei, daß auf Stufen früher Entwicklung überhaupt alle Empfindung überkräftig ausgedrückt und von lebhaften Gesten begleitet wird, ohne daß eine seelische Erschütterung vorliegt. Man denke an die Klageweiber an der Leiche. So flossen die Tränen damals überaus häufig als stehendes Ausdrucksmittel nicht nur der Geistlichen, auch der hochgemuten Helden. Auch ein Akt der Barmherzigkeit wird von den Tränen des Helfers begleitet. Höchst ausgebildet ist die Sprache der Hände; der Kuß spielt ebenfalls eine große Rolle. Die äußeren Formen haben damals und später eine um so größere Wichtigkeit, als sie das Mittel der »Zucht« waren, als die Wildheit der Menschen durch strenge Beachtung vor allem bestimmter Verkehrsformen gezähmt werden sollte. Aber jene starken Ausdrucksformen zeigen doch immerhin wieder die sonst mühsam bekämpfte jugendliche Leidenschaftlichkeit der Hingabe an eine Sache.

Dasselbe gilt von der zur Askese gesteigerten Frömmigkeit, die damals viele Menschen ergriff. Auch die Askese sollte der Bändigung der natürlichen Leidenschaften dienen, aber war doch selbst ein Erzeugnis fanatischer Hingabe. Der Durchschnitt der Deutschen lebte nur in einem äußerlich erfaßten Christentum; es hielt sich z. T. noch das reine Heidentum, so in Sachsen; man hat noch im 11. Jahrhundert Spuren von Baumkult, von Verehrung heiliger Steine. Auf der anderen Seite hatte aber die Jenseitsrichtung des Christentums allmählich weitere Kreise gemütlich erfaßt, wie es schon die Ergänzung der Geistlichen z. T. voraussetzt. Diese Hingabe nahm seit dem 9. Jahrhundert eben jene jugendlich-leidenschaftliche Form an. Eine von der älteren orientalisch-antiken Askese verschiedene naiv-massive Art derselben griff ansteckend um sich. Es war die erste Stufe einer tieferen Annahme eines neuen Glaubens, aber doch auch noch äußerlich; es war das Streben, Frömmigkeit so kräftig-grell zum Ausdruck zu bringen, als es der Kraft und Naivität des damaligen[33] Menschen entsprach. Dieser übrigens wieder erst von Westen kommende Geist spornte im 10. Jahrhundert vor allem die Klostergeistlichen zu immer schärferer asketischer Betätigung, zu Bußübungen und peinvollen Entsagungen an: aber er veranlaßte auch immer mehr Leute, der Welt zu entsagen und in ein Kloster zu treten. Ja, auch unter der großen Masse der Laien verbreitete sich zum Teil asketischer Geist, ein Aufsichnehmen besonderer Fasten und Bußübungen, geschlechtlicher Enthaltsamkeit. Besonders charakteristisch wird die Klausner- und Klausnerinnenmode, die gegen das Jahr 1000 sehr zunahm, namentlich in Lothringen, aber auch z. B. in der Nähe St. Gallens. Es ist kein Zufall, daß gerade Frauen sich diesem Geist zahlreich und mit besonderer Wärme hingaben. Die gemütliche Seite des Christentums hat schon früh auf die Frauen am meisten gewirkt, und in der Zeit der Christianisierung mag manche Frau ihren Gatten dem Heidentum abspenstig gemacht haben, wie schon die Burgunderin Chrodechilde den Frankenkönig Chlodwig. Frauen und Geistliche wurden früh Bundesgenossen. Nicht nur von den vornehmen Frauen gilt das, wie uns so viele Beispiele aus der sächsischen Zeit beweisen, sondern auch von den niederen. Eben die Klausnerinnen zeigen den Einfluß, den nun die asketische Bewegung auf sie gewann, wie auch von den 300 Klöstern, die es zu Beginn des 10. Jahrhunderts in Deutschland gab, ein erheblicher Teil, ein Viertel, auf Frauenklöster kam.

Aber diese ganze Bußstimmung hat für den großen Durchschnitt der hohen und niederen Laien wenig zu besagen, trotz der häufigen Bewunderung solcher Vorbilder. Und auch sonst ist von einer tieferen inneren Umwandlung der Gesamtheit doch nur in den Anfängen zu sprechen. Es mußte ja freilich auch in der Masse nachwirken, daß der irdische Besitz, daß die natürlichen Freuden des Lebens in ihrem Wert nunmehr erniedrigt waren; es mußte die nunmehrige sittliche Weihe der Arbeit, die ja durch das bäuerliche Dasein in Wirklichkeit schon die größte Bedeutung erlangt hatte, die Anschauungen der Menschen stark befruchten; das Evangelium der Nächstenliebe, etwas ganz Neues, mußte einen tieferen Wandel des Denkens und Fühlens herbeiführen. Aber alles das wirkte doch nur allmählich. Rascher trug die Kirche dazu bei, die alte Hochhaltung der persönlichen Freiheit zu mindern, und wenn sie schon durch die Organisationsformen ihres Besitzes die Ausbildung der Abhängigkeitsverhältnisse gefördert hatte, wenn sie dann dadurch, daß die Hingabe des[34] Besitzes an die Kirche, die Stellung unter ihren Schutz als etwas Verdienstliches angesehen wurde, die Zahl der sich ihrer Freiheit begebenden stark vermehrte, so begünstigte sie damit eine Entwicklung, die sich überhaupt seit längerer Zeit vorbereitet und durchgesetzt hatte. Ohne tiefere Beeinflussung durch die Kirche blieb endlich zunächst noch das eigentliche Geistesleben, die Denkarbeit der Menschen. Die Bekanntschaft mit der fremden Welt der gottesdienstlichen Formen, des Inhalts des Evangeliums, der Heiligengeschichte erweiterte natürlich etwas den geistigen Gesichtskreis; die elementaren christlichen Grundlehren vermittelten auch eine ganz andere Art des Denkens: aber von einem Verständnis für das Denk- und Lehrsystem der Kirche, in das die geistlich gewordenen Volksgenossen freilich mittelst der kirchlichen Schulung und später mit Hilfe der Romanen mit immer größerer Hingabe eindrangen, konnte keine Rede sein.

Vielmehr zeigt auch das geistige Leben der Deutschen vom 9. bis zum 11. Jahrhundert durchaus das Gepräge der Eigenart. Vom Standpunkt der Weltkultur aus sieht man nur die mühsame, unendlich lange dauernde Schule, die die Deutschen, zunächst die geistig führende Geistlichkeit, nunmehr in der fremden Bildung durchmachten. Man sieht nur den Tiefstand, sogar die Bildungsfeindlichkeit der großen Masse der Laien und das Bildungsmonopol der oft auch nur in geistigen Niederungen bleibenden, ein unklassisches »Mönchslatein« handhabenden Geistlichkeit. Man sieht meist nicht das freilich immer mehr gestörte eigenartige nationale Geistesleben, aus dem doch wieder das Beste an der später erblühenden Kunstdichtung entsprang. Das Unheilvolle war eben die Kluft zwischen der auf die Antike gegründeten höheren Bildung, deren Träger, ebenso wie auf dem Gebiet der Kunst, nach Karl d. Gr. nicht mehr der Hof, sondern lediglich die Geistlichkeit an den Bischofssitzen wie in den Klöstern war, und dem Geistesleben des Volkes, dessen Schöpfungen von den Bildungsträgern tief verachtet waren und darum auch bei den höheren Laien immer mehr an Achtung verloren. Noch lebten im Volke die alten Gesänge, neue in diesem Geist kamen hinzu. Den alten Sänger der Vorzeit und der fränkischen Zeit hat nun der Spielmann abgelöst, der auch die Zeitereignisse in dichterischer Form mitteilte und in die abgeschlossene ländliche Welt des Deutschen allerlei neue Kunde brachte, ebenso wie andere Fremde, der Krämer, der Bote, der Mönch, die, unbeschadet alter Gastlichkeit, gerade deshalb besonders willkommen sind, weil man von ihnen Neuigkeiten[35] erwartete. Mit den Spielleuten mischten sich die Gaukler, die joculatores, die Nachkommen der fahrenden Leute aus dem römischen Reiche, und manch verkommener Kleriker. Durch letztere war wohl auch der der Kirchenpoesie entstammende romanische Reim schließlich die stehende äußere Form der Dichtung geworden. Schwänke und Lügendichtungen, auch allerlei, vielleicht früh die Geistlichkeit verhöhnende, derbe Geschichten wurden von diesen Spielleuten gepflegt und behagten den Hörern. So kam es denn früh zu einer Bekämpfung dieser Volksdichtung durch die Geistlichkeit. Um den »unzüchtigen oder mindestens eitlen Sang der Laien zu verdrängen«, schrieb im 9. Jahrhundert der Mönch Otfried von Weißenburg sein Evangelienbuch; aber das deutsche Gewand dieser geistlichen Reimdichtung zeigt ebenso wie die noch alliterierenden Kunstdichtungen der altsächsischen »Genesis«, des niedersächsischen »Heliand«, des oberdeutschen »Muspilli«, daß die Geistlichen doch auch schon früh die nationale Sprache benutzten, um im Sinne der Kirche, in deren Dienst man überhaupt alles zu stellen suchte, auf das Volk zu wirken oder durch heimische Sänger wirken zu lassen. Andererseits bedeutet diese nationale Färbung doch wieder eine erste Annäherung der Kultur an das Volkstum. Der alte Heldensang, der nach Karl d. Gr. lediglich unter dem Gesichtspunkt des Heidnischen von der Kirche bekämpft wurde, hielt sich am längsten wieder in Sachsen: hier sagte und sang man noch lange von Dietrich von Bern und Ermanrich. Aber im ganzen wird er immer mehr zur Volkskost, bis er im 12. Jahrhundert, wohl unter dem Einfluß der neuen weltlichen romanischen Dichtung, auch in vornehmeren Kreisen wieder Boden gewann. Im übrigen werden solche alten Gesänge auch von Leuten aus dem Volke selbst vorgetragen sein, und ebenso erzählte man sich sonst alte Sagen und Märchen, Tierfabeln u. dgl. oder pflegte überkommenes Rätselgut und Spruchweisheit. Natürlich blühte der mit Tanz verbundene Volksgesang weiter, bei dem meist einer vorsang und die Menge nur beim Refrain einfiel.

Den geistigen Gesichtskreis des Volkes, der sonst im einem durchaus mit der Natur verbundenen, auf alter Erfahrung und Überlieferung fußenden Arbeitsleben unter der naiven Vorstellung einer Belebtheit der Natur mit guten und bösen Wesen beschlossen war – ein gemütliches Verhältnis hatte man insbesondere auch zur Tierwelt, vor allem zur Vogelwelt –, mag man niedrig nennen. Das gilt auch von den niederen Geistlichen, die bei ihrer äußerst notdürftigen Bildung sich geistig kaum von der übrigen Masse, mit[36] der sie in volkstümlicher Weise lebten, unterschieden. Aber auch der Gesichtskreis der höheren Laienwelt war ziemlich derselbe, nur daß sich die Interessen der Großen auch auf Machtfragen, auf Einzelheiten der Verwaltung und wie die der übrigen Herren auf kriegerische Dinge, wenigstens kriegerische Ausbildung und Übung, und auf die Jagd als Hauptunterhaltung erstreckten. Diese wurde mehr und mehr ein Vorrecht der Herren, die ihrer Jagdleidenschaft auch dann huldigten, wenn sie geistlichen Standes geworden waren und hohe Kirchenämter bekleideten.

Ein wichtiges Gebiet war damals noch ein gemeinsames Geistesgut der Hohen und Niederen, das Recht, dessen Lebendigkeit und Volkstümlichkeit wiederum ein Zeugnis der Bewahrung der Eigenart ist. Es war Stammesrecht, aus altem Herkommen erwachsen. Je nach der Entwicklung hatte sich nacheinander eine Kodifikation desselben ergeben (vgl. S. 14), aber die fremde Sprache und Schrift machten einen volkstümlichen Gebrauch der Rechtsbücher selbst unmöglich. Wo man eine bestimmte Entscheidung nötig hatte, gab ein Mann geistlicher Bildung in einem Kloster oder an einem Herrensitz Auskunft: denn Handschriften der Rechtsbücher liefen genug umher. Es scheint aber, als ob im 10. Jahrhundert ein Teil der vornehmeren Laien soweit der lateinischen Schulbildung teilhaftig wurde, daß man gerade die Rechtsbücher lesen konnte. Im Volk lebte die Rechtskenntnis durch Überlieferung weiter, ja das Volk wirkte wie in der Vorzeit auch rechtsbildend und rechtsschöpferisch, vor allem in seinen ländlichen Gemeindegerichten. Noch lebte auch die volkstümliche Organisation der Hundertschaftsgerichte. Die Entwicklung der Zustände machte im übrigen manche Weiterbildung des Rechtes erforderlich: so bezüglich der Verhältnisse der zahlreichen Abhängigen, bei denen bald ein Streben nach aufwärts einsetzte. Bei der Ausübung der Rechtspflege war ja schon seit der fränkischen Zeit das Volk, das in den Hundertschaftsgerichten die Urteilsfinder, die Schöffen, stellte, durch die wachsende Macht des leitenden Richters, des vom König eingesetzten Grafen, der den gewählten Volksrichter allmählich verdrängte, einigermaßen beschränkt. Jetzt mochten den Richter auch schon hier und da aus dem kanonischen Recht stammende römische Rechtsanschauungen beeinflussen, wie es z. B. die strengeren Strafen zeigen. Im ganzen aber bleibt es bei einer lebendigen Anteilnahme des Volkes.

Weiter bestätigt die Namenwelt, daß die alte Eigenart durchaus weiter lebte, sich freilich nicht mehr in Neuschöpfungen[37] betätigte. Die germanische, überaus reiche, vor allem die Kampfes- und Kriegsfreude widerspiegelnde Namenwelt ragt noch in die jetzige Zeit, bis ins 12. Jahrhundert, kraftvoll hinein. Ja, die naturgemäß mit dem Christentum einströmenden fremden Namen (insbesondere Heiligennamen), die zuerst unter dem hohen Klerus und bei den geistlichen Frauen auftreten, gehen im 10. und 11. Jahrhundert wieder zurück.

Auch das soziale Leben hält sich im ganzen von Beeinflussung durch die fremde Kultur frei. Jene frühzeitlichen Zustände, die vielfach denjenigen bei anderen primitiven Völkern entsprachen, entwickeln sich nun langsam und ziemlich ungestört weiter. Das Familienleben zeigt noch das alte Gefüge, wenn auch die Bedeutung der Sippe stark geschwunden ist; so traten, wenn auch nicht bei allen Stämmen gleichmäßig, die Sippensiedelungen vor den nur örtlich verbundenen Siedelungsgenossenschaften zurück. Der Hausvater herrscht mit alter Gewalt; in niederen Kreisen ist die Frau noch oft Arbeitstier; selbst in höheren muß sie gelegentlich Züchtigungen erdulden. Sentimentale Gefühle walten bei der Eheschließung nicht, wie andererseits keine Weichheit den Kindern gegenüber besteht und in sächsischen Gegenden noch im 11. Jahrhundert Mißgeburten gelegentlich getötet werden. Die Ehe kam durch lange Verhandlungen der beiderseitigen Familienvertreter zustande; äußere, praktische, materielle Gründe sind, wie noch viel später, entscheidend. Mehr und mehr ist dank der Einwirkung der Kirche die Einwilligung der Braut erforderlich geworden. Die kirchliche Einsegnung dringt nur langsam durch und ist noch viel später nicht völlig allgemein. Frauenraub ist jetzt ein strafwürdiges Verbrechen. Das Eheleben verläuft in unbefangener Naturwüchsigkeit. Von einer besonderen Keuschheit ist jetzt noch weniger die Rede als früher, zumal nunmehr die Geistlichen häufig die Verführer spielten. Untreue war nicht nur bei den Männern, sondern auch bei den Frauen häufig. Wohlhabende Grundherren hielten auch ungehindert Beischläferinnen. Aus den unehelichen Kindern mochte sich vielfach die Geistlichkeit ergänzen. Eigentliche Sittenlosigkeit herrscht auch im Westen jetzt weit weniger als zu fränkischer Zeit, am wenigsten sonst in Sachsen, wo auch die frühere Achtung vor Geist und Gemüt der Frauen noch am lebendigsten erhalten ist.

Unverkennbar tritt im sozialen Leben die Stärke des deutschen genossenschaftlichen Geistes hervor. Sie zeigen vor allem seit uralter Zeit die Gilden, die sich vielleicht aus den germanischen[38] Geschlechtsverbänden entwickelt, von ihnen als wichtigen Kern des Zusammenlebens die Opfergelage – daher die Bedeutung der Gelage in späterer Zeit – übernommen haben und wie ein familiärer Verband eine feste Schutzgemeinschaft für den einzelnen in allen Verhältnissen bildeten, durch Eidschwur zusammengehalten, später christlich gefärbt und den christlichen Brüderschaften angenähert. Sie zeigt ferner die nach Schwinden der Sippensiedelungen eintretende nachbarschaftliche natürliche Organisation mit ihren wirtschaftlichen Grundlagen und Zielen, sie zeigt die größere Markgenossenschaft. Ebenso tritt aber auch das scheinbare Widerspiel dieses Geistes hervor, der Individualismus. Er ist es, der staatlicher Zusammenfassung, der Bildung einer straffen Zentralgewalt noch immer widerstrebt. Nicht nur das Fürsichleben der Stämme ist dafür bezeichnend, sondern vor allem die egoistische Machtgier der einzelnen Großen, die trotz Karls d. Gr. Einschreiten später immer aufs neue den Königen und in den Stammesgebieten wieder den Herzögen widerstanden.

Noch war auch das alte Machtmittel der einzelnen Großen lebendig, die Gefolgschaft, gestützt auf die für die germanische Sittlichkeit bezeichnende Mannentreue, die später noch die Epik der Spielleute feiert. Wie sich in den Kämpfen der Frühzeit immer nur die einzelnen Führer mit ihren Gefolgschaften als Hauptpersonen, ihre Stämme und Völker nur nebenbei gegenüberstanden, wie dann in der Heldensage der Gegensatz zwischen Goten und Römern völlig zurücktritt vor der Geschichte des einzelnen Helden mit seinen Getreuen, also vor allem Dietrichs von Bern (Theodorichs), so ist es vielfach noch jetzt. Jene Gefolgschaft hat aber nunmehr, wie schon seit fränkischer Zeit, neue Formen angenommen; sie steckt in der (so seit dem 8. Jahrhundert mit einem keltischen Wort bezeichneten) Vasallität, für die wieder die gallische Kommentation (s. S. 13), die Ergebung von unfreien, landlosen und schutzbedürftigen Leuten in den Schutz eines Mächtigen, vor allem zum Dienst in Not und Krieg, eine Vorstufe gebildet hatte. Diese Klasse der Vasallen wurde immer zahlreicher, ergänzte sich auch immer stärker aus Freien und bildete nicht nur die Umgebung des Königs, sondern auch die anderer Großer. Sie waren durch eine formelle Bindung (Treueid seit Mitte des 8. Jahrhunderts) vor allem zum Kriegsdienst verpflichtet, weshalb auch die geistlichen Organisationen Vasallen an sich fesselten. Da der Landbesitz durch die Ausbildung des Sondereigens die Grundlage des Daseins, seine Erträge die Hauptform des Unterhalts darstellten, war die[39] Übergabe von Grund und Boden zur Nutzung die natürliche Entlohnung. Das Austun von Land auf Zeit gegen Abgaben hatte zuerst die Kirche für ihren wachsenden Grundbesitz in der Form der römischen Precarei angewandt. Bei der Belehnung der Vasallen fielen aber die Abgaben fort: es war bloße Guttat, und so hieß das Lehen Benefizium. Bald gewann nun diese Belehnung dauernden, erblichen Charakter, und dies reizte immer mehr Leute zum Eintritt in die Vasallität an. So entsteht aus der Verbindung von Vasallität und Benefizialwesen das Lehnswesen, das zunächst nur der Schaffung eines Kriegs-(Reiter-)heeres diente – wie der König Land an Große verlieh, so verliehen diese es wieder an niedrigere Freie, um Reiter zu erhalten –, das aber schließlich alle öffentlichen Verhältnisse im Mittelalter tiefgehend beeinflußte (s. S. 105). Neben dem Kriegsdienst lag den Vasallen nämlich früh die Versehung von Ämtern ob, wie schon im germanischen Gefolge gewisse Verrichtungen verteilt gewesen sein werden, und die Entlohnung erfolgte ebenfalls durch Benefizium. Aus der tatsächlichen, nicht rechtlichen Erblichkeit der Benefizien ergab sich schließlich eine Erblichkeit der Ämter, schon gegen Ende der Karolingerperiode (s. S. 42).

Die ganze Erscheinung ist nun aber bezeichnend für das zielbewußte Macht- und Besitzstreben einer aristokratischen Schicht, die sich ebenfalls schon seit fränkischer Zeit über die Masse der Volksfreien erhoben hatte. Diese Heraushebung eines Adels ist eine natürliche Entwicklung bei den meisten Völkern, und wenn sie bei den Sachsen aus bestimmten Gründen schon vor alters eingetreten war, so ist dieser Vorgang für die Franken und die ihnen angegliederten Stämme wieder nur ein Beweis der selbständigen Eigenentwicklung auf Grund der fortschreitenden wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse: die Erscheinung trat daher noch später bei den Nordgermanen ein. Der Vorgang geht naturgemäß Hand in Hand mit einer Herabdrückung der Freien mit mäßigem Grundbesitz. Noch zu Beginn der fränkischen Zeit und später bildeten diese die große mittlere Masse, auf denen das öffentliche, das soziale Leben, der Kriegsdienst im wesentlichen ruhten. Über ihnen eine kleine Klasse von Großen, die durch Beute, durch Tapferkeit oder Klugheit, durch altes Ansehen in den Wanderungszeiten Macht erworben hatten und vom König aus dem eroberten Land umfassender beschenkt worden waren. Unter den Freien wieder eine größere Menge Unfreier, vielfach Romanen und Kelten. Ähnlich waren die Verhältnisse[40] noch viel später in den innerdeutschen Gebieten, bei den Alemannen, Bayern usw., wo die Freien mit kleinem Besitz noch lange in den Volksversammlungen in alter Weise zusammenkamen, überhaupt den Ausschlag gaben. Aber gerade in den eroberten Landen, im Frankenreich, hatte schon eine mit dem Eroberungsgeist einzelner und den auch weiterhin kriegerischen Zeiten zusammenhängende Umwälzung eingesetzt. Wir sahen bereits (S. 16), wie hier ein neuer Dienstadel Freie in Abhängigkeit brachte, oft durch Mißbrauch der amtlichen Gewalt, wie diese dann auch von selbst sich oft in ein Schutzverhältnis begaben und ihren Besitz als Lehnsgut unter bestimmten Verpflichtungen wiedererhielten. Die Entwicklung, die übrigens noch ganz in den Anfängen war, ging in karolingischer Zeit weiter: schon Karl d. Gr., der sich auf den neuen Adel für Krieg und Verwaltung stützen mußte, konnte nur gelegentlich offene Übergriffe strafen und kämpfte vergeblich gegen das System, mittelst dessen etwa der Graf den Freien, der ohnehin in den kriegerischen Zeiten durch die Heerespflicht (Reiterausrüstung, da das Heer immer mehr zum Reiterheer wurde), durch häufige Naturalverpflegung von Großen, durch den Zehnten der Kirche bedrückt war, durch schikanöse Anwendung des Heeresbannes u. dgl. ruinierte oder in Abhängigkeit brachte. Die persönliche Freiheit galt auch immer weniger; wichtiger war der Landbesitz, selbst wenn er belastet war; auch sonst versprach das Abhängigkeitsverhältnis Vorteile. Am leichtesten aber begab man sich in den meist bequemen Schutz der seligmachenden Kirche, deren steigender Grundbesitz auch immer mehr der Bewirtschaftung durch Zinsbauern bedurfte. Der Vorgang kommt in karolingischer Zeit keineswegs zum Abschluß, darf überhaupt in seiner Bedeutung und Ausdehnung nicht, wie lange, überschätzt werden.

Grundbesitz war die Quelle der Macht und des Wohlstandes: daher die Gier der schon Mächtigeren nach dessen weiterer Vermehrung, daher die Rodungslust der großen Grundherrschaft. Die Größe des Grundbesitzes aber erforderte wieder die Verfügung über Arbeitskräfte, d. h., da man nicht Lohnarbeiter haben konnte, über abhängige Leute, die als persönlich Unfreie dem Herrenhof selbst dienten oder als Zinspflichtige das Einkommen vermehrten, die üppigere Lebenshaltung sicherten und zu allerlei Diensten Arbeitskräfte stellten, auch zur Erschließung des Wildlandes. Soweit es herrenlos war, machte dieses neben dem eroberten und dem konfiszierten Land den mächtigen, anfangs im Wirtschaftsleben weit voranstehenden Besitz des Königs aus, der aber[41] wieder durch Weiterbegabung die Hauptquelle für den Grundbesitz des Adels und durch Schenkung für den der Kirche war. Das Gut der letzteren nahm der Herrscher freilich zu Zeiten wieder wie Königsgut zur Belehnung anderer in Anspruch, was aber durch neue Schenkungen früher oder später ersetzt wurde. Das Königsland, das sich bald nicht mehr wie früher vermehren konnte, wurde durch jene Verleihungen allmählich stark gemindert. Die Kirche aber erhielt ebenso wie vom König auch von den Herzögen, weiter auch vom Adel überhaupt immer neue Schenkungen. Meist handelte es sich dabei freilich um Wildland, dessen planmäßige Kultivierung die überlieferungsgemäß überlegene Wirtschaftskunst der Kirche am besten verstand. Gerade deswegen wurden die Klöster von Fürsten und Grundherren gefördert, damals also die der Benediktiner. Dazu kam der von der Kirche immer (s. S. 33 f.) angeregte Schenkungs- und Übertragungseifer der Kleinbesitzer. Diese Übertragung von Gütern war übrigens meist eine bedingte, d. h. sie geschah oft unter dem Vorbehalt der Nutznießung auf Lebenszeit. Oft verlieh die Kirche zu Nießbrauch mehr zurück, als sie erhielt. Im ganzen ist für den geistlichen wie übrigens auch für den weltlichen Besitz eine Verstreutheit der Güter (Streubesitz) charakteristisch. Die besitzlosen Abhängigen gebrauchte man zu Arbeitsdiensten, zur Rodung u. a. und setzte sie als Zinsbauern auf Neuland an, wie es auch die weltlichen Grundherren taten. Denn der diesen verliehene Besitz war auch meist Wildland. Seine weitere Vermehrung geschah dann oft auf die oben geschilderte Weise der Abhängigmachung anderer Freien.

So hatte sich denn mittelst der Zusammenfassung größerer Mengen von Grund und Boden die sozial und wirtschaftlich wichtige weltliche und geistliche Grundherrschaft gebildet. Neben dem eigenbewirtschafteten Fronhof bestand sie aus mehreren, dem hofrechtlichen Verband eng oder lose angeschlossenen Zinsgütern, aber auch aus solchen, die außerhalb desselben ausgetan waren. Die Zahl der eigentlichen geschlossenen Grundherrschaften bleibt aber gering gegenüber der Masse der (mehr oder weniger abhängigen) bäuerlichen Wirtschaften. Den Zusammenhang der Grundherrschaft mit der fortschreitenden Kultur mag man daraus erkennen, daß ihr Gebiet in erster Linie die am frühesten kultivierten Lande, der Westen und Süden, vor allem die eigentlich fränkischen Teile sind. Ihre Hauptzeit reicht etwa bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. Ihre Bedeutung, die man eine Zeitlang viel[42] zu hoch eingeschätzt hat, liegt einmal in der systematischen Erschließung des Wildlandes, zu der es eben einer Organisation bedurfte, weiter in der Durchführung höherer Wirtschaftsformen, der Einführung von Spezialkulturen und der wirtschaftlichen Erziehung der in der Mehrheit wirtschaftlich immerhin selbständigen bäuerlichen Bevölkerung, die aber von der Grundherrschaft oft auch unbeeinflußt blieb, sodann in der Hebung und Verfeinerung der äußeren Lebenshaltung, wozu eben die größeren Einkünfte die Möglichkeit boten, also auch in einer Förderung der Kunst, endlich in der Übernahme einer Reihe von öffentlichen und Verwaltungsaufgaben, die ihr schon die Karolinger notgedrungen immer mehr überlassen hatten, zu deren Lösung aber auch die schwache Zentralgewalt in einem weiten Reich mit sehr unentwickelten Verkehrsverhältnissen noch nicht fähig war. In letzterer Beziehung kam nun die in karolingischer Zeit immer häufigere, als Entlohnung aufzufassende Verleihung von Hoheitsrechten bedeutsam hinzu, vor allem die der Immunität (s. S. 13), die zunächst Verbot des Eintrittes der öffentlichen Beamten in ein geistliches, bevorrechtetes Gebiet, weiter Erhebung der öffentlichen Abgaben durch den Immunitätsherrn und Ausübung der Gerichtsbarkeit über die Insassen des Gebiets bedeutete. Weiter ist dann der Zusammenhang von Grundherrschaft und Lehnswesen wichtig. Viele Lehnsträger wurden durch die erwähnte Erblichkeit der Lehen zu Grundherren; andere Grundherren vermehrten ihren Besitz durch die Lehen. Vor allem aber trug die eingetretene, freilich erst später anerkannte Erblichkeit der zu Lehen gegebenen Ämter, besonders des Grafenamts, dazu bei, daß die damit belehnten Grundherren, deren Macht noch durch die Erlangung der erwähnten Hoheitsrechte und ausgedehnten sonstigen Besitz gehoben wurde, sich schließlich zu Landesherren auswuchsen. Auch die geistlichen Grundherren erhielten durch jene Hoheitsrechte diesen Charakter.

Die mächtigsten, zu kleinen Staaten gewordenen Grundherrschaften haben dann die alten Gaue, die zwar wesentlich geographische Bezirke sind, aber doch eine gewisse Grundlage des öffentlichen Lebens bildeten, beseitigt, völlig etwa mit dem 11. Jahrhundert, wenn auch ihre Namen zum Teil im Volke ziemlich zähe weiterlebten. Anfangs fielen die Grafschaften mit den alten Gauen auch oft zusammen, freilich nur in beschränktem Maße. Wie es keinen Gau und keine Gauversammlung der Freien mehr gab, so war auch die große Masse der Freien nicht[43] mehr der Träger des öffentlichen Lebens. Es herrschte eine auf großen Grundbesitz gestützte Aristokratie, wenn man auch die Macht der staatlichen Gewalt nicht unterschätzen und ebensowenig vergessen darf, daß auch die ländliche Gemeinde nicht ganz bedeutungslos war.

Gewiß hatte die Entwicklung ein gutes Stück alten Lebens vernichtet. Auf der anderen Seite ist aber von einer Vernichtung der kleinen bäuerlichen Besitzer gar keine Rede. Im Gegenteil war die Übertragung des Eigens an Herren oder Kirche und seine Wiedergewinnung gegen Abgaben und Leistungen (Dienste) vielfach nur eine Sicherung vor dem Ruin in der kriegerischen und gewalttätigen Zeit. Gerade auf diesen Zinsbauern beruht auch die eigentlich wirtschaftliche Leistung dieses Zeitabschnittes, freilich unter Führung der Grundherrschaft. Denn an dem Eigenbau der Grundherrschaft ist in dieser älteren Zeit durchweg festzuhalten. Die Zinsbauern – von den »Hörigen«, die Grundzins zahlen, unterscheiden sich oft selbst die persönlich Unfreien, die Kopfzins zahlen, in ihrer Lage nicht – lebten auch in so mannigfach abgestuften Verhältnissen, daß die bevorzugtesten sich von Freien nur wenig unterschieden, zumal die »Freiheit« jetzt wenig bedeutete. »Freie Leiheformen« kommen früh vor. Ferner hielten sich aber auch die eigentlichen Freien in den Alpenländern, in den Marschgebieten der Nordsee, auch in Westfalen, zum Teil von den grundherrlichen Wirtschaftsfortschritten nicht berührt und daher rückständig. Man hat neuerdings auch für andere Gebiete die Minderung der Freien durch die Grundherren bestritten. Die Vermehrung der Lasten war im übrigen durch eine frühe Festlegung derselben mindestens erschwert. Wie angedeutet, kamen sogar persönlich Unfreie durch jenes Austun von Land zu Zinsgütern, verbesserten also ihre Lage. Die besser gestellten Zinsleute aber hoben sich immer mehr und galten schließlich bei freieren Abhängigkeitsverhältnissen als frei. Allmählich geht auch der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit von den Herrenhöfen auf die kleineren Zinsgüter über. Davon werden wir später (S. 94 f.) hören.

Zunächst aber erfüllte die Grundherrschaft, überhaupt die Herrenschicht, jene kulturelle Aufgabe in wirtschaftlicher Beziehung wie in Hinsicht höherer Lebenshaltung. Damit setzt die am Anfang aller höheren Kulturentwicklung stehende soziale Sonderung stärker ein: ihrem Fortschreiten steht wieder das Streben nach Annäherung gegenüber. Die Beeinflussung[44] der großen Menge bleibt freilich gering, und auch innerhalb der Herrenschicht werden die roheren Zustände oft nur durch Einzelheiten ein wenig verfeinert. Die Fortschritte verdankte man im wesentlichen romanischen Einflüssen, auch die wirtschaftlichen, abgesehen natürlich von der gewaltigen Rodungs- und Ausbautätigkeit selbst, einem Hauptverdienst der Grundherrschaft. Es war ein mehr quantitatives Verlangen nach immer neuem Kulturland, und die Kirche wurde diesem Verlangen vor allem dienstbar gemacht. Bei ihr war auch sonst die Führung, vor allem bei den Klöstern, wesentlich, weil sie italienische und westfränkische, also im Grunde antike Überlieferungen in das innere Deutschland verpflanzten. Sie haben vor allem Muster für eine Wirtschaftsorganisation in größerem Maßstabe gegeben, wie einst der große Organisator Kaiser Karl. Unter ihrer Leitung wurde systematisch gerodet, der Körnerbau eifriger gepflegt, der Gemüsebau bereichert, der Gartenbau und die Obstkultur gehoben, ein sorgfältig betriebener Weinbau verbreitet. Der Garten in unserem Sinne, neben dem Baum(Obst)garten der Gemüse-, dann der Heilkräutergarten und damit der Anfang zum Ziergarten, geht recht eigentlich von den Klöstern aus, auch gerade seine regelmäßige Anlage, die allmählich künstlicher wurde. Der Weinbau dehnte sich in karolingischer Zeit schon weiter nach Osten und Nordwesten aus und später selbst in die Koloniallande des Ostens bis ins Ordensland, insbesondere wegen der gottesdienstlichen Verwendung des Weines von den Klöstern eingeführt. Wassermühlen verbreiteten sich durch sie von Westen her; in den klösterlichen Brauhäusern wurde besseres Bier gebraut, dabei der Hopfen (wohl aus Gallien) eingeführt, in den Backhäusern feineres Brot gebacken (schon wegen des Abendmahls, das auch den Wein verlangte). Die Fastenspeise zu gewinnen, legte man Teiche an und pflegte die Fischzucht. Die feinere Kochkunst ist wesentlich klösterlichen Ursprungs, ebenso die bessere Butterbereitung. Besondere Förderung fand die gewerbliche Arbeit, vor allem das Bauwesen (Steinbau), bis hinauf zu künstlerischer Tätigkeit. Die antike Überlieferung führte auch zu Wasserleitungen, und Brückenbauten waren häufig.

Solcher Verdienste, namentlich nach der organisatorischen Seite, entbehrt auch die weltliche Grundherrschaft nicht, wenigstens folgte sie vielfach dem geistlichen Vorbild (Gemüse-, Weinbau u. a.). Die Düngung ward jetzt die Regel – die Dreifelderwirtschaft war es seit langem –, der Wiesenbau verbreitete sich stärker im Zusammenhang[45] mit der Stallfütterung. Die Viehzucht hob sich entsprechend ständig, wenn sie auch im allgemeinen jetzt mehr zurücktrat. Sehr gepflegt wurde die Pferdezucht (für Krieg und Reisen); wegen der Wolle nahm die Grundherrschaft auch die Schafzucht mehr und mehr in die Hand. Die Betriebsformen des Ackerbaus blieben aber, wie noch lange, ziemlich die alten. Im ganzen sind, z. B. bezüglich des Obst- und Gemüsebaues wie der Bevorzugung des Weizenbaues, Unterschiede zwischen dem Westen und Osten noch immer bemerkbar. – Die Kleinwirtschaft stand natürlich hinter der Grundherrschaft zurück, namentlich bezüglich der gartenmäßig angebauten Früchte (Gemüse, Hanf, Flachs, Hopfen, Waid usw.) wie des Weinbaus, der Wiesenkultur, der Viehzucht. Das Schwein blieb das Haupttier des kleinen Mannes; ebenso war die Geflügelzucht wesentlich bäuerlich. Man muß aber bedenken, daß die Zinsbauern doch die eigentlichen Träger des Betriebes der Grundherrschaft waren. Im ganzen kann von einer noch lange dauernden, ziemlich gleichmäßigen Einfachheit des wirtschaftlichen Lebens, das meist wohl gedieh, gesprochen werden.

Und diese Einfachheit zeigen im wesentlichen auch jetzt noch die allgemeinen Lebensverhältnisse, so sehr die Steigerung der Gegensätze auf diesem Gebiet betont werden muß. Das Charakteristische ist das Überwiegen wie die Gemeinsamkeit der landwirtschaftlichen Interessen, entsprechend der naturalwirtschaftlichen Gesamthaltung der Zeit. Damit ist aber nicht jede Bedeutung von Gewerbe und Handel ausgeschlossen[7]. Auch das ländlich-kriegerische Leben bedarf beider. Das Handwerk war größtenteils etwas vorgeschrittene Hausarbeit, besonders die Weberei. In der Grundherrschaft wurde nun die Weberei zu einem größeren Betrieb, dessen Trägerinnen aber die Frauen blieben, und auch sonst entwickelte sich dort eine umfassendere und zum Teil auch durch Arbeitsteilung spezialisierte gewerbliche Tätigkeit, namentlich nach der landwirtschaftlichen Seite hin (Stellmacher, Müller, Bäcker, Brauer, auch Maurer). Der Schwerpunkt der Entwicklung liegt aber nicht bei der Grundherrschaft mit ihrer oft falsch aufgefaßten Organisation, sondern bei den mehr oder weniger selbständig arbeitenden einzelnen Leuten, die, obwohl vielfach zinspflichtig, doch in einem herkömmlich erlernten Gewerbe[46] oder in einer selbsterworbenen Kunstfertigkeit für andere, insbesondere auch für Grundherren, in freier Weise tätig sein konnten. So gab es von altersher Schmiede, insbesondere Waffenschmiede, so Töpfer, Böttcher, Drechsler, Seiler, Gerber und Sattler, so sehr früh jene friesischen Weber. Das höhere Kunstgewerbe, wie Erzguß, Edelmetallbereitung, Malerei, höhere Baukunst, aber auch fremdartige Techniken, wie die Glasbereitung, blieben freilich wesentlich auf die Klöster beschränkt.

Knüpfte schon früh an die nicht an Ort und Stelle zu deckenden Bedürfnisse ein primitiver Handel an, heftete sich dieser früh auch an bestimmte, örtlich spezialisierte Erzeugnisse wie die friesischen Tuche oder an Waffen u. a., so war bei wachsenden Lebensansprüchen der Herrenschicht der Handel mit kostbaren Stoffen, Schmuck und Gerät, prächtigen Rüstungsstücken, feineren Genußmitteln und Gewürzen auch in einem ländlichen Dasein bald notwendig. Neben dem an Versammlungsstätten, bei Festen, an alten Verkehrspunkten früh einsetzenden Markthandel mit den Erzeugnissen der Landwirtschaft, des Hausfleißes oder jener selbständigeren Handwerker entwickelte sich der Handel mit den begehrten Waren der Fremde, des Orients insbesondere, aber auch mit gewissen Rohstoffen des Auslandes immer lebhafter. Er wird auch, abgesehen von gelegentlichen, herumziehenden Händlern, z. B. Mönchen, immer mehr von einer bestimmten Schicht getragen. Es überwiegen zunächst freilich die fremden Händler, die Juden vor allem, die Italiener, im Osten anfangs sogar die Slawen. Aber es gab auch früh einheimische Kaufleute; insbesondere vertrieben die Friesen (s. S. 26) nicht nur ihre friesischen groben Tuche, sondern vor allem auch die feineren englischen Tuche über die Lande und über See. Nach Osten hin herrschte bald der deutsche Kaufmann, auch nach Norden. Ein wesentlicher Zug des gerade in den Zeiten unentwickeltem Verkehrs ganz unentbehrlichen Kaufmanns ist sein Umherfahren; das gilt zum Teil auch für die verkaufenden Handwerker. Mit dem von den Herren geförderten Zuge in die Städte wurden diese Kaufleute seßhafter, für die Händler mit Fernwaren, die nun zum Teil zu Großhändlern wurden, blieben aber die Fahrten in die Fremde bezeichnend und notwendig, insbesondere in den Seestädten. Alle Welt schätzte auch den Kaufmann; er stand auf der Fahrt in des Königs Schutz, es wurden ihm besondere Privilegien in den Städten verliehen. Freilich war er auch als Gegenstand der Belastung mit Zöllen begehrt, und das ursprünglich[47] königliche Recht der Zollerhebung wurde von den Herren mehr und mehr in Beschlag genommen und in mannigfaltigster Weise ausgebildet.

Am meisten förderte den Handel das Aufkommen eben der Städte, also ständiger Marktorte, mit einer dichteren, ungleichartigen, verschiedene Bedürfnisse entwickelnden Bevölkerung. Auch für jene selbständigeren Handwerker bedeutete der Zug in die Städte eine ganz neue Stufe: die größere Bevölkerung und die höheren Ansprüche förderten das Handwerk innerlich und äußerlich; auf ihm beruhte ja auch ein großer Teil des städtischen Handels. Die äußere Entstehung der Städte ist zu einem guten Teil, ebenso wie im Altertum, an die Burgen (s. S. 49) anzuknüpfen, vor allem in Sachsen, dem neu in die Entwicklung getretenen Lande. Die unsicheren Zeiten treiben die Leute zu Siedelungen im Umkreise einer schützenden Burg; durch Gewerbe und Handel vermehrt sich die Bevölkerung; der natürlich zunächst dem Herrn der Burg gehörige Ort erhält jenen Marktcharakter. Die anfangs sehr unentwickelte sichernde Befestigung, die sich in den unruhigen Zeiten oft auch in Dörfern (Kirchhöfe) wie bei Klöstern findet, dehnt sich auf den Ort selbst aus. »Burg« bleibt die eigentliche Bezeichnung für das neue Gebilde, wie zahlreiche Städtenamen beweisen; »Bürger« heißen die Einwohner. Ebenso wichtig ist nun aber die Entwicklung aus einem befestigten Dorf heraus, das durch günstige wirtschaftliche Bedingungen, als Salzort z. B., durch die Lage an Flußübergängen, Straßenkreuzungen usw. Bedeutung hatte. Oder die Marktsiedelung gliederte sich an ein Kloster an (wie ja auch Dorfsiedelungen sich früh um Kapellen [Zellen], die Wallfahrtsorte waren, bildeten), so in Hersfeld oder Gandersheim, oder an einen Bischofssitz (Bremen, Magdeburg, Paderborn), vor allem aber an eine königliche Pfalz (Goslar, Dortmund). Letztere wie die Bischofssitze befanden sich im Süden und Westen aber zunächst in den alten Römerstädten, die trotz ihrer Vernachlässigung immerhin Marktorte geblieben waren. Namentlich als Bischofssitze hatten sie besondere Anziehungskraft. Ihr Anlageplan, die rechteckige Castrumsform mit rechtwinklig sich schneidenden Straßen wirkte dann wohl auch auf die älteren Neugründungen von Städten (s. S. 48). Immerhin handelt es sich im Westen häufig nicht um Gründungen, die übrigens meist neben einer älteren Siedelung erfolgten, sondern um allmähliche Entstehung, und häufiger als ein regelmäßiger Grundplan ist die Unregelmäßigkeit der dörflichen Wohnweise zu erkennen.

[48]

Der Mittelpunkt ist immer der Marktplatz. Nach außen charakterisieren die Stadt die Mauern. Bei den Römerstädten waren diese lange vernachlässigt, erst das 9. und 10. Jahrhundert führten zu ihrem Wiederaufbau. Das aus dem Burgcharakter der Stadt hervorgehende weitere bedeutsame Entwickelungsmoment ist nun der Burgfrieden (Königsfrieden); an ihn knüpft der Stadtfrieden, ein die Stadt heraushebender Rechtsumstand, der auch das wirtschaftliche Leben schützt und fördert, vor allem Gewerbe und Handel. Der Königsfrieden ermöglicht erst den Charakter der Stadt als Marktort; er wird auch an Märkte, die ohne Burgenschutz an Verkehrspunkten aufkamen, verliehen. Der Frieden bewirkt auch den Schutz der zuziehenden Unfreien: Stadtluft macht frei. Der Marktcharakter wird immer bedeutungsvoller für die Stadt; ein eigenes kaufmännisches Gewohnheitsrecht bildet sich aus; »mercatores« heißen die Bürger, worunter freilich nicht lediglich Kaufleute von Beruf zu verstehen sind. Zunächst überwiegen überhaupt jene verkaufenden Handwerker. Aber alles bleibt doch in landwirtschaftlichem Bannkreise. Grundbesitz war die erste Bedingung auch für den Bürger, wenngleich sich die Grundbesitzverhältnisse bald eigenartig (Zins an den Grundherrn ohne persönliche Beschränkung) gestalteten. Kaufmann und Handwerker trieben oft auch noch Ackerbau und Viehzucht; die Städte blieben zunächst Ackerbaustädte, und Stadtgemeinde und Landgemeinde unterschieden sich anfangs auch in den Römerstädten nicht. Größerer Verkehr wurde am ehesten durch die kirchliche Bedeutung einer Stadt herbeigeführt. Keineswegs ist sodann die Überwindung der alten Städtefeindlichkeit nur aus den Bedürfnissen höherer Wirtschaft, überhaupt nicht aus der freien Volkskraft herzuleiten, wenigstens nicht vorwiegend. Die Städte sind vielmehr zunächst ein Werk der Herren, aus egoistischen Gewinn- und Machtinteressen heraus sind sie auf dem Boden der Herren gegründet. Denn nicht nur im Osten bei dessen beginnender Kolonisation, sondern auch im Westen sind schon im 12. und namentlich im 13. Jahrhundert Städte durch weltliche und geistliche Fürsten planmäßig gegründet worden. Bei der eifrigen Ausbau- und Rodungstätigkeit hatte man übrigens auch schon Dörfer nach einem gewissen Schema gegründet, die regelmäßigen Reihendörfer rechts und links der Straße mit dem Ackerstreifen dahinter (Wald- oder Hagenhufen), wenn auch das unregelmäßige Haufendorf das Gewöhnliche blieb. Die regelmäßige Anlage von Dorf und Stadt wird dann im Osten[49] die Regel. Von den Herren wurden die Städte auch sonst gefördert, der Zuzug in sie oft künstlich herbeigeführt, Marktprivilegien erworben, Befestigungen ausgeführt, Kaufstätten errichtet, Verwaltungseinrichtungen getroffen. Die Marktverwaltung ging dann freilich früh an den aufkommenden städtischen Rat (s. S. 99) über.

Und dieses Hervortreten der Herren ist nun überhaupt das Charakteristische. Auch äußerlich sondern sie sich jetzt schärfer von der Masse ab. Seit dem 10. Jahrhundert wohnen die Herren bei den immer kriegerischeren Zeitläuften immer längere Zeit, schließlich dauernd in den Burgen, zunächst in den alten »Fluchtburgen«, die es in Sachsen noch lange gab; die Herrenhöfe in deren Nähe werden bloße Wirtschaftshöfe. Andere Herren befestigen diese selbst – anfangs bedurfte es zu Befestigungen der Einwilligung des Herrschers – oder führen, wenn ihnen keine Fluchtburg zur Verfügung steht, immer häufiger auf Bergen oder Erhöhungen Befestigungen auf, anfangs sehr einfacher Natur, legen Besatzungen hinein, folgen aber bald selbst mit den Ihrigen. Auch in der Ebene errichtet man Burgen mit Wall und Graben, meist im Schutz umgebenden Wassers. Neben königlichen und herzoglichen Burgen entstanden solche Adelsburgen erst im 11., 12. und 13. Jahrhundert zahlreicher. Es ist damit ein gewisses Heraustreten der Herren mindestens aus der landwirtschaftlichen Eigenbetätigung gegeben. Es zieht die Herrenschicht immer weniger zu dieser Arbeit, mehr zum Genuß und vor allem zum Kriegsleben (s. S. 36). Der Kriegsdienst ist ein besondere ritterliche Übung erfordernder Beruf geworden. Von einem Volksheer ist keine Rede mehr: den niedrigeren Leuten liegen kriegerische Interessen größtenteils fern. Immerhin ist das Dasein im ganzen noch kein friedliches; die Zeit zwingt auch die niederen Schichten, wehrhaft zu bleiben. Aus dem gleichen Sicherungsbedürfnis heraus entsteht die Burg und damit schließlich die feste Stadt. Aber in den landwirtschaftlichen Interessenkreis bleibt doch auch die Herrenschicht durchaus gebannt. Ein Teil ist mit dem Wirtschaftsleben noch tätig leitend eng verbunden; aber auch für den anderen ist doch die Grundlage des Lebens die bäuerliche Tätigkeit wenigstens der Zinspflichtigen. Mit dem wirtschaftlichen Gedeihen, mit dem Steigen der Naturallieferungen wächst dann aber die Neigung, ein bequemes Herrendasein zu führen, die Lebenshaltung üppiger zu gestalten.

Aber noch überwiegt doch, wie betont, im inneren Deutschland[50] zumal, der Charakter altheimischer Einfachheit. Noch lange ist die Wohnung nach germanischer Weise aus Holz gebaut. In den Dörfern mochten die Bauten zuweilen sogar dürftig sein: das niedersächsische Bauernhaus ist noch heute zum Teil ein Fachwerkbau, dessen Zwischenräume mit Lehm beworfenes Flechtwerk bildet. In den innerdeutschen Städten überwogen die Holzbauten noch bis tief ins Mittelalter. Und auch der Herrenhof zeigt zunächst den Wohnbau aus Holz, ebenso wie die Burg, für die erst die Einflüsse der Züge nach Italien und später der Kreuzzüge einen Wandel brachten. Auch dann blieben ungefüge Mauern aus Sammelsteinen noch häufig. Der Steinbau, auf dessen römischen Ursprung alle mit ihm zusammenhängenden Worte hindeuten, wie alle auf den Holzbau bezüglichen Worte (Balken, Brett, Halle u. a.) deutsch sind, dringt aus dem fränkischen Westen und dem Süden nur langsam in das Innere, d. h. zunächst nur, wie es auch dort die Regel ist, für die Pfalzen, Klöster und Kirchen. Letztere sind in Sachsen noch im 11. Jahrhundert meist aus Holz (Fachwerk). Aber das Holzhaus der Herren zeigte doch immerhin schon seinen besonderen Charakter. Wie die jetzt gewöhnliche Mehrräumigkeit an Stelle der alten Einräumigkeit zuerst im Hause der Vornehmen ausgebildet sein mag – die Absonderung einzelner Räume geschah zunächst durch Vorhänge (Wand) – und die Einräumigkeit nur noch in der Halle erhalten bleibt, so zeichnet sich dieses Haus auch sonst durch stattlichere Bauart, allmählich vielleicht durch ein steinernes Untergeschoß, bald wohl auch durch größere Seitenfenster aus.

Einen entsprechenden Unterschied von der großen Masse zeigt dann vor allem die Ausstattung des Herrenhauses. Die in jüngeren Gesellschaften auftretende Prunkliebe – der Reichtum wie die Macht müssen sich äußerlich zeigen, auch in dem Halten zahlreicher Dienerschaft – äußert sich in dem Verstecken der einfachen Holzflächen (in ihrem Bedecken mit weichen, wärmenden Stoffen zeigt sich aber ebenso das praktische Bedürfnis nach Wärme bei den nur mangelhaften Heizeinrichtungen): Teppiche deckten den Fußboden, wurden aber auch, von Frauenhand gewirkt und mit bildlichen Darstellungen geschmückt, an die Wände gehängt. Weiche Kissen lagen auf den Sesseln und Bänken. Das Bett war reich mit Federkissen, auch mit Decken versehen; zu dem vielfach noch lange gebrauchten Strohsack des Unterbetts paßten schlecht die prunkvollen Bettvorhänge. Althergebracht war sodann die Vorliebe für kostbare Waffen wie für sonstige[51] Arbeiten aus Metall, vor allem aus edlem, überhaupt die hohe Schätzung des letzteren sowie der aus dem Orient stärker einströmenden Edelsteine. Edelsteinbesetzte Goldgefäße, Elfenbeingeräte u. dgl. besaß vor allem wieder die Kirche. In die mittlere Herrenschicht mochte dergleichen schon seltener kommen. Und den vereinzelten kostbaren Bechern, Schalen und Trinkhörnern, den allgemein üblichen Teppichen und Kissen gegenüber war der sonstige Hausrat doch von der alten Einfachheit, ja Dürftigkeit, selbst bei weltlichen und geistlichen Fürsten, entsprechend den sonstigen Unvollkommenheiten der Wohnung (s. unten S. 85). Die Möbel (Bänke, Tische und Truhen) mochten freilich reicher geschnitzt sein, auch zum Teil Metallbeschläge haben. Besonders dürftig blieb, wie noch lange, die Beleuchtung (Kienspäne, Fackeln, Näpfe mit Fett und Docht, selten noch Kerzen). Nach unten hin minderte sich der Hausrat natürlich erst recht.

In der Kleidung zeigten sich bessere Lage und größere Ansprüche wieder in einer prunkenden Stoffülle, die zugleich auch wieder wie das teure, aber begehrte Pelzwerk das Wärmebedürfnis befriedigen soll, weiter in der Sucht nach selteneren, goldgewirkten Stoffen oder kostbarem Besatz und in der ausgiebigen Verwendung von Gold-, Silber- und Edelsteinschmuck an den Gewändern, auch an Schuhen und Hüten wie am Körper selbst (Ohrringe, Ketten usw.). Gürtel und Rüstung sind öfter vergoldet. Jugendlich-natürlich ist die Vorliebe für bunte, oft grelle Farben, überhaupt die Farbenfreude. Über einen farbigen Ärmelrock zieht man einen andersfarbigen ärmellosen; Mantel, Rock und Hosen sind verschiedenfarbig; die Grundfarbe eines Stückes beleben kleine Flicken in mannigfachen Formen von anderer Farbe; auch die Schuhe sind meist bunt. Trotz des Wechsels der Mode, insbesondere der bald weiten, bald engen Kleidung, herrscht in der Tracht noch im ganzen volkstümliche Gleichförmigkeit innerhalb der Stämme. Freilich, der kleine Mann blieb von jenem Prunk weit entfernt, wie ihm auch Stoffe von bescheidenen Farben (braun und gelb) zukamen. Schon trug er aber die früher seltene Kopfbedeckung (Stroh- oder Stoffhut oder Mütze). Haar und Bart wurden jetzt allgemein kurz, d. h. nicht nach Art der Knechte ganz kurz, getragen, nur anfangs bei den Sachsen noch nicht.

Auch in der Nahrung bestanden große Unterschiede zwischen der Herrenschicht und der großen Masse. Hing diese noch an der alten, einfachen, in dem bäuerlichen Dasein natürlich reichlichen[52] Speise, an dem Brei, besonders an dem volkstümlichen Hirsebrei, an gewöhnlichem Brot, Milch und Käse, an dem übrigens nicht regelmäßig genossenen Fleisch, besonders an Schweinefleisch, an festlichem, freilich nicht gehopftem (Hafer-)Bier, war ferner die Fischnahrung (auch der Genuß getrockneter Fische) wegen der kirchlichen Fasten auch im Binnenland stärker verbreitet, so war die Herrennahrung doch schon vielfach verfeinert. Das Muster gaben wieder die Klostergeistlichen als Verbreiter feinerer Backkunst, besser zubereiteter und gewürzter Gerichte, leckerer Eierspeisen, häufigen Gemüse- und Salat- und vermehrten Obstgenusses (auch des Genusses fremder Früchte). Braten, vor allem Wildbret und Geflügel, waren, wie früher, dem Herrentisch besonders eigen. Die Neigung zu (den teuren) fremden Gewürzen ging früh über das Maß hinaus. Die stark gewürzten Speisen vermehrten den Durst. In der Trink- und Gelagefreude blieb man national und unterschied sich von dem kleinen Mann auch nicht in der rohen Vielesserei. Aber neben dem nunmehr auch gehopften Weizen- und Gerstenbier trank der Vornehme bei dem starken Weinbau schon häufiger Wein (Würzwein), selbst fremden, beides wieder nach geistlichem Muster, aber auch noch Met, der freilich feiner zubereitet war.

Man kann fragen, ob nicht die beginnende Verfeinerung des Lebens der Herrenschicht eine lebhaftere künstlerische Betätigung hervorgerufen hat. Indes ist diese höhere künstlerische Ausschmückung des Daseins wesentlich fremden Ursprungs. Wenn die einen neuerdings viel von einer eigentümlich germanisch-deutschen Kunst sprechen, die anderen trotz aller Phantasie, die die Germanen besonders in ihrer Dichtkunst bewährten, »jene feinere sinnliche Reizbarkeit, die zur bildenden Kunst führt,« leugnen (Dehio), so können jene in der Hauptsache nur auf die altnationale Übung der Holzschnitzerei und der Bemalung des Schnitzwerks hinweisen. Andererseits wären selbst nach Dehio die späteren Kunstleistungen der Deutschen nicht zu begreifen, wenn nicht »in einem sehr verborgenen Winkel der germanischen Volksseele auch ein Keim zu künstlerischer Anlage bereit« gelegen hätte. Aber er sei lange unsichtbar geblieben. Es ist die antike, von der Kirche vermittelte Kunst, auf der die höheren Kunstschöpfungen, wie der Romanen, so auch der Deutschen zunächst allein beruhen (s. S. 13). Aber jetzt ist doch das bereits in karolingischer Zeit von den Franken gewonnene Verständnis vor allem für die Baukunst schon bedeutend fortgeschritten, sind die Eindrücke der[53] fremden Bauten selbst in den sächsischen Gebieten erheblich tiefer geworden. National war freilich nur der Holzbau, an dem man noch lange (s. S. 50) festhielt; aber er entwickelte sich, auch in der weiteren Entfaltung durch den Steinbau gehindert, nur in beschränktem Maße und war zudem den auf feste Dauer und äußeren monumentalen Eindruck hindrängenden Anforderungen der weltbeherrschenden Kirche nicht gewachsen. Entscheidend war aber sein Widerspruch zu der antik-kirchlichen Überlieferung. Sie wurzelte im Steinbau, und dieser wurde auch der Träger der höheren, von der Kirche beeinflußten Baukunst. Zunächst lernte man die Technik in Anlehnung an die bessere romanische Übung langsam und schwerfällig, aber immer vollkommener beherrschen: erst im 12. Jahrhundert ist diese Zeit der Aufnahme, in der indes viele höhere Elemente der späteren Zeit bereits wurzeln, zu Ende. Weiter aber wurde der Steinbau doch dem nationalen Empfinden vertrauter. Einerseits mußte auch für die große Menge der ständige Anblick der allmählich häufigeren Steinbauten ebenso wie der Innenschmuck derselben besonders durch die religiöse Wandmalerei eine innere Inanspruchnahme auch nach der künstlerischen Seite zur Folge haben. Andererseits kam aber der die Kunst tragende geistliche Teil des Volkes zu einer Weiterentwicklung des Überlieferten in nationalem Geist, zu einer Verschmelzung bodenständiger Eigenart mit dem fremden Gut.

Gerade das am meisten kunst- und kulturarme sächsische Gebiet geht in der Ausbildung eines wirklichen Kunstlebens voran. Hier erblühten unter Bischof Bernward, freilich einer Ausnahmeerscheinung, in Hildesheim der Erzguß und andere Künste. Hier, in Gernrode und wieder in Hildesheim, entstanden die ersten Denkmäler des neuen romanischen Baustils, dessen Grundelemente der späten, christlichen Antike verdankt werden. Man darf trotz der ähnlichen Entwicklung in Italien und Westeuropa den Stil als einen wesentlich, freilich nicht durchaus deutschen ansehen. Ungeschlachte, breit hingelagerte Massigkeit, urwüchsige Kraft, Ernst, Einfachheit und strenge Herbheit wie die individuelle Gestaltung in den einzelnen Landschaften beweisen seine Bodenständigkeit. Dazu kommen eigenartige Züge wie der Stützenwechsel, bei dem Säulen und Pfeiler abwechseln. Als sich unter den salischen Kaisern der Schwerpunkt des Reiches wieder nach Westen und Süden neigte, geht die Entwicklung entsprechend der reicheren Gestaltung des Lebens und der Lebenshaltung weiter. Die Bauten wachsen in die Höhe, namentlich das Mittelschiff,[54] die immer zahlreicher angebrachten und immer höheren Türme werden ein bedeutsamer, wechselnd geformter Faktor des Ganzen, die Fenster werden höher, die Außenflächen nunmehr auch sonst belebter, gegliederter, dekorativer ausgebildet. Überhaupt hat die Gestaltung der Außenseiten des Baus von vornherein in romanischen Stil eine höhere Bedeutung gehabt als bei dem ursprünglichen Kirchenbau. Im Innern erhöht sich die Wirkung durch die aus dem Steinbau sich ergebende Wölbung der Schiffe, die vorher eine flache Holzdecke abschloß. Dies Problem löst völlig freilich erst die Gotik. Die Kathedralen von Speier und Worms zeigen alle diese Veränderungen eindrucksvoll. Ganz dem Geist der Zeit entsprechend trägt auch der romanische Stil aristokratischen, vornehmen Charakter, selbst an künstlerisch nicht hochstehenden Bauten. Auch in äußerlicher Beziehung zeigt sich eine Verbindung mit der aristokratischen Welt. Die Herrscher, deren Hof ja nicht an einen festen Ort gebunden war, spielen bei den großen Bauten eine nicht unwesentliche Rolle. Dehio hat auch darauf hingewiesen, daß die großen Bauherren, die Bischöfe, meist dem Hofklerus entstammen. Leitung und Ausführung lagen bei allen Bauten, wie gesagt, in den Händen der Geistlichen, so wenig deren Können über die hergebrachten Mittel lange Zeit hinauskam. Aber mit jenen gewaltigen Schöpfungen mußte die neue Kunst doch auch tiefer und tiefer in das Innere der Gesamtheit dringen, und mehr und mehr wuchs auch der Anteil der technisch allmählich besser ausgebildeten Laien am Bau selbst.

Weit fremder – deshalb auch nicht wie die Kunst nationaler gestaltet – blieben, wie wir (S. 34) sahen, der hohen und niederen Masse der Deutschen die von der Kirche geretteten geistigen Elemente der alten Kultur. Die karolingischen Bestrebungen waren bald zurückgegangen, an Stelle des Hofes war überhaupt die Kirche als wesentlichste Kulturmacht getreten, aber auch innerhalb derselben wurden die Studien nur von einzelnen Benediktinerklöstern weitergepflegt, von St. Gallen, der Reichenau, vor allem von Fulda unter Hrabanus Maurus. Jetzt aber zeigen sich wieder Spuren eines größeren, natürlich von Geistlichen angeregten Interesses an den geistigen Schätzen der Antike auch in Laienkreisen, wie damals ja auch in politischer Hinsicht das römische Kaisertum neu belebt wurde. Die neue Verbindung mit Italien unter den Ottonen wirkte da mit, wie schon auf künstlerischem Gebiet, wie auch auf dem des wirtschaftlichen und[55] gesellschaftlichen Lebens. Das war ja überhaupt das kulturell Wichtige der ganzen Kaiseridee, der politisch so unheilvollen italienischen Politik der deutschen Könige, daß die Deutschen dadurch von neuem an die höhere antik-christlich-romanische Kultur geknüpft wurden, daß deren Ausgleich mit dem nationalen Faktor, dem eigenen Volkstum, abermals einen Anstoß erhielt. Andererseits sind die italienischen Kultureinflüsse für jene Zeit nicht zu hoch einzuschätzen. Italien stand damals keineswegs hoch und spielte in politischer und anderer Beziehung dem führenden mächtigen Deutschen Reich gegenüber durchaus eine untergeordnete, zum Teil empfangende Rolle. An italienische Einflüsse knüpft immerhin die ottonische Renaissance, wie zum Teil einst die karolingische, gleichfalls zum Teil an, ebenso wie jene politisch in dem neuen Kaisertum gipfelnd. Sie ist aber nicht mehr an eine große Persönlichkeit gebunden wie jene. Einzelne Italiener beeinflußten jedenfalls das geistige Leben Deutschlands. Italienisch gebildet war auch Ottos I. Gemahlin Adelheid von Burgund. Durch sie kamen dann aber auch die wichtigeren französischen Einflüsse zur Geltung; diese förderte auch der hochbedeutende Gerbert von Reims (der spätere Papst Silvester II.), der schon an Ottos I. Hofe, länger an dem Ottos II. weilte, und mit dem Otto III. als sein Schüler vertraut verkehrte. Westfränkisch beeinflußt war sodann Ottos I. Bruder und Kanzler Brun, später Erzbischof von Köln, die Seele des neuen Lebens, zugleich aber bezeichnend dafür, daß dieses im wesentlichen von Geistlichen getragen wurde. An den deutschen Bischofssitzen und in den Klöstern, vor allem in St. Gallen, der Reichenau, Tegernsee, Gandersheim, begann eine gesteigerte Pflege der lateinischen Sprache und eine eifrige Beschäftigung mit den römischen Schriftstellern, und der geistliche Schulunterricht nahm einen starken Aufschwung. Lebhaft beteiligten sich an dieser Bewegung auch die geistlichen Frauen, weiter aber gewannen die Geistlichen auch an vornehmen weltlichen Frauen gelehrige Schülerinnen. Die Kaiserin Adelheid förderte die Bildungsbewegung am Hofe Ottos I. eifrig; von späteren gelehrten Fürstinnen ist durch Scheffels »Ekkehard« Hedwig von Schwaben allgemein bekannt. Das Interesse an der lateinisch-geistlichen Kultur steigerte sich bei den Herrschern selbst immer mehr. Otto I. zwar konnte nur wenig Latein und blieb ein homo illiteratus, sein geistlich gebildeter Sohn aber konnte ihm schon lateinische Briefe übersetzen und liebte die Bücher über alles, und bei Ottos II. und seiner griechischen Gemahlin Theophano[56] Sohn Otto III. kam der Studieneifer, die Wertschätzung nicht nur der römischen, sondern auch der griechischen Bildung auf den Höhepunkt. Unverhüllt strebte er sich von »der Roheit unserer sächsischen Natur« loszumachen.

Es war hier also zu einer bewußten unnationalen Abwendung von der heimischen halbbarbarischen Eigenart gekommen. Diese in der Hauptsache formale Bildungsbewegung war freilich eine durchaus höfische wie die karolingische. Immerhin reichte sie doch weiter in die Aristokratie hinein; nicht nur Frauen versuchten sich in lateinischen Gesprächen. Aber der eigentliche Träger und Pfleger des Ganzen war doch der Geistliche. Indessen begegnete ihm bereits, soweit er dabei zu sehr ins Weltliche und Heidnische sich verlor, ein starker neuasketischer Widerstand aus seinen Kreisen, eine strenge Reformbewegung (s. S. 65 ff.), die die sich segensreich entfaltende weltlich-kulturelle Betätigung der Kirche überhaupt heftig bekämpfte. Zunächst aber diente noch die Kirche mit Eifer aller höheren wirtschaftlichen, geistigen und künstlerischen Kultur, die freilich immer geistlich gefärbt blieb und nur von geistlichen Zielen ihre Berechtigung empfing. Und wenn die ottonische Renaissance zeigt, daß die von der Kirche getragene fremde Kultur nun etwas tiefer in die deutsche Welt eindrang, so war zugleich die Machtstellung der Kirche selbst und ihre Bedeutung im Leben der Nation eine ganz außerordentliche geworden. Welt und Kirche waren freilich noch vereint; die Herrscher förderten die Kirche durch Schenkungen, Immunitätsverleihungen u. a. wie durch die Gründung neuer Bistümer und zahlreicher Klöster auf alle Weise, zur Ehre Gottes, aber auch, um sie zu benutzen und sich auf sie zu stützen. Es war ein bewußtes System Ottos d. Gr., unter dem die deutsche Kirche ihre glänzendste Zeit zu erleben begann, die Kirche dem Staat dienstbar zu machen, dem christlichen Staat natürlich. Insbesondere stützte er sich auf die Bischöfe, die er auswählen konnte und überall förderte und begünstigte, die aber auch dem Herrscher am Hofe, in der Verwaltung und im Kriege dienten wie weltliche Vasallen und dabei zuverlässigere Stützen seiner Politik waren als jene, deren Machthunger stets einer kräftigen Reichsgewalt widerstrebte. Deren Ziel war immer die gerade bei den Bischöfen ausgeschlossene Erblichkeit der erlangten Ämter und Machtmittel, die der erste Schritt zur Unabhängigkeit war.

Noch war die Kirche überhaupt in der Hand der weltlichen[57] Herren, die ja auch die hohen Kirchenämter mit ihren Angehörigen zu besetzen strebten. Wie das mit dem Eigenkirchengedanken zusammenhängt, sei hier nicht weiter ausgeführt. Vor allem aber war sie jetzt in der Hand des Kaisers, der eben mit diesem Titel damals als der oberste Herr der ganzen Kirche erschien. Die Kirche ihrerseits glaubte gerade im Schutz des Kaisertums ihre universalen Bestrebungen am meisten gesichert. So war sie die beste Stütze des neugegründeten römischen Reiches deutscher Nation, das unter den Sachsenherrschern in seiner verhältnismäßigen Geschlossenheit die unbezweifelte Vorherrschaft in Europa erlangte, zugleich auf ein kräftiges nationales Leben gegründet war, dabei zunehmendes wirtschaftliches Gedeihen und bäuerlichen Wohlstand sah, das sodann unter den salischen Königen weniger idealistisch erfaßt, fester ausgebaut und gekräftigt wurde und unter Heinrich III. auf den Gipfel seiner Macht kam. Die Kirche war aber auch das treibende Element in der kulturellen Aufwärtsbewegung, die Deutschland, dieses durchaus bäuerlich-kriegerisch lebende Land, damals im Gegensatz zu den in ihrer Entwicklung zeitweise stillstehenden romanischen Ländern erlebte.

Fußnote:

[7] Vgl. die ausführliche Darstellung in meiner Gesch. d. d. Kultur I², S. 160 ff.


[58]

Drittes Kapitel.
Die stärkere Durchdringung deutschen Lebens mit der antik-kirchlichen Kultur unter zunehmender Beeinflussung durch die Romanen: Aristokratisches Zeitalter.

Wir nähern uns dem Höhepunkt des Mittelalters, und die Züge, die das eigentliche Wesen der mittelalterlichen Kultur ausmachen, treten schärfer in die Erscheinung. Das Mittelalter ist das kirchliche Zeitalter der Völker Europas. Aber wenn man auch sonst in der Entwicklung der Kulturvölker auf der Stufe bäuerlichen Daseins eine überwiegende Rolle priesterlicher Gewalt angenommen hat, so hat die mittelalterliche Kirche doch ihre besondere kulturgeschichtliche Bedeutung dadurch, daß sie, im Bereich der germanischen Völker wenigstens, als eine völlig fremde Macht, als Trägerin der Reste der Überlieferungen der bisherigen Weltkultur zu halbbarbarischen Menschen gekommen war und so die große Aufgabe des Ausgleichs zwischen deren natürlich-roher Art einerseits, den hohen sittlich-religiösen Idealen des Christentums und jenen Überlieferungen einer höheren weltlichen Kultur andererseits übernahm. Dieser Ausgleich, nur langsam vor sich gehend, hat das ganze »Mittelalter« hindurch gedauert bis zum 15. Jahrhundert. Wie stark lange das Widerstreben des nationalen Wesens und wie entschieden die Bewahrung der natürlichen Eigenart war, haben wir eben gesehen. Aber mit der Zusammenfassung der kirchlichen Macht und ihrer strafferen Organisation, mit dem Hervortreten der universalen Bestrebungen, die zunächst auch jener weltlich-politischen Einheit der Christenheit bedurften, wie sie wenigstens in der Idee des neubelebten Kaisertums lag, wuchs der Einfluß der Kirche. Eben durch jene kulturellen Überlieferungen wurde sie nicht nur zur Erzieherin der Völker, sondern erlangte durch ihre mit höheren Mitteln auch äußerlich organisierte Überlegenheit überhaupt ihre große Macht im ganzen mittelalterlichen Leben. War sie ursprünglich nur als ein Teil der römischen Kultur gekommen, so war später die[59] Kultur nur eine Begleiterscheinung der Kirche, nur im Rahmen der christlichen Kirche denkbar. So beherrschte die Kirche eben wegen ihrer Verbindung mit dem Weltlichen die Welt, umsomehr, als der Feudalstaat als Kulturbringer versagen mußte: alle Kultur wurde von ihr bestimmt, gipfelte in ihr.

Zunächst die Kunst. Daß überhaupt »die Künste, welches auch ihr Ursprung sei, jedenfalls ihre wichtigste, entscheidende Jugendzeit im Dienste der Religion zugebracht haben«, hat Jakob Burckhardt in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« aufs neue betont. Vor allem bleiben die bildenden Künste lange in diesem Bannkreis, während die Dichtung sich rascher frei macht. Bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts war so auch in Deutschland die ohnehin volksfremde Kunst nur die Dienerin der Kirche. Mit dem kirchlichen Wesen waren ja auch die Künste eng verbunden. Es war ganz natürlich, daß gerade das Kirchengebäude dem Volke die gewaltige Stellung, welche die Kirche als Mittelpunkt der mittelalterlichen Welt hatte, zum sichtbaren Ausdruck brachte. Wir sahen bereits (S. 52 f.), wie sich die Baukunst an dieser Aufgabe geschult und entwickelt hatte; sie wurde zugleich aber auch zur ersten Kunst und stellte die übrigen in ihren und ihrer hehren Aufgabe Dienst. Nur so hatte die ja ohne jeden Zusammenhang mit dem volkstümlichen Geist rein aus der antik-christlichen Überlieferung erwachsene Malerei ihre Bedeutung. Ihre Aufgabe war einmal, die großen Innenflächen der Kirchen zu schmücken. Schon in karolingischer Zeit pflegte man eifrig die Wandmalerei, aber erst aus späterer Zeit, vor allem aus dem 12. und 13. Jahrhundert sind uns Denkmäler erhalten. Aber nicht dem Kirchenschmuck allein, sondern den eigentlich kirchlichen Zwecken diente die Malerei. Sie brachte die Gestalten und Vorgänge aus der heiligen Schrift wie der Geschichte der Heiligen dem Volke nahe und religiöse Gedanken und Gefühle zu greifbarer Anschauung, lediglich schon um der Belehrung willen, im übrigen an feste alte Formen völlig gebunden. Die monumentale Plastik tritt noch völlig zurück, dagegen diente seit langer Zeit die Kleinplastik, durch die Einfuhr zahlreicher Geräte immer von neuem namentlich aus dem Osten, besonders wieder seit den Kreuzzügen, angeregt und fremde Elemente vermittelnd, eifrig gepflegt der Ausstattung und schönen Gestaltung der Kirchengeräte, in erster Linie die Elfenbeinplastik. Ihr nahe steht die früh entwickelte Goldschmiedekunst, wie überhaupt die Kleinkünste das erste Betätigungsfeld des künstlerischen[60] Schaffens gewesen waren, aus primitivem Schmuckbedürfnis heraus. Auch ein Zweig der Malerei hatte im Rahmen der Kleinkunst seit langem eifrige Pflege genossen, die Buchmalerei, wie das Schriftwesen natürlich ganz im Dienste der Kirche. Sie kam in der romanischen Zeit, zumal in deren glanzliebender Blütezeit, auf ihre Höhe. Ganz zur Kleinkunst gehörten nach Dehios treffendem Urteil stilistisch und technisch auch die »nur durch ihre Funktion monumentalen« Erzeugnisse des bereits länger geübten Erzgusses in den romanischen Kirchen, wie die Türen der Hildesheimer Domkirche. Aber es war doch der Anfang der monumentalen Plastik. Man kam dann zu gegossenen Figuren auf Grabplatten und auch zu solchen aus anderem Material; auch sonst macht sich die Skulptur im Inneren der Kirche allmählich stärker geltend. Vor allem aber beginnt sie das Portal mit Steinfiguren zu schmücken. – Der Kirche dienten die bildenden Künste, in ihrem Dienst stand auch die Musik. Gesang wie Orgelspiel und zum Teil auch Instrumentalmusik waren eng mit dem Gottesdienst verbunden.

Unzweifelhaft verlieh diese religiöse Grundlage aller Kunstpflege besonders der Malerei und der Musik einen tieferen Gefühlsgehalt. Dieser Charakter der Kunst hatte auch sonst seine Vorteile. War die kirchliche Gedanken- und Gestaltenwelt bis zu einem gewissen Grade Allgemeingut, so hatte die Kunst, die sich nur in diesem Kreise bewegte, sogleich einen aller Welt verständlichen Charakter. Die hergebrachte Gleichartigkeit der Kunst beförderte doch wieder, was auch Burckhardt betont, die Bildung von Stilen und verbürgte eine zusammenhängende Entwicklung. Andererseits ergab die immer wiederkehrende Behandlung derselben Dinge einen gewissen Wetteifer, also eine immer gesteigerte Kunstpflege, weiter aber auch eine durch Einseitigkeit geförderte größere technische Vollendung im einzelnen. Eine wirklich schöpferische Betätigung wurde durch jene Gebundenheit freilich stark gehemmt: am ehesten konnte die Baukunst sich freier entfalten. Die Anknüpfung an die Überlieferung ließ den Wirklichkeitssinn, die Lebenswahrheit nur sehr langsam aufkommen, wie die Wandmalerei zeigt besseres wird in der weniger gebundenen Buchmalerei geleistet. Viel reicher entwickelt sich alles Ornamentale.

Mit dem zunehmenden kirchlichen Sinn, vor allem im 11. Jahrhundert, gewinnt auch die poetische Betätigung wieder stärker kirchlich-religiösen Charakter: von der heftigen Befehdung der nationalen weltlichen Dichtung war schon (S. 35) die Rede. Jetzt[61] wurde als kirchliches Erziehungs- und Lehrmittel auch die deutsche Dichtung von den Geistlichen im 11. und 12. Jahrhundert eifrig gepflegt, und ihre lateinische Poesie konnte wenigstens in der Form des damals zuerst auftauchenden geistlichen Spiels (in der Kirche, dann auf den Kirchhöfen) auf das Volk wirken.

Gänzlich geistlich bestimmt und von Geistlichen getragen war die gesamte höhere geistige Kultur, die lateinische Bildung, dem nationalen Wesen, wie gesagt, noch fremder als die Kunst. Alle Bildung wurzelte in der Beherrschung der lateinischen Sprache, die Kirchen- und Kultur-, Urkunden- und Geschäftssprache war. Sie war also noch in lebendigem Gebrauch und erfuhr demgemäß manche Umformung, ja Entstellung. Aber das Muster für die Bildung blieb doch immer die Sprache der römischen Autoren und der Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung. Ihre Handhabung war für die Deutschen natürlich schwerer als für die Romanen, die deshalb auf deren oft barbarisches Latein herabsahen. Aber das gerade in der Zeit der ottonischen Renaissance zu völliger Monopolstellung durchgedrungene Latein mußte erlernt werden. Die Schule war das Mittel. Das dem späten römischen Altertum entnommene und in fester Überlieferung fast ungeändert durch das Mittelalter fortgepflanzte Schulwesen war völlig in geistlichen Händen und geistlichen Zielen unterworfen. Die alten Disziplinen des (elementaren) Triviums: Grammatik, Rhetorik, Dialektik und des (höheren) Quadriviums: Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, einst für weltliche Bildung berechnet, blieben das feste Schema auch für die Heranbildung der Geistlichen. Indessen waren von diesem spätantiken System der sieben freien Künste die formalen Wissenszweige des Triviums für die Meisten die Hauptsache, bei den spärlichen Lehrkräften oft nur einer dieser Zweige, vor allem die Grammatik, die aber nicht nur die Beherrschung der Prosasprache, sondern auch das im Mittelalter wichtige Versemachen in sich schloß. Nach dem elementaren Unterricht (Donat und Priscian waren die Haupthandbücher) las man, unter ständiger Übung im Lateinschreiben, römische Autoren, vor allem Vergil und Cicero. Die Rhetorik lief auf die Kunst, Urkunden und Briefe abzufassen, hinaus (ars dictandi), wofür immer zahlreichere Formelbücher die Grundlage bildeten. Auf ihr beruhte die Herrschaft der Geistlichen in der Kanzlei der Großen. Die Dialektik gewann erst später zur Zeit der Scholastik größere Bedeutung. Von den »realen« Fächern des Quadriviums erlernte die große Mehrzahl[62] nur einiges Elementare, namentlich aus der Astronomie ein wenig von der für die Datierung der Feste, vor allem des Osterfestes, wichtigen Kalenderberechnung (computus). Hierzu hatte man auch von der Arithmetik etwas Rechenkunst, deren Elemente überhaupt allgemein gelehrt wurden, nötig.

Im ganzen beschränkte sich der Schulbetrieb auf das Notdürftigste, der Kirche Unentbehrliche; gelehrte Meister zogen daher auch Schüler von weit her an. An Stelle der römischen Grammatiker- und Rhetorenschulen waren in fränkischer Zeit allmählich Kloster- und Bistumsschulen getreten. Die Angelsachsen förderten dann das fränkische Schulwesen besonders, die Hauptsache tat wieder, auf den Angelsachsen Alkuin gestützt, Karl d. Gr., freilich rein zum Zweck der Bildung von Geistlichen. Nach einer Periode des Verfalls nahmen die Schulen in sächsischer Zeit wieder einen neuen Aufschwung. Von den vor allem den Benediktinern verdankten Klosterschulen kamen viele zu großer Blüte, und von den Domschulen, die seit Ausgang des 10. Jahrhunderts mehr hervortraten, aber später mit der Verweltlichung des Stiftsklerus verfielen, nicht wenige desgleichen. Bei beiden war übrigens auch bis zu einem gewissen Grade für die Bildung der Laien gesorgt; es gab für sie besondere »äußere« Schulen. Man erwartete von ihnen, die in der Regel höherer und meist guter Herkunft waren, einen gewissen Entgelt durch Schenkungen der Eltern. Auch dieser Laienunterricht war vor allem von kirchlichen Interessen geleitet. Es scheint sich nun (s. S. 36) in den ottonischen Zeiten eine gewisse Schulbildung bei vornehmen Laien etwas weiter verbreitet zu haben, im Gegensatz zu den Zeiten nach Karl d. Gr. Daß die Frauen, die häufig in einem Frauenkloster der geistlichen Schulbildung teilhaftig wurden, die Männer aber in dieser Beziehung weit überragten, schon vor den ottonischen Zeiten, deuteten wir bereits (S. 22, 55) an. Die Gemahlinnen aller sächsischen und salischen Herrscher sind dafür ein Beweis. Das war erst recht der Fall, als nach jener Episode bei den Männern die alte Abneigung gegen die Bildung wieder durchbrach. Diese wird in der Mitte des 11. Jahrhunderts von Wipo als charakteristisch für die deutschen Herren hingestellt und war es sicherlich auch, früher und später. Das zeigt sich u. a. darin, daß jedesmal beim Erscheinen eines neuen Herrschergeschlechts der erste (Heinrich I., Konrad II.) völlig ungebildet war und erst den Nachfolgern die geistliche Bildung in ihrer Jugend übermittelt wurde. Bei der ganzen Laienbildung lief es nun im besten Fall auf ein Lesenkönnen[63] der »Briefe« (Urkunden) wie der Bücher und eine gewisse mündliche Beherrschung der lateinischen Sprache hinaus: rein geistliches Monopol blieb aber das Schreiben.

Auch die Schreibetätigkeit stand im Dienste der Kirche. Nur durch das Abschreiben konnte man, wie im großen einst im Altertum, die geistige Überlieferung festhalten und weiterverbreiten. Dies war die verdienstliche Pflicht vor allem der Mönche. Zu den aus dem späten Altertum eben durch die Kirche geretteten Handschriften mußten immer neue treten, die dann die Bibliothek des Klosters bildeten, vor allem Abschriften der Bibel, der Werke der Kirchenväter usw., weiter der für den Gottesdienst nötigen Bücher, der Meßbücher, der Evangeliare, der Antiphonarien usw., sodann der kirchenrechtlichen Sammlungen, aber doch auch der heidnischen Autoren, der griechischen (Aristoteles, Euklides) in lateinischer Übersetzung, nicht um ihrer selbst, sondern um des Studiums der lateinischen Sprache und nötiger sachlicher Kenntnisse (Baukunst, Heilkunst usw.) willen. Ferner schrieb man die erwähnten grammatischen und sonstigen, vor allem die enzyklopädischen Handbücher für das Studium der freien Künste ab, ebenso endlich die großen Geschichtschroniken (Hieronymus usw.). Dazu trat nun die Schreibetätigkeit für die geschäftlichen Bedürfnisse des Lebens, die Anfertigung von Urkunden und Registern, die Abfassung von Briefen usw. Weiter übten dann die höherstrebenden Geistlichen auch eine eigene schriftstellerische Tätigkeit aus: dieser erging sich in geistlichen Dichtungen, in der Regel sehr schulmäßigen, formalen Charakters, jener schrieb die Annalen seines Klosters oder Bistums, ein anderer die Geschichte seines Heiligen, ein vierter erläuterte die heilige Schrift oder war groß in theologischen, kirchenrechtlichen, kirchenpolitischen Traktaten. Der Schreibunterricht war also für den Geistlichen äußerst wichtig, und seit dem Wirken Alkuins unter Karl d. Gr. wurde auch die Schönheit der Schrift eifrig gepflegt, ebenso wie man die Handschriften durch Illuminierung, d. h. zunächst durch Rotmalen der Initialen und deren weitere Verzierung durch Ornamentmalerei, dann auch durch figürliche Bildchen, prächtiger ausstattete und die mühsam hergestellten Werke kunstvoll band, selbst in Elfenbein mit kostbaren Beschlägen.

Es ist klar, daß das Studium der Geistlichen, dessen Krönung immer die Theologie war, zum Teil einen weltlichen Charakter tragen mußte. In der ottonischen Zeit zeigte sich bei der (S. 54 f.) erwähnten Verbindung mit Italien nicht nur überhaupt[64] ein stärkeres Interesse an den Handschriften antiker Autoren, die man zahlreich nach Deutschland brachte, sondern auch eine ausgesprochene Vorliebe für den Inhalt der Dichtungen eines Terenz, Ovid, Horaz, Martial, Juvenal, Persius. Ovids Liebeskunst wurde auch von Nonnen nicht immer mit Abscheu gelesen. Strengere Gemüter hatten früh vor der Beschäftigung mit den heidnischen Autoren gewarnt. In der ottonischen Zeit mehrten sich derartige Stimmen. Die asketische Weltanschauung führte diese Strömung dann völlig zum Siege. Die Beschäftigung mit der Antike, die man bisher wenigstens als formales Hilfsmittel duldete, galt nun überhaupt als Teufelswerk. Im 12. Jahrhundert wollte man selbst von den juristischen und medizinischen Autoren nichts mehr wissen, ohne daß in Wirklichkeit freilich die Beschäftigung mit der Antike entbehrt werden konnte.

Das Verhältnis zu ihr ist kulturgeschichtlich mehrfach bemerkenswert. Die Antike ist immer nur äußerlich geschätzt worden. Ihr Geist schreckte wegen seiner häufigen »Sündhaftigkeit« immer ab. Von ihrer geistigen Freiheit, die etwa anstecken könnte, ahnte man nichts. Die Antike war vielmehr, soweit sie übernommen war, eine Autorität, die das Geistesleben genau so band wie die Autorität der Kirche. Man schöpfte aus der durch jene Enzyklopädien vermittelten Überlieferung schematisch unkritisierbaren formalen und sachlichen Bildungsstoff. Auch was gedanklich von der Antike übernommen war, blieb feste Norm. Waren nun die beiden Autoritäten der Antike und der Kirche in unauflöslicher Verbindung bestimmend für das mittelalterliche Geistesleben, so muß jener Widerspruch zwischen beiden das wichtigste Problem der mittelalterlichen Weltanschauung berühren. Die Sache liegt einfach. Die Antike ist in Kunst, Technik, Wissenschaft und Dichtung zwar Grundlage der von der Kirche vermittelten Kultur, aber immer nur Dienerin der Kirche. Denn alles Können und Wissen hat seine Berechtigung nur in Gott. Soweit die Antike aber der Weltlichkeit dient, ist sie verwerflich, ist des Teufels. Es war der die mittelalterliche Weltanschauung charakterisierende große Gegensatz zwischen Gott und Welt, der zur Verneinung der Welt überhaupt führte oder doch zu dem Bestreben, das irdische Dasein dem augustinischen Ideal des christlichen Gottesstaates nach Möglichkeit zu nähern. Diese Aufgabe hatte die Kirche, die von Gott eingesetzte Heilsanstalt, die im Interesse des Heils der Menschheit auch die Welt beherrschen mußte. Bisher hatte die Kirche praktisch auch im[65] Dienste staatlicher Aufgaben gestanden und hatte neben der Verbreitung des Christentums die weltliche Kultur stark gefördert. Es beginnt nun mit dem 11. Jahrhundert eine staatsfeindliche und (teilweise wenigstens) kulturfeindliche Haltung der Kirche sich geltend zu machen.

Es ist eine Bewegung, die auf der in der menschlichen Entwicklung immer wieder auftretenden Erscheinung des Widerspiels beruht, ebenso wie der eben ablaufende nationale Lebensabschnitt zum Teil eine Gegenströmung gegen den ersten Akt der Aufnahme des kirchlichen Romanismus darstellt. Die Kirche hatte die Anfangszeit ihrer Eroberung der deutschen Lande hinter sich. Aber sie war dabei als Bringerin der Kultur wie als Stütze des Staates stark über das rein religiöse Gebiet hinausgegangen. Weiter hatte aber auch die engere Verbindung mit dem deutschen Wesen gewirkt. Die Geistlichen konnten in Lebensauffassung und Lebenshaltung ihre deutsche Eigenart nicht ganz verleugnen, nicht nur die oft adligen Bischöfe und Äbte, nicht nur die Weltgeistlichen, sondern auch die Mönche. Hier die kriegerischen und politischen, dort die landwirtschaftlichen Interessen taten auch das ihre. Die Kirchenämter wurden als höchst einträglich von Adligen durch allerlei Mittel, auch durch Kauf zu erwerben gesucht: ebenso dienten die Frauenklöster, die überdies jene Aufgabe der Erziehung der vornehmen Töchter hatten, der Versorgung der unverheirateten Frauen. Das Ergebnis war seit dem 9. Jahrhundert eine starke Verweltlichung der Kirche, neben der aber alsbald jene schon erwähnte asketische Gegenbewegung einherging und sogar die Laien ergriff. Waren die Stiftsgeistlichen und die niederen Pfarrgeistlichen einem weltlichen Leben zugetan, so lebten auch die Mönche, zumal bei den reichen Einkünften vieler Klöster, vielfach materiell recht gut, unter größerer oder geringerer äußerlicher Beachtung der Regel, waren eifrige Landwirte oder Gelehrte oder Künstler, im Punkt der Sitten duldsam und unbefangen.

Das Papsttum versagte diesen Zuständen gegenüber durchaus: es lag im 10. Jahrhundert äußerlich und innerlich darnieder. Viel mehr waren die Herrscher zur Abhilfe bereit, wie sie ja auch ihren späteren Gegner, das Papsttum, selbst erst wieder gehoben und gestärkt hatten. Otto I. ernannte Freunde der kirchlichen Reformen zu Bischöfen und begünstigte eine Bewegung, die von Lothringen, dem so oft für das übrige Deutschland maßgebenden Lande, sich ausbreitete und vor allem das entartete[66] Klosterleben seiner »Regel« wieder entsprechend zu gestalten suchte. Nach einem zeitweiligen Rückgang der Bewegung drang sie dann zu Beginn des 11. Jahrhunderts stärker durch, jetzt von Frankreich her, getragen von dem Kloster Cluny, das an der Spitze einer ganzen Kongregation von Reformklöstern stand und durch eine entsprechende, von Richard von Verdun geleitete lothringische Kongregation Deutschland beeinflußte. Auf Heinrich III. wirkte dann später Cluny unmittelbar ein, jetzt aber schon durch den Einfluß eines reformerisch gesinnten Papstes. Unter Heinrich IV. endlich waren das treibende Element die nun ebenfalls reformeifrigen Bischöfe; die Führung hatte jetzt völlig das Papsttum.

Die cluniacensische Bewegung hatte nicht mehr das Grob-Massive der früheren Askese: sie war äußerlich kultivierter (in Kleidung, Nahrung und Verkehrsformen), dafür aber innerlich fanatischer, finsterer, raffinierter (blutige Selbstgeißelung, Ausdehnung des Schweigegebots, ständiger Gottesdienst), straffer, kurz – romanisch. Echt romanisch war aber auch das Zentralisierte der Bewegung. Eben im Papsttum, es zugleich dadurch stärkend und leitend, hatte Cluny, dessen Ideen dann neugegründete Orden (Prämonstratenser, Cistercienser) fortsetzten und verschärften, eine unmittelbare Spitze für die von unten kommende Bewegung unter Ausschaltung der bischöflichen Macht gesucht und gefunden. So war die Bewegung eine neue Welle der Romanisierung des in seiner Eigenart und Unbotmäßigkeit noch immer nicht gebrochenen Germanentums. Und sie ergriff, freilich in einer ihr durch Wilhelm von Hirsau gegebenen gröberen, dem deutschen Wesen angepaßten Form, nun auch Deutschland in ausgedehntem Maße, vor allem machte sie gerade auf die Laienkreise Eindruck. Immer neue Klöster, aber auch immer stärkerer Andrang zu den Klöstern. Und daneben das neue Institut der Laienbrüder, die in verschiedenen Abstufungen halbklösterlich lebten und sich aus hohen und niedrigeren Kreisen ergänzten, übrigens vor allem die wirtschaftliche Tätigkeit auf sich nahmen. Innerhalb der Kirche setzte sich die Bewegung jetzt völlig durch, zumal das Papsttum sie als Stärkung seiner eigenen Macht erkannt hatte. Die Weltgeistlichen der Stifter wurden immer klösterlicher organisiert. Vor allem griff man auch bei den Pfarrern, die zum größten Teil wie die Bauern lebten, verheiratet waren usw., durch, freilich unter heftigem, lange dauerndem Widerstand, besonders gegenüber dem nun streng gebotenen Zölibat. Jetzt kam auch jener Kampf gegen die Antike als weltliches[67] Element auf den Höhepunkt, und damit trat ein arger Verfall der gelehrten Studien überhaupt ein, ebenso der künstlerischen Bestrebungen. Auch der Laie sollte rein kirchlich denken und nicht mehr an weltlicher Unterhaltung, wie sie die heimischen Spielleute boten, nicht mehr an üppigem Leben, wie es damals einsetzte, Gefallen finden. Der Krieger sollte, wenn denn schon gekämpft werden mußte, für die Kirche kämpfen. Vor allem aber sollte die Macht der Kirche untertan werden, die nun einmal die Welt regierte, die weltliche Obrigkeit, der Staat. Der Kampf um diesen Preis mußte ausgefochten werden, vor allem dem großen Reich gegenüber, das gerade auf Betreiben der in seinem Schatten sich Macht und Sicherheit versprechenden Kirche die Überlieferungen des römischen Universalreichs wieder aufgenommen hatte, dem deutschen Reich. Bisher lag, germanischer Auffassung entsprechend, die Herrschaft über die Kirche in den Händen seiner Könige. Otto I. hatte überdies eine nationale Kirche von ziemlicher Geschlossenheit, gestützt auf die Bischöfe, mit der bloßen Dekoration eines unselbständigen Papsttums geschaffen; Otto III. hatte sich mit den eigentlich kirchlichen Ideen so erfüllt, daß er das Papsttum in seinem eigenen Bereich zu beherrschen unternahm; die späteren Herrscher versuchten schon eine »Germanisierung des römischen Papsttums« (unter Heinrich III. vier deutsche Päpste)[8]. Jetzt hatte die Kirche selbst die Ziele des alten römischen Universalreichs aufgenommen, aber sie wirklich universal gestaltet. Sie hatte jetzt in dem Papst einen wirklichen absoluten Herrscher und zugleich die früher landschaftlich auseinandergehenden Kirchen mit einem einheitlichen, disziplinierten kirchlich-fanatischen Geist erfüllt. Der Papst über dem Kaiser, das war nun die Folge der Losung: Gott, nicht Welt. Den Kampf führte ein Papst, der die ursprünglich von solchen Zielen freie Reformbewegung sowie die Zentralisation der gereinigten Kirche erst eigentlich vollendet hatte, Gregor VII. Gestützt auf die isidorischen Fälschungen, die einst, freilich lediglich im Interesse der Bischöfe gegenüber den landeskirchlichen Gewalten, die einheitliche Oberhoheit des Papsttums hatten sichern wollen, griff man, ausgehend von der Möglichkeit simonistischen Mißbrauchs, die Laieninvestitur auf, um durch ihr Verbot, d. h. das Verbot der Besetzung namentlich der Bistümer durch den Herrscher, den Streit zu beginnen.

[68]

Der Deutschland zerrüttende, das eigentlich kirchliche und das sittliche Leben stark schädigende Kampf hat dem Papsttum den erstrebten Sieg letzten Endes nicht gebracht, wohl aber die Kirche dauernd zu einer straff organisierten Hierarchie gemacht und sie ganz der Herrschaft des Papstes unterworfen: eine Landeskirche gab es nicht mehr.

Wie die auf ihren Höhepunkt gelangte Macht der Kirche auch äußerlich die Welt leiten und bewegen konnte, das zeigten nun vor allem die Kreuzzüge, so sehr bei vielen Teilnehmern weltliche Motive mitspielten. Im Grunde eine Fortsetzung dauernder Kämpfe mit dem Islam einerseits, großer Massenpilgerfahrten andererseits, zum Teil auch durch die Handelsbestrebungen der Italiener angeregt, unmittelbar endlich hervorgerufen durch die Bedrückungen der seit dem 11. Jahrhundert immer zahlreicheren Pilger zum heiligen Lande und durch die Bedrängung des Kaisers in Byzanz, waren sie doch eine Auswirkung kirchlichen Einflusses, ein päpstliches Unternehmen. Das Ziel war die Eroberung des heiligen Grabes, des hehrsten Ortes der Welt, die auch ihren geographischen Mittelpunkt nach mittelalterlicher Anschauung in Jerusalem hat. Gerade der erste Kreuzzug brachte mit seinen Erfolgen dem Papsttum eine gewaltige Stärkung des Ansehens, schon durch seinen Einfluß auf die neuen geistlichen Ritterorden: aber bereits der zweite Kreuzzug, bei dessen Einleitung der Wille des Papstes vor der Macht der Idee völlig zurücktrat, fiel in seinem unglücklichen Ausgang wieder mit einem Niedergang der päpstlichen Herrlichkeit zusammen.

Für diesen zweiten Kreuzzug war durch Bernhard von Clairvaux auch der deutsche König gewonnen worden – zu seinem Unheil –, dem ersten stand aber Deutschland, abgesehen von Lothringen, das ja immer westlich beeinflußt war, im ganzen noch kühl gegenüber, wenn auch größere Scharen aus West- und Süddeutschland mitzogen. Die Erscheinung war eben im Grunde wieder romanischen Ursprungs. Romanisch war auch, wie wir sahen, die kirchliche Reformbewegung überhaupt, romanisch natürlich ebenso die Idee der päpstlichen Weltherrschaft, die im Grunde die Herrschaft der Italiener über die Germanen und die Vernichtung der äußeren Machtstellung Deutschlands, der von ihm gewonnenen Führung des »Römischen Reiches« bedeutete. Gleichzeitig handelte es sich um eine neue tiefgreifendere Eroberung des deutschen, noch nicht gebrochenen Wesens durch die romanische Kirche. Aber so sehr diesem neuen Geist sich zahlreiche Gemüter[69] in Deutschland hingaben, so sehr widersprach er doch dauernd und im tiefsten Grunde den lebendigen, natürlichen Trieben eines jugendlichen, kräftigen Volkes, wenn auch dieser Widerspruch schon geringer geworden war als bei dem ersten Zusammentreffen des weltenstürmenden und weltfrohen Germanentums mit der weltabgewandten Kirche des müden Altertums. Immer wieder bäumte sich auch die Welt gegen den Zwang des kirchlichen Ideals auf, und immer wieder suchte umgekehrt dieses sich gegen jene durchzusetzen. Freilich hat die Kirche, wie sich früh gezeigt hat (s. S. 29), den Weg des Kompromisses grundsätzlich keineswegs ausgeschlossen und ihn auch immer wieder betreten.

Der Kern der Sache liegt auf sittlichem Gebiet. Hier ist gegenüber der leidenschaftlichen germanischen Gewaltnatur doch viel von der ethischen Macht des Christentums, die dank der kirchlichen Organisation auch den kleinsten Kreisen fühlbar wurde, erreicht worden. Nicht die Ideale des Kriegers, nicht die natürlichen Richtgedanken des Landmannes, nicht die Interessen der Heimat und der Familie sollten als höchste Lebensziele gelten, sondern jenseitige Ideale. Friedlichkeit, Mäßigkeit und Demut wurden dabei von den gewalttätigen, egoistischen Menschen gefordert. Man fand sich mit solchen Forderungen durch äußere, übertriebene Formen, wie wir (S. 32) sahen, ab. Aber die sittliche Erziehung durch die Kirche modelte mehr und mehr doch auch das Innere um. Die Sorge um das Seelenheil führte zu einem ständigen Beachten der eigenen Gefühle und Regungen; den Trieben wurden innere Stimmen feind: das ganze seelische Leben wurde angeregt, erweitert, vertieft. Das Geheimnis des Erfolges liegt in der alles niederzwingenden göttlichen Autorität der Kirche und ihrer Lehre, zugleich wieder in der eindrucksvollen Macht ihrer ganzen Organisation und in ihrer kulturellen Überlegenheit. Der fertigen, geschlossenen, großartigen Weltanschauung der Kirche gegenüber war das deutsche Volkstum hilflos und konnte aus eigener, unentwickelter Denkkraft heraus kein anderes geistig-sittliches Ideal von annähernd gleicher Kraft schaffen: daß ein solches in der von der Kirche bekämpften Antike verborgen lag, ahnte der Laie nicht entfernt. Dem Stand des nationalen Fühlens und Lebens würde dieses Ideal ja auch nicht entsprochen haben. Eine im nationalen Denken und Fühlen wurzelnde geistige Erfassung und Deutung der Welt und der sie beherrschenden Mächte, eine Gewinnung sittlicher Maßstäbe auf Grund solcher Auffassung und entsprechend[70] der jeweiligen Kulturstufe: dieses notwendige Ziel jeder Volksentwicklung zu erreichen, wurde den Deutschen früh erschwert. Eben die gewaltige Überlegenheit der schlechthin gegebenen kirchlichen Weltanschauung, so stark weite Kreise ihr bewußt und unbewußt widerstrebten, hat infolge ihrer ungestörten Dauer die Möglichkeit der Bildung einer anderen Weltanschauung auf lange hinaus gehemmt. Man dachte in allen höheren Beziehungen nur in der Denkweise der Kirche. Außerkirchliche geistige Bewegungen waren, soweit sie bei der alles umfassenden Kulturbetätigung der Kirche überhaupt möglich waren, von vornherein machtlos. Wer Menschen und Welt und auch die Kirche bessern wollte, griff doch immer nur auf reinere Überlieferungen eben der Kirche zurück.

Andererseits konnte die kirchliche weltverneinende Weltanschauung doch trotz allen Preisens keineswegs das allgemeine Ideal sein, ist es auch niemals gewesen. Ganz richtig hat man sie als ein geistliches Standesideal bezeichnet. Freilich war dieser Stand der kulturell führende. Schon äußerlich durch seine Tracht, durch seine Sprache, durch seine Lebensweise wie durch seine Bildung, seine Ideale von der übrigen Nation abgesondert und geschieden, losgerissen von der Familie, verkörperte er dauernd und anschaulich die dem Volkstum fremde, ihm jedoch überlegene antik-kirchliche Kultur. Aber da er sich aus den Großen der Welt wie aus der Masse des Volkes ergänzte, so war dieser Fremdkörper doch auch wieder mit dem Volk innerlich verbunden, wie es auch äußerlich bisher manch hoher Kirchenfürst durch seine kulturelle, wirtschaftliche und z. T. politische Betätigung und manch niederer Pfarrer durch sein ganzes Leben gewesen war. Mit seiner zunehmenden Zahl, mit der Fülle der Stifter und Klöster und ihrem Besitz wuchsen Macht und Einfluß des Geistlichen im Volk ebenso wie sein Selbstbewußtsein. Vor allem verlieh ihm aber die große Heilsanstalt selbst, deren Vertreter er war, einen gewaltigen Nimbus. Was er lehrte, war die Wahrheit an sich, der sich jeder Laie beugen mußte; er vermittelte das Seelenheil, um das ängstlich zu sorgen die Kirche immer eindringlicher die Laien anhielt. Übernatürliche Kräfte mochte alter Volksglauben noch immer bei ihm suchen, wenn auch weniger als früher. Und wenn nun auch trotz des Schweigens unserer doch meist kirchlichen Quellen sicherlich auch nach den ersten Zeiten äußerlicher Christianisierung die übrige Welt oft genug eine innerliche Opposition gezeigt und im übrigen sich in ihrer Weltlichkeit wenig wird haben stören lassen, so war doch[71] das geistliche Übergewicht so sicher gegründet, daß das von der Kirche getragene Ideal immer als das höchste und erstrebenswerteste auch von der Laienwelt anerkannt wurde. Durchgeführt konnte es von dieser, die deshalb immer als unvollkommen galt und aus der Sünde zu erretten war, niemals werden, freilich auch nicht von der Masse der Weltgeistlichen. Die vorbildliche Durchführung des Ideals hatte sich vielmehr das Mönchstum zum Ziele gesetzt, das grundsätzlich für die übrigen Geistlichen als ständiges Muster diente, immer wieder ferner in der mit der Welt notwendig verbundenen Kirche für die kräftige Erneuerung des Ideals sorgte, endlich der Laienwelt als die Verkörperung dieses christlichen Ideals sichtbar gegenübertrat. Freilich, wenn, wie es immer wieder geschah, die Mönche selbst entgegen diesem Ideal lebten, luden sie um so mehr den Zorn der Laien auf sich. Gerade die frommen Laien haben in Zeiten religiöser Erregung auch immer am meisten zu den das Ideal streng erneuernden eifernden Mönchen als den konsequentesten Vertretern christlicher Forderungen gehalten, und gerade in unserem Zeitabschnitt, da die Mönche mit der Reformbewegung die ganze Kirche beherrschten, haben diese jenes Ideal auch tief in die Laienwelt getragen und selbst asketische Anwandlungen und zerknirschte Bußstimmungen in weiten Schichten geweckt, überhaupt die gewaltige Macht der Kirche tiefer in den Gemütern auch vieler Weltkinder befestigt.

Muß nach alledem die Kirche als der wesentlichste Faktor der mittelalterlichen Kultur angesehen werden, so liegt darin zugleich ausgesprochen, daß diese Kultur einen stark internationalen Charakter trug. Soweit wenigstens die Welt in der Papstkirche vereinigt war, also vom Osten abgesehen, entwickelte sich ihre Kultur ziemlich einheitlich und gleichartig, eben weil diese Kultur mit der überall gleichförmigen Kirche eng verbunden sowie von der überall gleichmäßig gebildeten Geistlichkeit getragen und der übrigen Welt vermittelt wurde. Natürlich hat es im übrigen in dieser geschlossenen Kirche, wie in jeder menschlichen Organisation, von jeher auch innere Parteiungen, Gegensätze und Kämpfe gegeben, aber darauf kommt es hier nicht an. Jener abgeschlossenen Stellung der Geistlichen im eigenen Volk entspricht wieder der internationale Zusammenschluß derselben in der päpstlichen Hierarchie, die Zusammengehörigkeit mit der Geistlichkeit der anderen Völker: die Romanen waren freilich der führende Teil. Gerade jetzt wurde Rom erst recht der Mittelpunkt und[72] aller Heimat; im italienischen Kloster konnte der deutsche Mönch sich ebenso zu Hause fühlen wie in einem heimischen, was freilich wohl nicht immer der Fall war. So war denn alle höhere Bildung und ihre Sprache international, international auch noch später die zunächst immer von Geistlichen getragene Gelehrsamkeit, wie sie sich in den Universitäten organisierte. Und als dann seit dem 13. Jahrhundert eine nationale Scheidung sich schärfer geltend machte, stärkte den internationalen Charakter der gelehrten Bildung im 15. Jahrhundert wieder die humanistische, d. h. die Antike neubelebende Bewegung. International war auch die Kunst, weil wiederum alle Kunstübung, ihre Ziele und Aufgaben in der Kirche beschlossen waren. Allerdings war das eigentliche Kunstleben auf bestimmte Länder beschränkt, gerade auf diejenigen, die durch das Eindringen der Germanen frisches Blut empfangen hatten, außer Deutschland und Burgund Nordfrankreich und Oberitalien.

Im Grunde beruhte die Internationalität der mittelalterlichen Kultur natürlich auf dem internationalen Charakter des Römischen Reiches und seiner Kultur, deren Erbe die Kirche war, auf der Eroberung dieses Reiches durch die Germanen und der durch die Kirche beförderten Aufnahme des universalen Kaisertums durch diese wie auf der Durcheinanderwirbelung germanischer und romanischer Volkselemente. In politischer und sozialer (ständischer) Beziehung hatten die germanischen Einrichtungen daher überall das Übergewicht. Diese gesellschaftliche und staatsrechtliche Einheitlichkeit germanischen Ursprungs, zum Teil freilich wieder mit römischen Einflüssen durchsetzt, ergänzte jene durch die römische Kirche und die antike Erbschaft gegebene kulturelle Gleichförmigkeit. Überhaupt bestand auch über das kirchliche Gebiet hinaus eine starke Kulturgemeinschaft unter den germanisch-romanischen Völkern: fortwährend wurden Kulturgüter, zumal solche äußerer Natur, ausgetauscht. Der mittelalterliche Handel ist vorwiegend international. Von den Städten hat schon Ranke gesagt, daß sie sich als Bestandteile einer europäischen Gemeinschaft fühlten. Die Internationalität erstreckte sich ebenso auf die schon vor ihnen als Kulturträger auftretende soziale Schicht des Rittertums. Beruhte sie in sozialer Beziehung auf jener Gleichförmigkeit der ständischen Gliederung, so ergab sich eine internationale Geltung der höfischen Lebenshaltung wie der gesellschaftlichen Lebensanschauungen und -ideale aus dem kulturellen Übergewicht, das wir die Franzosen erlangen sehen werden. Der[73] Austausch wurde besonders begünstigt durch die von dem ganzen abendländischen Rittertum getragene Kreuzzugsbewegung, also wieder durch eine Bewegung kirchlichen Charakters. Machten sich aber bei den Rittern der einzelnen Völker genug nationale Unterschiede trotz aller Nachahmung des französischen Vorbildes geltend, so trugen gerade wieder die geistlichen Ritterorden den durchaus internationalen Charakter der Kirche, auch in ihrer Zusammensetzung.

Aber eben das Rittertum als Kulturfaktor führt uns nun darauf, daß das Mittelalter doch nicht nur kirchlich bestimmt und bedingt ist. Überhaupt ist immer im Mittelalter die Welt auch da gewesen, schon vor der Ausbildung einer weltlich-ritterlichen und weltlich-bürgerlichen Kultur. Wieder ist es das Volkstum, das Beachtung heischt. Man meint in der Regel, nur politisch und kriegerisch habe sich die deutsche Volkskraft bewähren können, kulturell habe man nur von der Kirche gezehrt, und geistig hätte bei Geistlichen wie Laien völlige Gebundenheit geherrscht. In Wahrheit zeigt das Mittelalter – wir sahen es zum Teil schon – das kräftigste Eigenleben und selbständige Vorwärtsentwicklung. In dieser gerechteren Beurteilung des Mittelalters nähern wir uns heute wieder der Auffassung der Romantik, ohne aber in deren phantastische Illusion, einseitige Bewunderung und unhistorische Übertreibung zu verfallen. Auf der anderen Seite ist die Anschauung von der inneren Gebundenheit des Mittelalters, die sich vor allem auf das oben betonte ungeheure Übergewicht der Kirche gründet, nicht völlig falsch, so wenig wie Jakob Burckhardt und vor ihm schon Georg Voigt mit ihrer Entdeckung des ausgeprägten Individualismus der italienischen Renaissance und mit der Annahme einer seit dem 15. Jahrhundert erfolgenden Übertragung dieses Geistes auf die übrigen abendländischen Kulturvölker, bei denen er sich freilich ganz anders gestaltete, im Unrecht sind. Aber genau gesehen, handelt es sich doch nur um die gesteigerte Ausdrucksmöglichkeit für solchen Geist. In Briefen und Reden, in ernster und witziger Dichtung, in der Gestaltung von Bildnissen und Bildwerken, kurz in den stilistisch und technisch entwickelten Ausdrucksarten einer hochstehenden Kultur kann sich die einzelne Persönlichkeit in ihrer ganzen Individualität zeigen (wobei man aber wieder leicht vergißt, wie solche Weise alsbald wieder zur allgemeinen Mode, zum Stil, zur Manier, der Individualismus gewissermaßen zur Gebundenheit wird). Von den Menschen des früheren Mittelalters[74] dagegen wissen wir über ihr Fühlen und Denken nur wenig; aus der Ferne sieht man auch nur das Gemeinsame, Allgemeine. Zu schriftlichem Ausdruck ihres Inneren waren sie noch wenig imstande, die Laienwelt gar nicht, und künstlerisch rang man noch allzusehr mit den technischen Schwierigkeiten individueller Persönlichkeitsdarstellung. Aber wir wissen doch wenigstens zum Teil, wie die Menschen gehandelt haben, und einzelne Züge verraten zuweilen, und öfter können wir darauf schließen, wie sie wirklich gewesen sind. Derselbe Burckhardt, aus dessen genialer Beobachtung ein epigonenhafter, aber desto mehr von seiner Bedeutung überzeugter Historiker dann ein mechanisches System mit den nötigen Erweiterungen konstruierte, hat doch an anderer Stelle wieder auch dem Mittelalter in gewisser Weise Individualismus zuerkannt: »Zwar ist das Individuelle noch gebunden, aber nicht innerhalb des geistigen Kreises der Kaste, hier konnte die Persönlichkeit sich frei zeigen …, und so bestand denn wirklich sehr viele und echte Freiheit. Es gab einen unendlichen Reichtum noch nicht von Individualitäten, aber von abgestuften Lebensformen.« Der Individualismus zeigt sich also zunächst in dem ständischen Sonderleben (s. S. 107). In der Tat, welche Fülle von individuellen Sondergebilden, welche Vielgestaltigkeit in der räumlich doch nur kleinen mittelalterlichen Welt des Abendlandes, auch innerhalb der Kirche! Und hat diese Kirche auch geistig wirklich alles gebunden? Hat es nicht zu allen Zeiten in der mittelalterlichen Kirche Opposition und Sonderströmungen gegeben? Und wissen wir denn, wie oft sich einer im frühen Mittelalter auch innerlich gegen diese Autorität erhob? In der angeblich so gebundenen Scholastik sind dann später bereits die schwerwiegendsten Probleme zweifelnd erörtert worden. Umgekehrt ist nach dem Mittelalter geistige Gebundenheit ebensogut zu finden, nicht nur innerhalb der katholischen Kirche, und die Konvention beherrscht selbst gebildete Kreise noch in der Gegenwart. Die ständische Gliederung, die ebenso wie der genossenschaftliche Geist die Menschen damals auch innerlich gebunden haben mag, ist doch heute nur äußerlich geschwunden. Wie starr liegen, ähnlich der »bindenden« Geisteswelt der mittelalterlichen Kirche, heute die offiziellen politischen und kirchlichen Anschauungen auf dem Ganzen trotz aller lauten und stillen Abweichungen!

So konnte man eine »Rückständigkeit« des Mittelalters wohl gegenüber den abgelebten Resten seiner Einrichtungen in dem aufgeklärten 18. Jahrhundert behaupten, in Wahrheit ist das[75] Mittelalter aber reich an neuen kraftvollen Bildungen und Organisationen auf allen Gebieten des Lebens, tatkräftig und unternehmungslustig, von Schaffensdrang erfüllt und vor allem ein Feld für die Betätigung des einzelnen. Überall begegnen tatkräftige, frei und freudig »sich auslebende« Persönlichkeiten, insbesondere in der Herrenschicht. Und die Herrscher, von denen wir noch am meisten wissen, sind so wenig gleichmäßige Typen wie nur zu irgendeiner Zeit sonst. So würden uns auch bei näherer Kenntnis der einzelne Mönch wie der einzelne Ritter oder Kaufmann als Leute von größerer oder geringerer Individualität erscheinen. Welch außerordentlicher Selbständigkeitsdrang zeigt sich bei einzelnen wie bei den Ständen, Gruppen und Genossenschaften! Die Stärke des Trieblebens, des rücksichtslosen Egoismus haben wir wiederholt betont, die Neigung zur Selbsthilfe ist noch deutlich genug, das Gehorchen ist dem Mittelalter ein ziemlich unbekannter Begriff, Trotz und Pochen auf das eigene Recht, auf Sonderrechte allgemein. Man will überhaupt, wie man richtig betont hat, immer nur Rechte, von Pflichten hört man ungern. Die deutsche Sonderart erlebt ihre Blütezeit eben im Mittelalter; aus seinem vielgestaltigen politischen Sonderleben haben sich erst langsam in neuerer Zeit größere staatliche Gebilde entwickeln können.

Wo bleiben bei alledem die von Lamprecht konstruierten Stufen gebundenen Geisteslebens? Die Annahme einer »typischen« Stufe ist z. B., wie Kemmerich nachgewiesen hat, gegenüber der frühmittelalterlichen Porträtmalerei gar nicht haltbar. Dasselbe hat Zoepf auf Grund der Literatur der Heiligenleben des 10. Jahrhunderts bewiesen und genug individuelle Spuren aufgezeigt. Was aber die weitere, etwas freiere Stufe »konventioneller« Gebundenheit betrifft, so ist eine gewisse konventionelle Haltung des späteren Mittelalters schon vor Lamprecht in meiner »Geschichte des deutschen Briefes« für die Briefe nachgewiesen, und auch sonst zeigt sie sich vielfach, so in dem ganzen Gebaren der höfischen Ritter. Aber das Konventionelle ergibt sich lediglich wie zu allen Zeiten aus dem Zwange einer dem natürlichen und nationalen Wesen nicht entsprechenden, mehr oder wenig künstlich übernommenen fremden Kultur. Das Bewegen in der ästhetisch-höfischen Kultur der Romanen konnte nur modisch-konventionell sein, und die Handhabung des geistlichen Schriftwesens seitens eines bürgerlichen Laien des 14. Jahrhunderts konnte auch nur konventionelle Stilformen gleichsam als Hilfsmittel[76] ergeben. Aber welche Höhe der individuellen Gestaltung erreichte bereits im 13. Jahrhundert die Kunst! Man denke nur an die Statuen des Naumburger Doms. Wo man aber sich volkstümlich geben kann, da ist man individuell im höchsten Maße. Gerade die Volkstümlichkeit wird als ein charakteristisches Element des Mittelalters in der Regel übersehen. Die spärlichen Quellen lassen sie für das frühere Mittelalter nur nicht recht erkennen. Burckhardt hat recht, wenn er vom Mittelalter sagt: »Unser Leben ist ein Geschäft, das damalige war ein Dasein; das Gesamtvolk existierte kaum, das Volkstümliche aber blühte.«

Lange erscheint uns dieses volkstümliche Wesen nur als Unterströmung. Daß es dann auf der Höhe des Mittelalters stärker hervortrat, war zunächst nur mittelst der höheren Schichten der Nation und in einer kultivierten Form möglich. Es hatte sich jetzt ein weltlicher Stand von maßgebendem Einfluß gebildet, dessen nationaler Kern aber erst durch einen größeren kulturellen Inhalt und eine fremde kulturelle Färbung gewissermaßen kulturfähig geworden war und der durch Anlehnung an die religiöse und geistige Macht der Kirche einen größeren Halt gewonnen hatte, das Rittertum.

Die Bildung dieses Standes steht im Zusammenhang mit einer stärkeren sozialen Scheidung der Volksgruppen überhaupt. Mit der stetigen Umwandlung der großen Masse zu einem friedlichen Bauernvolk hatte sich neben dem zuerst geschlossen als Berufsstand auftretenden geistlichen Stand eine Schicht herausgehoben, die die ursprünglich allgemeine kriegerische Betätigung als ihre Sonderaufgabe ansah, zumal sie an den besondere Anforderungen stellenden Reiterdienst geknüpft war. Das Ganze ist eine auch sonst im Völkerleben zu beobachtende natürliche Gliederung. Schon machten sich daneben die Anfänge eines handel- und gewerbetreibenden Bürgertums geltend, das aber noch stark bäuerlich gefärbt war, wie ja auch der Grundbesitz die Grundlage der Macht der weltlichen Herren wie der kirchlichen Organisation war, wie ferner auf dem Lehnswesen – Landbesitz für Leistungen – Staat, Verwaltung und Heeresdienst mit beruhten. Im 12. Jahrhundert nun gliedert sich alles schärfer. Auch äußerlich, in Sitz und Wohnung trennen sich die Stände, es sondert sich der Herrensitz vom Dorf, von diesem die Stadt, wie schon seit langem der Geistliche in Klöstern und Stiften sich abschließt. Mit der Sonderung der weltlichen Stände ergibt sich nun auch[77] eine vielseitigere Ausgestaltung des Lebens, eine schärfere Betonung der besonderen Aufgaben und Interessen, die Entstehung besonderer Kulturkreise – bei den Rittern tritt zu der kriegerischen Grundlage eine gesellige Kultur als Lebenselement – und so überhaupt ein stärkeres Hervortreten des Weltlichen. Unterdrückt konnte dieses niemals werden. Die Lust der Welt war größer als alle Ansteckungskraft der Askese, die Kraft der Triebe, die Roheit und Gewalttätigkeit, die Untreue und Habgier aber auch noch immer stärker als das neue sittliche Gebot. Das noch eng mit der Natur verbundene ländliche Leben wie das kriegerische und jagdfrohe Schweifen der Herren über Wälder, Täler und Höhen ließen ferner die selbst den Mönchen nicht fremde Schönheit der Natur in den Menschen zu tief wurzeln, als daß eine Abwendung von ihr hätte stattfinden können – überhaupt darf man ein tieferes Naturgefühl auch dem früheren Mittelalter keineswegs absprechen[9]. Nun kam die stärkere Entwicklung der ständisch organisierten weltlichen Interessen kraftvoll hinzu. Das wirtschaftliche Leben hatte die Kirche selbst durch ihre Kulturtätigkeit mächtig gefördert, jetzt verlor sie mehr und mehr die Führung an die Laienwelt, zumal die bäuerliche Schicht. Mit den von ihr vermittelten Elementen höherer Lebenshaltung hatte die Kirche zu größerer Üppigkeit insbesondere der Herren beigetragen. Mit den politischen und Verwaltungsinteressen hatte sie eng im Zusammenhang gestanden; der Kampf zwischen Kirche und Staat hatte das staatliche Bewußtsein geweckt; das ohnehin seit der ottonischen Zeit vielseitigere politische Leben erschien gerade durch die politischen Bestrebungen der Kirche wichtiger und wertvoller. Die immer häufigere kriegerische Betätigung, die sie eigentlich bekämpfte, hatte die Kirche mit den Kreuzzügen selbst in ihren Dienst gestellt und damit geweiht. Gerade die Kreuzzüge, der Höhepunkt des kirchlichen Einflusses, bedeuteten überhaupt die größte Förderung der weltlichen Interessen.

Der kulturgeschichtliche Einfluß der Kreuzzüge sei hier nicht im einzelnen erörtert[10]. Sie haben zunächst auf die romanischen Völker und dann durch diese in abgeschwächter oder veränderter Weise und meist erst später auf das deutsche Volk gewirkt. Es war ein ungeheuer belebender Einfluß, den der Orient auf das Abendland damals ausübte. Zum Teil war es freilich[78] wieder die Antike, deren altes Gut nun durch neue Kanäle übertragen wurde. Byzanz, das einst die antike Kultur besser vor dem barbarischen Ansturm hatte retten können als Rom, hatte immer mehr auf den Osten gewirkt als auf den Westen, trotzdem es früh für diesen der Ausstrahlungspunkt des Handels mit den begehrten orientalischen Stoffen usw. war. Die später in der ottonischen Zeit vermehrten byzantinischen Einflüsse sind stark überschätzt worden. Von einer tieferen Beeinflussung der Kunst ist auch keine Rede, sondern nur von einer gewissen Übertragung äußerer Elemente und technischer Dinge wesentlich im Zusammenhang mit dem Hereinkommen von Gegenständen der Kleinkunst (Elfenbeinschnitzereien, Goldschmiedearbeiten, Emailsachen usw.) zumal durch Pilger und Kreuzfahrer.

Zum großen Teil war Byzanz nur der Vermittler orientalischer Luxusartikel, und der eigentliche Ursprung des »Byzantinischen« war schon früher nicht Byzanz, sondern Kleinasien. Italien hatte schon vor den Kreuzzügen mit der Levante unmittelbar gehandelt, jetzt wuchs dieser unmittelbare, auch von Südfranzosen getragene Levantehandel außerordentlich. Aber auch auf andere Weise kam in den Kreuzzügen die islamitische Kultur den Abendländern näher. An den alten Schätzen des Orients genährt, indisch, persisch und jüdisch befruchtet, von Byzanz und den Resten der hellenistischen Kultur in Kleinasien geistig, politisch-militärisch und sonst beeinflußt, stand diese nicht minder von eigener Kraft getragene Kultur hoch über der abendländischen. Sie hatte auf diese zum Teil schon vor den Kreuzzügen von den Mauren in Spanien und den Sarazenen in Süditalien aus gewirkt, namentlich auf dem Gebiet höheren (eigentlich antiken) Wissens und ästhetisch-gesellschaftlicher Kultur. Jetzt strömten neue Kulturgüter aller Art ins Abendland, materielle (Kulturpflanzen, Gewürze, Spezereien, Farben, feine Gewebe und kostbare Stoffe, Teppiche, Schmuckwaffen, allerlei Gegenstände des Luxus und bequemer Lebenshaltung), militärisch-technische, zum Teil römisch-griechischen Ursprungs (namentlich auf dem Gebiet der Befestigung), überhaupt technische (Nautik), kommerzielle (Handelswissenschaft, Ziffern), geistige, die Antike neubelebend (auf den Gebieten der Astronomie, Mathematik, Medizin, Philosophie). Dazu kamen stofflich-literarische Einflüsse (Sagen und Wundergeschichten) usw. Das künstlerische Leben erfuhr in dieser Zeit einen Antrieb durch eine mächtige Belebung der Phantasie, die namentlich durch die glänzende, zierliebende Bauart des Orients angeregt[79] wurde. Die regere Phantasie (Wunder und Zauber des Orients) befruchtete auch das dichterische Leben, schädigte freilich durch ihr Übermaß das geistige (Aberglaube und Wundersucht); doch nützte diesem um so mehr die große Erweiterung des Gesichtskreises. Auf das religiöse Leben dagegen wirkte die arabische Duldsamkeit zunächst gar nicht; das gesellschaftliche beeinflußten sehr stark die zierliebende wie die sinnlich-weiche Art des Orients und seine feineren Sitten. Der gesteigerte Handelsverkehr schließlich sollte eine völlige Umwälzung des wirtschaftlichen Lebens herbeiführen.

Es ist klar, daß durch all dieses die Ausbildung einer höheren weltlichen Kultur gefördert werden mußte. Negative, den kirchlichen Einfluß herabmindernde Momente kommen hinzu. Wer, wie die heimkehrenden Kreuzfahrer, so weit herumgekommen war, brachte andere Begriffe von Welt und Menschen nach Hause, war geistig regsamer, kritischer gegen die alten Mächte, die sein inneres Leben bestimmt hatten. Man hatte andererseits die »Heiden« kennen gelernt, sie waren auch Menschen; man wußte jetzt auch von griechischen, nicht mehr bloß von römischen Christen. Dem kirchlichen Sinn waren ferner die Fahrten selbst nicht zuträglich. Viele hatten sie ohnehin nur aus weltlichen Motiven unternommen. Fromme Gemüter wieder fühlten sich abgestoßen und gaben die Schuld zum Teil der Kirche, die als Urheberin der als verdienstlich hingestellten Züge solche Weltlichkeit duldete. Die Mißerfolge, das Scheitern der ganzen Bewegung, die der erste Kreuzzug erfolgreich eingeleitet hatte, wurden ihr auch angerechnet, und bei der Mehrzahl der Heimkehrenden beförderte die Enttäuschung solche Stimmung. Daheim hatte der kirchliche Sinn ohnehin durch die Kämpfe zwischen Kirche und Staat gelitten. Daß es auch innerhalb der Geistlichen eine Partei gegen den Papst gegeben hatte, war ebenfalls folgenreich. Dazu kam die äußere Einbuße der Kirche an Besitz und die starke Verwirrung, oft Zerstörung des inneren kirchlichen Lebens. So sank das Ansehen der Kirche bedeutend, gerade als der Sinn der Laien sich stärker auf die Dinge dieser Welt eben infolge der Kreuzzüge lenkte. Noch war die Kirche die Hauptmacht des Mittelalters, die höheren geistigen Kultureinflüsse der Araber haben z. B. naturgemäß gerade Geistliche vermittelt und gepflegt, aber die Kirche war nicht mehr ausschließlich maßgebend für eine höhere Kultur.

Eine solche Kultur weltlichen Charakters brachte zunächst das Rittertum hervor. Als sie sich herauszubilden begann, und[80] als auch schon in den Anfängen des Bürgertums die Keime neuer kultureller Gebilde sproßten, bot Deutschland, wie das Abendland überhaupt, im ganzen zunächst kein erhebendes Bild. Die große mittelalterliche Hauptmacht, die Kirche, hatte bedenklich gelitten: Verweltlichung, Verkommenheit und Unbildung machten sich bei den Geistlichen breit, obwohl höhere Bestrebungen nicht fehlten. Der Adel ging in Krieg und Raub und rohem Leben auf. Von einer gesellschaftlichen Kultur war auch nicht in den Anfängen die Rede. Die alte Unbändigkeit zeigten die Menschen auch sonst. Die wirtschaftlichen Zustände stockten: es herrschte bei dem Herrendruck und aus anderen Ursachen oft Armut und Not, bis sich der Bevölkerung ein Neuland im Osten zeigte. Vielfach lebten die niederen Schichten dumpf dahin, oft zeigten sich auch abschreckende Zustände. Auf diesem Hintergrunde entwickelte sich jene Kultur, die man ihrerseits nun freilich auch nicht in allzu idealem Lichte sehen darf.

Der ritterliche Stand, der sie trug, hatte sich im Rahmen des Lehnswesens gebildet durch Angliederung an die kleine, abgeschlossene Schicht der großen Herren, der späteren Landesherren, von denen noch (S. 105 f.) die Rede sein wird, also an den Hochadel, die Herzöge und Grafen, bei denen der Gedanke eines vom Könige übertragenen Amtes längst zurückgetreten war, weiter an die geistlichen Fürsten und natürlich auch an den König. Der Stand setzte sich zusammen aus den Lehnsträgern eines Großen, d. h. kleineren Grundherren, daneben sonst landsässigen Freien, die teils aus Not und Zwang, teils aus Ehrgeiz Lehnsleute wurden. Dazu kamen aber immer zahlreichere Unfreie, die sich als Reisige, auch als Träger von Verwaltungsfunktionen an einem Bischofs- oder Fürstenhofe emporgeschwungen hatten und schließlich mit einem Dienstgut, als Grundlage für Leben und Leistungen, belehnt waren, die immer größere Klasse der kriegerischen Ministerialen also, die auch als Gefolge den Glanz ihres weltlichen oder geistlichen Herren hoben, im übrigen aber wie kleine Grundherren auf jede Weise ihren Besitz zu mehren trachteten und sich den freien Rittern näherten. So entstand ein ritterlicher Dienstadel, der in den kriegerischen und politisch bewegten Zeiten immer mehr an Bedeutung gewann, immer wieder auch Freie und Adlige anzog, sich bei der Gleichmäßigkeit der Anschauungen und Interessen in altem genossenschaftlichen Drang immer mehr zusammen- und abschloß und schließlich bei der durchgesetzten Erblichkeit der Lehen aus einem Berufsstand bis zu einem gewissen[81] Grade zu einem Geburtsadel wurde. Freilich blieben daneben die sozialen Abstufungen bestehen, und wenn sich auch ein ritterlicher Ministeriale durch seine Ritterwürde über jeden freien Nichtritter, der noch so hoch stand, erhaben glaubte, so konnte er sich doch niemals dem Ritter von edlem Herkommen gleich dünken, war selbst auch nicht etwa frei.

Die Gleichmäßigkeit der im Frankenreich begründeten germanisch-romanischen sozialen Organisation, die auf dem Lehnswesen beruhte, die überall gleiche Rolle des Reiterdienstes machten das Rittertum zu einer überhaupt abendländischen Erscheinung. Seine Grundlage blieb immer das Kriegerische, aber der altgermanischen Kriegsfreude waren gewissermaßen romanische Zügel angelegt; alles war geregelt und in Formen gebracht. Auf eine Bändigung des Nurkriegerischen wirkte ebenso die Kirche hin, gleichfalls durch bestimmte Formen. Von den ritterlichen Schichten, wie sie auch sonst bei den Völkern sich finden, unterschied sich diese abendländische durch ihre kirchlich und gesellschaftlich bedingte Internationalität (s. S. 72 f.). Zunächst hatten aber die Franzosen die eigentlichen Formen des ritterlichen Lebens seit dem 11. Jahrhundert in einer Mischung normannischer und provenzalischer (zum Teil maurischer) Elemente ausgebildet. Romanisch war auch das gesuchte Sichabsondern, die Verachtung der bäuerlichen Arbeit, während in dem erstrebten Herrenleben, dem Leben von den Lieferungen der Untertanen sich auch ein germanischer Zug finden mag. Den Abschluß der ganzen Standesbildung gaben die Kreuzzüge, einmal durch die damalige innigere Berührung der Ritter verschiedener Länder, die eine nähere Bekanntschaft mit den gesellschaftlichen Formen des führenden und von den deutschen »Tölpeln« bewunderten französischen Rittertums herbeiführte, ferner aber durch den Glanz und die Bedeutung der Fahrten selbst, die ihren Trägern, den Rittern, einen außerordentlichen Nimbus verliehen, endlich durch die religiöse Weihe, die das Rittertum auf ihnen empfing und die erst jene Betonung kirchlicher Formen und religiöser Ziele vollendete sowie das Ideal des Ritters als christlichen Ritters befestigte. Ohne Zweifel stammt aus der zunächst religiösen Schwärmerei der Kreuzzüge der durch die Romantik des Orients noch beförderte schwärmerische Zug des Rittertums überhaupt, der bei dem hingebenden, sentimentalen Minnedienst vor allem zutage trat. Nicht mit Unrecht hat man aber auch die Empfindelei und Verstiegenheit des Minnetums an[82] sich mit der gewaltigen Steigerung des religiösen Gefühlslebens zusammengebracht.

Der Hauptzug der ritterlichen Standeskultur, die Verbindung des kriegerischen Grundelements mit gesellschaftlich-ästhetischen Idealen, ist also romanisch, insbesondere französisch. Und romanisch mutet auch das gesamte ritterliche Leben in seinen Formen an. Wie Frankreich, das schon auf geistlich-geistigem Gebiet im Abendland voranstand, auch ein gesellschaftliches Übergewicht erlangte, ist in meiner Geschichte der deutschen Kultur (I², S. 312 ff.) näher dargelegt: jedenfalls war alles Französische in Deutschland Mode geworden. Nicht nur daß viele das Französische wenigstens verstanden, auch die deutsche Sprache füllte sich mit französischen Fremdwörtern, Gruß- und Verkehrsformeln, die zum größten Teil freilich später wieder daraus verschwanden. Viele Fremdwörter kamen mit den Sachen selbst, so mit Kleidungsstücken und Stoffen, Waffen und Rüstungsteilen, Speisen und Getränken, Instrumenten, Liedformen und Tänzen, ebenso mit übernommenen Sitten, z. B. solchen der Jagd und vor allem mit dem ganzen französischen Turnierwesen, mit gesellschaftlichen Spielen usw. Die Tracht hatte sich übrigens schon im 11. Jahrhundert der französischen genähert; jetzt trug man alles nach »französischem Schnitt«. Französisch waren die dem Deutschen so ungewohnten Regeln des nunmehr höchst wichtigen äußeren Benehmens, die Anstands- und Tischregeln; der Ehrbegriff erhielt ebenfalls etwas Französisches und ebenso das nunmehr sehr verfeinerte Schönheitsgefühl; der ästhetische Charakter des Lebens war französisch. Der Minnesang entlehnte seine Formen immer mehr den Provenzalen, und auch die epische Heldendichtung nahm die nordfranzösische z. T. zum Vorbild. Stark französisch gefärbt war endlich der Frauendienst, der sich zunächst aber im Deutschland wohl unabhängig entwickelt hat. Überhaupt waren die Deutschen nicht nur Nachahmer (s. S. 73 und 93), was z. B. auch die Ritterweihe zeigt. Eigenartige Züge hat man neuerdings ferner aus dem Übergewicht der Ministerialen im deutschen Rittertum hergeleitet; das französische bildeten vor allem freie Vasallen.

Die neue Rolle der Frau ist ein kulturgeschichtlich wichtiges Moment. In geistigen Dingen hatte sich schon der Germane der sonst ein demütiges Arbeitsdasein lebenden Frau gebeugt. Später war dann auf dem Gebiet geistiger, freilich immer noch elementarer Bildung die vornehme Frau die beste Bundesgenossin des Geistlichen gewesen. Jetzt gewann sie, über den geistlichen[83] Einfluß hinweg, eine ganz neue weltlich-gesellschaftliche Macht über den Mann, der sich seinerseits, wenn er ein modischer Ritter sein wollte, gleichzeitig dem Frauendienst wie dem ungewohnten Zwang feinerer gesellschaftlicher Bildung unterwerfen mußte. Der eigenen Frau gegenüber blieb freilich auch in den ritterlichen Schichten das frühere, nicht selten brutale Regiment bestehen; das junge Mädchen ferner blieb in hergebrachter häuslicher Zucht und klösterlicher Lehre; die Heirat war in der Regel ein nüchternes Geschäft wie früher. Andererseits steckt in dem zum Teil schon auf den Kreuzzügen von den Romanen überkommenen Kultus der fremden verheirateten Frau bei der derben Genußfreude und Ungebundenheit der Deutschen lange ein sehr unideales, rein sinnliches Element. Erst allmählich bequemte man sich jenem romanisch verfeinerten und gekünstelten, schwärmerisch-idealen Minnedienst an, durchaus freilich in konventioneller Weise. Und wenn man auch nicht das verzwickte, man möchte sagen scholastisch und zugleich überspannt-asketisch ausgebildete Minnesystem der provenzalischen Troubadours übernahm, so zeigte der Minnedienst doch über die übliche konventionell-phantastische Aufmachung hinaus auch in Deutschland bei einzelnen Modehelden wie Ulrich von Lichtenstein übertrieben schwärmerische Formen. Einen schmachtend sentimentalen, natürlich auch verschwiegenen, heimlichen Charakter aber trug der Frauendienst, wobei die Frau stets als Zurückhaltende, Versagende erscheint, später immer allgemeiner, eben weil es sich meist um verheiratete Frauen – ganz ist Mädchenminne nicht ausgeschlossen – handelte und der Ehebruch nicht entfernt die Regel war. Manche Dichter wie Wolfram oder ein Reinmar von Zweter haben auch gerade die eheliche Liebe innig gepriesen. Aber auch jetzt handelte es sich immerhin zum großen Teil um wirkliche Liebesabenteuer. Indes ist vor allem dies wichtig, daß das ritterliche Leben überhaupt unter dem Zeichen der Frauen steht.

Die notwendige Folge ist das Aufkommen einer ganz neuen gesellschaftlichen Kultur. Männergeselligkeit, wie sie die bisherigen Deutschen kannten, in den Freuden der Gelage und der Jagd aufgehend, konnte nur derbe Formen haben – Ausnahmeerscheinungen, wie der karolingische Bildungskreis und zum Teil der der Ottonen, bleiben außer Betracht. Vielleicht haben zuerst jene geistlich gebildeten vornehmen Frauen neben den Geistlichen selbst in der ottonischen Zeit eine Art feinerer Geselligkeit hervorgebracht. Dann aber kamen jene romanischen Einflüsse,[84] und mehr oder weniger geschickt verstand die Frau die ihr dadurch gegebene gesellige Herrschaft auszuüben. Ihre größere Bildung mochte ihr den Gebrauch der gerade von ihr verlangten feineren Formen auch leichter machen als dem Manne. Wichtig ist nun aber weiter, daß dieser neuen Geselligkeit ein belebendes geistiges Element nicht fehlte, das war die fast obligatorische Pflege der Dichtung. Auch bei ihr drehte es sich freilich in der Regel um die Minne, und auch sie war ein Gewächs der Mode. Aber sie kam gleichwohl auf eine Höhe, wie sie noch lange nachher nicht wieder erreicht wurde. Die bisher allein als Bildung geltende geistliche Bildung verlor in dieser Zeit bedeutend an Geltung. Der gesellschaftlich vollendete Ritter mußte in den Formen des Turniers, der Jagd usw. wohlgeübt sein, in seinem Benehmen die höfischen Formen voll beherrschen, gewandt und fein mit Damen sich unterhalten, auch wohl ein Liedlein dichten oder doch vortragen können und dergleichen: aber lesen und schreiben brauchte er nicht zu können, wenn es auch mehr Ritter fertig brachten, als man glaubt. War ferner die bisherige Bildung von der Kirche ausgegangen, so waren die Mittelpunkte der neuen gesellschaftlichen Bildung natürlich weltlicher Art. Der Hof der Fürsten und großen Herren (s. S. 105 f.) trat wieder in seine kulturellen Rechte, wie sich ja an diese Großen das ganze Rittertum auch sozial angliederte. »Höfisch« heißt daher die ganze Kultur, die hövescheit (courtoisie) ist der Inbegriff der an den rechten Ritter gestellten gesellschaftlichen Anforderungen. An den Hof wird der junge Ritter gesandt, um die beste Erziehung zu erhalten. Am Hofe entfaltet sich der eigentliche Glanz ritterlichen Lebens mit seinen Turnieren und Festen.

In der Hauptsache ist die neue Bildung rein äußerlich, aber sie hat doch auch zur inneren Kultivierung der führenden weltlichen Schicht Deutschlands einigermaßen beigetragen. So wurde doch eine gewisse Wandlung des rohen und unbändigen Deutschen vor allem durch die streng geforderte mâze (Selbstbeherrschung, maßvolle Haltung) herbeigeführt, die sich den schon früher von der Kirche verlangten Geboten äußerer Sittigung nunmehr anreihte, und die man nur infolge ständiger rechter »Zucht« erlangen konnte. Die alte Leidenschaftlichkeit sollte nun kalter Glätte und Ruhe weichen, das Ungeschlachte sich in zierliche Formen zwingen lassen, Trunksucht und Derbheit waren verpönt. Für die Mehrzahl blieb es freilich eine Zwangsherrschaft, die man später rasch wieder abwarf. Auch die geforderten schon[85] mehr innerlichen Eigenschaften, die Milde (Freigebigkeit), die Treue u. a., laufen in der Hauptsache auf Erfüllung konventioneller, äußerer Pflichten hinaus; ebendarum handelt es sich bei dem Ehrbegriff und der Frömmigkeit des Ritters. Die Schicklichkeit (die fuoge, die site) ist das wesentliche, sie ist auch der Kern der ganzen »tugent«. Immerhin schlägt die in den Dichtungen und den zahlreichen Lehrschriften gepredigte ritterliche Ethik auch tiefere Saiten an. Die Treue wird edler gefaßt, die mutige Wahrheitsliebe gepriesen, ein humaner Sinn ist nicht selten, der durch alle Widrigkeiten sich hindurchkämpfende Wille zum Guten, die Stärke des tüchtigen Charakters, also die stæte, erscheint wenigstens in Wolframs Parcival, freilich einer für die allgemeine Auffassung nicht bezeichnenden Dichtung, als Ideal. Ein schwärmerischer Idealismus ist sicherlich dem für Gott oder für eine Herrin kämpfenden, auf stolze Kampfesehre dringenden Rittertum nicht abzustreiten. Wie zum Teil in der Kreuzzugsbewegung wird ferner auch sonst die äußere Frömmigkeit oft zu einer tieferen Religiosität.

Aber äußerliche Konvention bleibt trotz alledem ein Hauptcharakteristikum der ritterlichen Kultur, auch der Minne und der ritterlichen Dichtung, selbst des Waffenberufs. Ein Kriegs- und Kampflied hat die Zeit nicht hervorgebracht. Mancher sah nicht im ernsten Kampf, sondern im modischen Waffenspiel, dem freilich durchaus nicht ungefährlichen Turnier, die Hauptsache. Äußerlich ist überhaupt die ganze Lebensauffassung des Ritters. Sein Ideal, die sælde, geht auf ein äußeres Glück, auf reichen Besitz und ein Leben voll Genuß, Prunk und Glanz, auf Weltfreude.

Indes hat diese Strömung nun doch zivilisatorisch wie kulturell wichtige Seiten. Zunächst wurde durch sie jene schon (S. 49 ff.) beobachtete Verfeinerung der Lebenshaltung außerordentlich gefördert. Die Glanz- und Prunkliebe äußert sich freilich in der Form eines übertriebenen, zuweilen noch rohen Luxus, der oft mit technischer und hygienischer Unvollkommenheit des Daseins verbunden war. Letztere zeigte sich z. B. in der Wohnweise. Im Gegensatz zu verbreiteten romantischen Vorstellungen waren die Burgen oft recht unwohnlich, dunkel wegen der kleinen, tiefen Fenster, kalt, da man diese nur schlecht zu schließen verstand und die stark rauchenden Kamine nur schlecht heizten, unbequem wegen der oft engen und beschränkten eigentlichen Wohnräume. Hierzu wie zu dem meist nicht geringen Schmutz bildete der Wohnungsprunk,[86] wie ihn die damaligen Dichtungen in weit übertriebener, höchstens für die Reichsten Geltung habender Weise schildern, einen grellen Gegensatz. Der Prunk äußert sich bei den Festgemächern der Großen in der reichen Verwendung von kostbaren Wandbehängen, Decken, Kissen und Polstern, in der Bemalung der Wände und der Holzmöbel, die auch schön geschnitzt sein mochten, weiter in dem Belag des Fußbodens mit seltenen Steinarten oder Tonfliesen, in prächtigen Kaminen, Kronleuchtern, in einzelnen Geräten aus edlem Metall, besonders in prächtigen Trinkgefäßen und Tischgeräten und entsprechend in feinen Tischtüchern. Solchen zunehmenden Luxus zeigte nun auch die schon von den Klöstern gehobene Kochkunst in der Zubereitung der Speisen wie in der Herstellung von Schaugerichten: alles das gilt aber meist nur für festliche Gelegenheiten. Auf Menge und Fülle der Gerichte und starke Verwendung von Gewürzen legte man im übrigen häufig, wie früher, den Hauptwert.

Diese Unentwickeltheit des Luxus zeigt vor allem auch die Kleidung. Recht kostbare Stoffe, besonders Seide, zur Schau zu tragen, ist allgemeines Bestreben: dem entspricht die übertriebene Anbringung von Goldborten, goldenen Schellen sowie von wertvollen, oft goldgefaßten Steinen als Besatz sowie die Verbrämung der Kleider mit teurem Pelzwerk, mit dem man nun auch den Mantel innen fütterte. Bezeichnend sind ferner die Vorliebe für auffallende Farben und die Vielfarbigkeit der Kleider. In ihrem eitlen, gefallsüchtigen Charakter näherte sich die männliche Tracht zum Teil schon der weiblichen, auch in der Mode, lange Locken zu tragen. Manche Männer machten sogar die jetzt bei den Frauen aufgekommene Sitte, das Haar mit Seiden- und Goldbändern zu durchflechten, mit. Die Frauen ihrerseits gaben den Männern an Putzsucht nichts nach, begannen sich auch immer allgemeiner zu schminken. Eine große Hauptsache war der Kopfputz.

Trotz der geringen Durchbildung dieser Prunksucht, die für die weniger Reichen übrigens sehr einzuschränken ist, steckt doch in der Art, wie man seine äußere Erscheinung zur Geltung zu bringen suchte, zum Teil schon ein feineres Schönheitsgefühl. Eine eigentliche Überladung mit Schmuck beginnt man hie und da schon zu vermeiden. Vor allem ist aber jede Plumpheit der Gestalt verhaßt. Feiner Wuchs soll auch zur Geltung kommen. Daher die schon seit längerer Zeit eingetretene Verengung der Taille der Frauen, aber auch der Männer. Deren Rock, der[87] zunächst nur oben eng war und in seiner großen Länge und unteren Weite wieder etwas Weibliches hatte, ward allmählich kürzer, die nun hervortretenden Hosen wurden enger, die Schuhe ebenfalls enger und spitzer. Kraft und Stärke durften bei dem Ritter nicht vermißt werden: aber alles Ungefüge sollte, wieder nach romanischem Muster, im Äußeren des Mannes schwinden. Vor allem aber sollte die Frau ein feines, schlankes, zartes Geschöpf sein, und der für sie geltende romanische Schönheitsmaßstab wird von den Dichtern schließlich auch an den Mann angelegt. Eine Grundbedingung solchen Schönheitsstrebens war natürlich eine gesteigerte, keineswegs freilich aus hygienischen Gründen hervorgehende Körperpflege. Unsauberkeit der Wohnung war geduldet, Unsauberkeit des Körpers verpönt. Häufiges Baden war ja althergebracht: jetzt machte man daraus einen feineren Toilettenvorgang und nahm Wohlgerüche hinzu, die man jetzt überhaupt liebte. Häufiger wechselte man sodann die Kleider, gewiß aus stärkerer Abneigung gegen unschönen Geruch. Man pflegte nun aber auch sorgsam das Haar, die Zähne, die Nägel wie die Hände. Das schon lange übliche Handschuhtragen war zur Bewahrung der Sauberkeit durchaus notwendig. So bedeutet denn die aristokratische Verfeinerung der ritterlichen Gesellschaft zugleich eine größere Ästhetisierung des Lebens. Darauf geht ja auch jenes neue gesellschaftliche Ideal der mâze, der unleidenschaftlichen Schicklichkeit, aus, darauf die Fülle jener Anstandsregeln, darauf die erstrebte Zierlichkeit des Verkehrs. Auch die Sprache hob sich zu größerer Schönheit, vor allem seitdem die Dichtung durch die romanische Mode zu einem wichtigen Element des ritterlichen Lebens wurde und aus dieser Gesellschaft heraus auch zahlreiche Dichter erstanden, unter ihnen solche von hoher und höchster Bedeutung, die über die modischen Nachahmer der Franzosen weit hinausragten.

So gewinnt denn die ritterliche Kultur zum Teil schon einen künstlerischen Charakter. Auch die bildenden Künste nehmen jetzt, freilich nicht allein im eigentlich ritterlichen, mehr die Kleinkunst verwendenden Bereich, sondern überhaupt in den großen kirchlich-weltlichen Kreisen unter dem Einflusse der Romanen einen außerordentlichen Aufschwung. Seit längerer Zeit war in der Herrenkultur eine Neigung zu größerem Glanz verbreitet, und das machte sich gerade künstlerisch geltend. Jene eifrige Bautätigkeit, die die salischen Herrscher im Wetteifer mit den Bischöfen die großen romanischen Kathedralen in den rheinischen[88] Städten schaffen ließ, entsprach der politischen Machtstellung des Reiches und seinem größeren Reichtum. Man ersetzte die einfacheren Bauten früherer Zeit durch prächtigere. Wie wir von Anfang an in den romanischen Bauten den aristokratischen Zeitgeist sich spiegeln sahen (s. S. 54), so entfaltet sich dieser Charakter in der Blütezeit des Stils noch mehr und kommt zu glänzenderem, leichterem, feinerem Ausdruck. Auch weltliche Bauten der vornehmen Schicht, Pfalzen, Burgen und Patrizierhäuser, werden nun zu Denkmälern dieses vornehm-geschmackvollen Stils. Vor allem ist es die Hohenstaufenzeit, in der sich dieser Glanz recht entwickelt. Auch jetzt wurde eifrig gebaut, freilich entstand weniger von Grund aus Neues als eine Fülle von Zutaten und Umgestaltungen. In der Zeit vom Ende des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts wird nun jene Neigung zum Glanz immer mehr zu einer stark dekorativen Strömung: auf prächtige Außenbauten wird Wert gelegt, auf zierlichen Schmuck im einzelnen. Bezeichnend sind etwa die Blendarkaden der spätromanischen Bauten dieser Zeit des Überganges zur Gotik. Die Bauten der Cistercienser richteten sich bewußt gegen diese Strömung.

Die eigentliche Gotik, in Frankreich aus zum Teil bereits vorhandenen Elementen unter Führung Nordfrankreichs ausgebildet, weist auch als Hauptzug die Dekoration auf, so sehr die technisch-konstruktive Seite, nämlich die Lösung des Gewölbeproblems, das Kreuzrippengewölbe, die Bedeutung des neuen Stils ausmacht. Trotzdem die deutsche Baukunst lange schon Fühlung mit der aufstrebenden französischen Kunst hatte, öffnete sie sich diesem Stil keineswegs rasch, was ja bei der Höhe der in Deutschland erreichten Entwicklung auch verständlich ist. Erst um 1250 hat er sich, langsam und auf verschiedene Weise eindringend, völlig in Deutschland eingebürgert, eben im Zusammenhang mit der internationalen kulturellen Vorherrschaft Frankreichs. Auch in Deutschland entwickelte sich nun eine feine und reiche Formengebung, wenn auch das Bürgertum mit der Entfaltung des Luxus bei den Franzosen nicht wetteifern konnte und die Bauten bald nach der einfachen Seite hin beeinflußte. Aber welche künstlerische Höhe, welche Entwicklung des Schönheitsgefühls zeigen nun doch die Hauptbauten der Gotik im 13. Jahrhundert! Ein phantastisches Streben in die Höhe, eine liebevolle Ausgestaltung des einzelnen sind charakteristisch. Es schwindet zugleich die Bedeutung der Wandmalerei; die Malerei wird nun auf die hohen Fenster als Objekt beschränkt; schon vor dem 13. Jahrhundert[89] erreicht diese Glasmalerei ihre Blüte. Das ganze Innere wird nun in ein geheimnisvolles Licht getaucht, das wieder eine dekorative Seite hat, vor allem aber eine ganz eigenartige Stimmung hervorbringt. Die Gestalten der heiligen und kirchlichen Geschichte den Gläubigen nahezubringen, wurde nun vor allem Aufgabe der nicht mehr auf das Portal beschränkten Plastik, die zugleich für den erstrebten reichen Innenschmuck und die dekorative Gestaltung der Säulen, Pfeiler, Galerien usw. sorgen, dauernd freilich dabei die Dienerin der Herrscherin Architektur bleiben mußte. Die hochentwickelte französische Plastik war das Vorbild der deutschen, aber die schönsten deutschen Denkmäler sind doch zugleich Erzeugnisse deutschen Geistes und geben dem deutschen Individualismus wie dem neuen realistischen Sinn künstlerisch wunderbaren Ausdruck. So hat denn Dehio das 13. Jahrhundert, in dem außer der Dichtkunst auch die übrigen Künste zu gleichmäßiger Entfaltung kamen, »das am meisten ästhetische Jahrhundert« genannt, »das wir erlebt haben«, wie es überhaupt kulturell überaus hoch stand.

Diese ästhetische Seite zumal der ritterlichen Kultur hat nun freilich ihre Kehrseite. Der Niederschlag dieser Kultur in einer reichen, sie verherrlichenden Dichtung täuscht leicht darüber, daß diese Welt zum Teil doch nur in der dichterischen Phantasie lebte. Es war im ganzen eine Welt des Scheins. Zum höfischen Leben mangelte vielen nicht nur der genügende Besitz, sondern auch die Neigung, selbst den Frauen. Abgesehen von der ständigen höfisch-kriegerischen Umgebung der Fürsten und Herren und einem stark abenteuerlichen Element »fahrender« ritterlicher Turnierer und Sänger mochten unter den übrigen Rittern viele sein, die daheim das grob-ländliche, nicht gerade üppige Herrenleben führten, die Hausfrau, die selten genug die Modedame war, nach alter Weise walten ließen und wenig höfisch behandelten, in der Geselligkeit den Trunk mit ihren Genossen als Hauptsache ansahen und in ihren Sitten alles zu wünschen übrig ließen. Manche mochten das eine draußen tun und das andere daheim nicht lassen, fühlten sich dann aber in höfischer Aufmachung nichts weniger als behaglich, und selbst in der eigentlichen höfischen Schicht herrschte, wie schon gesagt, in erster Linie der Zwang der Konvention, der Mode. Das zeigte sich vor allem später, als der weiter unten (S. 116 f.) zu charakterisierende wirtschaftliche und soziale Rückschlag kam. Da waren die gepriesenen Ideale rasch vergessen, oder man übertrieb noch ihre Äußerlichkeit und[90] schloß sich um so hochmütiger ab. Die ohnehin derb und plebejisch werdende Zeit färbte auch beim Ritter ab, die Frau trat gesellschaftlich völlig zurück, die Trunksucht stieg wieder mächtig. Die Anzeichen dieses Verfalls begegnen ziemlich früh. Schon in Ulrich von Lichtensteins »Frauendienst« finden wir rohe Raubritter geschildert, andererseits auch wirtschaftlich gesonnene, philiströse ländliche Ritter, die dem Dichter ebenso unhöfisch scheinen wie jene. Er selbst zeigt in seiner phantastischen Verzerrung des Frauendienstes die früh eingetretene Entartung desselben; man sah das Wesen der Sache jetzt in der extremen Übertreibung. Andererseits war dem Rittertum noch später ein längerer Glanz in einzelnen Gegenden beschieden, wie in Tirol oder dort, wohin die neuen Ideale am spätesten gedrungen waren, im Norden und Osten, und auch sonst behielt es vielfach einen höheren Nimbus, noch im 15. Jahrhundert, z. B. in Franken, bewahrte jene Ästhetisierung des Lebens freilich nur in geringen Äußerlichkeiten.

Kulturgeschichtlich bedeutsam ist vor allem der weltliche Grundzug des Rittertums. Wir sahen zwar (S. 81), daß der Ritter theoretisch immer der christliche Ritter ist. Man kann weiter an die Bedeutung der Gralsage erinnern, auf die Grundanschauung im »armen Heinrich« hinweisen, manchen Ritter, der im Kloster endete, nennen und viele Züge echter Religiosität bei den Dichtern anführen. Gleichwohl ist die ritterliche Kultur eine erste höhere Laienkultur, freilich ohne Opposition gegen die Kirche oder auch nur gegen die asketische Anschauung derselben. Beim Rittertum gipfelten diese weltlichen Standesideale eben in jener ausgeprägten Weltfreude, in dem Preis der Frauenliebe, in genußsüchtiger Lebenslust. Diese Weltlichkeit hat nun freilich auch teilweise zu einer stärkeren Gegensätzlichkeit gegen die Kirche und ihren Geist geführt. Wir können von einer gewissen Humanität, einer ausgesprochenen Duldsamkeit den Heiden und Juden gegenüber reden. Die Töne, die dann Walter von der Vogelweide dem Papst gegenüber gefunden hat, zeugen von größerer innerer Freiheit, wenn auch natürlich nicht von Unkirchlichkeit. Die volkstümlichen Spielmannsdichtungen gehen übrigens den Idealen des Mönchstums gelegentlich schärfer zuleibe.

Aber von einer Scheidung zwischen Rittertum und Kirche ist in keiner Weise die Rede. Die äußere Kirchlichkeit wird besonders betont. Überdies war die Anziehungskraft der ritterlichen,[91] »höfischen« Kultur so groß, daß sich selbst die Glieder der führenden Kulturmacht, der Kirche, ihr nicht ganz verschlossen. Diese an den weltlichen Höfen ihre Mittelpunkte findende Kultur war trotz ihrer geschilderten Schwächen mit einem glänzenden idealen Schimmer umgeben, wenn die Welt auch nur kurze Zeit eine wirkliche Blüte edler, höfisch gebildeter und doch männlich-kräftiger Ritterschaft gesehen haben mag, etwa um die Zeit des Mainzer Festes 1184 unter Friedrich I. Rotbart. Nun ist freilich richtig, daß sich das Rittertum eben mit dem Abschluß der Standesorganisation und der völligen Ausbildung der kriegerischen und gesellschaftlichen Standesideale immer schärfer absonderte, die Ebenbürtigkeit zur Bedingung der Zugehörigkeit erhob und sich vor allem vom Bauer, dem »Törper«, »Tölpel«, dessen ländliche Arbeit man nun hochmütig verachtete, zu unterscheiden suchte, obwohl mancher Ritter mit Bauern zechte und mit Bauernmädchen tanzte. Gleichwohl bestrebte sich jene nichtritterliche Welt auf alle Weise, dem Rittertum wenigstens äußerlich nachzuahmen. Und damit gelangt die aristokratische Richtung dieser Jahrhunderte auf ihren Höhepunkt. Das Rittertum, in dem sie sich verkörperte, war zunächst die in allen weltlichen Dingen maßgebende Schicht. Die Fürsten, an die es sich angliederte, zählten sich doch wieder selbst zu den Rittern. Innerhalb des landwirtschaftlichen Lebenskreises, in dem Deutschland noch aufging, waren die Ritter Führer und Herren, aber auch in den aufkommenden Städten gaben noch die ritterlichen Ministerialen, die Geschlechter den Ton an und waren den ländlichen Rittern nicht selten näher verbunden.

Der Adel, insbesondere auch der niedere Adel, war in politischer, militärischer und sozialer Beziehung der wichtigste Stand. Aber man darf auch seine geistige Rolle nicht unterschätzen (vgl. S. 93). Vor allem war er aber der Träger einer neuen bewunderten gesellschaftlichen Kultur geworden. Diese ästhetische Verfeinerung des Lebens, die an sich schon einen aristokratischen Charakter trug, wurde zum allgemeinen kulturellen Vorbild. Geistliche zunächst hatten schon früh – sie waren ja allein die Schriftgelehrten – französische höfische Dichtungen, freilich nicht ohne geistlichen Einschlag, ins Deutsche übersetzt, und später fehlte es nicht an Geistlichen, die die eigentlich ritterliche Dichtung pflegten oder ihre Ideale priesen. Auch in den Klöstern mochte sich mancher Mönch an der ritterlichen Epik wie am Minnesang erfreuen. Vor allem fanden aber die Bischöfe und geistlichen[92] Würdenträger, die ja in der Regel aristokratischer Abkunft waren, Gefallen daran und zogen Sänger an ihre Höfe, die überhaupt den weltlichen Höfen in ritterlichem Glanz, in Festen und Turnieren, denen die Geistlichen natürlich nur zuschauten, oft wenig nachstanden. – Daß die reichen Bürger sodann, wenigstens damals, in der ritterlichen Kultur die einzig erstrebenswerte sahen, geht schon aus der aristokratischen Zusammensetzung des städtischen Patriziats hervor. Auch der gerade in frühen Stadien rasch reich werdende Kaufmann spielte in ihm bald eine Rolle und tat es dem grundbesitzenden städtischen Adel und den Ministerialen gleich. Gottfried von Straßburg entstammt diesen Kreisen der städtischen Aristokratie, und in Konrad von Würzburg sind wohl ritterliche und bürgerliche Elemente vereinigt. Die Geselligkeit, die Tracht waren durchaus höfisch, man hielt auch Turniere ab, so 1226 zu Magdeburg einen »Gral« für alle »Kaufleute, die da Ritterschaft wollten üben«. Andererseits ist die große, auch im übrigen Abendland zu beobachtende Rolle der Patrizierherrschaft in den Städten, von der wir (S. 102) noch hören werden, an sich schon ein Zeichen jenes aristokratischen Zeitgeistes und schon deshalb natürlich und zeitgemäß gewesen. So gab es eine, geistliche und bürgerliche Elemente heranziehende, wesentlich ritterliche Gesellschaft aristokratischer Färbung, die für ihre Zeit bezeichnend war, der zwar hin und wieder die geistlichen Asketen grollten, die in einem ausgeprägten Gegensatz aber nur zu einer Schicht stand, auf der gerade alles wirtschaftliche Gedeihen damals noch beruhte, zur bäuerlichen. Aber auch diese Schicht suchte in ihrem reicheren Teil dem allgemein bewunderten Lebensideal um so mehr nachzueifern, je näher dieser Teil dem landsässigen Ritter stand und je häufiger er sich, so namentlich in Bayern und Österreich, mit ihm berührte. Manch ritterlich-bäuerliche Heirat kam zustande, mancher Ministeriale war ursprünglich bäuerlichen Standes. Reiche Bauern, namentlich die junge Generation, machten nicht nur in der Kleidung, Wappnung und im Lebensprunk die französiert-aristokratische Mode mit, sie tanzten auch nach höfischer Weise und begehrten ritterlichen Sang zu hören, sie übten sich sogar selbst, zum Spott der Ritter, gelegentlich im Minnedienst und anscheinend auch im Turnier.

Natürlich ging das alles mit jenem Verfall des ritterlichen Lebensideals selbst vorüber, aber immerhin war in diesem Zeitalter für das ganze Abendland der Grund zu einer höheren gesellschaftlichen Kultur gelegt, und ihre Überlieferungen[93] wurden vor allem von der ritterlich-adligen Gesellschaft auch weiter gepflegt, trotz des Aufkommens einer neuen demokratisch-volkstümlichen Zeit.

Es erhebt sich die Frage, ob dieser Blütezeit der aristokratischen Kultur das volkstümliche Element ganz gefehlt hat, und damit berühren wir wieder unser Hauptproblem. Nicht zunächst der aristokratische als vielmehr der un- und internationale französierte Charakter der ritterlichen Kultur spricht gegen ihre Volkstümlichkeit, ebenso aber der daraus sich ergebende konventionelle Zug, die »Verbildung«. Nationale Elemente fehlen indes nicht ganz (s. auch S. 82): die Kampflust wie die Jagdleidenschaft, die der Ritter mit dem Herrn des frühen Mittelalters teilt, sind trotz der französischen Färbung mancher Kriegs- und Jagdsitten altgermanisch, auch gewisse Elemente der männlichen und weiblichen Erziehung. In dem naiven Verhältnis zur Natur, der einfachen Naturfreude, der Frühlings- und Sommerlust, zeigt auch die Dichtung alte volkstümliche Züge. Öfter, wie bei Walter von der Vogelweide, verrät sie schon ein feineres Inbeziehungtreten des menschlichen Innern zur Natur. Gekünstelt dagegen ist die äußerliche, auf Glanz und Wunder hinarbeitende Naturbeschreibung der Epen, von Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg etwa abgesehen. Natürlich zeigt aber die Dichtung trotz der fremden Einflüsse auch sonst vielfach deutsche Färbung, und ihre schönsten Erzeugnisse, wie die Lieder Walters oder der Parcival Wolframs, sind doch vor allem als Blüten deutschen Wesens, größerer Innerlichkeit und Tiefe aufzufassen. Trotz allen fremden Firnisses war man doch wieder auf die deutsche Art stolz. »Deutsche Zucht geht vor ihnen allen«, heißt es bei Walter. Von der Bedeutung, die gerade der niedere Adel für die Mündigwerdung der nationalen Sprache über die Dichtung hinaus hatte, werden wir noch (S. 112) hören. Trotz jenes Gegensatzes zum unkultivierten Bauern zeigen sich nun weiter innerhalb der höfischen Dichtung selbst ausgesprochen volkstümliche Neigungen. Ihr Hauptträger ist der Bayer Neidhart von Reuental mit seinen realistischen Liedern, die unzweifelhaft in Form und Inhalt mit alten ländlichen Tanzliedern zusammenhängen, aber sich doch im Rahmen der höfischen Kunstdichtung halten, wie denn auch der Bauer darin dem Spott des Ritters dient. Walter war über solche »Unfuge« entrüstet, aber manche höfischen Dichter folgten doch Neidharts Spuren und zeigten mit ihrer »höfischen Dorfpoesie« eine volkstümliche Gegenströmung[94] gegen die überfeinerte Minnedichtung (siehe unten S. 139).

Man darf überhaupt über dem in unserem geschichtlichen Bewußtsein alles überragenden Glanz der höfisch-aristokratischen Kultur nicht die Bedeutung und die still wirkende Betätigung der niedrigeren Volkskreise übersehen. An sich weist ja schon das Rittertum selbst wenigstens in seinen aus unfreien Ministerialen erwachsenen Teilen auf eine seit längerem zu beobachtende Aufwärtsbewegung der niederen Schichten hin. Noch deutlicher und allgemeiner zeigt sich diese in der wirtschaftlichen und sozialen Hebung der breiten bäuerlichen Schicht gegenüber der Grundherrschaft und in der Festigung und wachsenden Bedeutung des städtischen Bürgertums. Gerade der aristokratische Zug der Zeit führte ebenso wie die gesteigerte Lebenskultur und die kriegerisch-politischen Interessen zu einer Abwendung der Herrenschicht – vom Osten ist zunächst nicht die Rede – von der persönlichen landwirtschaftlichen Betätigung, die zum Teil völlig aufhörte. Man lebte lieber von Lieferungen und Naturalabgaben, die sich dann mit der aufkommenden Geldwirtschaft zum Teil in feste Geldabgaben, freilich in sehr ungleicher Weise, wandelten. Bei dem allmählichen finanziellen Verfall namentlich des niederen Adels setzte allerdings bald wieder die Sucht ein, diese Abgaben zu erhöhen und den Bauern auszupressen: aber zunächst war die Höhe der Abgaben gering (über die Gründe ihrer Minderung wie der Schonung der Bauern s. S. 96). Besonders die Fronden traten stark zurück. Die Zinsbauern wurden durch die Festlegung der Leistungen, die weiteren Ansprüchen vorbeugte, selbständiger. Überhaupt kam man namentlich bei großen Grundherrschaften eben aus wirtschaftlichen Gründen dazu, den großen Betrieb mehr zu dezentralisieren und durch Zerlegung des Herrenlandes in Zinsgüter den Ertrag zu steigern. Im Westen gab es große Besitze schließlich überhaupt nicht mehr: alles war in bäuerliche Betriebe aufgelöst. Günstig für die Bauern war zum Teil die Entwicklung der Landesherrschaft. Die Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber einem Grundherrn, der Landesherr war, wurden dadurch, wie man mit Recht hervorgehoben hat, zu öffentlich-rechtlichen. Die Verschiedenartigkeit derselben trat zurück vor der Einheitlichkeit der Untertanenschaft: der einzelne wurde persönlich und wirtschaftlich unabhängiger.

Bei den größeren Grundherrschaften, insbesondere den geistlichen, war die wirtschaftliche Leitung nun zum Teil auf die[95] ursprünglichen Verwalter oder Vertreter, auf die Meier übergegangen. Sie vermittelten die Lieferungen bestimmter Zinsbauern, d. h. sie gaben bald nur ein Bestimmtes, sie bewirtschafteten eine Art Vorhof, natürlich das beste und größte der Güter ihres Bezirks. Gerade sie zeigen nun auch zuerst eine Aufwärtsbewegung, sie vermehren ihr Gut durch Rodung, auch durch Übernahme von Herrenland gegen Zins, ihr Gut wird erblich, sie behalten die Zinsabgaben zurück, sie nähern sich den Rittern, die ja, wie sie meist selbst, zum guten Teil Ministeriale waren, oder werden nahezu freie Gutsbesitzer. Sie machen es also nicht anders als die Vögte, als überhaupt alle, die für Leistungen und Amtsverrichtungen mit Land belehnt waren und dieses Lehnsgut zur erblichen, immer möglichst zu erweiternden Herrschaft gemacht hatten. Dabei wird über die unverschämten Übergriffe der Meier des öfteren geklagt. Entsprechend handelte nun auch schließlich die Klasse der besseren Zinsbauern. Bei der Lockerung der Grundherrschaft nahmen sie auch, was sie kriegen konnten, an Nutzberechtigungen wie Landstücken, umgingen die Meier und lieferten dem Herrn unmittelbar, suchten die Abgaben zu mindern oder sich ihnen zu entziehen, gewannen jedenfalls bei deren Festlegung als Geldabgaben durch das Sinken des Geldwerts und näherten sich, wenn die Erblichkeit ihres Zinsguts erreicht war, den noch bestehenden Resten der vollfreien Bauern, abgesehen eben von ihren Abgaben, soweit sie diese nicht ganz zu beseitigen verstanden. Und selbst die Kopfzins zahlenden, auf dem Herrenhof fronenden unfreien Zinsbauern, deren Abstufungen überhaupt sehr mannigfaltig sind, gewannen durch jene Festlegung der Leistungen. Dadurch, daß man weiteres Herrenland gegen Zins auch an sie austat, wurden sie zum Teil allmählich zu »freien« Zinsbauern. Durch Ansetzung auf einer Hufe wurde aber auch schließlich der eigentliche Unfreie, der immer seltenere Leibeigene ohne Land, zum Zinsbauern, wenn auch zum unfreien.

Im ganzen handelt es sich nicht um etwas durchaus Neues, die bäuerliche Schicht war auch früher von größerer Bedeutung, als man lange annahm, aber es hat doch jetzt eine stärkere soziale Hebung der ländlichen Schichten eingesetzt, wobei von allgemeiner Gleichförmigkeit der gewonnenen Stellung freilich in keiner Weise die Rede ist, und für das 13. und zum Teil das 14. Jahrhundert läßt sich entschieden von einer Zeit bäuerlichen Gedeihens sprechen. Die Abgaben stiegen nicht, wohl aber der Wert und Ertrag des Bodens. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß[96] etwa der österreichische Bauer in äußerem Prunk zuweilen dem Ritter gleichzutun suchte. Freilich hatte sich gerade durch die freiere Güterbewegung, insbesondere durch die Hufenteilung, neben den reicheren, größeren Bauern eine zahlreiche Klasse von Kleinbesitzern gebildet, denen es vielfach schlecht ging. Bezeichnend ist aber die Wiederbelebung des alten genossenschaftlichen Geistes besonders auch durch die freieren Zinsbauern; sie regelten wie die Reste der freien Bauern ihre Angelegenheiten wieder mehr und mehr selbst, nachdem schon früher die Feststellung eines besonderen Hofrechts seitens der Grundherrschaft sich als notwendig ergeben hatte. Von neuem erwuchs die enge Lebensgemeinschaft der Dorfgenossen, die dem einzelnen wirtschaftlichen, sittlichen und sozialen Halt gab, ihn auch freilich in allen Dingen gängelte und dem ganzen Dasein etwas Starres gab. Auch am Gerichtsleben nahm der Bauer noch teil: diese höheren und niederen Dorfgerichte, im Freien tagend, wurzelten durchaus im Volk, und in den später zahlreich aufgezeichneten »Weistümern«, die ja freilich vor allem das wirtschaftliche Leben regeln, steckt auch noch ein gut Teil rechtsschöpferischer Kraft. Mächtig hatte sich auch wieder das Selbstbewußtsein der ländlichen Bevölkerung gehoben. Die milden Saiten, die die Grundherren seit längerem im ganzen ihren Grundholden gegenüber aufgezogen hatten, erklären sich aus der Erkenntnis, daß man auf sie angewiesen war. Man mußte sie gegenüber der zunehmenden Abwanderung, die zuerst gelegentlich der Kreuzzüge, dann nach dem Osten, dessen Kolonisation zu einer gewaltigen Bewegung geworden war, endlich infolge der Anziehungskraft der neuen städtischen Gebilde einsetzte, zu halten suchen. Eben dieser Umstand festigte den bäuerlichen Geist. Man ließ einen weltlichen Grundherrn, der die Bauern drückte, alsbald im Stich und nahm von einer geistlichen Herrschaft ein Zinsgut; aber man leistete auch dieser gegenüber nur das Nötigste. Die Grundherren minderten ihre Ansprüche ständig und sahen sich auch vielfach gezwungen, die freieren Formen der Erbpacht und Zeitpacht, die, an sich doch wohl älter, sich vor allem auf dem Neuland im Osten unter den freieren Verhältnissen entwickelt hatten, in größerem Umfang anzuwenden, und so hob wieder die größere Selbständigkeit das bäuerliche Selbstgefühl. Den vielfach auftretenden verarmten Bauerndrückern und Raubrittern gegenüber griff der Bauer z. B. in Bayern und Österreich zuweilen zu gewalttätiger Vergeltung. Trotz der Verbote ging er dort auch meist gewaffnet einher,[97] trug das Haar lang usw. und sah in seinem Wohlstand auch wohl mit Verachtung auf einen »armen Hofmann« herab. In Westdeutschland verweigerte der Bauer gelegentlich den Zins und so fort.

Wenn also der Bauer meist gedieh, so war doch seine Wirtschaftsweise trotz mancher grundherrschaftlichen Einflüsse keineswegs besonders fortgeschritten. Es ist im Grunde der herkömmlich fortgepflanzte Betrieb alter Zeit, an dem man auch die späteren Jahrhunderte hindurch zäh festhielt. Dieses Gepräge hergebrachter Einfachheit trug überhaupt das ganze bäuerliche Leben. Jenes Mitmachen der höfischen Mode war doch eine auf bestimmte Kreise beschränkte und vorübergehende Erscheinung. Die gewöhnliche Kleidung war überaus bescheiden, die graue Arbeitstracht, die dem Bauern nach allgemeiner Anschauung auch allein gebührte. Bei seinen Festen, insbesondere den Hochzeiten, mochte er sich ungebührlich kleiden und sonst einen rohen, massigen Luxus entfalten, sich z. B. tagelang der Völlerei ergeben: aber wenn er auch sonst eine barbarische Gefräßigkeit zeigte, so war seine Nahrung doch ohne Abwechslung und beschränkte sich auf die alten Speisen. Auch der Wein ist für ihn ein seltenes Getränk geblieben. Ganz nach altem Gepräge waren Haus und Hausrat. Der ästhetische Sinn der Zeit tritt beim Bauern nicht hervor; insbesondere war die Körperpflege gering und die Reinlichkeit wenig geschätzt. Ebenso fern steht er den geistigen Interessen, die sich auch in Laienkreisen zu verbreiten beginnen, wie der elementaren, von Geistlichen vermittelten Bildung.

Sein inneres Leben ist einförmig und wird wiederum von Arbeit und Wirtschaft beherrscht, zugleich aber von dem vertrauten Verbundensein mit der Natur und alten Glaubensvorstellungen beeinflußt. In einfacher, oft derber Natürlichkeit äußern sich seine Triebe, und seine Feste sind vielfach die alten Naturfeste. Dazu war das Kirchweihfest, die Kirmes getreten. Seine Lebensfreude kommt bei Festen und an Feiertagen vor allem in der Form des alten Tanzreihens, den Tanzlieder, dem Vorsänger vom Chor nachgesungen, begleiten, zum Ausdruck. Man tanzte im Sommer kranzgeschmückt im Freien. Hohe Sprünge und dergleichen gehörten dazu, und an Handgreiflichkeiten fehlte es nicht. Wie in der Vorzeit hörte man aber auch zur Unterhaltung gern alte Mären und alte Lieder. Ebenso hatte bei den Bauern anderes halb poetisches Gut, namentlich Spruchgut, eine dauernde Stätte,[98] mit dem Menschenleben, der Wirtschaft und dem Wandel der Natur zusammenhängend, dazu aber jene vielfach schon entstellte alte Glaubenswelt, die in Sagen und Segen wie in einer Unzahl alter Bräuche, wieder mit Leben und Arbeit oft poetisch verbunden, zutage trat. Feinere Gefühle liegen dieser ganzen Art fern. Nüchterner, geschäftlicher Sinn und praktischer Erwerbsgeist, die auch die Schließung der Ehe bestimmen, treten scharf hervor; auch eine Neigung zu listigen Praktiken, vielleicht schon durch die Abgaben und Lieferungen hervorgerufen, zeigt sich später beim Verkauf der Erzeugnisse in der Stadt. Im übrigen beherrschte das Leben, wie es bei halbkultivierten Menschen der Zwang des Zusammenlebens schließlich von selbst ergibt, alte Sitte, also ein gewisses Maß streng gehüteter, selbst erworbener, aber auch durch die Kirche anerzogener, in der Hauptsache volkstümlicher Anschauungen und Regeln.

Der ländlichen Welt des Beharrens steht die städtische des Fortschritts und der Bewegung gegenüber; sie gerade zeigt am deutlichsten jene Hebung der niederen Schichten. Die planmäßigen Gründungen im Westen wie seit der einsetzenden Kolonisation im Osten vermehrten die Zahl der Städte stark. Sind um das Jahr 1000 etwa 80 nachweisbar, so hatten sie sich um 1100 etwa verdoppelt, um 1200 verdreifacht, um dann rasch zuzunehmen und um 1400 beinahe die Zahl zu erreichen, zu der es das Mittelalter überhaupt gebracht hat, d. h. etwa 1000. An Umfang und Volkszahl waren sie natürlich sehr verschieden: die Entwicklung richtete sich nach der wirtschaftlich günstigen Lage, nach den Schätzen und Erträgen des Bodens usw. Mit dem Aufkommen der Städte wurde auch das anfangs spärliche Straßennetz immer dichter, besonders in staufischer Zeit. Wieder brachten die Vorteile aus Zöllen, Geleit usw. die Herren zur Errichtung neuer Straßen – von einem wirklichen Straßenbau ist aber keine Rede –, bis dieselben Beweggründe zu einem Rückschlag, zu einer Art Straßenmonopol führten. Mit der Vermehrung der Straßen war natürlich auch die Errichtung zahlreicher Brücken verbunden. – Landwirtschaftlich gerichtet oder gefärbt wie alles übrige (s. S. 48), werden die Städte doch immer mehr zu Sitzen von Gewerbe und Handel (s. S. 45 ff.). Die entsprechenden Bedürfnisse und Lebensbedingungen führen wieder zu größerer sozialer Freiheit. Die neben Freien zahlreich zuziehenden Unfreien bilden mit freien Grundbesitzern, Handwerkern und Kaufleuten bald eine in gewissem Sinne gleichartige Masse, mit großen Unterschieden[99] freilich des Besitzes und Einflusses, aber mit immer stärkerem Schwinden der Unterschiede in Bezug auf die persönliche Freiheit. Die bald empfundene Gemeinsamkeit der Interessen treibt gleichzeitig zur Loslösung von den Stadtherren, denen doch die Städte zunächst alles verdankten (s. S. 48). Ohne Rücksicht auf deren Organe hatten schon im 11. Jahrhundert die einerseits als feste Plätze bedeutenden, andererseits wirtschaftlich erstarkten Städte am Rhein im Bewußtsein ihrer Volkskraft eine selbständige kriegerisch-politische Rolle zugunsten der salischen Könige, wie auch später, gespielt. Das wachsende Selbstbewußtsein führte dann, zumal bei der Schwäche der Reichsgewalt, immer mehr dazu, größere Selbständigkeit zu erstreben; es kam besonders in den Bischofsstädten zu Kämpfen, die natürlich ungleich verliefen: das Ergebnis war für die Hauptmasse der Städte, in Anknüpfung an ältere Vertretungsformen unter den Stadtherren, eine eigene Verfassung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit, die Ratsverfassung, deren Bedeutung sich äußerlich in dem Bau der Rathäuser widerspiegelt. Diese im 12. und 13. Jahrhundert durchgesetzte, häufig genug freilich durch Geld erworbene Selbstverwaltung (Finanzen, Steuern, Polizei usw.) wurde später technisch vorbildlich.

Wirtschaftlich und sozial überwiegen in den Städten zunächst noch durchaus die Handwerker, d. h. vor allem auch die verkaufenden Handwerker. Jene schon erwähnten mannigfaltigeren Ansprüche der wachsenden und verschieden gestellten Bevölkerung führten eine bedeutende Vermehrung der Gewerbetreibenden namentlich auf dem Gebiet der Nahrungsmittelgewerbe, der Weberei und der Bekleidungsgewerbe und ein Zurückdrängen der hauswirtschaftlichen Erzeugung herbei; die bauliche Ausdehnung der Stadt, besonders aber die größeren Bauten der Kirchen und Rathäuser förderten die Baugewerbe, der größere Reichtum der oberen Bürgerklasse rief auch allerlei Sondergewerbe hervor. Im ganzen ergab sich neben einem Zurücktreten der bäuerlichen Betätigung und einer Beschränkung der einzelnen auf ein bestimmtes Handwerk eine größere Spezialisierung innerhalb der Handwerke und, zum Teil unter fremden Einflüssen, eine immer bessere Technik und Kunstfertigkeit. Eine große Bedeutung für das innere Leben und die wirtschaftliche Betätigung der Handwerker wie für ihre Geltung nach außen hin hatte ihre hier nicht näher zu erörternde genossenschaftliche Organisation in Zünften, der der Zunftzwang von Anfang an die nötige Geschlossenheit verlieh. Die Obrigkeit der Stadt sah die Zünfte[100] als die eigentlichen Organe der Bürgerschaft an, wie sie auch für deren militärische Gliederung und Verwendung wichtig waren. Der einzelne Bürger bedeutete eigentlich erst etwas als Glied einer Zunft.

So bildeten die Handwerker die eigentliche Masse der Bürgerschaft, nach deren Interessen sich die städtische Politik richtete; sie waren jedoch zum größten Teil auch Verkäufer und vertraten zugleich die Interessen des Handels. Aber neben ihnen und trotz der seit Ende des 12. Jahrhunderts eingeschlagenen, sich abschließenden Richtung auf ein rein örtliches, Stadt und Umgebung umfassendes Wirtschaftsgebiet hatten doch auch die eigentlichen Kaufleute (s. S. 46) von Anfang an allergrößte Bedeutung; einmal wegen der Einführung der vom Gewerbe gebrauchten Rohstoffe aus der Ferne, weiter wegen des Vertriebes gewerblicher Sondererzeugnisse nach außen, vor allem aber auch als Vermittler der örtlich nicht zu gewinnenden oder herzustellenden, begehrten fremden Erzeugnisse und Stoffe, der Gewürze und Tuche vor allem wie der Luxuswaren. Die kleineren Kaufleute, die Krämer, standen den verkaufenden Handwerkern nahe und bildeten Zünfte wie sie, waren aber anfangs nicht besonders angesehen. Dagegen traten die eigentlichen Kaufleute, die sich namentlich in Norddeutschland zu Gilden zusammentaten, früh in einen gewissen Gegensatz zu den Handwerkern. Es waren vor allem die Tuchhändler, die Gewandschneider, die großes Ansehen genossen, infolge ihres häufig bedeutenden Wohlstandes auch mit den »Geschlechtern« zusammenwirkten und die Stadtpolitik bestimmend beeinflußten. Kleinhandel in Lauben, Gewölben usw. trieben in der Heimat auch diese größeren Kaufleute, aber einzelne von ihnen kamen doch auch zu einer bestimmenden Teilnahme am großen internationalen Verkehr, zu einem Großhandel, bei dem sie sich natürlich keineswegs auf den Tuchhandel beschränkten, sondern die Einfuhr der orientalischen Waren aus Italien und Flandern, ihren und der deutschen Waren Vertrieb nach Norden und Osten (von wo man wieder namentlich Rohstoffe hereinbrachte) eifrig pflegten und große Gewinne davon hatten. Der deutsche Kaufmann wetteiferte nun in internationalen Handelsfahrten mit dem Italiener, der den Levantehandel schon seit längerem von Byzanz weg an sich gerissen hatte, diese orientalischen Waren auch selbst in Westeuropa, auf den Messen der Champagne, in England und Flandern, vertrieb und dafür Tuche und Wolle eintauschte – von seiner Rolle im Geldverkehr, der[101] zunächst vor allem an die Champagner Messen anknüpfte, ganz abgesehen. Mit Deutschland, das ja nicht allzuviel an den von ihnen begehrten Erzeugnissen bot, scheinen die Italiener doch weniger unmittelbar gehandelt und seltener sich dort niedergelassen haben, als man früher annahm. Der Deutsche seinerseits, der nun auch den Juden aus den Gilden und von den Messen, d. h. aus dem Warenhandel verdrängte, tauschte gegen seine Rohstoffe usw. die orientalisch-italienischen Waren vielmehr auf den Messen der Champagne von dem Italiener ein; bald aber sicherte sich wenigstens der süddeutsche Kaufmann die Teilnahme am italienischen Welthandel auch durch Fahrten nach Italien selbst, vor allem nach Venedig, vielleicht schon im 11. Jahrhundert. Völlig entwickelte sich dieser Verkehr erst später nach dem Rückgang jener Messen.

Die Anfänge einer dauernden Festsetzung im Ausland fallen in das 12., weitere Niederlassungen folgen im 13. Jahrhundert. Das Vorgehen der deutschen Kaufleute, die draußen ebenso wie daheim Genossenschaften, Gilden bildeten und eigene Höfe einrichteten, entspricht der Art der Niederlassung in Höfen, wie sie im Mittelmeergebiet seit Beginn des Mittelalters orientalische Kaufleute vielfach gegründet, wie sie dann vorgeschrittenere Abendländer, vor allem wieder die Italiener, ebenfalls eingerichtet hatten. In der Fremde konnte eben nur die genossenschaftliche Organisation dem Kaufmann ein durch Privilegien geschütztes Tätigkeitsfeld sichern. In Italien hatten die Deutschen bereits 1228 den Fondaco dei Tedeschi in Venedig erhalten. Freilich waren hier die Deutschen die Abhängigen und Beaufsichtigten und von den Italienern nur in deren eigenem Interesse geduldet. Der Handel mit Italien blieb vor allem das Feld der süddeutschen Kaufleute. Ein früher Anziehungspunkt für die west- und nordeuropäischen Kaufleute war wegen seiner Wolle und Tuche England. Hier und in Flandern und weiter in Wisby auf Gotland, von wo es wieder ins russische, eine Fülle von Rohstoffen bietende Handelsgebiet ging, bildeten deutsche Kaufleute Vereinigungen (in Westeuropa nannte man solche niederdeutsch Hanse), zuerst nach Heimatsorten und unter gegenseitigen Reibungen, dann im notwendigen Zusammenschluß als »deutsche Kaufleute«. Dieser Zusammenschluß der Kaufleute insbesondere in Flandern scheint dann einen solchen der Heimatsstädte selbst zunächst für das dortige und dann unter Führung Lübecks auch für das nichtflandrische Interessengebiet bewirkt zu haben. Die[102] Hauptaufgabe dieses großen Bundes, dessen äußere Geschichte hier nicht erzählt werden soll, der bezeichnenderweise lange den Namen »der gemeine Kaufmann« führt und erst seit der Mitte des 14. Jahrhunderts als »deutsche Hanse« bezeichnet wird, »war immer die Förderung des Auslandhandels und die Sicherung der auswärtigen Handelsniederlassungen«. Natürlich spielten aber beim Hansabund, dessen Grundlage die Schiffahrt bildete, auch die Sicherung des Handelsverkehrs im Binnenlande, die Förderung der Verkehrsinteressen gegenüber den Zollplackereien, der rechtliche Schutz der einzelnen, die Durchsetzung des Landfriedens in jener raub- und kriegslustigen, unsicheren Zeit ihre Rolle.

Darin entspricht er den nicht minder von handelspolitischen Interessen hervorgerufenen, zugleich aber stark politisch gefärbten, großen binnenländischen Städtebünden, dem Mitte des 13. Jahrhunderts entstehenden rheinischen Städtebund und dem ein Jahrhundert später sich bildenden schwäbischen. Es bedeuteten diese Städtebünde einen neuen Abschnitt der aufsteigenden Entwicklung der Städte überhaupt, ihrer Selbständigkeitsbestrebungen und ihrer bereits früher beobachteten politischen Betätigung. Ein starker Gegensatz zum Adel, aber auch mehr und mehr zu den Landesherren, den Fürsten, tritt hervor. Das neue Wirtschaftsleben, dessen Sitze die Städte sind – von der neuen Geldwirtschaft werden wir noch (S. 117 f.) hören –, setzt sich auch äußerlich, politisch durch, wie auf seinem Boden auch neue soziale Verhältnisse sich bilden und eine eigenartige Kultur entsteht. Eine neue, demokratisch gefärbte Zeit ist im Anzuge, aber zunächst überwiegt auch in den Städten jene aristokratische Zeitfarbe. Ritterlich lebende Patrizier waren, wie wir (S. 92) sahen, die maßgebende Schicht in ihnen. Sie sind trotz ihres Kastengeistes und ihrer Herrschsucht die eigentlichen Gründer der städtischen Macht und Kultur gewesen. Diese Männer haben die bedeutenden Befestigungen, die großen Kirchen und öffentlichen Bauten, denen ihre stolzen Steinhäuser entsprachen, in erster Linie angeregt und vollendet, sie haben den Grund gelegt zu der städtischen Selbstverwaltung wie zu der selbständigen städtischen Politik nach außen.

Das auf dem Gebiet höherer Kultur führende Element bleibt aber auch in den Städten die Geistlichkeit, die allerdings immer stärker von bürgerlich-demokratischem Geist erfüllt wird, bis ihr die Laienschicht die Kulturpflege nach und nach abnimmt. Zunächst triumphiert überhaupt in der Welt des 13. Jahrhunderts neben der ritterlichen führenden Schicht, neben dem bäuerlichen[103] urtümlichen Element und dem bürgerlichen Träger der Zukunft die Kirche als alte Kulturmacht noch durchaus. Aus Frankreich war nicht nur die siegreiche weltlich-höfische Kultur gekommen, sondern vorher auch jener strengkirchliche Geist, der dann aber auch einen neuen Aufschwung kirchlich-kulturellen Lebens einleitete. Gotik (s. S. 88) und Scholastik sind die großen aus Frankreich stammenden Erscheinungen, in denen man zunächst Kulturschöpfungen der Geistlichkeit sehen muß, in denen viel von dem Geist der neuen Zeit nach den Kreuzzügen verarbeitet ist. Wenn man in den hochragenden gotischen Kirchen der Städte später gewiß auch das mächtig aufstrebende Bürgertum sich widerspiegeln sehen darf, wenn sie sich zum Teil gerade aus den Ansprüchen der wachsenden städtischen Bevölkerung, denen die romanischen Bauten nicht mehr gerecht wurden, entwickelt haben, wenn an ihrer Errichtung und Gestaltung in immer größerem Maße Laien beteiligt waren, so sind jene Bauten doch in erster Linie die erhabensten Zeugen der Macht des priesterlichen Elements, des kirchlichen Geistes im Volke und des kulturellen Könnens der Geistlichen, nicht eines der Welt zugewandten Sinnes. Auf Gott und das Überirdische war ihrem ganzen Wesen nach auch die Scholastik gerichtet, die wie die Gotik die künstlerische, so die geistige Höhe der geistlichen Kultur darstellt (im übrigen aber eine noch nicht genug erforschte, lange Vorgeschichte hat). Auch in ihr steckt andererseits etwas vom laiischen, freier gerichteten Geist. Der Mittelpunkt des geistlich-geistigen Lebens blieb die Theologie, aber eine Theologie, deren Glaubenssätze philosophisch durchdacht und gerechtfertigt wurden, die zu einem philosophischen Gedankensysteme erblühte. Unzweifelhaft entspringt diese Strömung zu einem wesentlichen Teil den geistigen Einflüssen des Islam, denen sich seit den Kreuzzügen das Abendland geöffnet hatte und durch die diesem vor allem wieder die griechischen Philosophen und sonstigen Autoren unter spanisch-jüdischer Vermittlung bekannt wurden. Zurück traten, vor allem gegenüber den metaphysisch-logischen Zweigen, die schon durch jene asketische Bewegung bekämpften poetisch-grammatisch-literarischen Studien. Der große Meister der Wissenschaft wurde Aristoteles, die Quelle der Wahrheit, freilich durchaus theologisch zurechtgestutzt und namentlich formalistisch verwertet. Von Bedeutung wurde er insbesondere auch für die Dialektik, die nun meist der Hauptunterrichtsgegenstand und in dem nunmehr höchst wichtigen, wiederum formalistisch geführten Schul- und Meinungsstreit[104] die eigentliche Methode der Scholastik wurde. Man darf über diesem, eben vor allem durch schulmäßige Übung entwickelten, zugespitzten, künstlichen, äußerlich-formalen, alles begriffsmäßig zustutzenden, auch wieder stark verfeinerten, dekorativen Treiben nicht das wesentliche Moment übersehen, daß damit doch eine sehr bedeutende Schulung des Verstandes einherging, daß überhaupt das Denken, die Vernunft eine entscheidende Rolle spielte. Man gelangte doch zu einem selbständigeren wissenschaftlichen Denken. Es handelt sich wirklich um Philosophie, freilich um mittelalterliche Philosophie. Ihr Hauptziel war die Vereinigung von Glauben und Denken, Theologie und Philosophie, wobei sie selbst aber die Dienerin war. Eben Frankreich, wo das »studium« überhaupt blühte, ist wieder die Hauptpflegestätte der Scholastik, und auch als solche äußert es seinen damals gewaltigen Einfluß auf Deutschland. In Paris lehrte auch lange der Doctor universalis, Thomas von Aquino, der in seinem System mit Hilfe des Aristoteles jene erstrebte Vereinigung erzielt zu haben glaubte. Wie ihm dann Gegner erstanden, wie überhaupt die Scholastik, die Universitätswissenschaft des späteren Mittelalters, sich weiter und freier entwickelte, wird uns noch (S. 145 f.) beschäftigen.

Jedenfalls bestätigt auch das geistig-geistliche Leben, wie wichtige Keime sich gerade im 13. Jahrhundert, das ja auch im übrigen Abendland eine der fruchtbringendsten Perioden war und besonders für Frankreich eine Zeit des Glanzes darstellt, entfalteten. Es ist in der Tat eine Zeit allgemeiner Geltendmachung der Kräfte. Es bahnt sich bereits eine Ausgleichung zwischen den Mächten höherer Kultur und den starken Fähigkeiten des Volkstums an. Es ist eine Zeit materiellen Gedeihens, wie es vor allem durch die sich kraftvoll hebenden niederen Volksschichten, den Bauer und den Bürger, oft mit hartem, rücksichtslosem, gewalttätigem Egoismus erstrebt und durchgesetzt wird. Die alte Ungebändigtheit – Papst Paschalis II. fürchtete die Wildheit der Deutschen! – tritt dabei noch immer zutage; sie zeigt auch der Ritter, je mehr er die höfische Verbildung von sich abstreift. Auch die alte kriegerische Ader ist noch stark bemerkbar, nicht nur beim Ritter, der den Waffenberuf ausschließlich für sich in Anspruch nahm. Der Bauer kennt noch Wehr und Waffen; der Bürger ist noch kein stubenhockender Philister. Die Städte sind Burgen, Festungen; die Zünfte sind Wehrkörper; die Waffenübungen spielen eine große[105] Rolle. Aber der Schwerpunkt der bäuerlichen und bürgerlichen Tätigkeit liegt nun doch ausschließlich in der wirtschaftlichen Arbeit. Allmählich beeinträchtigt die aufblühende städtische Entwicklung jene ländliche Gesamthaltung. Weniger zeigt sich der Einfluß des Bürgertums zunächst im geistigen und künstlerischen Leben. Dagegen sahen wir eine Laienkultur ästhetisch-gesellschaftlichen Charakters sich im Rittertum entfalten. Der ästhetische Charakter der Zeit zeigt sich ferner in jenem großartigen Aufblühen der bildenden Künste (s. S. 87 ff.). Diesem zuletzt (S. 103 f.) auch für das geistige Leben beobachteten kulturellen Gedeihen entspricht im politischen Leben wenigstens teilweise noch eine Fortsetzung des staufischen Glanzes. Aber bereits der von der feinsten Kultur seiner Zeit erfüllte Friedrich II. wehrte der politischen Zersplitterung kaum noch: die sich aus den großen Lehnsträgern entwickelnden Landesherren wurden vielmehr in ihrer Machtstellung anerkannt. Mehr und mehr hatten sich die zerstörenden Wirkungen des Lehnswesens (s. S. 39) auf den Staat gezeigt, wenn es auch andererseits durch die von ihm untrennbare Treue, die Gegenseitigkeit, das mittelalterliche Staatswesen zusammengehalten und dessen Macht gestärkt hat. Ausschließlich hat es aber niemals geherrscht, nach v. Below am meisten noch gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Der letztere empfiehlt daher auch die Vermeidung der Bezeichnung Lehnsstaat und will insbesondere für die Zeit vom Ende des 12. bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts den Ausdruck Feudalstaat angewandt wissen, dessen Hauptzüge die Veräußerung der Hoheitsrechte und die Bedrohung der durch die weite Ausdehnung des Reiches gehemmten Königsgewalt durch die örtlichen Gewalten sind. Neben den Landesherrschaften sind die Einungen, die örtlichen Bündnisse (s. S. 107), die selbständige Entwicklung der Städte u. a. für diese Zeit bezeichnend. In der kaiserlosen Zeit, als eine Reichsgewalt überhaupt fehlte, nahm das freie Spiel der Kräfte, vor allem auch die gewalttätige Raublust, einen gefährlichen Charakter an.

Die deutsche Vorherrschaft in Europa war damit um so mehr erschüttert, als gerade andere Staaten in dieser Zeit zu fester nationaler Zusammenfassung gelangten, Frankreich vor allem, England und Spanien. Auch in Italien zeigt sich ein Aufschwung des Nationalgefühls. In Deutschland ging die Richtung auf immer größere Machtvollkommenheit der verschiedenen Landesherren, die die in Frankreich so wirksame Einziehung erledigter Lehen durch den König verhinderten und ihn von jeder Einmischung in[106] die Ausübung der erblich gewordenen Ämter durch sie ausschlossen. Wie kräftig die Landesherrschaft sich schon im 13. Jahrhundert entwickelt hatte, hat Spangenberg näher ausgeführt. Daß etwa der Adel, der seine Ämter als erbliche Lehen betrachtete, die Landesherren ebenso ohnmächtig machte, wie es der Reichsgewalt von ihnen widerfahren war, hinderten diese, indem sie hofrechtlich gebundene Ministerialen zum höfischen, militärischen und Verwaltungsdienst gegen Besoldung durch Geld oder gegen Verleihung nicht erblicher Lehen und sonstiger Benefizien und Einkünfte heranzogen, überhaupt die Verfügung über erledigte Lehen immer in ihrer Hand behielten. Im übrigen suchten sie ihren Besitz als Machtmittel aber ständig zu vermehren und möglichst ein geschlossenes Territorium zu schaffen. Sie erreichten (s. S. 80), daß der Adel, um sich die Vorteile des Fürstendienstes nicht entgehen zu lassen, in die Ministerialität eintrat. Diese wurde ihrerseits dadurch gehoben – wir hörten schon (S. 80) von der Zusammenschmelzung der verschiedenen Elemente zu ritterlichen Lehnsmannen. Diese Ministerialen wurden nun als Amtleute usw. die Träger einer bald ziemlich straffen und weitsichtigen Verwaltung des Territoriums, dessen Geschlossenheit freilich geistliche und reichsunmittelbare Gebiete unterbrachen. Ebenso drängten sie im fürstlichen Rat Geistlichkeit und Adel mehr und mehr zurück: es bildete sich später ein ständiger oberster Rat als Zentralverwaltung über der örtlichen Amtsverwaltung. Dieses Beamtentum nahm nun schon die meisten der späteren fürstlichen Aufgaben erfolgreich in Angriff, die Durchführung direkter Steuern, die Ordnung von Münze, Maß und Gewicht, die Fürsorge für Wirtschaft und Verkehr, und machte sich im Heer- und Gerichtswesen auch schon der Kirche gegenüber geltend. Aber nach wenigen Jahrzehnten wurde alles unterbrochen. Die Ritter suchten sich doch vom Landesherrn unabhängig zu machen, sie bildeten selbstbewußte Körperschaften und benutzten dieselben Mittel wie die Fürsten gegenüber dem König. Die Städte hatten sich schon vorher immer selbständiger entwickelt, und ebenso hielt die Geistlichkeit immer zäher an ihren alten Privilegien und Freiheiten fest. Es war der frisch aufstrebende ständische Staat, vor dem die junge Landesherrschaft auf lange Zeit hinaus sich beugen und ihre Machtmittel preisgeben mußte, bis später die allgemeine Zerrüttung wieder zum Eingreifen des erstarkten Fürstentums führte.

Zunächst liegt in dem gegenseitigen Widerstreben der vielen kleinen Gewalten – an sich ein Zeichen kräftigen Lebens in allen[107] Schichten und Vorbedingung für die großen Schöpfungen der Hansa u. a. – der bezeichnende Zug politischen Lebens. Es war wieder der alte Individualismus, verbunden mit oft unbändigem Egoismus, mit Habgier und Nichtachtung der sittlichen Bande. Vergeblich waren die gegen die Fehde- und Raublust schon im 12. Jahrhundert und später immer wieder von der geschwächten Reichsgewalt aufgenommenen Landfriedensbestrebungen, zumal bei der brüchigen Lehnsverfassung. Gegen das räuberische Treiben, gegen die Fehdelust und das zum wirklichen, formell ausgebauten Recht gewordene Fehderecht, kurz gegen die allgemeine Unsicherheit fand man nur wieder in der Selbsthilfe ein Mittel, freilich in einer mit dem alten genossenschaftlichen Geist verbundenen Selbsthilfe, in der Vereinigung der durch gleiches Interesse Verbundenen. Fürsten, Städte, auch das wegen seiner Verarmung unruhigste Element, die Ritter, schlossen sich zu Bünden zusammen, in der Schweiz freie Bauern zur Eidgenossenschaft. Doch liegt der Höhepunkt dieser Entwicklung im 14. Jahrhundert, als die Fehde- und Raublust immer zunahm. Das 13. Jahrhundert sah noch nach dem Interregnum die tatkräftige Friedensförderung durch Rudolf von Habsburg. Im ganzen wird aber der politische Sondergeist mehr und mehr zum Zeichen der Zeit, und das deutsche Reich als solches besteht eigentlich mehr durch das Schwergewicht seiner Überlieferung als durch wirkliche Machtstellung. Es ist nun nicht nur das selbständige Gebaren aller, auch der kleinen politischen Gewalten und eigenständigen Bildungen, sondern auch die außerordentliche Absonderung der einzelnen Stände, die das allgemeine Auseinander, namentlich der späteren Zeit, hervorruft. Wie die Stände, fast unabhängigen Staaten gleich, nach besonderem Recht leben, die einen nach geistlichem (kanonischem), die anderen nach ritterlichem Lehnsrecht, die dritten nach Stadtrecht, so gibt sich auch die Kultur gewissermaßen ständisch (s. S. 74). Wir können das später z. B. in der Literatur deutlicher verfolgen, in den Gattungen der geistlichen, ritterlichen, bürgerlichen Dichtung. Die Kultur dieser und der folgenden Zeit ist »Partialkultur«, wie sie J. Burckhardt genannt hat. Ein kräftiges kulturelles Leben ist zum Teil gerade dadurch hervorgerufen worden.

Andererseits tragen nun die Stände selbst wieder jenen stark internationalen Zug, natürlich unter Beschränkung auf das christliche Abendland, seit jeher der geistliche Stand, aber, wie wir (S. 72) sahen, auch das Rittertum, das Bürgertum, besonders[108] der Kaufmann. Internationalen Charakter trug überhaupt zum Teil die gesamte Kultur. Zu den schon besprochenen gemeinsamen Erscheinungen waren nun die stärkeren Berührungen mit dem Orient hinzugetreten, die zunächst bei den Romanen, dann auch im übrigen Abendland zu einem Ausgleich zwischen den heimischen Kräften und den neuen Anregungen führten. Höfische Kultur, Scholastik und Gotik zeugen davon, alle mehr als nationalen Charakters.

Ist also die Kultur damals teilweise Standeskultur, andererseits wieder vielfach international gefärbt, so ist sie weiter zu einem guten Teil auch insofern nicht nationale Gesamtkultur, als die Stammesgegensätze noch immer ihre Rolle spielen. Der Hauptgegensatz ist jetzt weniger der zwischen den Sachsen und den Franken als der zwischen Sachsen und »Schwaben«, d. h. zwischen Niederdeutschen und Oberdeutschen. Er tritt schon hervor unter den salischen Herrschern, namentlich unter Heinrich IV. und V., wobei auch die Thüringer zu den Sachsen hielten; er spielt dann aber auch in den politischen Gegensatz zwischen den (ursprünglich süddeutschen) Welfen und den schwäbischen Staufern hinein. Gerade zur Stauferzeit wurde Schwaben das politisch und kulturell führende Land. Die Schwaben haben im Heer das Vorstrittrecht, sie führen die Reichssturmfahne, bei ihnen besonders blüht die höfische Seite des ritterlichen Wesens, die gesellschaftliche Bildung und der Minnesang. Aber die allgemein anerkannte »Werdekeit« der »stolzen« Schwaben fand am ehesten bei den Sachsen Gegnerschaft, und wenn in der »schwäbischen« Kultur manches Romanische steckt, so vertreten die Sachsen unzweifelhaft mehr das altnationale Element, so sehr sich in der Zeit der sächsischen Kaiser ihr kulturelles Leben gehoben hatte. Eine wirkliche Annäherung an die oberdeutsche Kultur trat eigentlich erst mit dem Sturze Heinrichs des Löwen ein, wodurch den zentralen Mächten Kirche und Reich wieder größerer Einfluß gesichert wurde. Im ganzen war aber für universalistisch-romanistische Strömungen hier in Sachsen kein Boden. Die nationale Kraft der Niederdeutschen zeigt sich weiter in ihrem kolonisatorischen Vordringen gegenüber dem Slawentum, bei dem sie zugleich ihren praktisch-nüchternen Sinn und ihren wirtschaftlichen Unternehmungsgeist, der ja auch die niederdeutschen Kaufleute auszeichnete, bewährten. Die Sachsen waren es ferner, die zuerst im praktischen Rechtsleben die heimische Sprache auch für die schriftliche Abfassung eines Rechtsbuches anwandten, des Sachsenspiegels,[109] den um 1230 der Ritter Eicke von Repgowe auf Veranlassung seines Herrn, des Grafen Hoyer von Falkenstein, ins Niederdeutsche übertrug, nachdem er ihn ursprünglich lateinisch niedergeschrieben hatte.

Aber gerade diese beiden gewaltigen Äußerungen volkstümlichen Aufschwungs, die Germanisierung und Kolonisierung des slawisch gewordenen Ostens und das allgemeine Durchdringen einer deutschen Schriftsprache, sind nun doch auch wieder für das Gesamtvolk bezeichnend, sind Beweise der nationalen Gesamtkraft. Über die Kolonisation des Ostens, die schon im 12. Jahrhundert einsetzte und im 14. noch andauerte, seien hier alle Einzelheiten beiseitegelassen. Mit der im 12. Jahrhundert im ganzen abgeschlossenen Germanisierung oder vielmehr Bajuvarisierung des Südostens hat diese Bewegung nichts zu tun. Aber auch mit der früheren, vor allem durch den Slawenaufstand von 983 um ihre Erfolge gebrachten, infolge der italienischen Ziele überhaupt zurückgetretenen Slawenpolitik der sächsischen Könige hängt sie nur sehr lose zusammen. Freilich ein Gesichtspunkt stand auch jetzt, wenigstens angeblich, im Vordergrund, der der Christianisierung, wie ja auch einst die Sachsen von den Franken christianisiert, d. h. zugleich unterworfen wurden. Und wie einst die Benediktiner vom romanisierten Westen und Süden aus in das innere Deutschland nicht bloß als Bekehrer, sondern auch als Kolonisatoren vordrangen und von den Herrschern gerade deshalb gefördert wurden, so erfüllten jetzt zunächst die Prämonstratenser und dann vor allem die Cistercienser die gleiche Aufgabe der planmäßigen Rodung und Besiedelung im waldstarrenden Osten. Und wie damals der Landgewinn und die wirtschaftlichen Vorteile der die Bewegung treibenden Fürsten und Herren im Vordergrund standen, so war es auch jetzt bei den Landesherren der den Slawen benachbarten Gebiete in fast noch höherem Grade der Fall, nur daß die Landesherren nicht allein durch die Mönche, sondern vor allem durch eine eigene, planvoll systematische Unternehmerpolitik die Kolonisation förderten, wie Albrecht der Bär und Heinrich der Löwe. Selbst slawische Fürsten, so in Schlesien, begünstigten die deutschen Siedelungen und wünschten sie. Wirtschaftlich-politische Interessen, daneben religiös-kirchliche Beweggründe sind also ausschlaggebend, nicht bewußt-nationale.

Ein nationales Werk war das Ganze aber dennoch: mit ihm wurden weite Gebiete dem Deutschtum – das deutsche Reich war bis dahin nicht allzugroß – wieder gewonnen; es waren[110] ferner bei ihm doch weite Kreise des Gesamtvolks freiwillig beteiligt, freilich wieder aus wirtschaftlichen Beweggründen, um nämlich im Neuland ein besseres Gedeihen zu finden. Vor allem suchten die Holländer ihre in der Heimat geschulte Fähigkeit, zu entwässern und zu meliorieren, in ähnlichen Gegenden zu verwerten und waren früh von den Cisterciensern wie von den Fürsten gesuchte Leute. Namentlich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts überwog die Freiwilligkeit der Bewegung. Für Holland mag die Bedrängung durch Überschwemmungen, für die Rheinfranken mögen wirtschaftliche Nöte in Betracht gekommen sein, bei den meisten West- und Mitteldeutschen aber, den Franken, den Sachsen und Thüringern, muß die Bewegung als eine Fortsetzung der alten Ausbautätigkeit im westlichen Deutschland angesehen werden, des allgemeinen Rodungs- und Siedlungseifers. Bei der zunehmenden Bevölkerung, dem Überschuß an Kraft (der Menge der jüngeren Söhne), strebte man begierig immer nach Neuland und fand solches nunmehr im Osten reichlich. Zugleich erhoffte und fand man dort größere persönliche Unabhängigkeit. Die Kreuzzüge aber hatten das Volk beweglich gemacht. Auch die Städtegründungen, die ja erst nach der bäuerlichen Besiedelung möglich waren und vor allem im 13. Jahrhundert sich häuften, sind eine Fortsetzung der großen Städtegründungsperiode im Westen (s. S. 48). Die Städte waren sichernde Burgen und Märkte zugleich. Aber neben den Herren traten nun auch die Kaufleute als Städtegründer auf, wie sie überhaupt in den neugegründeten Städten eine Hauptrolle spielten, zugleich aber besonders wichtig für die Germanisierung waren. Die schematisch-regelmäßig angelegten Städte wurden, je weiter nach Osten, um so mehr die eigentlichen Mittelpunkte der deutschen Kultur und des Fortschritts, da das Land noch lange nur dünn besiedelt und mit einer großen slawischen Unterschicht besetzt war. Am meisten gilt dies vom Ordenslande, wo der Ordensritter, ein Kreuzfahrer gegen die slawischen Heiden, der letzte Vertreter der großen Zeiten des Rittertums, vor allem kriegerisch und weiter landwirtschaftlich sich betätigte. Natürlich stellte der niedere Adel, bzw. das Ministerialenelement, auch für den übrigen Osten sein Kontingent bei der Besiedelung: der Osten bot für jüngere Söhne oder besitzlustige Reisige die beste Gelegenheit, Grundherr zu werden. Und zwar setzte hier im Gegensatz zum Westen mit seinem bäuerlichen Kleinbetrieb auch wieder ein herrschaftlicher Eigenbetrieb ein, der bei den weiten in Besitz[111] genommenen Flächen alsbald zum Großbetrieb wurde. Im Osten bildete sich auch später ein besonders geartetes Herrentum aus. Zunächst kam die gewaltige Ausbreitung jedenfalls allen Klassen des Volkes zu gut und war ein Zeichen ihrer Kraft.

Jene zweite Erscheinung nationalen Aufschwungs, die Mündigwerdung der deutschen Sprache, war zunächst eher ein Zeichen, daß die Kultur des deutschen Volkes so weit gereift war, daß sie des Zwanges einer fremden Kultursprache entbehren konnte, aber doch auch ein Beweis stärkeren Nationalgeistes. Gerade die Kreuzzüge, die doch zur Ausbildung einer gemeinsamen feineren europäischen Kultur beitrugen, hatten, wie wir (S. 73) sahen, durch die nähere Berührung der Völker das Gefühl für die nationalen Unterschiede geschärft. Dazu kam nun aber die ebenfalls mit und nach den Kreuzzügen eintretende stärkere kulturelle Durchbildung. Volkstum und höhere Kultur hatten einander jetzt so sehr durchdrungen, daß die Kultur notwendig einen volkstümlichen Ausdruck gewinnen mußte. Und bezeichnenderweise gingen da wieder die kulturell fortgeschritteneren Romanen den Deutschen voran. Das Joch der lateinischen Schriftsprache, in dichterischen Schöpfungen unter dem Druck natürlichen, ursprünglichen Empfindens bereits vielfach abgestreift, wurde nun auch für das geschäftliche und politische Leben abgeworfen, und auf dem Gebiet der schönen Literatur drang die nationale Schriftsprache nun völlig durch.

Das geschieht in Deutschland, trotz des frühen Beispiels jenes niederdeutschen Rechtsbuches, für die Urkunden- wie später auch für die Briefsprache zunächst im kultivierten Westen und Süden. Hier hatte sich für die neuerblühende höfische Dichtung wieder nach französischem Muster die schriftliche Aufzeichnung verbreitet, natürlich mit Hilfe der schreibkundigen Kleriker. Den Dichtungen folgen nun schon vor der Mitte des 13. Jahrhunderts, wenn man von vereinzelten Fällen früherer Zeit absehen darf, in jenen Gegenden deutsche Urkunden, nachdem zuerst einzelne Wendungen, dann ganze Sätze deutsch gewesen waren. Um 1300 hat die deutsche Urkundensprache sich hier vollständig durchgesetzt, während es damit in Mitteldeutschland länger und in Niederdeutschland etwa noch ein halbes Jahrhundert dauert. Die Stadtrechte zeigen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts das Vordringen des Deutschen, noch mehr die Dienstrechte. Und nicht lange nach dem frühen Beispiel des Sachsenspiegels folgt (1235) die Veröffentlichung eines lateinisch geschriebenen Reichsgesetzes, des[112] Mainzer Landfriedens, zugleich in deutscher Übersetzung, während das oberdeutsche Gegenstück zum Sachsenspiegel, der deutsche Schwabenspiegel, erst 1275 abgefaßt wird. Der Hauptgrund der Anwendung des Deutschen war ein praktisch-wirtschaftlicher, wie auch bei der Kolonisation nicht der nationale Gedanke im Vordergrund steht. Man will in seinen Geschäften und rechtlichen Verhältnissen nicht mehr abhängig sein von einer Sprache, die man nicht vollkommen versteht.

Solche Ansprüche durchzusetzen, konnte dem Bauern nicht und noch kaum dem Bürger gelingen: sie wurden vielmehr gegenüber dem lateinischen Monopol der Geistlichen vor allem von derjenigen Schicht durchgesetzt, die damals führte, dem ritterlichen, dem niederen Adel. Seine soziale und kulturelle Geltung, sein kriegerisches und herrenmäßiges Selbstbewußtsein ließen eben nicht mehr die lateinische Bildung für die Geschäfte der Welt als unerläßlich erscheinen. Seine Privaturkunden, sein Dienstrecht wollte er so haben, daß er sie verstand, gerade wie er nicht lateinische, sondern deutsche Dichtungen pflegte und schätzte. Daß die Schreiber und Abfasser Geistliche waren, tut nichts zur Sache.

So steckt denn in der aristokratischen Kultur der Zeit jener schon betonte volkstümliche Zug. Umgekehrt zeigt aber der ausschlaggebende Einfluß, den der Adel auch bei der Durchsetzung der Volkssprache übte, wie sehr die Führung in dieser ganzen Zeit noch bei ihm war. Die großen Herren andererseits, die Landesherren, sahen wir als leitende und bestimmende Faktoren in jener großen Kolonisationsbewegung wirken, wenigstens zu Anfang. Und so wird wieder der oben (S. 91) betonte aristokratische Charakter dieses ersten selbständigeren kulturellen Aufschwungs der Deutschen bestätigt. Aber wir sahen auch schon, wie stark sich die niederen Volksschichten bemerkbar machten: es sollte bald die Zeit kommen, wo sie dem Adel die Führung abnahmen.

Fußnoten:

[8] Vgl. Berger, Die Kulturaufgaben der Reformation ² S. 264.

[9] Vgl. Steinhausen, Gesch. d. d. Kultur I², S. 189 ff.

[10] Ebenda I², S. 296 ff.


[113]

Viertes Kapitel.
Ausbildung einer allgemeineren Laienkultur volkstümlichen Charakters: Bürgerlich-demokratisches Zeitalter.

Wir treten jetzt in eine Zeit, die nicht allein eine starke Durchdringung von Volkstum und Kultur zeigt, sondern in der das eigentlich charakteristische Moment das Überwiegen volkstümlicher Elemente ist. Die anfangs nur schwer als Unterströmung erkennbare Volkstümlichkeit hatte sich zunächst in der aristokratischen Laienkultur des Rittertums trotz aller romanisch-konventionellen Züge zu immerhin greifbarer Erscheinungsform durchgerungen. Auch die bäuerliche Schicht, der große Born der nationalen Kraft, das Element zäher Beharrung in Leben, Fühlen und Denken, trat um diese Zeit stärker und eindrucksvoller hervor. Aber die geistige Abgesondertheit und kulturelle Rückständigkeit des Bauerntums ließ dieses, trotzdem es am besten alles Volkstümlich-Natürliche bewahrte, bei dem nun folgenden Aufschwung auch der niederen Volksschichten doch nicht oder, besser, bei dem Fortschritt der Zeiten nicht mehr zur bestimmenden Macht für das Gesamtleben der Nation werden. Das wurde vielmehr die Bevölkerung der Städte, und als nachmals das Bauerntum, nicht nur wegen vermehrter, namentlich öffentlicher Lasten und sozialer Nöte, sondern auch aus einem gewissen geistig-persönlichen Drange nach größerer Geltung heraus sich selbst gewaltsam durchzusetzen suchte, da war es zu spät.

Hingegen hatte das Bürgertum die Vorteile seiner größeren geistigen Beweglichkeit, des weiteren Gesichtskreises, fortgeschrittener wirtschaftlicher Betätigung und einer zum erstenmal dauernd in die Erscheinung tretenden engeren Vereinigung von Massen. Die allmählich immer zunehmende höhere, recht eigentlich städtische Kultivierung fiel bei dem starken Zusammenhang von Land und Stadt nicht so ins Gewicht, daß der Städter etwa die Gemeinsamkeit[114] volkstümlichen Denkens gegenüber dem Landvolke zu verlieren begann; am wenigsten konnte dies bei den niederen städtischen Schichten der Fall sein. Dazu kam der Einfluß eines damals sehr wichtigen Volksteils, der sich aus Land und Stadt, auch aus den Klöstern ergänzte, eine Zeitlang in den Städten hauste, aber dann wieder auf den Landstraßen innigen Zusammenhang mit der Natur fand, des Elements der fahrenden Leute. Es waren die Sänger und Spielleute, Gaukler und Fechter, die, von den Burgen verbannt, von der Kirche verfolgt, ihr Publikum nun im eigentlichen Volk hatten; dazu kamen herumziehende Geistliche und Scholaren, mit denen sich Bettler und schlimmes Volk, auch niedere Reisende sonst mischten. Diese Fahrenden verbanden Stadt und Land, sie bildeten den besten Nährboden für alte volkstümliche Neigungen, sie waren die Hauptträger des Volksliedes.

Immerhin ist doch vor allem die Stadt der eigentliche Untergrund für die nun sichtbare stärkere Geltung volkstümlichen Geistes. Seit längerer Zeit war jene Aufwärtsbewegung der unteren Schichten eingetreten, die sich in einer Hebung der bäuerlichen Klassen, in dem Aufkommen eines unabhängigen Bürgertums, aber auch in der Zusammensetzung des Rittertums äußerte. Aber wie der Ritter alsbald zu einer abgeschlossen-aristokratischen Kultur gelangt ist, so beobachteten wir auch sonst zunächst ein allgemeines Übergewicht des aristokratischen Geistes, auch in den Städten (S. 102). In ihnen setzt nun gerade der Umschwung am deutlichsten ein, d. h. eigentlich die Fortsetzung jener Aufwärtsbewegung, an der nun immer niedrigere Schichten teilnahmen. Noch war eben das ganze Volk selbstbewußt und stark, noch die alte Unbändigkeit nicht ertötet; der allgemeine Drang nach Besitzmehrung und Geltung äußerte sich auch in den niedrigen Kreisen, und zwar vor allem in der Stadt, wo das Volk sich schon durch seine größere Masse wie durch seine wirtschaftliche Bedeutung fühlte. Zunächst trat nicht das eigentlich niedere Volk hervor, sondern diejenige Schicht des Bürgertums, die nach wie vor seinen Kern ausmachte, die der Handwerker. Sie hatten das vortreffliche Machtmittel ihrer wirtschaftlich-genossenschaftlichen Organisationen, die zugleich zur Grundlage der politisch-wehrhaften Organisation der Bürgerschaft geworden waren und durch ihre Bedeutung bereits Verbote des Kaisers (Friedrich II.) wie der Landesherren heraufbeschworen hatten, der Zünfte. Jene in den Städten herrschende Geschlechteraristokratie war nicht nur durch ihre Lebenshaltung und durch[115] ein protzenhaftes Zur-Schau-tragen des Reichtums den unteren Klassen anstößig, sondern auch durch mannigfache Gewalttaten und ein die Handwerker bedrückendes, sie mit Steuern und Kriegsdiensten belastendes egoistisches Regiment geradezu verhaßt geworden. So kam es im 13. und besonders im 14. Jahrhundert zu oft blutig-leidenschaftlichen Bewegungen der Handwerker gegen die Geschlechter. Sie endeten nur zum Teil mit einer Demokratisierung der städtischen Verfassung, und selbst wo ein erheblicher Anteil der Zünfte am Stadtregiment durchgesetzt wurde, ergab sich im Laufe der Zeit doch wieder eine Herrschaft weniger, so daß immer von neuem eine grollende Opposition einsetzte, die dann freilich oft nur von den niedersten Schichten getragen wurde.

Aber über diese inneren Gegensätze in den Städten hinaus – ein solcher bestand z. B. auch zwischen den Gilden der Kaufleute und den Zünften, und vielleicht muß man eine gewisse Handelsfeindlichkeit der Zünfte mehr als bisher betonen – macht sich der mehr demokratische oder wenigstens bürgerliche Geist der Zeit in dem wachsenden Gegensatz zwischen den Städten überhaupt und den Fürsten sowohl wie dem Adel immer deutlicher fühlbar. Derjenige zu den Fürsten ist mehr politischer Natur und hängt mit der erneuten Ausbildung der landesherrlichen Macht zusammen. Wir sahen (S. 106), wie dem tatkräftigen Aufstieg der Landesherrschaft im 13. Jahrhundert gegen Ende desselben durch die Unabhängigkeitsgelüste der Stände eine Zeit der Beschränkung fürstlicher Macht, der Abhängigkeit von den Ständen folgte. Durch die fortgesetzte Schmälerung der Einkünfte, durch Verweigerung der Steuern und anderer Abgaben brachen insbesondere arge Geldnöte und Verschuldung über die Fürsten herein. Durch die Selbstherrlichkeit der Städte, der geistlichen Herrschaften und der durch ihre Bünde sich geltend machenden kleinen ritterlichen Herren wurde die begonnene einheitliche Verwaltungstätigkeit zerstört und diese auf den unmittelbaren Besitz der Fürsten beschränkt. Um das landesherrliche Gericht kümmerte man sich nur, wenn man es brauchte. Der Heerespflicht entzogen sich die Ritter immer häufiger, und immer mehr war der Fürst auf Söldner angewiesen. Auf wirtschaftlichem Gebiet spielten die Hauptrolle die Städte, die sich auch völlig selbständig wie kleine Staaten verwalteten, ihre eigene Gerichtsbarkeit hatten, das Münzrecht übten, in ihrer jetzt ausgebildeten geschlossenen Stadtwirtschaft egoistische Zollpolitik trieben, aber auch eigene[116] Fortschritte in der Verwaltung (s. S. 118) machten. Aber eben die schon geschilderten Folgen der großen Zahl der selbständigen Kräfte, die Wirren und die Unsicherheit, die sich aus ihrem freien Spiel und ihrer Zersplitterung ergaben, das Verlangen nach einer ordnenden Obrigkeit erleichterten den Landesherren bei dem Versagen der Reichsgewalt den neuen Aufschwung ihrer Macht. Er setzt im 15. Jahrhundert ein, auf Kosten des Adels, der geistlichen Herren wie der Städte. Die auf verschiedene Weise entstehenden ständischen Verfassungen setzen doch auch wieder die feste Zusammenfassung der Stände unter einer Landesherrschaft voraus. Den inneren Halt der Herrschaft sicherten jener schon früher organisierte Beamtenstaat und zum Teil (s. S. 148) das neueindringende römische Recht. Die notwendige Grundlage des Ganzen, insbesondere die einer militärischen Machtentfaltung, war eine finanzielle Kräftigung, auf die man eifrig bedacht war (Landessteuer). In der Verwaltung lernte man jetzt viel von den Städten und ihrer geldwirtschaftlichen Organisation: doch gelang die Durchführung solcher Aufgaben für wichtige Gebiete meist erst im 16. Jahrhundert, zumal gegenüber der wirtschaftlichen Macht der Städte. Jetzt, im 15. Jahrhundert, sollten zunächst die sich mächtig entwickelnden Städte als politisch mehr oder weniger unabhängige Faktoren beseitigt, ihre Kräfte und Mittel den Fürsten dienstbar gemacht werden. Im späteren 15. Jahrhundert setzten diese Kämpfe erst eigentlich ein, wurden auch bald, wenngleich völlig erst viel später, zugunsten der Fürsten entschieden.

Eine geradezu haßerfüllte Stimmung entwickelte sich aber, besonders wieder im 15. Jahrhundert, zwischen dem Bürger und dem niederen Adel. Auf jenen wirkte der immer hochmütigere und peinlichere Abschluß gerade des verfallenden Rittertums verbitternd. Andererseits ergab die zunehmende Verarmung des Adels, der überdies bei dem späteren Aufkommen des Fußvolks, auch einem demokratischen Zug, seine militärische Bedeutung und zugleich den lohnenden Söldnerdienst einbüßte, einen zornigen Haß gegen die immer reicheren städtischen »Pfeffersäcke«, die ihrerseits nach Art der Emporkömmlinge es zum Teil dem Adel gleichzutun suchten. Diese Verarmung ließ den Adel den Bauerndruck erneuern, dem geistlichen Gut nachstellen, den Nachbarn befehden, ließ ihn in tiefe Verschuldung bei den Juden geraten und im Fürstendienst in Hof und Verwaltung oder für die jüngeren Söhne in den Domkapiteln ein Unterkommen suchen;[117] sie trieb ihn aber auch, sich an dem Kaufmann in Fortsetzung der hergebrachten Räubereien durch Wegelagerei schadlos zu halten, sich an dem vermeintlich zu Unrecht erworbenen Reichtum des Bürgers mit Gewalt seinen Anteil zu sichern und den Pfeffersack zugleich für seine Anmaßung zu züchtigen. Mancher mußte aber üble Rache der Städter erdulden. Wenn sich überhaupt das bürgerliche Selbstbewußtsein gegenüber dem Adel kräftig äußerte, so bewahrte dieser dennoch seinen gesellschaftlichen Vorrang, und manch reicher Bürger strebte schon damals nach dem Adel, während der Ritter seinerseits reiche bürgerliche Heiraten nicht verschmähte. Im kolonialen Osten bestand andererseits damals noch nur ein sehr geringer Gegensatz zwischen dem verbauerten oder handeltreibenden Junker und dem Städter.

Mit dem Bürgertum war eine neue große Schicht des Volkes mündig und für die Gesamtheit mit von bestimmendem Einfluß geworden. Vieles, was eine höhere und freiere Kultur modernen Geistes bedingte, entwickelte sich mit dem Eintritt des Bürgertums in die Geschichte. Zunächst darf man freilich dessen kulturelle Bedeutung nicht überschätzen. Ausgangspunkt und Grundlage der Entwicklung sind rein wirtschaftlich. Der Kern der Sache ist, daß das Bürgertum der Träger der wiederauflebenden Geldwirtschaft wurde, die einst in Mittel- und Westeuropa mit der Germanenherrschaft zusammengebrochen war und nun infolge der Berührungen mit dem Orient und der entsprechenden Ausbreitung des Handelsgeistes zunächst in Italien, dann in Frankreich sich wieder einbürgerte und schließlich auch den deutschen Westen, zum Teil schon vor dem 12. Jahrhundert, beeinflußte. Mit dem städtischen Wesen, mit der Rolle des Handels vor allem mußte diese Wirtschaftsform von selbst kommen und die versagende Naturalwirtschaft überwinden. Während aber in Frankreich und England, wohl in Anknüpfung an die kirchliche Verwaltung und andere, noch nicht genügend geklärte Einflüsse, vor allem aber auf die städtische Entwicklung gestützt, die Zentralgewalt mit und seit den Kreuzzügen eine geldwirtschaftliche Verwaltung einzurichten begann, waren es in Deutschland die Landesherren, deren zunächst im 13. Jahrhundert aufblühende Verwaltung (s. S. 106) sich der Geldwirtschaft anpaßte. Steuern, Zölle und sonstige Einnahmen brachten Geld, und die Ausgaben für den höfischen Prunk wie für das neue Beamtentum und das aufkommende Söldnerheer waren wieder größtenteils in Geld zu leisten. Vor allem entwickelten aber dann – der deutsche[118] Orden ist übrigens auch hervorgetreten – eben die Städte die neue Wirtschaftsform, stärker schon im 13., ganz freilich erst im 15. Jahrhundert. Diese Geldwirtschaft führte eine höhere materielle Kultur herbei, eine gesteigerte Lebenshaltung, mit der die adlige und z. T. selbst die fürstliche nicht wetteifern konnte, eine größere Genußsucht, eine Neigung zum Luxus und damit wieder eine Förderung der künstlerischen Lebensverschönerung, eine Blüte bestimmter, auf diesem Boden gedeihender Künste. Man kam ferner, wie gesagt, zu einer praktisch organisierten Verwaltung, zur Ausbildung der indirekten Steuern, zu einer in alle Einzelheiten eingreifenden inneren Polizeigesetzgebung, zur Ausbildung des Verantwortlichkeitsgefühls. Weiter ergaben sich eine größere Beweglichkeit und geistige Regsamkeit – von der Fürsorge für die Schulen werden wir noch (S. 143 f.) hören –, eine individuellere Lebensauffassung, wie sich überhaupt mit den praktischen, realen, wirtschaftlichen Interessen und der Erweiterung des Gesichtskreises wie schon mit dem Berechnen eine stärkere Übung des Verstandes, ebenso aber eine größere Abneigung gegen die asketische Weltanschauung und gegen kirchliche Bevormundung verband – kurz man gelangte zu den Elementen einer wirklichen Laienkultur.

Aber alles das entwickelte sich doch nicht sogleich und nicht überall, und man darf andere Züge nicht übersehen. So eifrig man sich den neuen, rasch hervortretenden Erfordernissen des wirklichen Lebens zuwandte: großzügig war der Geist dieses Bürgertums durchaus nicht, eher engherzig-egoistisch. Es liegt das daran, daß den Kern des Bürgertums schon durch ihre Zahl die Handwerker ausmachten. Zum Teil, vor allem in Süddeutschland, blieb überhaupt das Gewerbe ein wichtigerer Faktor als der Handel. Was die Handwerker selbst erzeugten, durften die Kaufleute nicht einführen. Andererseits hatte der Handel die Aufgabe, für die Rohstoffe zu sorgen, die eben das Handwerk brauchte. Der bürgerliche Geist deckt sich zum Teil mit dem Geist der Zunft. Diese hat die Handwerker wirtschaftlich, persönlich und sittlich gehoben, aber je länger je mehr auch einen kleinlichen, dem Wettbewerb und der freien Betätigung des begabten Individuums, schließlich überhaupt dem Fortschritt feindlichen Charakter gezeigt. Die Zunft bedeutete für das gewerbliche Leben etwas Ähnliches wie die Markgenossenschaft für das landwirtschaftliche. Zu dieser, Sicherung und Berechtigung gewährenden Zunftform strebten auch die neu entstehenden[119] Gewerbe mit allen Mitteln hin. Mit genossenschaftlichem Zwang sorgte die Zunft wie die Markgenossenschaft für gleichmäßige Erzeugungsbedingungen und so für das Wohl aller; mehr noch als jene förderte sie die Wertschätzung und die Güte der persönlichen Arbeit, die als gewerbliche ja technisch schwieriger war als die bäuerliche, und erzog den einzelnen durch bestimmten Lehrgang für seinen Beruf. Auch das Selbstgefühl ihrer Glieder stärkte sich eben durch den Stolz auf das durch Überlieferung und Aufsicht gesicherte Können, auf die »Kunst«, zugleich freilich durch die Teilnahme an der Stadtverwaltung und Stadtverteidigung. Höchst wertvoll in der noch immer leidenschaftlichen und ungebundenen Zeit war wie der Zwang an sich, so besonders die streng formalistische und zeremonielle Art des Zusammenlebens und der Verhandlungen, die einerseits eines poetischen Zuges nicht entbehrte, andererseits aber, wie ja schon die ästhetisch-gesellschaftlichen Regeln des Rittertums, die unentbehrliche »Zucht« dem einzelnen einprägen sollte. Und weiter hat dieser Handwerkergeist durch seine scharfen Ansprüche an die äußere »Ehrbarkeit«, an ehrliche, deutsche Herkunft, freie Geburt und sittliche Unbescholtenheit, durch die Anerkennung allein des Erwerbs mittelst tüchtiger Arbeit die Grundlage zu den bürgerlichen Anschauungen über Ehre und Rechtlichkeit gelegt, die natürlich zum Teil durch die kirchliche Ethik beeinflußt waren. Freieren Anschauungen war dieser Geist eigentlich unzugänglich, und, wie die Zunft, die in mittleren Zeiten zunächst zur Blüte des Gewerbes, ebenso wie die Markgenossenschaft zu der der Landwirtschaft beitrug, bei fortschreitender Entwicklung fast so wie jene durch die Ausschaltung der freien Beweglichkeit Rückständigkeit und Erstarrung herbeiführte, so erhielten auch die sittlichen Anschauungen bald etwas Starres. Freilich war bei der zunehmenden Unsittlichkeit und Genußsucht das Dringen der Handwerker auf Ehrbarkeit ein gewisses Gegengewicht gegen die allgemeine Laxheit und beeinflußte auch die Stadtverwaltungen.

Auf sittlich-kirchlichen Anschauungen beruhte z. T. auch die Gegnerschaft der Handwerker gegen den entwickelten Handel, vor allem gegen den spekulativen, nicht gegen den Handel überhaupt. Denn sie selbst verkauften ja auch, und keineswegs waren sie den Krämern feindlich. Wie sie grundsätzlich bei allen Zunftgenossen gleichen Wohlstand, aber bei keinem Reichtum erzielen wollten, so war ihnen der rasche Gewinn des Kaufmanns ein Dorn im Auge. Aber dieser vor allem auch von der Kirche (s. S. 134)[120] und besonders vom Adel mißachtete Kaufmann war nun doch ein sehr wichtiges Element des städtischen Lebens, spielte durch seinen Reichtum oft die führende Rolle und bildete das Patriziat. Der Handel, einerseits der nunmehr (s. S. 101) vor allem an die Verbindung mit Italien geknüpfte oberdeutsche, andererseits der hansische, war es ja doch, der den eigentlichen Glanz der führenden Städte, Nürnbergs, Augsburgs, Ulms, Frankfurts, Kölns, Lübecks u. a., begründete. Er bestimmte auch vielfach ihre Politik, und namentlich seit Ausgang des Mittelalters führte der Aufschwung des Handels auch ein mächtiges Zuströmen der Bürger zum Beruf des Kaufmanns herbei. Aber wenn nun bei dieser Klasse des Bürgertums zweifellos ein kühner Unternehmungsgeist, ein weiter Blick in die Ferne, dessen ja auch der Handwerker infolge seines Wanderns als Geselle nicht ganz entbehrte, und eine große Tatkraft hervortreten, das Bürgerlich-Engherzige fehlt auch ihr nicht. Die städtische Handelspolitik, von den Interessen der Handwerker bestimmt, war nach einem verkehrsfreundlichen Zeitalter seit längerem (s. S. 100) meist eine von monopolistischem Geist getragene Sonderpolitik zugunsten der Eingesessenen geworden. Jede Stadt schloß sich wirtschaftlich ab, der fremde Kaufmann wurde im Handel beschränkt und zum Vorteil der Bürger ausgenutzt (Stapelrecht), die Zufahrtstraßen allein wurden gebessert usw. Nur einzelne weitsichtige Städte wie Nürnberg sicherten durch Begünstigung der fremden den heimischen Kaufleuten gleiche Vorteile draußen. Ebenso wurde das umliegende Land zugunsten der Stadt wirtschaftlich beschränkt und ausgenutzt.

Aber noch in anderer Beziehung entbehrt die bürgerliche Kultur lange freierer und glänzenderer Züge. Der geschäftliche, wirtschaftliche Hauptzug bringt auch eine große Nüchternheit mit sich, die namentlich das 14. Jahrhundert charakterisiert und erst im 15. Jahrhundert einer zwar groben, aber doch weitherzigeren Lebensfreude weicht. Mit dem Niedergang des aristokratischen Geistes war auch der Schwung des Lebens zunächst dahin: er kam ebenso wie die Poesie später am meisten noch aus dem niederen Volk. Nicht nur die Lebensauffassung, die von praktisch-berechnendem Sinne, von der Regel und Ordnung des Arbeits- und Geschäftslebens beeinflußt wurde, sondern überhaupt das geistige Leben atmete jene Nüchternheit und ward dadurch ärmer. Das Gefühl spielt in den bürgerlichen Schichten keine große Rolle, wenigstens ist es nicht sichtbar. Daß es in manchen Kreisen[121] damals sogar überschwenglich lebendig war, zeigen die Briefe der geistlichen Mystiker, die aber in ihrer feineren Form und Ausdrucksweise mehr wie ein Nachklang der höfischen Zeit wirken. Die kahlen und nüchternen Briefe des Bürgertums, die ja meist erst aus späterer Zeit stammen, beweisen an sich noch keinen Mangel an Gefühl, weil sie in der Hauptsache Geschäftsbriefe sind und die Bildung zu gering war, als daß man sich im schriftlichen Ausdruck frei hätte geben können. Aber nüchtern-geschäftsmäßig ist auch die Geschichtsschreibung, nüchtern namentlich auch die Dichtung, die ja in der Form die Überlieferungen der geistlichen, der höfischen und der Spielmannsdichtung weiter führt, aber ohne wirkliches Formgefühl, ohne Phantasie und Schwung, vielmehr bürgerlich gerichtet und gestaltet ist. Bezeichnend ist die besondere Pflege der Lehrdichtung, der gegenüber die aufkommende Derbheit immerhin weniger langweilig ist.

Nüchternheit atmet weiter die Namengebung, die anstatt des früheren stark poetischen Namenreichtums (S. 37) eine große Dürftigkeit zeigt. Die alten deutschen Namen waren infolge des in die Masse gedrungenen kirchlichen Geistes vor den Heiligennamen, die, einst schon zurückgedrängt, im 13. Jahrhundert wieder aufkamen, gegen Ende des 14. Jahrhunderts bedeutend zurückgetreten. Es zeigt sich ferner, zum Teil infolge des Aufkommens von Beinamen, eine außerordentliche Einförmigkeit der Namen; man beschränkt sich immer mehr auf einzelne alte deutsche Namen (Heinrich, Konrad), vor allem aber auf den frommen Namen Johannes (Hans).

Auch die Kunst, vor allem die wichtige Baukunst, spiegelt den nüchternen Zeitgeist wider. Wie in der Dichtung werden die Formen der vorhergehenden Periode in äußerlicher Weise schülerhaft fortgepflanzt, wie dort fehlen Glanz, Phantasie und Schwung. Die starke Bautätigkeit entspricht mehr dem praktischen Bedürfnis der bürgerlichen Masse: es entstehen die einfachen Hallenkirchen. Freilich prägt sich das bürgerliche Selbstbewußtsein gleichzeitig in den oft unverhältnismäßig hohen Türmen aus. Andererseits tritt mehr und mehr ein handwerksmäßiger Charakter hervor; man suchte in technischen Einzelheiten seine kleine Meisterschaft zu zeigen. Das 15. Jahrhundert erhebt sich dann bedeutend über das vorhergehende. Das beste wird indes im Norden und Osten geleistet, in den herben, aber eigenartig entwickelten mächtigen Backsteinbauten der Kirchen, doch auch in den oft schmuckreicheren weltlichen Bauten gleicher Technik.

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Weiter bedeutet nun die bürgerlich-städtische Kultur gegenüber der ersten, wesentlich auf die aristokratische Schicht beschränkten Entwicklung einer Laienkultur zunächst eine starke Vergröberung. Die feine ästhetische Gestaltung des Lebens schwand ebenso dahin wie die höhere gesellschaftliche Bildung. Dem ungebundenen Sichgehenlassen gegenüber hielt zwar auch die bürgerliche Kultur an den errungenen Vorschriften einer sittigenden gesellschaftlichen Lehre in verbürgerlichter Form fest: es wird gerade jetzt, wie wir schon für die Genossenschaften sahen, der Zwang konventioneller Formen für das ganze Leben dieser noch halbbarbarischen Gesellschaft als unerläßlich empfunden. Aber jene Ungebundenheit wurde doch wieder das Charakteristische, die Derbheit siegte über die Feinheit, das rohe Schwelgen in materiellen Genüssen über die Mäßigkeit, das Plebejische über das Aristokratische. Gesellschaftlich steht das neue Zeitalter also im Zeichen der Rückständigkeit, je mehr vor allem die niederen Volksschichten sich bemerkbar machen. Charakteristisch sind die üblen Tischsitten, das gierige Schlampampen wie das unsaubere Umgehen mit Speisen und Speiseresten, von den Trinksitten ganz abgesehen. Die höfischen Anstandslehren werden jetzt – auch ein Zeichen der materiell gewordenen Zeit – vor allem in »Tischzuchten« fortgesetzt. Wie der plebejische Ton auch auf die aristokratischen Kreise schließlich übergriff, zeigen später die Hofordnungen des noch unflätigeren 16. Jahrhunderts mit ihren Verboten des Knochenwerfens und des Begießens mit Bier. Das alte Hauptstück der Geselligkeit, der Tanz, verlor wieder den höfischen Charakter und nahm in den Städten noch vergröberte bäurische Formen an. Die Tanzlieder wie das Gebaren beim Tanz wurden dabei vielfach sehr bedenklich, und die neuen Tänze aus der Fremde, die man in den Städten übernahm, verschärften noch diesen Zug. Charakteristisch ist weiter das Zurücktreten der Frau aus der Geselligkeit und das Schwinden ihres sittigenden Einflusses. Schon gegen Ausgang der Minnezeit trat dieser Rückschlag ein. Aber die Stadt mit ihrer zahlreicheren weiblichen Bevölkerung, die sogar überwog, mit den schlechten Elementen darunter und der größeren Freiheit sinnlichen Genusses verstärkte diese Strömung und bannte die ehrbare Frau wieder ins Haus: nicht die Dame, sondern die tüchtige deutsche Hausfrau wurde das bürgerliche Ideal der Frau.

Alles das hängt mit dem auf das Materielle gerichteten Sinn der Zeit zusammen, und dieser Zug wird gerade durch die[123] bürgerliche Kultur sehr gefördert. Materiell war ja doch diese Kultur in erster Linie, nicht in dem Sinne, daß der Genuß die Hauptsache war – im Gegenteil, wir lernten schon die Arbeit als den beherrschenden Faktor des städtischen Lebens, im Gegensatz zum ritterlichen Weltfreuden- und mönchischen Jenseitsideal, kennen. Aber im Vordergrund des Sinnens und Trachtens stand – und zwar nicht nur in der kaufmännischen Schicht – der Gelderwerb. Das allgemeine Ziel ist der Wohlstand, ein mäßiger nach den Anschauungen der Handwerker, ein möglichst großer nach denen der Kaufleute, aber damit doch wieder eben der Lebensgenuß, der entsprechend der Massengeselligkeit und der geringen Entwicklung feineren Innenlebens von selbst gemeine Formen annahm. Und auch über die höheren Fragen des Lebens entschied immer der materiell-praktische Gesichtspunkt, die Kirchlichkeit wurde bei der Mehrheit äußerlicher als je, der materielle Gedanke von Leistung und Gegenleistung war zum Teil ausschlaggebend.

Das arbeitsame, erwerbslustige, grober Lebensfreude zugetane deutsche Bürgertum war in seinen noch einfachen Verhältnissen mit dem romanischen Bürgertum, vor allem mit dem italienischen der Renaissancezeit, nicht zu vergleichen. Schon das eigentlich Städtische, das ja erst neben dem Höfischen eine höhere Ausgestaltung der Kultur verbürgte, hatte sich, wie wir (S. 98) sahen, in den stark bäuerlich gefärbten Sitzen des deutschen Bürgertums noch gar nicht völlig durchgesetzt, von den vielen kleinen Landstädten ganz abgesehen. Freilich machten sich eine immer stärkere Gleichartigkeit der städtischen Interessen und noch mehr der Lebensbedingungen sowie eine immer zunehmende Vielseitigkeit der Berufe geltend, und gerade im Nichtbäuerlichen lag die Anziehungskraft der Städte. Eine rein städtische Kultur war dagegen in Frankreich und Italien erblüht, gewiß noch in Anknüpfung an längst unterbrochene Überlieferungen. In Italien hatte sich weiter jene hochstehende geistige, künstlerische und Lebenskultur entfaltet, der gegenüber die deutschen Bürger wie die Deutschen überhaupt doch noch immer als barbarische Leute erscheinen mußten, trotz ihrer wirtschaftlichen und materiellen Errungenschaften. Wenn wir dann aus dem 15. Jahrhundert zahlreiche, teilweise begeisterte Schilderungen deutscher Städte besonders auch durch Italiener besitzen, so liegt ihnen gewiß das Erstaunen zugrunde, das diese über die unerwartete Höhe der äußeren Kultur in dem mißachteten Deutschland empfunden hatten.[124] Überdies stammen die Urteile meist erst aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, als der steigende Wohlstand den Städten vielfach ein glänzenderes Aussehen gegeben hatte als früher. Denn im ganzen boten die mittelalterlichen Städte so wenig ein Bild luxuriöser Pracht wie etwa die Burgen, und auch das Dasein selbst trug trotz jener doch ziemlich groben Üppigkeit noch den Stempel der Einfachheit. Die öffentlichen Gebäude und die Häuser der Reichen zwar, die seit dem 14. Jahrhundert häufig den Hof des Stadtherrn sich zum Vorbild genommen hatten, gewannen schon im 15. Jahrhundert eine reichere Gestalt, namentlich aber dann unter italienischen Einflüssen im 16., bis die Sucht nach künstlerischer Verzierung der Steinbauten wie der niedersächsischen Holzbauten fast übertrieben wurde. Die Häuser der weniger Bemittelten standen natürlich weit zurück. – Auch im Innern der Häuser und im Hausrat zeigte sich erst im 15. Jahrhundert eine reichere Entwicklung. Einmal war das Bürgerhaus immer zugleich Arbeitshaus und diente dem Gewerbe oder dem Handel, andererseits wich das Enge, Unbequeme, technisch Unentwickelte nur langsam. Das zeigen die kleinen und niedrigen Räume, der schlechte Fensterverschluß, die mangelhafte Heizung und Beleuchtung. Im 15. Jahrhundert entwickelten sich bei den Reichen Prunkräume mit Glasfenstern, kunstvoll gearbeiteten Öfen, schön geschnitzter Wandtäfelung (an Stelle jenes, den höfischen Wohnstätten nachgemachten Behängens mit Wandteppichen), mit wundervoll gearbeiteten, aber schweren Kunstmöbeln (Truhen, von den Schränken später verdrängt, Tischen und Bänken). Manches davon ging auch mehr und mehr auf die eigentlichen Wohnräume über; ferner gab es in den Schlafzimmern große Betten mit schön geschnitztem Dach und prächtigen Decken. Seit dem ausgehenden Mittelalter fand man auch vielfach Wanduhren im Bürgerhause.

Unterschiede zwischen dem Patriziat und dem mittleren und kleinen Bürger muß man auch bezüglich der Nahrungsweise machen, und selbst bei jenem beginnt der größere Luxus erst wieder gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Stärker als auf dem Lande, überhaupt sehr bedeutend war in der Stadt freilich der Fleischverbrauch. Bei der Fleischkost war wie schon früher der Verbrauch von scharfen Gewürzen zur Brühe außerordentlich, auch in romanischen Ländern. Diese mittelalterliche Weise hat der konservative Engländer zum Teil noch heute bewahrt, ein Zeichen eines wenig entwickelten Geschmacks. Im ganzen entbehrte[125] die städtische Küche trotz der überladenen Üppigkeit festlicher Genossenschafts- und privater Mahle noch lange größerer Feinheit. Eine bedeutende Rolle spielten die Gewürze sodann bei der von Klöstern und Höfen übernommenen feineren Bäckerei, und bald bildeten sich in einzelnen Städten Besonderheiten von Pfeffer-(Gewürz)kuchen unter verschiedenen Namen aus, wie überhaupt das bessere Gebäck die mannigfaltigsten örtlichen Formen annahm. Im übrigen war natürlich die Brotnahrung die wichtigste und allgemeinste. Fleischer und Bäcker waren bei dem großen Verbrauch die stärksten Gewerbe, sie erfreuten sich auch seitens der fürsorglichen städtischen Obrigkeit besonderer Beaufsichtigung sowohl hinsichtlich der Güte der Erzeugnisse wie der Preise und des Gewichts.

Mit der stark gewürzten Nahrung steigerte sich zum Teil der Getränkeverbrauch, wie andererseits die Gewürze die Vielesserei erleichterten. Das Bier spielte eine Hauptrolle in den norddeutschen Städten, in denen sich neben der Haus- und der Reihumbrauerei vielfach ein leistungsfähiges Braugewerbe, damit eine bessere Bierbereitung und ein lebhafter Bierhandel – denn von den vielen Sondersorten hatten einzelne bald einen großen Ruf erlangt – entwickelten. Das norddeutsche Bier wurde zum Teil schon in den Süden, wo sonst der Wein vorherrschte, eingeführt. Doch braute man z. B. in Nürnberg auch selbst. Umgekehrt war der Weinhandel nach Norden viel stärker, namentlich der Rheinweinhandel. Denn der im Norden und Osten selbst gebaute Wein (vgl. S. 44) wird doch nicht allzu sehr geschätzt gewesen sein, trotz der Ausfuhr z. B. von Gubener Wein. Auf dem Lande trank man im Süden neben Obstwein gewöhnlichen Landwein, und zwar als Most oder als jungen Wein. Auch die süddeutschen Städte versorgte der Handel (namentlich von Ulm aus) mit den begehrten guten Sorten, dem Rhein-, Frankenwein usw., aber auch schon mit südlichen Weinen. Weinpantscherei war dabei sehr häufig. Landwein suchte man durch aromatische Kräuter und Würzung oder Zuckerung zu verbessern. So gab es in Deutschland genug des Trinkbaren. Bei Beratungen, bei Kaufhandlungen (Weinkauf), bei den Zusammenkünften der vielen Genossenschaften, bei den großen städtischen Mahlen, bei den Familienfesten liebte man einen guten Trunk. Die einzelnen gesellschaftlichen Kreise hatten auch ihre Trinkstuben, die Patrizier wie die Zünfte; für das niedere Volk gab es die Schenken und Tavernen, deren Zahl immer zunahm. Und die Trinkfreude[126] stieg mit dem ausgehenden Mittelalter immer mehr, vor allem im Biergebiet, in Sachsen (Niederdeutschland), wie die Vielesserei, die Genußsucht überhaupt. Voll und toll zu werden, war geradezu ein Ziel, das man namentlich mit dem »Zutrinken« zu erreichen suchte. Es war das Sichaustoben eines überkräftigen Volkes, das seinen alten Ruf des Barbarentums freilich dadurch bei den mäßigeren und gesellschaftlich kultivierteren Romanen aufs neue kräftigte.

Dieselbe Zügellosigkeit zeigte sich in geschlechtlicher Beziehung. Und wenn neben der Trunksucht auch z. T. die Sittenlosigkeit damals eine Schwäche des Gesamtvolks gewesen ist und schon damals von Obrigkeit und Kirche bekämpft zu werden begann, so tritt dieser Zug doch besonders bei der städtischen Bevölkerung hervor, schon weil die Quellen für deren Zustände reichlicher fließen, dann aber auch, weil sich die Gelegenheit und die Mittel zu solchem Treiben in den Städten leichter fanden, übrigens auch für den umwohnenden Adel, und sich aus dem Zusammenleben einer stärkeren Bevölkerung leichter ergaben. Ja, es scheint, als ob das erstmalige Zusammenfassen größerer Massen in Städten ein jugendliches Volk von selbst in dieser Beziehung sich voller ausleben läßt. In sittlicher Hinsicht ist dann das leichtere Zusammenströmen schlimmer Elemente, die in den Dörfern und Burgen meist keinen dauernden Aufenthalt haben konnten, in den Städten von Einfluß. Man war übrigens nicht nur den Junggesellen gegenüber, wie hergebracht, duldsam, sondern auch gegenüber den Ehemännern. Die verheirateten Frauen andererseits hatten besonders die Nachstellungen der Geistlichen zu fürchten. Die sinnlichen Neigungen der Zeit – früh hatte auch die eifernde Sucht der Kirche, das Natürliche, das Nackte anstößig zu machen, gerade die Lüsternheit verbreitet – wurden in den damaligen Städten besonders durch die Badstuben und die nur in den Städten mögliche, notgedrungene Organisation der Unzucht, durch die Frauenhäuser, gefördert. Bäder waren dem Mittelalter seit je unerläßlich, zumal man das bloße Waschen vernachlässigte. Die Furcht vor dem Aussatz förderte überdies das heiße Baden, das man als Gegenmittel ansah. Die für den Massenverkehr in den Städten eingerichteten Badstuben wurden nun bald Stätten der Geselligkeit, wo man auch aß und trank, Feste feierte und dergleichen. Es ergab sich dann gelegentlich Schlimmeres, wenn auch das auf Bildern häufig dargestellte Zusammenbaden der Geschlechter kaum allgemein üblich gewesen ist. Im[127] ganzen ging gegen Ende des Mittelalters das Badewesen stark zurück, zum Teil wegen der damals auftretenden Syphilis, mit der man sich im Bade anzustecken fürchtete. Diese um 1495 mit furchtbarer Gewalt auftretende »Franzosen«-Seuche, die diesem (nach Paracelsus) der »Luxuria« und der »Venus« ergebenen, materiellen Geschlecht wie eine strafende Rächerin ihrer Sünden erscheinen mußte, trug vor allem aber zum Rückgang jener Frauenhäuser bei, deren Insassinnen in den Städten fast als wohlberechtigte Gewerbetreibende galten und deren Besuch ganz offen stattfand und niemand schändete. Feindlich waren diesem Treiben zum Teil die Ehrbarkeit pflegenden Handwerker, die sich überhaupt über die Sittenlosigkeit der höheren Kreise wie des Pöbels entrüsten mochten. Sie mochten auch das Hauptpublikum der geistlichen Sittenprediger bilden, die heftig gegen die sündhafte Zeit eiferten und dabei auch der großen Sünder aus der verweltlichten Geistlichkeit keineswegs schonten.

Gröbliche Übertreibung – sie ist vielfach das Zeichen dieser materiellen Kultur der Städte. Wie es beim Trinken und Essen noch ganz wie beim Bauern vor allem auf die Menge ankam, wie man sich bei amtlichen, genossenschaftlichen und Familienfestmahlen in üblem Wetteifer nicht genug tun konnte in der Zahl der Gänge und der Gäste, wie die Schwelgefreude immer neuen Anlaß zu Festen suchte, so entfaltete man den abstoßenden Luxus des Zuviel auch beim äußeren Menschen, in der Kleidung. Vergeblich suchten allen diesen Erscheinungen die Luxusordnungen der Städte und Landesherren zu steuern; gegen den Kleideraufwand richteten sich um 1500 auch Reichsordnungen, vor allem, um bei dem ständigen Nachobenstreben der einzelnen Klassen die ständischen Unterschiede in der Tracht aufrecht zu erhalten. Aber gerade der reiche Bürger, der Hauptträger der materiellen Richtung der Zeit, ließ sich in seinem protzenhaften groben Aufwand, den weniger reiche dann auch nachmachten, nicht stören. Recht großer Besitz an Gewändern, recht überladene Kleidung, recht teure Stoffe und Schmucksachen und recht auffallende Tracht – das war die Losung der Zeit, die auch einen unglaublich raschen, sich ständig in Extremen oder geradezu in Narrheiten bewegenden Wechsel der Mode herbeiführte, wesentlich freilich unter französischen und burgundischen Einflüssen. Einfachheit war jedenfalls verpönt, »altfränkisch«. Es zeigten sich die abstoßenden Schattenseiten einer emporkömmlinghaften Geldkultur, vor allem auch bei den Männern, die[128] sich zum Teil weibisch trugen, andererseits aber auch noch naive Züge, wie jene Vorliebe für grelle Farben und das Durcheinander verschiedener Farben (S. 51).

Die grob-materielle Lebenskultur des Bürgertums hat Fürsten, Adel und Geistlichkeit und auch zum Teil die Bauern vielfach zur Nachahmung angeregt, soweit es nach den Mitteln überhaupt möglich war. Auf der anderen Seite lag die derbe Lebenslust damals überhaupt in der Luft. Wie scharfe Stimmen erhoben sich schon im 13. Jahrhundert gegen die Sittenlosigkeit und den Luxus der Geistlichkeit, wie schnell entartete nach dieser Richtung die höfische Kultur, wie sehr wird schon früh dem Bauern Üppigkeit und Unehrbarkeit vorgeworfen! Also die Stadt förderte nur diese allgemeine Strömung, allerdings in bedeutendem Maße.

An dieser übersprudelnden Weltfreude wollte nun auch das niedere städtische Volk seinen Anteil haben, und so beschränkt die Mittel waren, so laut und gröblich brachte es sich zur Geltung. Dieses niedere Volk wird nun aber überhaupt in den Städten ein wichtiger Faktor. Zusammen mit den mittleren Schichten brachte es den Massengeist zu einer bis dahin unbekannten Bedeutung. Auch die nichtstädtische Masse ist damals, wie schon angedeutet, lebhafter in die Erscheinung getreten. Aber die Städte bleiben doch die Orte, wo diese Masse geschlossener auftritt, wo sie Führer findet, nicht zum wenigsten unter den niederen geistlichen Elementen, wo sie sich stärker zum Ausdruck bringen kann, wo die Bedeutung der Stadt als solcher auch ihr Selbstgefühl verleiht, wo aber auch durch die ständige Berührung mit den reicheren Kreisen begehrliche und angriffslustige Stimmungen genährt werden. Andererseits hofften in den Städten gerade die verschiedenartigen niederen Schichten, zum Teil noch bäuerlichen Charakters, selbst die Fahrenden, vor allem immer darauf, schnell heraufzukommen, ihr Glück zu machen. Die Geldentlohnung endlich machte auch die kleinen Leute selbständiger, selbstbewußter und fähiger, an ihrem Teil an der allgemeinen Genußfreude teilzunehmen. So verstärkte sich denn jener demokratische Geist, der schon die Zunftkämpfe hervorgerufen hatte, mehr und mehr. Etwas Demokratisches liegt von vornherein in dem städtischen Zusammenwohnen einer aneinander gepferchten größeren Masse, ebenso wie in dem Ritterleben auf Burgen etwas dem Treiben der Menge Abholdes. Ob dem Ritter immer die aristokratische Vereinzelung behagte, ob er überhaupt das Aristokratische darin empfand, ist eine andere Frage.

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Wie wichtig die Masse, insbesondere die städtische, nun im ausgehenden Mittelalter wurde, das zeigt sich auf den verschiedensten Gebieten. Zunächst auf dem für das Mittelalter bedeutsamsten, auf religiös-kirchlichem Gebiet und zwar nicht sowohl im Sinne einer stärkeren Abwendung von der Kirche infolge Geltendmachung der weltlichen Ansprüche der niederen Laien als in Richtung einer volkstümlicheren Haltung der Kirche selbst und eines mächtig gesteigerten religiösen Volksbedürfnisses. Jene früher (S. 79) beobachtete Opposition gegen die Kirche war insbesondere durch die Spielleute auch in niederen Volksschichten genährt worden. Aber auch ein geistliches Element förderte dieselbe, das der »Vaganten«, der durch die Lande fahrenden Scholaren, die namentlich von Frankreich her kamen, in einem höchst weltfreudigen Leben ihr Ideal fanden, immer zu scharfem Spott über ihre heilige Kirche und den habgierigen höheren Klerus geneigt waren und daher von der offiziellen Kirche scharf verfolgt und schließlich beseitigt wurden. Diese anfangs feiner gerichteten und auf ihre lateinische Bildung sehr stolzen Vaganten waren gegen Ende des 13. Jahrhunderts, kurz vor ihrem Verschwinden, bereits in einen gemeinen und rohen Ton verfallen und haschten jetzt nach dem Beifall der von ihnen oft durch Hokuspokus genasführten niedersten Schichten in Stadt und Land, haben auf diese Schichten aber sicherlich auch manche ihrer Anschauungen übertragen. Ganz zweifellos haben sodann die großen internationalen, vor allem romanischen Ketzerbewegungen des 12. und 13. Jahrhunderts, die in immer neuen Formen und Verbrüderungen sich auch später fortsetzten und in einem volkstümlich-religiös-sittlichen Massendrang aus dem verdorbenen und verweltlichten Katholizismus hinausstrebten, tief in das niedere Volk übergegriffen. Deutschland war besonders im Süden und Westen von dieser Bewegung erfaßt, und vor allem im Landvolk fand sie viele Anhänger, sicherlich aus einem überquellenden religiösen Bedürfnis heraus, aber vielleicht auch infolge einer immer noch im Verborgenen vorhandenen Abneigung gegen die Kirche, die Überwinderin des alten heidnischen Volksglaubens. Wenn Bertold von Regensburg dem Landvolk gegenüber von den »frumen steten« spricht, so meint er damit den damals kirchlicheren Geist der Städte.

Aber diese Kirchlichkeit war wieder wesentlich eine äußerliche. Das Mitmachen der kirchlichen Gebräuche war etwas ganz Selbstverständliches, um so mehr, als die offizielle Kirche alles tat,[130] den weltfreudigen Neigungen wie den praktischen Interessen der Städter möglichst gerecht zu werden. Der Klerus selbst verweltlichte dabei immer mehr: hatte er erst der ritterlichen Kultur sich teilweise angeschlossen, so schwamm er jetzt lustig in dem materiellen städtischen Leben. Im übrigen paßte sich die Kirche nunmehr ganz der größeren Volksmenge und ihrer Art an, immer in dem Bestreben, im Mittelpunkte des ganzen Lebens zu stehen. Es begann einerseits die gegen 1500 ihren Höhepunkt erreichende Zeit eines immer ausgedehnteren, vor allem von Laien getragenen Kirchenbaues, so daß die Zahl der Kirchen in den Städten auf lange Zeit hinaus genügte, andererseits wurden die Kirchen weiträumiger und trugen dem Massenbesuch Rechnung. Zu ihrem Bau wie zu ihrer prunkvollen Ausstattung steuerte mit gewaltigem Schenkungseifer das ganze Bürgertum, nicht nur das reiche, bei. Diese Kirchen wurden der Treffpunkt der Bürger, hier ging man ungezwungen aus und ein, schwatzte, lachte, schrie, hielt Waren feil; hier trugen die Frauen ihren Putz zur Schau. Auf den Kirchhöfen setzte sich das Treiben fort, an die Kirchen klebte man Verkaufsbuden usw. Am großartigsten trat dieser volkstümliche Charakter der Kirche bei den großen Festen, den Prozessionen usw., hervor, deren Gepränge und Pomp wie ein Schauspiel für das ganze Volk wirkten und die auch als Feste des Volkes angesehen wurden. Umgekehrt waren die weltlichen Feste immer auch etwas kirchlich gefärbt, wurden z. B. von feierlichen Messen eingeleitet. Die vielen Bruderschaften und Genossenschaften waren regelmäßig mit der Kirche verbunden, hatten zum Teil ihre besonderen Altäre und waren immer um das Seelenheil eines verstorbenen Genossen durch Stiftung von Messen usw. besorgt. Auf die Zünfte wie auf die Gesellenverbände hatten meist bestimmte Geistliche Einfluß. Die enge Verbindung der Kirche mit allen Ständen ergab sich im übrigen von selbst aus den Beziehungen der zahlreichen Kleriker, Mönche und Nonnen zu ihren alten Angehörigen, die sie auch zu Schenkungen und Stiftungen für die Kirche fortgesetzt anzuregen wußten.

Aber was nun insbesondere die niedere Masse betrifft, so hat der städtische Massengeist auch die geistliche Macht zum Teil durchsetzt und entsprechende Bildungen und Erscheinungen hervorgerufen. Zunächst hing ja schon die niedere Geistlichkeit eng mit dem eigentlichen Volk zusammen, lebte in dessen Interessen- und Anschauungskreis und war auf dem Lande völlig verbauert, in der Stadt ebenfalls mit den kleinen Leuten verbunden, teilte[131] oder schürte oft den Haß gegen die Reichen, kümmerte sich aber um ihre seelsorgerischen Pflichten wenig. Ganz auf dem Boden des armen und geplagten Volkes, zunächst der romanischen Städte, standen dann die gerade um sein kirchliches Heil besorgten Bettelorden des 13. Jahrhunderts, die weder Grundbesitz noch Einkünfte haben, vielmehr von frommen Almosen leben sollten, und die aus ihrer Mitte hervorgehenden volkstümlichen Prediger. Die Bettelorden waren eine neue Erscheinung der ewig fruchtbaren romanischen Askese, den neuen Zeitverhältnissen angepaßt und gegen die aufkommende Kapitalmacht gerichtet. Sie waren bald über die Christenheit verbreitet, zumal sie, klug von der Kurie benutzt, nicht unter den Bischöfen standen, sondern überall predigen und für Papst und Kirche gegen die Ketzer kämpfen sollten. Gerade durch ihre liebevolle Sorge für die Armen gruben sie in den Städten der Ketzerbewegung den Boden ab, so daß bald der Kampf gegen die Ketzer zurück- und der Kampf gegen die materielle Genußsucht, gegen die Sünden der Reichen, gegen den »Wucher« der Kaufleute, aber auch gegen die sittlichen Mißstände überhaupt in den Vordergrund trat. Diese Mönche sind denn auch in Deutschland rasch volkstümlich geworden, besonders die Franziskaner gegenüber den feineren, zugleich auf gelehrte Bildung gerichteten Dominikanern, so der gewaltige Bertold von Regensburg mit seiner von den Bettelorden überhaupt gezeigten Abneigung gegen die damals herrschende aristokratisch-höfische Kultur. Im 14. Jahrhundert hat durch diese Prediger dann gerade der strengere kirchliche, aber auch der wirklich religiöse Geist im Volke stark zugenommen. Doch setzten bereits damals starke Verfallserscheinungen ein. Mehr und mehr machten sich jene Prediger abhängig von der Stimmung der Masse, verweltlichten schließlich ebenso wie die offizielle Kirche und verdarben selbst die früh bemerkbare religiöse Bewegung gegen die überströmende Weltfreude und materielle Genußsucht.

Diese Gegenbewegung hatte zunächst stark überspannte oder mystische Formen angenommen. Im niederen Volke lebten seit langem aufgeregte religiöse Stimmungen. Hatten schon die frühere große asketische und die Kreuzzugsbewegung das Volk in weiten Schichten ergriffen, so gingen im 13. und 14. Jahrhundert wahre Schauer in der Form gewaltiger Bußepidemien durch die Massen. Es scheint so, als ob erst jetzt die fremde Religion mit ihrem teilweise sinnverwirrenden kirchlichen Apparat das Volk allgemeiner innerlich ergriffen und zunächst wie in einem jugendlichen Körper[132] krankhafte Erschütterungen hervorgerufen habe. Eine Zeit grob-primitiver Religiosität brach herein, religiösen Rausches. Die Kreuzzugsbewegung hatte bereits zu Verirrungen wie den Kinderkreuzzügen geführt, jetzt setzten, wieder von den romanischen Ländern her, die Bußfahrten der fanatischen Geißler ein. Die Kirche trat dabei ganz zurück, das niedere Volk der Laien hatte sich seine eigenen, über alles Maß gehenden Religionsübungen geschaffen, und so berührt sich die Bewegung mit der Ketzerbewegung, wurde auch von der Kirche verfolgt wie diese. Die verzweifelte Stimmung förderten allerlei Naturereignisse, ferner die Unsicherheit der Zeit, der Mongoleneinfall, der Kampf zwischen Kaiser und Papst – charakteristisch sind die Prophezeiungen über das Kommen des Antichrist –, zuletzt die gewaltige Pest von 1349, der schwarze Tod. Dessen Schrecken hatten die Geißler zu ihren Bußfahrten besonders veranlaßt, die Gefahr wurde aber gerade dadurch gesteigert. Gleichzeitig setzten gewaltige Judenverfolgungen ein – die Juden sollten die Urheber der Pest sein –, gewiß wieder zum Teil als religiöse Ausschreitungen aufzufassen. Völlig krankhaft waren dann die das niedere Volk ansteckenden Tänze religiös verzückter Massen, die Erscheinungen der sogenannten Tanzwut. Hand in Hand mit diesen religiösen Aufregungen, diesem groben Enthusiasmus, ging andererseits ein Wiederaufleben barbarischer Wundersucht und damit des alten volkstümlichen Zauber- und Aberglaubens, dem wiederum die Kirche trotz ihres eigenen Teufelsglaubens scharf entgegentrat. Freilich hat sie nicht wie in den romanischen Ländern auch die Ketzer systematisch als Zauberer verfolgt.

Jene religiösen Massenepidemien dauern zum Teil noch im 15. Jahrhundert fort, aber auch dann bleibt das Land der Hauptboden für sie. In der Stadt nimmt dieser religiöse Massengeist weniger überspannte Formen an. Daneben besteht aber in manchen Kreisen der niederen städtischen Schicht, freilich keineswegs in ihnen allein, eine stillere, gefühlsmäßige Religiosität in Opposition gegen die materielle Genußsucht, den praktisch-realen Sinn und die äußerliche Weltlichkeit wie gegen die ebenfalls nur äußerliche Kirchlichkeit der Volksmehrheit. Diese schroff entgegengesetzten Strömungen der Innerlichkeit und der Genußfreude charakterisieren den Geist des ausgehenden Mittelalters. Die Anfänge der stillen Religiosität hatten wieder einen feineren, zum Teil sogar aristokratischen Charakter gehabt. Es sind die Mystiker der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, zum Teil[133] wieder Bettelmönche, die, dem verstandesmäßig-formalen Treiben der Scholastik abgewandt, zugleich in entsagendem Gegensatz gegen die neuauflebende Weltlust, sich in ein innerliches Leben, einen schwärmerischen inneren Verkehr mit Gott versenkten. Eben wegen dieser Innerlichkeit kann man die Mystik als die erste wahrhaft volkstümliche Erfassung des Christentums durch die Deutschen ansehen. Ihr Gemüt zu offenbaren, trieb es die Mystiker zum Gebrauch der Muttersprache. Sie handhabten sie in einer Formvollendung, die noch an der Dichtung der höfischen Zeit geschult war. An die höfische Zeit erinnert auch die starke Beteiligung der Frauen, freilich von Klosterfrauen, deren jetzige Rolle jedoch allein in dem reichen weiblichen Gefühlsleben begründet war. Über die bloße Empfindsamkeit und Verzücktheit hinaus kamen die ersten und größten Mystiker zu wirklicher Tiefe der Gedanken und zeigten aristokratischen Schwung des Geistes. Ein zukunftsreiches Moment liegt in der besonderen Berücksichtigung der Laien seitens der Mystiker und in der Begeisterung der Laien für die neuen Männer. Ein gewaltiger Volksprediger war vor allem Johannes Tauler. Einerseits wurde nun diese mystische Strömung allmählich vergröbert, andererseits verquickte sie sich mit jenen volkstümlichen Zielen der Bettelorden, mit jener breiten kirchlich-sozialen Bewegung, die sich mit den Nöten der Masse beschäftigte. Charakteristisch bleibt aber für diese natürlich vor allem im Klöstern vertretenen mystischen Geister die starke Gefühls- und Stimmungsrichtung, die dann auch die Religiosität kleinerer und größerer Volkskreise beeinflußte und z. B. für das Verständnis der Kunst des ausgehenden Mittelalters höchst wichtig ist. Aber auch ohne diesen mystischen Zug sind nun frommer Überschwang und inbrünstiges religiöses Verlangen, gerichtet auf die Nachahmung Christi und der Heiligen, gerade in der Masse lebendig geworden und ergreifen zum Teil auch die höheren Schichten.

Andererseits nimmt diese Massenreligiosität stärker jenen halbheidnisch-volkstümlichen Charakter an. Recht viel gute Werke, recht viel Gebete, recht viel Heiltum (Reliquien) in den Kirchen – es ist dieselbe plebejische Wertschätzung des Massenhaften, die wir schon in der materiellen Lebenshaltung des städtischen Durchschnitts beobachteten; es ist zugleich die alte, nun noch geförderte nüchtern-geschäftliche Auffassung (s. S. 120 f.). Auch die Bettelorden wurden, wie (S. 131) erwähnt, immer weniger die Führer einer eigentlich religiösen Strömung. Die Predigt war nun oft auf den äußeren Eindruck berechnet, sie[134] warb vielfach nur um den Beifall der Masse. Viele Bettelmönche kümmerten sich um das Seelenheil nur in der sonst üblichen äußerlichen Weise. Sie hoben auch nicht mehr das Volk innerlich, sondern huldigten ganz seiner groben, vielfach noch mit den Resten der heidnischen Volksreligion verbundenen Denkweise. Dabei wurden sie von der herrschenden Genußsucht und Sittenlosigkeit in starkem Maße angesteckt, machten sich auch durch ihr nichtstuerisches Leben und ihre zudringliche Bettelei verhaßt und verfielen so zu einem guten Teil dem Spott und der Verachtung. An Bettelmönchen, die es mit ihrer Aufgabe ernst nahmen, fehlte es freilich auch jetzt nicht. Als soziale Kritiker, in ihrer Parteinahme für jene sozialen Nöte der Masse, blieben die Orden eben ein wirksames Element.

Daß sich die Kirche der Armen annahm, war ja im Grunde durchaus nicht neu. Diesen alten Zug hatte die große asketische Bewegung mit ihrer Verachtung des irdischen Besitzes und der irdischen Macht, mit dem Preise der Armut nur gefördert. Das Ideal der mittelalterlichen Kirche blieb aber überhaupt immer der mäßige Besitz: sie verwarf den gierigen Erwerb auf Kosten anderer und betonte die Pflicht des Reichen, den Ärmeren in großem Umfang abzugeben. Und daß dieses Ideal immerhin auch tief in die Volksmasse drang, zeigen z. B. die oben (S. 119) erwähnten Anschauungen der Zünfte, zeigt aber auch die allgemeine Mißachtung, die nicht etwa nur den Juden wegen ihres »Wuchers«, sondern auch dem eigentlichen Kaufmann von Adel, Klerus, Handwerkern, niederem Volk entgegengebracht ward. Gegen das sogleich mit gewaltigen Erfolgen auftretende Kapital und seinen aristokratischen Übermut regte sich schon im 13. Jahrhundert ein gewaltiger Haß. So geldwirtschaftlich die Kirche selbst vielfach gerichtet war, so blieb das Zinsverbot doch ihr großer Grundsatz. Schließlich wurde die ganze neue Geldwirtschaft theoretisch zum »Wucher« gestempelt, insbesondere auch der Handel, der auf spekulativen Gewinn ausging. Zahlreich sind die mehr oder weniger autoritativen geistlichen Stimmen, die in jener Zeit den Handel, soweit er nicht der notwendigen Lebensfürsorge (wie derjenige der ihre Erzeugnisse verkaufenden Bauern und Handwerker) diente, verwarfen und die Kaufleute, denen wohl auch viel vorgeworfen werden konnte, allgemein als Sünder hinstellten. Später, als vor allem die oberdeutschen Kaufleute neben dem Warenhandel auch das Geldgeschäft pflegten, nahmen solche schon zurückgetretenen Stimmungen wieder zu.[135] Das wegen der unendlichen Zersplitterung des Münzwesens durchaus notwendige Wechselgeschäft, der Geldhandel, aber auch das sich aus dem Geldvorrat von selbst ergebende Ausleihen von Geld gegen Zinsen war früher den Juden, die ja nicht an die kirchlichen Anschauungen gebunden waren, und den Italienern (den sogenannten Lombarden) überlassen. Jetzt waren jene durch die blutigen Verfolgungen zurückgeworfen und diese als lästige Wettbewerber vielfach verdrängt worden. Den deutschen Kaufleuten erleichterte die Übernahme des gewinnbringenden Geldgeschäfts zudem der Silberhandel, der sich aus dem damals besonders aufblühenden Bergbau und ihrem Anteil daran ergab. Der Übergang zum Geldhandel, überhaupt zu einem rein spekulativen Handel vollzieht sich stärker erst mit Beginn des 16. Jahrhunderts und hat schließlich zum Verderben des hochstehenden deutschen Handels mit beigetragen. Der ausgesprochene Kapitalismus dieser Zeit erregte auch, jetzt wegen der sozialen Folgen, die öffentliche Meinung stärker als je, insbesondere die zunehmende und sich auch auf notwendige Lebensmittel richtende Monopolisierungssucht. Wir haben die härtesten Äußerungen über die »Schinder des Volks«, die »Christenjuden«, über den Raub und Wucher der Kaufleute von Geiler von Kaisersberg, Sebastian Brant, Hans Sachs, Erasmus, Luther. Auch Beschlüsse der Städte, der Land- und Reichstage wandten sich gegen die Aufkäufer und Preissteigerer. Gerade die Armen mußten nun bei Teuerungen am meisten leiden, und hier und da sind auch gegen Ende des 15. Jahrhunderts Aufstände dadurch hervorgerufen worden.

Aber bei diesen Bewegungen spielte überhaupt der Gegensatz zwischen Reich und Arm eine immer größere Rolle. Schon im 13. Jahrhundert war dieser Gegensatz über das bloße Mitleid mit den Armen hinaus von den Bettelmönchen, so in ziemlich heftiger Form von Bertold von Regensburg, betont und gesteigert worden. Ende des 14. Jahrhunderts finden wir bei Dichtern und in Chroniken bezeichnende Stellen. Mehr und mehr trat dann eine wieder in den Lehren des Urchristentums begründete Teilnahme an der Lage des ärmeren Landvolks, dessen Arbeit nun gepriesen ward, hervor. Der Bauer wurde jetzt trotz des wirtschaftlichen Niedergangs des Adels weniger von diesem als von den klösterlichen Grundherren bedrückt, vor allem aber vom Staat immer stärker belastet, überdies vom Städter mißachtet. Dazu kam der Groll über die rücksichtslose wirtschaftliche Herrschaft der Stadt über das Land, den der Bauer mit dem Adel[136] teilte. Sodann zündete die hussitische Bewegung mit ihren gleichmacherischen Ideen auch in Deutschland. Weiter dauerte die Hetzerei der niederen Geistlichkeit an. Bei dem großen Prediger Geiler von Kaisersberg finden sich stark agitatorische Äußerungen. Am ehesten mochten solche Stimmungen, soweit sie gegen die Reichen an sich gingen, Ableitung in jenen Judenverfolgungen finden, die freilich in erster Linie auf die Auswucherung der in weiten Kreisen verschuldeten Bevölkerung zurückgingen. Aber auch der reiche Besitz der Kirche wurde immer schärfer aufs Korn genommen, je mehr der höhere Klerus verweltlichte, die Pfründenjägerei um sich griff und die Habgier der Kirche das Volk aussaugte. Auch hier spielte wie zum Teil bei den Judenverfolgungen die Hetzarbeit der niederen Geistlichkeit und der Volksprediger eine Rolle. Eine besonders haßerfüllte Stimmung gegen die nichtstuerischen und schlemmenden »Pfaffen« herrschte auf dem Lande, wo schon der Zehnte sehr widerwillig gegeben wurde, wo man aber erst recht jene grundherrlichen Lasten für Klöster und Stifter als bitteren Druck empfand. Ohne Zweifel kamen die alten kirchenfeindlichen Strömungen hinzu. Wie die Ketzerbewegungen früherer Zeit (s. S. 129) fand gerade beim Landvolk auch die hussitische Bewegung Anhänger. Sie stellte zugleich einen furchterregenden Ausbruch der gegen die Reichen und Mächtigen und auf Erhebung der Armen und Niedrigen gerichteten Strebungen der Masse dar. Gerade sie wandte sich aber auch gegen das Kirchengut. Und so erklärt es sich, daß bei den bäuerlichen aufrührerischen Bewegungen, die schon im 15. Jahrhundert lange vor dem großen Bauernkrieg begannen, sich der Haß besonders auch gegen die Pfaffen richtete. Daß im übrigen auf der Pfaffen Gut sich auch die lüsternen Blicke des niederen Adels richteten, daß der Kirche reicher Besitz auch den höheren Klassen in den Städten ein Dorn im Auge war, gehört nicht in diesen Zusammenhang, hat aber bei der Reformation später eine Rolle gespielt. Von dieser hat dann auch jene wesentlich unter den Bauern um sich greifende religiös-soziale Strömung, bei der im 15. Jahrhundert theokratisch-kommunistische Ziele immer stärker hervortraten und bei der die auf Befreiung von Druck und Lasten gerichteten Ideen unter religiösen Schlagworten wie »die Gerechtigkeit Gottes« und »christliche Freiheit« sich eindrucksvoller verbreiteten, das Heil erwartet, freilich vergeblich, wie der große Bauernkrieg, dessen Grundursachen im übrigen auf anderen Gebieten liegen, zeigte.

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Auch bei gewissen städtischen Bewegungen um 1500 haben – von den Judenhetzen abgesehen – der Haß gegen die Reichen und die Begierde nach ihrem Gut eine Rolle gespielt, aber es scheinen hier doch mehr die freilich auch kapitalfeindlichen, alten zünftlerischen Anschauungen, hinter denen zum Teil geistliche Scharfmacher standen, von Bedeutung gewesen zu sein. Besonders mochten die Geistlichen die ärmeren Handwerker beeinflussen, die sich namentlich dort von den eigenen, reicheren Zunftgenossen beschwert fühlten, wo diese Anteil am Stadtregiment hatten. Sie litten zum Teil unter der Engherzigkeit der Zunft ähnlich wie die Gesellen, denen bei der zunehmenden Übersetzung des Handwerks und dem stärkeren Gewinnstreben der einzelnen das Meisterwerden außerordentlich erschwert wurde. Die überall das Mittelalter beherrschende genossenschaftliche Form führte namentlich gegen Ende des Mittelalters zu Gesellenverbänden, die zielbewußt, nach Art der Zünfte organisiert, die älteren Bruderschaften zur gegenseitigen Unterstützung, zur Fürsorge für das Seelenheil usw. verdrängten und auch zur Anerkennung seitens des Rates und der Meister gelangten. Die oft gar nicht so schlecht gestellten Gesellen zeigten ein starkes Selbstbewußtsein, waren wehrhafte Leute und veranstalteten gern öffentliche Umzüge und Feste, die von ihrer angesehenen Stellung innerhalb der Bürgerschaft zeugen. Sicherlich haben sie bei Zusammenrottungen auch ihr Kontingent gestellt; dazu kamen dann aber vor allem die Tagelöhner, allerlei niedrige Arbeiter und der eigentliche städtische Pöbel als wirkliche Arme.

So hat denn die materielle Kultur der Zeit ihr recht bedenkliches Gegenbild. Aber wie diese Kultur selbst durch massengeistartige, unfeine, naive Momente zum Teil bestimmt wurde, so hat auch die niedrige Masse in der Hauptsache doch die genußsüchtigen Ideale geteilt, wenngleich meist nur sehnsüchtig nach ihnen aufgeblickt. In ihr herrschten doch nicht nur Unzufriedenheit, mystisch-religiöse Eigenbrödelei, Neigung zu lärmender Gewalttätigkeit, sondern auch Lebenslust und Genußfreude, rohester Form freilich. Auch dem niederen Volk boten ja die großen kirchlichen und weltlichen Feste reichlich Gelegenheit zur Teilnahme. Es waren immer wirkliche Volksfeste. Die Geselligkeit ist in erster Linie Massengeselligkeit. Ein allgemeiner Festtaumel ergriff die Menschen besonders zur Fastnachtszeit. Hier kam auch nicht nur die Freude am Schlemmen, sondern auch die alte naive, volkstümliche Laune zum Ausdruck, und uralter Mummenschanz, der auch von Weihnachten bis Epiphanias[138] allgemein üblich war, verstärkte die lustige Ungebundenheit. Als derbkomische Unterhaltung des ganzen Volkes hatten sich ferner zum Teil die Fastnachtsspiele als weltliche Spiele neben den geistlichen Spielen an hohen kirchlichen Festtagen auf verschiedene Weise entwickelt, und die der Zeit mit ihren Beschwerden entspringende Neigung zu satirischer Verspottung der Stände kam in ihnen zum Ausdruck (s. S. 139). Weiter gab es noch die alten volkstümlichen Feste im Freien, wie die allerdings mehr auf dem Lande üblichen Maitänze, überhaupt die sommerlichen Tänze an Feiertagen mit ihrem Singen und Springen. Man vergnügte sich auch noch auf Wiese und Anger an den alten Kraftübungen, dem Ringen, Steinwerfen u. a. Sodann boten die Kirchenfeiern Anlaß zu immer neuer Festeslust. Die Kirchweihen bildeten vor allem auf dem Lande den Höhepunkt der Festfreude, fehlten aber auch in der Stadt nicht. Hier kamen dann Handwerkerfeste und -tänze als etwas besonderes hinzu, vor allem aber die großen bürgerlichen Waffenfeste, die Schützenfeste, ursprünglich mit Aufzügen und nachfolgendem Gelage verbundene Waffenübungen. Die Hauptsache bei ihnen wurden aber allmählich die Festlichkeiten und die Preise, die man erringen konnte. Die patrizischen Kreise versuchten noch jetzt, sich durch Turniere hin und wieder ein ritterliches Ansehen zu geben, sehr zum Mißfallen des Adels, dessen Turniere aber natürlich auch meist in der Stadt abgehalten wurden und der Masse wenigstens ein glänzendes Schauspiel boten. Alle diese Feste waren also, wie auch die Familienfeste, zugleich Massenfeste, bei denen die ständischen Unterschiede mehr oder weniger zurücktraten. Umgekehrt boten die Fahrenden, die etwa bei Turnieren und Schützenfesten zusammenströmten, keineswegs nur dem niederen Volk Unterhaltung.

Trotz aller verbitternden sozialen Gegensätze herrscht damals doch noch ein außerordentlich starkes volkstümliches Gesamtgefühl. Der oben erwähnte Massengeist ist nicht nur der Geist der niedrigen, sondern der der Gesamtmasse, dem freilich eben wegen der großen Rolle des niederen Volkes keine feinen Züge eignen können. Die Art der niederen Volkskreise zieht vielmehr die der höheren zu sich herab. Nicht nur, daß die Bildungsunterschiede in der Laienwelt damals noch immer stark zurücktreten und hoch und niedrig sich in einer durchaus volkstümlichen Ausdrucksweise (die natürlich nichts Neues ist, sich jetzt nur in den Quellen stärker kundgibt) ergeht: es ist auch an Stelle der höfischen Art in den aristokratischen Kreisen eine[139] freilich ebenfalls immer vorhanden gewesene und nur durch jene modische Verbildung überfirnißte Neigung zur Derbheit und zu grober Redeweise getreten. Schon der Minnedichtung sahen wir (S. 93) in der höfischen Dorflyrik ein volkstümliches Gegenbild erstehen. Herr Steinmar hat jene dann geradezu verspottet und zog vor, »in daz luoder« zu »treten« und sehr materielle Genüsse zu preisen. Ein plebejischer Geschmack bringt die Literatur dann immer mehr herunter. Alles feinere Schönheitsgefühl schwindet, der Ton wird immer niedriger, der Stoff immer realistischer, die Ausdrucksweise immer derber. Die Schwänke, oft zotig und gemein, werden zur Lieblingskost. Vor allem in jenen Fastnachtsspielen, und zwar den Nürnbergern besonders, machen sich Derbheit und Roheit mit vollstem Behagen breit. Es war im Grunde lächerlich, wenn in ihnen der Bauer als komische und mißachtete Figur wegen seiner Freßgier, seines Saufens, seines Schmutzes und seiner Roheit herhalten mußte. Der Inhalt der Spiele zeigt die gleiche Freude gerade des Städters am Rohen, z. B. an Prügelszenen, und in seiner materiellen, groben, oft gemeinen Genußsucht unterschied er sich vom Bauer nur durch die ihm zu Gebote stehende größere Mannigfaltigkeit und gewisse äußerliche Feinheiten. Seine Neigung zur Unflätigkeit beweisen wiederum die Spiele. Um diese Zeit wurde ein zotiger, unanständiger Ton aber überhaupt allgemein Mode. Die ganze Art nennt man nach dem von Sebastian Brant als Modeheiligen hingestellten St. Grobian Grobianismus. Der Zug nahm im 16. Jahrhundert noch sehr zu. Mit ihm sind eine geflissentliche Mißachtung des überhaupt (s. S. 122) schon arg heruntergekommenen gesellschaftlichen Anstandes und eine teilweise fast zynische Behandlung des weiblichen Geschlechts verbunden.

Die Maßlosigkeit und Ungebundenheit der Zeit, die sich in dem genußsüchtigen Sichausleben, in der Sinnlichkeit wie noch immer in Raub, Mord und Grausamkeit, überhaupt im Hang zu Gewalttätigkeiten und in der allgemeinen Habgier äußert, zeigt sich auch in diesem Gebaren. Strotzende Kraft, jugendlich-naive Unkultiviertheit toben sich mit allem Behagen in ihrer Art aus: eben dies ist immer die Weise des niederen Volkes. Aber diese griff damals hoch hinauf. Wenn uns nun weiter aus jenen Spielen und Schwänken, aus der Redeweise, der Spruchweisheit, den Inschriften, den Namen und so vielem anderen, auch aus den Briefen derjenigen, die über die Steifheit des üblichen förmlichen Stils hinaus gelernt haben, zu schreiben, wie sie reden (wie vor allem Luther und Albrecht Achilles),[140] nicht nur Derbheit, sondern immer auch lustige, launige Derbheit entgegenblitzt, so kommen wir auf das Erhebende in dieser ganzen Erscheinung, auf das befreiende Lachen, das uns aus alledem entgegendröhnt und zeitweise auch die sozialen Bitternisse übertönt, auf den Humor der Zeit. Keine andere war je so lachlustig, so launig selbst in Not und Tod. Und auch das Heilige, das Ernste mußten sich das Eindringen des Komisch-Possenhaften gefallen lassen. Wie sich am Osterfest mancher Prediger dazu hergab, durch allerlei Scherze die Lachlust zu erregen, so schoben sich in die geistlichen Schauspiele, die sich ja vom Lateinischen nun zu einem volkstümlichen Deutsch gewandt hatten, komische Zwischenspiele ein. Bei den Kirchenbauten benutzte man die Wasserspeier zu humorvollen, oft satirischen, selbst gegen Mönch und Nonne gerichteten Darstellungen, und drinnen an Holzgestühl und Steinsäulen wurden allerlei lustige Bildwerke angebracht. So erscheinen auch Recht und vor allem Moral gern in humoristischem Gewande. Rechtssprache und Rechtssätze zeugen davon, ferner gewisse Strafen. Dem gefürchteten Galgen gibt der Volkshumor eine Fülle launiger Bezeichnungen. So oft ferner Sünden und Schwächen mit ernsten Worten gegeißelt werden, so häufig ist doch im 15. Jahrhundert ihre humoristische Auffassung. Ihre Träger werden als »Narren« hingestellt, wie zum Teil in den Spielen, wie vor allem in dem Narrenschiff Brants. Das Laster verfällt der Lachlust, dem Spott. Die Figur des »Narren« in besonderer Tracht übernimmt auch im wirklichen Leben diese spöttische Geißelung der Schwächen, und charakteristisch ist, daß diese volkstümliche Figur zu einer ständigen Einrichtung an den Höfen und oft auch beim Adel wird. Ebenso gab es natürlich Volksnarren bei Festen und Umzügen. Andererseits tat man sich in Narrengesellschaften zusammen, um zu Zeiten mit vollem Behagen »närrisch« zu sein. Wenn irgendein Zug für die volkstümliche Grundstimmung der Zeit spricht, so ist es der Humor. Das Volk lacht gern, gemessene Bildung und Moral haben ihm die Laune nicht verdorben. Noch heute ist der Hauptzug aller Dialektdichtungen der Humor; noch heute wählt der volkstümliche Scherz weniger die Schriftsprache als eben den Dialekt. Gewiß hat der Humor ebenso wie die anderen erwähnten volkstümlichen Züge auch im früheren Mittelalter das ganze Volk durchdrungen, und die erst später zahlreicher werdenden Zeugnisse für ihn dürfen nicht dazu verleiten, ihn als Merkmal nur dieser späteren Zeit hinzustellen. Es ist eben nunmehr die Möglichkeit, ihn zum[141] Ausdruck zu bringen und auch schriftlich kund zu tun, für weite Laienkreise außerordentlich gewachsen. Aber dennoch liegt viel an dem jetzt eingetretenen Übergewicht der Art der breiten Masse, durch das die noch immer starke und nur durch die Stammesunterschiede beschränkte Einheitlichkeit des Innenlebens aller der sonst so zerrissenen und einander feindlichen Kreise außerordentlich befördert wird.

Ein letztes Zeugnis für den volkstümlichen Gesamtgeist der Zeit ist das Volkslied, das damals seine Blütezeit erlebte. Freilich wurde es, besonders von den Spielleuten entwickelt und getragen, vor allem von den niederen Schichten gepflegt und gesungen, aber keineswegs nur von diesen. Es ist sicherlich Gemeingut des ganzen Volkes gewesen und zeugt von dem innigen poetischen Gefühlsleben der ganzen Zeit. Zugleich ist es in seinem Preisen eines naiven Glückseligkeitsideals materieller Färbung (Liebe, Gesang, Naturfreude, Schlemmerei, kurz »gutes Leben«) wieder für die Genußsucht der Zeit charakteristisch. Aber es steckt in dieser volkstümlichen Weltfreude doch auch ein poetischer Schwung, der der bürgerlichen Nüchternheit gar nicht entspricht. Das Volkslied zeugt weiter dafür, daß der demokratische, der Massencharakter nun auch die Literatur nicht nur, wie (S. 139) geschildert, in Ton und Geschmack beherrscht, sondern sich auch in der Bevorzugung bestimmter Gattungen äußert. Diese Volkslieder wurden auch nicht mehr von einzelnen Volkssängern, sondern mehrstimmig gesungen. Eine solche Gattung, in der fast niemals einzelne Verfassernamen glänzen, stellen ferner die Volksbücher dar, die die alten ritterlichen Stoffe nun in breiter Prosa, oft in Anlehnung an französische Muster, darboten und zunächst in den höheren Schichten verbreitet waren, dann aber mehr und mehr zur Unterhaltung der Volkskreise dienten und von diesen lange bewahrt wurden. Auch die reiche Entwicklung und volkstümliche Gestaltung der jetzt deutschen geistlichen Schauspiele wie die Ausbildung der weltlichen Fastnachtsspiele sind hier anzuführen, zumal auch an jenen die Laien sowohl bezüglich der Texte wie vor allem bei der Aufführung immer stärker beteiligt sind. In diesem Zusammenhang ist auch wieder die deutsche Volkspredigt zu erwähnen.

Holzschnitt und Kupferstich sodann, vor allem der erstere, tragen gegen Ausgang des Mittelalters der Verbreitung der Kunst unter der Masse Rechnung. Zugleich geben sie durchaus volkstümliche Darstellungen und entnehmen ihren Stoff dem gesamten Volksleben, wie es ja auch die bürgerliche Dichtung tat. Mit dieser Richtung auf das wirkliche eben entwickeln sich dann[142] auch Malerei und Plastik in ganz anderer Weise als früher – der wichtigste Zug des Aufschwungs dieser Künste ist das Streben nach Naturwahrheit – und machen sich von der Beherrschung durch die Architektur frei. Zweifellos beweist das alles ein Eindringen der höheren, jetzt freilich volkstümlich gefärbten Kunst in die Masse, ein Bedürfnis nach Kunst, wie es sich nun auch in der Gestaltung des Hausrats im Bürgerhause, in der Anfüllung der Kirchen mit geschnitzten Altären, mit Grabmälern an den Wänden und Pfeilern zeigt. Jene mechanische Vervielfältigung durch Holzschnitt und Kupferstich ist überhaupt von vornherein demokratisch gerichtet, und ganz dasselbe gilt auf dem Gebiet des Bildungswesens von der neuen Erfindung der Buchdruckerkunst. Nicht zwar gerade für die niedersten Schichten, aber doch für die breitere Masse war diese technische Errungenschaft des Bürgertums, die übrigens das sehr entwickelte Abschreibegewerbe nur folgerichtig ablöste, das willkommene Verbreitungsmittel der jetzt allgemeiner geschätzten Bildung, die zunächst freilich durchaus mittelalterlichen Charakter bewahrte. Die neue Kunst war zugleich ein Hauptmittel religiöser Erbauung und Belehrung und kam, ebenso wie zum guten Teil der Holzschnitt und Kupferstich, jenem tiefen religiösen Bedürfnis der Masse entgegen. Sie war endlich ein Sprachrohr der Stimmungen und Strebungen dieser Masse, wie sie auch der volkstümlichen Unterhaltung diente.

So hat denn gerade zu Ausgang des Mittelalters, bis ins 16. Jahrhundert hinein, volkstümlicher Geist das ganze Leben beherrscht wie niemals wieder. Aber eben damals machten sich schon Strömungen bemerkbar, die dem Volkstum innerlich feindlich waren, zum Teil freilich zunächst wegen der damals allgemeinen volkstümlichen Ausdrucksweise diese Richtung noch nicht deutlich zeigten. Es sind naturgemäß Strömungen höherer Kultur, die letzten Endes wiederum in der Antike wurzeln, der Humanismus, das Römische Recht, die künstlerische Renaissance. Sie sind zum Teil verbunden mit einer später ebenso volkstumsfeindlichen sozialen Entwicklung, der ständigen Steigerung der landesherrlichen Gewalt, die schließlich im Absolutismus mündete. Die antike Kultur ist seinerzeit eine volkstümliche Kultur gewesen, die griechische vor allem, aber das gewöhnliche Volk hat doch meist eine gewisse Mißachtung erfahren. Namentlich seit dem Ausgang der Republik hat der gebildete Römer sich über alles Plebejische weit erhaben gefühlt, keinerlei Interesse für Strömungen im niederen Volk gehabt. Diesen Geist der feineren Kulturmenschen[143] haben dann auch die Menschen der italienischen Renaissance gezeigt, er wurde gerade durch den Zug zur antiken Literatur genährt. Von dieser wurden in solcher Richtung dann auch die deutschen Juristen und Humanisten mehr und mehr beeinflußt. Nun gaben aber gerade die niederen Klassen zu jener Zeit vielfach den Ton in Deutschland an, und je mehr man sich von ihnen und ihrer Art, die ja auch immer grobianischer wurde, abwandte, um so mehr wandte man sich vom Volkstümlichen überhaupt ab. Im 16. Jahrhundert überwog freilich dieser volkstümliche Geist noch lange, die Verrohung ergriff sogar bekanntlich immer höhere Schichten, so daß eine Gegenströmung heilsam war, aber das schließliche Ergebnis war eine tiefe Kluft zwischen den »Gebildeten«, also den Kulturmenschen, und dem niederen Volk.

Anfangs, als sich in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters überhaupt eine allgemeinere Laienbildung zu verbreiten begann, war die vermehrte geistige Schulung durchaus nicht unvolkstümlich, der Drang nach besserem Wissen allgemein gewesen. Zunächst keineswegs aus einem höheren und feineren Streben heraus. Es handelte sich lange nur um jene elementare Bildung, deren aus geistlicher Hand früher schon mancher Edle, mancher reiche Bürger und noch mehr die Frauen dieser Stände teilhaftig geworden waren, nach der nun auch die praktisch-nüchterne Masse des Bürgertums aus wirtschaftlichen Gründen verlangte. Der Kaufmann und auch der verkaufende Handwerker konnten das Schreiben und Rechnen nicht mehr entbehren. Anfangs lateinisch und selten, dann deutsch und immer allgemeiner wurden Notizen in Geschäftsbücher und kurze Geschäftsbriefe geschrieben; in den Genossenschaften, den Zünften und Gilden, wollte man allmählich bei der Führung der Listen und Bücher nicht mehr auf den hilfreichen Geistlichen angewiesen sein; für die städtische Gesamtheit wurde die selbständige Führung der Verwaltung auch in bezug auf das Schriftwesen notwendig, und ebenso wie aus den Kanzleien der Fürsten wurden die zum Teil noch lange unentbehrlichen Geistlichen aus den städtischen Schreibstuben durch schrift- und immer häufiger auch rechtskundige weltliche Beamte verdrängt. Und natürlich mußten auch die Leiter der Verwaltung, die Mitglieder des Rats, eine bessere Bildung haben.

Diese allgemeinere Laienbildung konnte zunächst nur aus den (äußeren) Schulen der Klöster und Stifter stammen, aber das wachsende Bedürfnis ließ sehr bald von der Stadt selbst ins Leben gerufene Schulen entstehen, so eine ganze Anzahl schon im[144] 13. Jahrhundert, noch mehr im 14. Über ihre Verwaltung erhoben sich an diesem oder jenem Ort scharfe Streitigkeiten mit der Geistlichkeit, wobei aber natürlich nicht an innere Gegensätze zur Kirche zu denken ist. Jedenfalls ging die Aufsicht immer mehr auf die städtische Obrigkeit über. Allmählich entwickelten sich aus ziemlich niedrig stehenden Schulen die städtischen Lateinschulen, die im 15. Jahrhundert schon recht zahlreich waren. Mit dem steigenden Bildungsbedürfnis besuchten diese auch immer mehr Schüler aus niedrigen Kreisen, die dann in ihrer Armut oft von Almosen leben, ihr Brot ersingen mußten und als fahrende Schüler von Schule zu Schule wanderten, häufig von berühmten Lehrern angezogen. Diese Schulen waren, so mäßig ihr Unterricht war, für die niederen Klassen in der Allgemeinheit natürlich zu hoch. Diese bedurften seit dem Eindringen der Volkssprache in den Schriftverkehr nur eines deutschen Elementarunterrichts: ihn vermittelten notdürftig private »deutsche« Schulen, die von Schreibern und Rechenmeistern gehalten wurden. Aber diese »deutschen« Schulen wurden von der städtischen Obrigkeit wie von der Geistlichkeit durchaus nicht begünstigt, und darin zeigt sich bereits ein unvolkstümlicher, mit einem Bildungshochmut zusammenhängender Zug.

Dieser Zug steigerte sich mit der immer größeren Zahl Höhergebildeter, die aber ihre Bildung nun nicht nur den mehr vorbereitenden Lateinschulen, sondern den Universitäten verdankten. Diese Universitäten waren ganz aus der geistlichen Bildungsluft hervorgegangen; sie bedeuteten eine Erweiterung des stiftischen Schulwesens, das den Fortschritten des von arabischen Einflüssen neu angeregten Geisteslebens seit der Ausbildung der scholastischen Theologie und Philosophie, einer höherstrebenden Jurisprudenz und einer erneuerten Medizin nicht mehr zu folgen vermochte. Aber Lehrer und Schüler blieben geistlich. Natürlich konnten solche Hochschulen zunächst nur in den höher entwickelten romanischen Ländern entstehen. Deren Kultur bedurfte in praktischer Hinsicht immer mehr der Juristen, Ärzte und Lehrer, und in geistiger Hinsicht war mit der Scholastik ein tieferes philosophisch-systematisches Wissensbedürfnis entstanden. Die Deutschen blieben auf die romanischen Universitäten, die berühmten Rechts- und Ärzteschulen wie die großen theologisch-philosophischen Lehrstätten, angewiesen. Aber vor allem das praktische Bedürfnis infolge der Entwicklung der landesherrlichen Macht wie der städtischen Kultur ließ dann auch in Deutschland Universitäten erstehen,[145] zuerst 1348 diejenige zu Prag, der dann seit Ausgang des 14. Jahrhunderts noch vierzehn, zum Teil aus höher entwickelten Stiftsschulen heraus und durchaus in Anlehnung an das fremde Vorbild, folgten.

Jener geistliche Charakter der Universität blieb noch lange gewahrt, wie ihn ja auch noch die ganze höhere Bildung trug. Die großen Gelehrten des ausgehenden Mittelalters waren Geistliche, Ordensgeistliche vor allem. Hauptträger der Wissenschaft waren die Dominikaner, die aber auch Kunst und Dichtung pflegten. Die Juristen und Ärzte waren zunächst Geistliche, bis allmählich das Laienelement unter ihnen stärker wurde. Die Zucht in den Kollegien der Lehrer und den Bursen der Studenten entsprach der der Klöster, wenn auch das Leben der Bursenbewohner in Wahrheit äußerst wild war und immer weltlicher wurde. In dem geistig-wissenschaftlichen Leben selbst war zwar eine größere Spezialisierung eingetreten, und von gewissen Ansätzen freierer Entwicklung werden wir sogleich hören. Aber im übrigen herrschte auch jetzt die kirchlich bedingte Universalität des Mittelalters. Noch war trotz der erwähnten Erweiterung die Summe des abendländischen Wissens so gering, daß es der einzelne durch alle Fakultäten hindurch bewältigen konnte, eben mit Hilfe des formal-logischen Betriebes, der lehrhaften Zustutzung in maßgebenden Kompendien, der philologischen Bearbeitung der Stoffe. Dem entsprach ein unkritisches, dogmatisches Aufnehmen. Letzten Endes war aber alles theologisch zugespitzt, in der Theologie gipfelte alles. Nur in Gott hat das irdische Wissen Wert, die Philosophie soll die göttlichen Wahrheiten beweisen, die Natur ist nur als Niederschlag der großen Taten Gottes und seiner Weisheit aufzufassen. Höchst bezeichnend ist die Natursymbolik, zugleich ein Beweis für das Spielerisch-Äußerliche des mittelalterlichen Denkens. Alle Dinge auf Erden haben ihre symbolische, zunächst an die Bibel geknüpfte, christlich-moralische Bedeutung, Tiere, Pflanzen, Steine. Die entsprechenden Eigenschaften, die man wesentlich mit ihnen verbunden glaubte, spielten dann in der praktischen Anwendung des Wissens eine Rolle. Noch immer ist eben mit dem Geistesleben ein übersinnlich gerichteter Zug innig verknüpft.

Auf der anderen Seite darf man das Geistesleben des ausgehenden Mittelalters auch nicht unterschätzen. Die Universitäten sind wie das ganze höhere Geistesleben von der Scholastik (s. S. 103 f.) beherrscht. Aber diese Philosophie des[146] Mittelalters trug immerhin schon wissenschaftlichen Charakter, bedeutete Ausbildung systematischen Denkens und lehrte Abstraktes fassen. Und wenn schon die Kirche überhaupt der Wissenschaft in ihrer damaligen Form keineswegs feindlich war, vielmehr gerade durch ihre Pfründen, obwohl unabsichtlich, manchem die äußere Möglichkeit gab, ganz den Studien zu leben, so waren auch die von der Kirche ausgegangenen und behüteten Universitäten, die ja selbständige privilegierte Körperschaften waren, schon geordnete Vertretungen der Wissenschaft. Es waren geistige Gemeinschaften und Verkörperungen geistiger Bestrebungen auch über das theologische und das weltlich-praktische Bedürfnis hinaus. In der Scholastik selbst, die überhaupt nichts Starres und Gleichförmiges ist, entwickelte sich ferner im späteren Mittelalter eine freiere Richtung, die zu großen Spaltungen führte. In dem entschiedenen Nominalismus, der in den allgemeinen Begriffen »Namen« und nur in den Einzeldingen Wirklichkeit sah, der die Glaubensgeheimnisse nicht mehr für beweisbar hielt, kam man wenigstens theoretisch zur Unvereinbarkeit von Glauben und Wissen, also zum Gegenteil des eigentlichen Zieles der Scholastik. Man arbeitete zum Teil mit einer damals übrigens nicht zuerst auftauchenden Annahme, die andererseits erst in nachscholastischer Zeit schärfer formuliert wurde, mit der »zwiefachen Wahrheit«, der theologischen und der philosophischen. Aber damit wäre die Theologie nicht mehr, was man doch erstrebte, philosophisch beweisbar und die Scholastik in ihrem Kern vernichtet gewesen. In Wirklichkeit blieb überhaupt trotz mancher kritischer Keckheiten und ernsterer Reibungen das Dogma unangetastet. Man begnügte sich mit der äußerlichen, dialektischen Betätigung der Vernunft, mit der formalen Logik, und jenen Gefahren suchte die spätere Scholastik mit einem um so schrofferen kirchlichen Eifer zu begegnen.

Gewiß mußte die scholastische Methode schon der Theologie und Jurisprudenz, noch mehr der Philosophie auf die Dauer wirkliche Fortschritte unmöglich machen, gewiß war sie, der Gegensatz zu exakter, empirischer Forschung, vor allem ein Hemmschuh für die Naturwissenschaften und die Medizin. Aber man muß doch feststellen, daß es in diesen Jahrhunderten weder an wissenschaftlicher Beobachtung noch an praktischen Fortschritten gefehlt hat, worauf ja auch schon die arabischen, die Antike neu belebenden naturwissenschaftlich-medizinischen und philosophischen Einflüsse hingeleitet hatten. Mit dem Namen des Albertus[147] Magnus verbinden sich doch nicht nur Phantasterei und Aberglaube, vielmehr deutliche Anfänge eigener Beobachtung und kritischen Unterscheidungsvermögens, mit dem des Roger Bacon immerhin schon Andeutungen der induktiven Methode. Es hat sodann, wie Dietrich Schäfer hervorhebt, das Mittelalter die Erweiterung der Erdkenntnis, »den gewaltigen Aufschwung, mit dem es abschloß, aus sich herausgenommen, die Alten weit überflügelnd und ohne nennenswerte antike Beeinflussung«. Ganz zweifellos erhob sich auch die Heilkunde auf eine höhere Stufe. Von dem aus der antiken Überlieferung seine medizinische Weisheit schöpfenden Klostergeistlichen unterschied sich der studierte Arzt, zunächst noch meist aus geistlichem Stande, freilich insofern wenig, als auch er sich vor allem auf Buchgelehrsamkeit stützte. Eben deswegen fühlte er sich über den alten, teils empirischen, teils abergläubischen volkstümlichen Heilbetrieb, namentlich von Frauen, hoch erhaben, ebenso über die umherziehenden Quacksalber, aber auch über die ungelehrten niederen Wundärzte, die gerade in den Städten bald zahlreich wurden und vor allem dem damals so wichtigen Aderlaß oblagen: er suchte deren Betrieb auch bald zu beschränken. Aber andererseits bedeutete der neue Ärztestand doch einen wirklichen Fortschritt. Zuerst hatten die Höfe fremde studierte Ärzte, häufig und lange noch Juden, herangezogen, dann förderten allmählich die Städte die Ausbildung dieses Standes, zumal seit der Entwicklung von Universitäten in Deutschland. Stadtärzte begegnen schon im 14. Jahrhundert, damals auch schon Ordnungen und Taxen für sie. Immer stärker wurde auch das Laienelement unter ihnen.

Das war nun weiter ebenso bei den Juristen der Fall, deren Zahl immer größer wurde. Fürsten und Städte brauchten sie vor allem für die Kanzlei, den Mittelpunkt der weltlichen Verwaltung, einst die Domäne der Geistlichen. Die Stadtschreiber, gewissermaßen die Kanzler der Städte und im Gegensatz zu den Inhabern der städtischen Ehrenämter besoldet, die eigentlichen Träger der Verwaltungsgeschäfte, ergänzten sich andererseits auch bald aus den »Artisten«, der anfangs mehr propädeutischen Fakultät der freien Künste, aus der auch die Lehrer der Lateinschulen hervorgingen. Durch die Beherrschung der Kanzlei hat sich nun früh eine Verbindung der Juristen mit der Verwaltung, aber auch mit der Politik ergeben, und dies Moment erklärt auch den immer stärkeren Zudrang des Adels zum juristischen Studium. Die Wichtigkeit der Juristen führt auf die neue Bedeutung[148] des Römischen Rechts, das ja freilich für das kanonische Recht immer die Grundlage gewesen war. Die Gründe seiner Übernahme, sicherlich vor allem durch die jetzt starken Kultureinflüsse Italiens (s. S. 149) bewirkt, seien hier nicht erörtert. Die Begünstigung der Juristen durch die Fürsten schrieb sich zum Teil wenigstens aus der von ihnen erwarteten Unterstützung des fürstlichen Machtstrebens, vor allem aber aus ihrer Brauchbarkeit im neuen Beamtenstaat her. Im übrigen war die Zeit für ein Berufsrichtertum auch in Deutschland gekommen, und eine heimische Rechtswissenschaft gab es nicht. Man zog die Juristen langsam aus dem Rat in das kaiserliche und die fürstlichen Hofgerichte. Damit nahm die Anwendung des römischen Rechts in schwierigen Fällen gegenüber dem zersplitterten deutschen Recht zu. Die Juristen eroberten schließlich die Gerichte überhaupt, und man »reformierte« die Land- und Stadtrechte im römischen Sinne.

Diese Wandlungen vollzogen sich langsam seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. 1495 nahm das Reichskammergericht das römische Recht an. Aber wenn die Juristen in ihrem Kulturbewußtsein auf das »rohe, bäurische« Recht der Laien herabsahen, so hing das Volk an diesem letzten Rest seiner öffentlichen Betätigung, an dieser Schöpfung seines Geistes und Wesens noch zäh genug, um nicht über den Wandel in eine tief erregte Stimmung zu geraten. Der übrigens nicht zu übertreibende Volkshaß richtet sich freilich weniger gegen die römischen als die Juristen, die Berufsrichter an sich. Die beklagte Rechtsunsicherheit wurde zunächst nur noch größer. Die früheren, für die niederen Schichten besonders empfindlichen Mißbräuche, vor allem die Käuflichkeit der Richter, schwanden auch jetzt nicht; gerade der des neuen Rechtes Kundige konnte sein Schäfchen ins Trockene bringen, ebenso, wer rechtskundig tat, wie der Gerichtsschreiber oder der Fürsprech, der Advokat.

Aber die Juristen haben für jene Zeit noch eine andere Bedeutung gehabt, wieder im Sinne der Einbürgerung einer im Grunde volkstumsfeindlichen höheren Kultur: sie waren die ersten Vermittler und in Verbindung mit ihrer Kanzleiherrschaft die ersten Förderer der geistigen Bewegung des Humanismus. Sie, die um ihrer besseren Ausbildung willen und bei ihrer starken Begehrtheit in immer größerer Zahl nach Italien zogen, selbst als es schon deutsche Universitäten gab, wurden hier von der humanistischen Strömung ergriffen, die besonders auch die[149] oberitalienischen Universitäten erobert hatte. Es handelt sich zunächst nur um eine mehr äußerliche literarische Beeinflussung in Richtung des Stils, der formalen Kultur, nicht um Annäherung an das Wesen der eigentlichen Renaissance. Diese faßt man neuerdings zutreffend überhaupt nicht einfach als Neubelebung antiken Geistes auf – wie ja auch schon Burckhardt neben der Antike als zweiten Faktor den italienischen Volksgeist hinstellte –, sondern als reifste Frucht der mittelalterlichen Kultur selbst, als Leistung der christlichen wie der volkstümlichen Kräfte des Mittelalters. Die stärkere Wendung zur Antike, die ja (vgl. S. 64) immer ein belebendes Element des Mittelalters gewesen ist, trug die Keime zu einer neuen, unmittelalterlichen Entwicklung in sich, aber sie ist doch ein Fortschritt, den das Mittelalter selbst machte. Man hat z. B. von französischer Seite Frankreich, das alte Land des »studium«, als eigentlichen Ausgangspunkt der Renaissance hingestellt, und sicherlich sind auch gewisse Elemente derselben zuerst dort entwickelt worden. Die stärkere Hinneigung zur Antike war aber in letzter Linie die Folge der arabischen Befruchtung, und dieser Zug mußte dann in Italien um so mehr hervortreten, als überhaupt das Bildungsübergewicht Frankreichs auf das mächtig seine Kräfte entwickelnde Italien überging, vor allem im 15. Jahrhundert, und dieses Land überdies durch die Denkmäler der Antike auf seinem Boden, durch seine Sprache und das niemals erstorbene römische Recht noch mit der Antike wirklich zusammenhing. Dieser Zusammenhänge wurde man sich bei dem vermehrten Studium der Antike stärker bewußt, für deren Geist aber um so empfänglicher, als die hohe geldwirtschaftliche Entwicklung Italiens nicht nur die äußeren Lebensverhältnisse, sondern auch Weltanschauung und Lebensauffassung auf einen Stand brachte, der sich dem der Antike wenigstens näherte. In der entsprechenden Gestaltung wirkte das Studium der Antike von Italien aus auf die übrigen Länder dann wie eine neue Offenbarung, auf Deutschland freilich, wie gesagt, zunächst nur nach der formalen Seite. Hatte Italien auf Deutschland schon durch die Folgen der Kaiserpolitik und die Römerzüge vielfältige Wirkung geübt, machte dann der immer regere Handelsverkehr nicht nur den deutschen Kaufmann zum Schüler des italienischen, sondern beeinflußte auch wie der sonstige Verkehr, z. B. infolge der ausgedehnten Söldnerdienste deutscher Ritter, die äußere Kultur mehr und mehr, so wurde auf geistigem Gebiet Italiens Einfluß an Stelle des französischen immer maßgebender.[150] Der Zug der Studenten ging, wie gesagt, immer stärker nach Italien, ohne daß aber derjenige nach Frankreich aufhörte.

So war die Übertragung der humanistischen Strömung, mit deren italienischen Trägern man zum Teil auch durch den Aufenthalt einiger derselben in Deutschland selbst bekannt wurde, etwas durchaus Natürliches. Sie knüpft indes eben vor allem an die in Italien gebildeten Juristen. Es wurde insbesondere die zum Teil mit Juristen besetzte Kanzlei zur Pflege- und Vermittlungsstätte der neuen, wesentlich formalen Richtung. Auch in Italien pflegten ja gerade in ihr die Humanisten die Eloquenz, den neuen klassischen Stil. Ein italienischer Humanist, der bekannte Aeneas Sylvius, war dann auch in Deutschland selbst in der kaiserlichen Kanzlei tätig und von großem Einfluß auf manchen Deutschen. Die formale Seite hat aber auch auf jenes geistlich-gelehrte Studium, das in der Theologie gipfelte, gewirkt. Vielleicht im Zusammenhang mit einer stärkeren Berücksichtigung der antiken Autoren schon seitens der älteren Schulwissenschaft ist vor allem in den Niederlanden eine durchaus religiös gerichtete, aber den klassischen Autoren zugewandte Bildung erblüht, die auch den deutschen Nordwesten und Westen beeinflußte und zugleich stark pädagogisch gerichtet war. Niederländischer und langer italienischer Aufenthalt haben auf den trefflichen Rudolf Agricola gewirkt, der neben gewissen abenteuerlichen Wanderaposteln der Mitte des 15. Jahrhunderts, wie Petrus Luder, zuerst den Humanismus um seiner selbst willen vertrat und ihm in Heidelberg außerhalb der Universität eine Stätte gründete. Die Seele des neuen Lebens, das sich dort entfaltete – daneben wären noch andere südwestliche kleinere weltliche und geistliche Höfe zu nennen –, war der Kanzler Johannes v. Dalberg, der spätere Freund Celtes’ und Reuchlins. Wichtig wurde dann vor allem die seit etwa 1470 beginnende Eroberung einzelner Universitäten durch die Humanisten, was zunächst nichts weiter besagte als Fürsorge für den Unterricht in der neuen Eloquenz, besonders auch im Interesse der Kanzleien. Die Pflege reinen Lateins erstreckte sich zugleich immer auf die Dichtung – diese war noch wie früher ein Betätigungsfeld der gelehrten Bildung –, bedeutete also überhaupt eine neue literarische Richtung.

Aber es handelte sich doch mehr und mehr nicht nur um eine neue Form, sondern um einen neuen, an der Antike genährten Geist, der auch das Leben der jüngeren Humanisten »modern«[151] gestaltete. Mit dem jugendlichen Hochmut einer neuen, zukunftsfreudigen Richtung, mit stolzer Verachtung des Alten, mit radikaler Kritik und großen Tiraden ging diese jüngere Schule vor. Es kam etwa seit 1500 an den Universitäten naturgemäß zu scharfen Kämpfen, zur Abwehr der Eindringlinge, die im übrigen auch ihre ernsten Ziele hatten. Es ging doch schon um die Beseitigung des bisherigen scholastischen Bildungsideals. Insbesondere handelte es sich jetzt um die Neugestaltung der Artistenfakultäten (s. S. 147). Um 1520 hatte die neue Strömung, gefördert von Fürsten und Städten und von der Jugend begrüßt, in der Hauptsache über den verzopften Scholastizismus gesiegt. Ein beachtenswertes Moment ist übrigens die Einfügung des Griechischen in den Studienkreis. Früher als die Universitäten wurden zum Teil die Lateinschulen humanistisch gefärbt. Im ganzen war es in Deutschland eine wesentlich gelehrte, dabei stark formale und äußerliche Bewegung, keine allgemeinere geistige Umwandlung, wenigstens nicht zunächst. Der freiere naturwissenschaftliche Geist schon des 16., dann namentlich des 17. Jahrhunderts, die verstandesmäßige Aufklärung, die Ideale der Freiheit und Humanität, der schönen Bildung im 18. Jahrhundert und die politischen Ideale dieses und des 19. Jahrhunderts sind jedoch teilweise Folgeerscheinungen der Neubelebung der antiken Kultur. Was aber die notwendige Herbeiführung einer Verweltlichung betrifft, so hat der Humanismus die in ihm steckenden Keime dazu vorerst nicht entwickeln können. Er sah wohl das moderne, in der Antike ruhende Ideal des freien Menschentums, aber es lag ihm zu fern. Er ist im 16. Jahrhundert zum Diener der Theologie geworden, wie ihn ja auch die Kirche in seinen Anfängen nicht bekämpft hat. Die Antike hat ferner einen neuen patriotischen, nationalen Geist in manchem Humanisten erweckt, wozu auch der Gegensatz zu den hochmütigen italienischen Leuchten beitrug, aber im Grunde bewahrte der Humanismus die Internationalität mittelalterlichen Geisteslebens, die auf das gemeinsame Band der Kirche zurückgeht. Er hat den Verstand von der äußerlichen Übung seitens der Scholastik auf die Betrachtung der Menschen und des Lebens gelenkt, und ein Mann wie Erasmus zeigt auch den höheren Dingen gegenüber rationalistische Haltung (s. S. 155 f.). Der Humanismus hat auch einen neuen kritischen Geist entwickelt, der aber zunächst auf die gelehrte Kritik und die Weckung geschichtlichen Sinnes sich beschränkte, im übrigen ebenso von anderen Strömungen der Zeit geweckt war. Er hat[152] die Bildung durch tieferes Eindringen in die Schätze der Antike stofflich erweitert und die Lebensauffassung und die Moral, ohne sie auf neue Grundlagen zu stellen, gewandelt und vertieft. Er hat endlich auch eine individuellere Geisteshaltung gefördert, aber zum Teil nur infolge seiner bewußten Weltlichkeit und der Wertschätzung eigener geistiger Kräfte. Wir haben ferner bereits (S. 74) festgestellt, daß das Mittelalter schon lange vorher solcher Haltung keineswegs bar ist. Gerade zu Ausgang desselben wirkten überdies auch andere Strömungen und die Zeitverhältnisse in der bezeichneten Richtung[11]. Zu einem schrankenlosen Individualismus nach italienischem Muster sind im übrigen unter den Humanisten selbst nur wenige radikale Köpfe gekommen. Aber unterschätzen darf man die Wirkungen des Humanismus auch nicht. Die Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, ist sein Bestreben, sei es auch nur durch die äußeren Mittel der Eloquenz. Der Stolz auf die feine Bildung hat zugleich etwas Aristokratisches. Er wird aber später zu jenem volkstumsfeindlichen Bildungshochmut. Durch Latinisierung und Gräzisierung der Namen fällt man ganz aus dem Volkstum heraus. Es erfolgt eine Neubelebung der lateinischen Schriftsprache, ein neues Zeitalter des lateinischen Briefes setzt ein, der den deutschen freilich nicht mehr verdrängen konnte.

Das feinere Schönheitsideal, das die Humanisten literarisch-stilistisch pflegten, drang gegen den volkstümlichen Geist, der auch diese neuen Kulturmenschen zum Teil noch unter die derbe Volksart beugte, erst langsam durch: noch langsamer erobert dieses antik-südliche Formempfinden die noch durchaus volkstümliche Kunst, der dann freilich schließlich das Rückgrat gebrochen wurde. Das gehört nicht mehr in die Geschichte des Mittelalters. Niemals aber wurde diese künstlerische Renaissance von unserem Volk wirklich innerlich erfaßt. Sie entsprach dem äußerlichen Prunk, den die reichen Kaufherren und dann die wiederum zu kulturellen Mittelpunkten sich aufschwingenden Höfe entfalteten. Auch dieser neue Fürstenstaat, den das ausgehende Mittelalter entstehen sah, gehört in seiner ausgebildeten, unvolkstümlichen Art nicht mehr in das Mittelalter und ebensowenig die völlige Herabdrückung des Standes, der der älteste Born des Volkstums war, des Bauern, der ja allerdings in der höfischen Zeit schon der Gegenstand des ritterlichen Spottes gewesen und[153] zu Ausgang des Mittelalters ein solcher für den auf seine Zivilisation stolzen Städter geworden war. Aber zu Ende des Mittelalters war er trotz allen Druckes noch kraftvoll genug wie das niedere Volk überhaupt. Aus solchen Kreisen stammte Luther.

Die bestimmende Macht des Mittelalters war die abendländische Kirche. Mit der Erschütterung dieser überragenden Macht geht das Mittelalter zu Ende. Hat die Reformation diese entscheidende Bedeutung gehabt? Insofern sie die Universalität dieser Kirche, ein wesentliches Moment ihrer Herrschaft, zerstörte, gewiß. Diese Universalität war schon durch die nationalstaatliche Machtentwicklung im Westen und Norden Europas gefährdet, und die aufsteigende Entwicklung der deutschen Landesherren hatte auch bereits gewisse Selbständigkeitsbestrebungen in kirchlicher Hinsicht gezeitigt. Es war kein Zufall, daß die Reformation mit den Landesherren paktierte. Deren Macht verlieh der großen Spaltung Dauer und Festigkeit. Der kräftigere Staat hat dann auch in der Richtung das eigentlich mittelalterliche, d. h. kirchliche Zeitalter zu Grabe zu tragen geholfen, als er, wie schon die Städte, die Macht, die die Kirche über das gesamte Leben ausübte, ihre weltlich-politisch-kulturelle Wirksamkeit mehr und mehr beschränkte. Das ausgehende Mittelalter war überhaupt auf dem Wege zu einer Säkularisation des Lebens. Aber die Reformation ist in Wahrheit doch der Hemmschuh der weiteren Säkularisation gewesen, und das Mittelalter ist mit ihr im Grunde nicht zu Ende gegangen. Trotz der kirchlichen Herrschaft hatte es ja ein volkstümliches weltliches Leben immer gegeben. Aber die bäuerlich-kriegerische Laienkultur des frühen Mittelalters zunächst war doch in allen höheren Beziehungen von der Kirche geleitet. Ein erstes Freimachen bedeutete dann die ästhetisch-gesellschaftliche Kultur des Rittertums. Wichtiger wurde die breitere Laienkultur des auf wirtschaftliche Interessen gegründeten Bürgertums mit der Durchsetzung des modernen Elements der Geldwirtschaft und der Zerstörung des Lehnswesens, der bisherigen sozialen Hauptgrundlage. Besonders durch den Handel und Verkehr war auch das Gebiet der weltlichen Interessen immer vielseitiger geworden. Zu dem Krieger und dem Bauern hatten sich der Handwerker und vor allem der Kaufmann mit seinem durchaus weltlichen Gesichtskreis gesellt. Mehr noch als die Städte, die neuen Mittelpunkte einer allseitigen Kulturpflege, war dann der territoriale Staat infolge der durchgreifenderen Zusammenfassung äußerer Kräfte im Gegensatz zu dem längst verfallenen[154] feudalen Gesamtstaat fähig, Träger höheren weltlichen Kulturlebens zu sein. Bereits hatten sich auch die Anfänge eines neuen weltlichen Beamtenstandes entwickelt, der höhere Kräfte aus Adel und Bürgertum zu nicht von der Kirche bestimmten Aufgaben heranzog. Stadt- und Staatsverwaltung weckten ein Gefühl der Verantwortlichkeit ohne kirchlichen Hintergrund; ein neuer Gesichtspunkt war das allgemeine Wohl um seiner selbst willen. In der Lebensauffassung hatte sich in der ritterlichen wie in der bürgerlichen Kultur ein von der letzteren vergröbertes Ideal des Weltgenusses dem kirchlich-asketischen Ideal nachdrücklich entgegengestellt.

Auch die Kunst löste sich aus ihrer kirchlichen Bindung. Schon im aristokratischen Kulturzeitalter war sie mehr und mehr in den Dienst des Luxus der Herren getreten, und derjenige der reichen Städter erweiterte noch diese weltlichen Aufgaben. Es wurde überhaupt die städtische Entwicklung der Geldwirtschaft und der immer ausgebildeteren technischen und gewerblichen Arbeit folgenreich, insbesondere für die führende Baukunst. Schon in der romanischen Zeit war die Bedeutung der Laien stärker geworden, je mehr die technischen Ansprüche stiegen. Noch entscheidender war der Laienanteil bei der Gotik. Die reiche Ausarbeitung der Bauten zeigt die stärkere Rolle der Technik. Dehio weist treffend darauf hin, daß dieser Stil dreimal weniger Material, aber zehnmal mehr Arbeit verlangt als der romanische. Die meist namenlosen Meister der gotischen Bauten sind auf dem Boden internationaler technischer Überlieferung erwachsen, auf dem Boden vor allem des fortgeschrittenen städtischen Handwerks. Auf diesem Boden erwuchsen auch die großen Maler und Bildhauer des ausgehenden Mittelalters. Die Künstler waren durchaus Handwerker, daher die Volkstümlichkeit ihrer Kunstübung, daher freilich auch eine gewisse Bürgerlichkeit und Schulmäßigkeit, über die hinaus nur einzelne zu höherer Freiheit, zu idealerem Schwung gelangten. Das bürgerliche Leben selbst erweitert im übrigen die Aufgaben der Kunst, insbesondere der Malerei (Porträtmalerei u. a.). – Noch wichtiger wurde die geistige Entwicklung. Seit dem 12. und 13. Jahrhundert war die Laienbildung in immer weitere Kreise gedrungen. Es war freilich nur die geistlich bestimmte Bildung, aber das Bildungsmonopol der Geistlichen war gefallen, die Schranken zwischen Geistlichen und Laien waren niedergebrochen. Mehr und mehr kamen in diese Bildung dann rein weltliche Bestandteile, denen sich der Klerus selbst nicht versagte; vor allem[155] beobachteten wir die neue Bedeutung des Römischen Rechts. Die für das ganze Mittelalter so wichtige Antike gewinnt überhaupt über die kirchliche Zurechtstutzung hinaus Geltung, und an ihre Weltlichkeit knüpfen sich zunächst durch den Humanismus trotz seines formalistischen Charakters wenigstens die Ansätze zu einem neuen, freien, zum Teil kaum noch an das Christentum gebundenen geistigen Lebensinhalt (s. S. 151). Der geistige Aufschwung der Laien im Zusammenhang mit den fortgeschritteneren Erfordernissen des Lebens äußert sich weiter in den Anfängen eines weltlichen Gelehrtenstandes mit besonderen Berufszielen.

Und endlich hatte das Laientum auch auf das religiöse Gebiet selbst hinübergegriffen. Daß die religiöse Wahrheit nur in den Lehren der Kirche beschlossen sei, war die charakteristische Auffassung des Mittelalters. Dagegen hatten sich immer neue Sektenbildungen und Ketzerbewegungen ständig erhoben: aber die Kirche blieb siegreich, zumal sie seit der stärkeren Zunahme solcher Bewegungen (s. S. 129) zu den scharfen Abwehrmaßregeln der Inquisition und der Ketzergerichte gegriffen hatte. Die allgemeine Opposition des ausgehenden Mittelalters gegen die Mißstände innerhalb der Kirche, vor allem gegen das geldliche Aussaugungssystem der Kurie hatte mit einer Abwendung von der Kirche selbst, die ja viel zu sehr mit dem ganzen Leben verknüpft war, nichts zu tun. Der gewaltige Haß gegen die Pfaffen und ihre Sittenlosigkeit namentlich ist eine rein soziale Erscheinung und hat seinen Grund in der seit langem beklagten und von den kirchlichen Reformern selbst immer wieder bekämpften Verweltlichung der Kirche, die wieder mit dem neuen weltlich-politisch-juristischen System der Papstkirche und dem gewaltigen Besitz der Kirche zusammenhängt. Die Streitigkeiten der Städte mit den kirchlichen Behörden sind nur die Folge des Ernstes der städtischen Verwaltung, des Aufsichts- und Regelungsrechts der Städte wie des Grundsatzes der gleichen bürgerlichen Rechte und Pflichten: deshalb suchten die Städte das Schulwesen, die Armen- und Krankenfürsorge in die Hand zu bekommen, deshalb bekämpften sie den gerichtlichen Sonderstand der Geistlichen und ihre Ansprüche auf Freiheit von Abgaben und Ungeld. Sonst aber herrschte gerade in den Städten eine übertriebene äußere Kirchlichkeit (s. S. 129 f.). Selbst bei den Vertretern der neuen geistigen Bewegung, den Humanisten, ist von wirklicher Kirchenfeindlichkeit trotz allen Spottes über den faulen und dummen Klerus nicht die Rede, höchstens bei den späteren von einem religiösen Indifferentismus. Ansätze zu einem[156] gewissen Heidentum sind freilich, wie gesagt, ebenso wie die Anfänge verstandesmäßiger Aufklärung bei ihnen vorhanden. Aber Ketzer wollten sie nicht sein und ja nicht mit der religiös aufgeregten Masse gehen. Mit Luthers erstem Auftreten gegen den Papst waren sie einverstanden wie alle Welt, vor allem auch mit seiner Wendung gegen die Klöster und die Askese. Bald aber wurden sie in der Mehrheit Gegner der Bewegung: Luther dachte ja vielfach unfreier, kirchlicher als die damaligen Päpste. Auf Befreiung von einem geistigen Bann zielte er durchaus nicht hin, sie selbst freilich auch kaum.

Luther wieder knüpfte an den Humanismus nur in Verwertung der neuen philologischen Kritik und Sprachkenntnis wie in dem Zurückgehen auf die Quellen an. Sein Ziel war neben der allgemein geforderten Beseitigung der Verdorbenheit und der äußeren Mißstände der Kirche ihre innere Besserung, weil er ein Herz für die Kirche hatte. War er in jener Beziehung der gewaltige Stimmführer des allgemeinen Hasses gegen die römische Kurie, sah die gärende sozial-religiöse Massenbewegung der Zeit in ihm den ersehnten Führer, so war er auch als Reformer nur der Vollender längst vorhandener Strömungen. Abgesehen von dem allgemeinen geistigen Unbehagen und der beginnenden Skepsis der Gebildeten, herrschte doch auch im Gegensatz zu den abergläubischen Aufregungen und Stimmungen der Masse, aber in einem gewissen Zusammenhang mit dem beobachteten tieferen religiösen Bedürfnis derselben besonders in Deutschland ein verständiger systematisch-reformerischer Geist auch innerhalb der geistlichen Kreise, vor allem bei den Gelehrten der Universitäten. Er richtete sich, nicht ohne den Einfluß nationaler Abneigung, namentlich auch gegen die Kurie und bekundete sich in einer starken reformerischen Literatur ebenso wie in den großen Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts. Selbst in der Kritik der Lehre gefielen sich später einzelne Gelehrte, vor allem manche der Kurie deshalb verdächtige Humanisten. In dieser Beziehung hatten radikalere Geister aber längst tiefer gegriffen, Wicliff und vor allem Hus, der völlig mit der römischen Kirche brach. Und eben an die Wurzeln des Systems griff nun auch Luther: er mußte zum Abfall kommen. Aber weiter war Luther außer von jenem allgemeinen religiösen Drang von der echt deutschen, innerlichen religiösen Stimmung ergriffen, die bereits die Mystiker im Gegensatz zur äußeren Kirche gepflegt hatten. Die innerliche Versenkung in Gott unmittelbar, das unmittelbare Verhältnis des Individuums zu Gott,[157] ist das Wesentliche auch bei Luther, der alles allein auf das Wort Gottes setzt, ohne menschliche, priesterliche Autorität. Das germanische Persönlichkeitsgefühl, immer (s. S. 74 f.) lebendig und stark, jetzt (s. S. 152) überhaupt mächtig angeregt, dringt nun auch in die von der Kirche behütete christliche Glaubenswelt. In der Einsetzung der Gemeinde als Trägerin der christlichen Ordnung liegt gleichzeitig der Sieg des Laientums auch innerhalb der Kirche.

Auf allen Gebieten war so die jahrhundertelange Auseinandersetzung des Volkstums mit den fremden Kulturelementen zu einer gewissen Entscheidung gekommen. Das Deutsche, Antiromanische der Reformation liegt nicht in der Reformbewegung selbst, auch nicht im Gegensatz zur Papstkirche – diese Strömung ist keineswegs auf Deutsche oder Germanen beschränkt –, sondern in dem innerlichen und dem selbständig-individuellen Charakter des Protestantismus, in dem Betonen der Persönlichkeit. Aus diesem deutschen, echt volkstümlichen Kern der Reformation entwickelte sich dann später der Gegensatz zum Romanismus noch schärfer und bewußter. Schließlich ist es auch bezeichnend, daß gerade die germanischen Völker überhaupt zum Abfall von der römischen Kirche kamen. An sich war der Bruch mit der mittelalterlichen Kirche die notwendige Folge der größeren geistigen Reife der Menschen. Daß nun eben die Deutschen zu einer tieferen geistigen Religion, freilich nur grundsätzlich, kamen, war eine erste für die Gesamtkultur wichtige höhere Kulturtat. Grundsätzlich war von Luther, gegenüber der Askese, auch das Recht der Welt festgestellt, waren Religion und Welt reinlich geschieden, freilich sollte die letztere durchaus von christlichem Geist erfüllt sein. Die tatsächliche Entwicklung war aber die, daß die Geistigkeit arg verhüllt ward, daß die Innerlichkeit von einer spitzfindig-dogmatischen äußerlichen Kirchlichkeit zurückgedrängt, daß die individuelle Freiheit und die Weltlichkeit von den theologischen Interessen und kirchlichem Ernst überwuchert, daß endlich die Volkstümlichkeit auch seitens der neuen Kirche durch ihre gelehrte Färbung wie durch ihren Bund mit dem neuen Staat bedrängt wurde.

Fußnote:

[11] Vgl. Steinhausen, Gesch. d. deutschen Kultur II², S. 194 f.


[158]

Register.


Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig

Der deutsche Staat des Mittelalters

Ein Grundriß der deutschen Verfassungsgeschichte von Geheimrat Professor Dr. G. v. Below

2 Bände. 1. Band 407 Seiten. Gebunden M. 10.—
2. Band in Vorbereitung.

Das vorliegende Werk, welches als eine Einführung in die Fragen der deutschen Verfassungsgeschichte jeden Historiker in Anspruch nimmt, wendet sich zugleich an die Nationalökonomen und Juristen, und von diesen nicht bloß an die Rechtshistoriker, sondern nicht weniger an die Vertreter eines systematischen Staatsrechts, für welches es zweifellos wichtige Beobachtungen zur Verfügung stellt. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die so oft erörterte Frage, ob dem Mittelalter ein öffentliches Recht bekannt gewesen sei, ob die ältere deutsche Verfassung staatlichen Charakter gehabt habe. Sie wird zum erstenmal in umfassender Weise, literargeschichtlich wie systematisch untersucht. In erster Linie werden die Verhältnisse des Mittelalters behandelt, aber die sachlichen Zusammenhänge nötigen den Verfasser, auf die Verfassungsverhältnisse der Urzeit wie die der neueren Jahrhunderte mit einzugehen. So bedeutet das Buch einen Gang durch die deutsche Verfassungsgeschichte mit einem bestimmten Zielpunkt.

Der vorliegende erste Band enthält die Literaturgeschichte des Problems, einen knappen Überblick über die wirtschaftlichen Grundlagen der mittelalterlichen Verfassung und die Darstellung eines Teils der Reichsverfassung. Es sind eingehend behandelt das Reichsgebiet und seine Teile, der Herrscher, der König und die Reichspersönlichkeit, der Staatszweck. Die Erörterung der bedeutsamen Tatsache der Durchbrechung des Reichsuntertanenverbandes gibt den Anlaß zu einer großen Schilderung des Feudalismus und seiner Ursachen. Mit einer zusammenfassenden Würdigung der Kaiserpolitik im Mittelalter schließt dieser Band.

Deutsche Kaisergeschichte

im Zeitalter der Salier und Staufer

Von Prof. Dr. K. Hampe. 3. Aufl. 302 S. In Lbd. M. 4.40

»Ein prächtiger, wohlgelungener Versuch, ein Lern- und Lesebuch für ein Vierteljahrtausend deutscher Geschichte zu schaffen. An wissenschaftlichen zusammenfassenden Lehrbüchern der deutschen und mittelalterlichen Geschichte herrscht wirklicher Mangel … Aber zum Lesen locken beide nicht allzuviel. Darauf soll programmäßig diese neue Geschichtsbibliothek hinarbeiten, und ein Muster ist nach dieser Hinsicht Hampes Erstlingsband … Seine Darstellung wirkt auch dort – ich habe es an mir selbst erprobt –, wo der Fachmann alles zu kennen glaubt: Tatsachen, Urteile und Probleme. So selbstverständlich im Grunde die Disposition erschien, der Verfasser weiß auch hier wie bei der Geschichte Friedrichs I. eigene Wege zu wandeln. Die Form seiner knappen, quellenkundlichen Einleitungen der einzelnen Abschnitte wird in ihrer Übersichtlichkeit den Examenskandidaten Freude machen … Es ist keine Phrase, wenn ich sage, ich erwarte mit großem Interesse und mit einer gewissen Spannung von H. die fernere Darstellung des ausgehenden Mittelalters.«

H. Finke, Literarische Rundschau.

Deutsche Geschichte

vom westfälischen Frieden bis zum Untergang des römisch-deutschen Reiches.

Von Prof. Dr. O. Weber. 212 S. In Leinenb. M. 3.40

»Diese vorzügliche Arbeit schildert in anschaulicher klarer Darstellung die Entwicklung der deutschen Geschichte in der Zeit zwischen dem Ende des großen Krieges und der Auflösung des römisch-deutschen Kaiserreiches. Dem Plan der Sammlung entsprechend ist der politischen Geschichte ein überwiegender Platz eingeräumt, doch zugleich der Versuch gemacht worden, auch der künstlerischen und volkswirtschaftlichen Ausgestaltung des deutschen Volkes in dieser Zeit gerecht zu werden … Verfasser hat es vorzüglich verstanden, bei einer kurz zusammengedrängten Darstellung die richtige Verteilung einzuhalten und eine Scheidung von dem mehr oder minder Wichtigen vorzunehmen … Wir können W.s gehaltvolle Studie jedermann auf das angelegentlichste empfehlen.«

Lit. Zentralbl. f. Deutschland.


Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig

Geb. M. 1.80
Naturwissenschaftliche Bibliothek für Jugend und Volk
Geb. M. 1.80

Herausgegeben von Konrad Höller und Dr. Georg Ulmer

Reich illustrierte Bändchen im Umfange von 140 bis 200 Seiten

Der deutsche Wald. Von Prof. Dr. M. Buesgen. 2. Aufl.

»Unter den zahlreichen, für ein größeres Publikum berechneten botanischen Werken, die in jüngster Zeit erschienen sind, beansprucht das vorliegende ganz besondere Beachtung. Es ist ebenso interessant wie belehrend.«

Naturwissenschaftliche Rundschau.

Die Heide. Von W. Wagner.

»Alles in allem – ein liebenswürdiges Büchlein, daß wir in die Schülerbibliotheken eingestellt wünschen möchten; denn es gehört zu jenen, welche darnach angetan sind, unserer Jugend in anregendster Weise Belehrung zu schaffen.«

Land- u. Forstwirtsch. Unterrichtszeitung.

Im Hochgebirge. Von Prof. C. Keller.

»Auf 141 Seiten entrollt der Verfasser ein so intimes, anschauliches Bild des Tierlebens in den Hochalpen, daß man schier mehr Belehrung als aus dicken Wälzern geschöpft zu haben glaubt. Ein treffliches Buch, das keiner ungelesen lassen sollte.«

Deutsche Tageszeitung.

Vulkan und Erdbeben. Von Prof. Dr. Brauns.

Es ist erfreulich, daß hier eine erste Autorität des Faches ihre Wissenschaft in den Dienst der Allgemeinheit gestellt hat. Der behandelnde Stoff ist von allgemeinstem Interesse, besonders seit auch bei uns in Deutschland wiederholt größere Erderschütterungen sich einstellten und das Woher und Warum sich auf aller Lippen drängt.

Aus Deutschlands Urgeschichte. Von G. Schwantes. 2. Aufl.

»Eine klare und gemeinverständliche Arbeit, erfreulich durch die weise Beschränkung auf die gesicherten Ergebnisse der Wissenschaft; erfreulich auch durch den lebenswarmen Ton.«

Frankfurter Zeitung.

Aus der Vorgeschichte der Pflanzenwelt. Von Dr. W. Gothan.

Der Verfasser bespricht zunächst die geologischen Grundbegriffe, geht dann auf die Art der Erhaltung der fossilen Pflanzenreihe ein und schildert die Vorgeschichte der großen wichtigsten Gruppen des Pflanzenreiches der Jetzt- und Vorzeit.

Tiere der Vorzeit. Von Rektor E. Haase.

Dies Buch bietet Schilderungen einer Reihe besonders interessanter Vorwelttiere in Wort und Bild dar. Ohne sich auf trockene Beschreibungen einzulassen, erzählt es vor allem von dem Leben jener Tierwelt. Es ist nicht nur für die erste Einführung geeignet, sondern wird auch solchen Lehrern, die sich schon mit dem Gegenstande beschäftigt haben, eine Fülle neuer Anregungen bieten.

Die Tiere des Waldes. Von Forstmeister K. Sellheim.

»Die Sehnsucht nach dem Walde ist dem Deutschen eingeboren … Aber wie wenig wird er dabei das Tierleben gewahr, das ihn da umgibt. Da wird dieses Buch ein willkommener Führer und Anleiter sein.«

Deutsche Lehrerzeitung.

Unsere Singvögel. Von Professor Dr. A. Voigt.

»Mit nicht geringen Erwartungen gingen wir an Professor Voigts neuestes Buch. Aber als wir nur wenige Abschnitte gelesen, da konnten wir mit Freude feststellen, daß diesmal der Meister sich selbst übertroffen

Nationalzeitung.

Das Süßwasser-Aquarium. Von C. Heller. 2. Aufl.

»Dieses Buch ist nicht nur ein unentbehrlicher Ratgeber für jeden Aquarienfreund, sondern es macht vor allen Dingen seinen Leser mit den interessantesten Vorgängen aus dem Leben im Wasser bekannt …«

Bayersche Lehrerzeitung.

Reptilien- und Amphibienpflege. Von Dr. P. Krefft.

»Die einheimischen, für den Anfänger zunächst in Betracht kommenden Arten sind vorzüglich geschildert in bezug auf Lebensgewohnheiten und Pflegebedürfnisse – die fremdländischen Terrarientiere nehmen einen sehr breiten Raum ein.«

O. Kr. Pädagogische Reform.

Bienen und Wespen. Von Ed. Scholz.

»Das Interesse der Naturfreunde wendet sich meist den farbenprächtigen Schmetterlingen und Käfern zu. Darum freut es um so mehr, daß ein gründlicher Kenner einmal die Ergebnisse jahrelanger Beobachtung der Stechimmen in einem so volkstümlich geschriebenen Buche niederlegt«.

Landwirtschaftl. Umschau.

Die Ameisen. Von H. Viehmeyer.

»Viehmeyer ist allen Ameisenfreunden als bester Kenner bekannt. Von seinen Bildern kann man sagen, daß sie vom ersten bis zum letzten Wort der Natur geradezu abgeschrieben sind

Thüringer Schulblatt.

Die Schmarotzer der Menschen und Tiere. Von Dr. v. Linstow.

»Es ist eine unappetitliche Gesellschaft, die hier in Wort und Bild vor dem Leser aufmarschiert. Aber gerade jene Parasiten … verdienen von ihm nach Form und Wesen gekannt zu sein, weil damit der erste wirksame Schritt zu ihrer Bekämpfung eingeleitet ist.«

K. Süddeutsche Apotheker-Zeitung.

Die mikroskopische Kleinwelt unserer Gewässer. Von E. Reukauf.

»Nur wenige haben eine Ahnung von dem ungeheuren Formenreichtum und eine auch nur annähernd richtige Vorstellung von dem Wesen jener Mikroorganismen, die unsere Gewässer bevölkern. Als ein Schlüssel hierzu wird das vorliegende Bändchen vorzüglich geeignet sein.«

Deutsche Zeitung.

Unsere Wasserinsekten. Von Dr. G. Ulmer.

Für Freunde des Wassers, für Liebhaber von Aquarien ist dies Buch geschrieben. Es bietet eine Fülle von Anregungen und wird den Leser veranlassen, selbst hinauszuziehen in die Natur, sie mit eigenen Augen zu betrachten.

Aus Seen und Bächen. Von Dr. G. Ulmer.

Zusammen mit Ulmers Wasserinsekten bildet die Schrift ein kleines Lehrbuch der Hydrobiologie. Der erste Teil bringt in reichillustrierten Einzeldarstellungen das niedere Tierleben unserer Binnengewässer zur Anschauung. Der zweite Teil handelt von dem Tierleben der einzelnen Gewässerformen, mit besonderer eingehender Berücksichtigung des Plankton.

Wie ernährt sich die Pflanze? Naturbeobachtungen draußen und im Hause. Von O. Krieger.

Entgegen dem alten Brauche, den Tätigkeitstrieb der Jugend in die Bahnen des Naturaliensammelns zu lenken, will dies Buch den Leser zu einer selbsttätigen Beschäftigung mit der Natur anleiten. Durch Wald und Feld, durch Wiese und Garten wird er geführt, um Beobachtungen zu sammeln und mittels einfacher Vorrichtungen Versuche anzustellen.

Niedere Pflanzen. Von Prof. Dr. R. Timm.

»In dieser Weise führt das kleine Büchlein den Leser in die gesamte Welt der so mannigfachen Kryptogamen ein und lehrt ihn, sie verständnisvoll zu beobachten.«

Naturwissenschaftliche Rundschau.

Häusliche Blumenpflege. Von Paul F. F. Schulz.

»Der Stoff ist mit großer Übersichtlichkeit gruppiert, und der Text ist so faßlich und klar gehalten, außerdem durch eine Fülle von Illustrationen unterstützt, daß auch der Laie sich mühelos zurechtfinden kann … Dem Verfasser gebührt für seine reiche, anmutige Gabe Dank.«

Pädagogische Studien.

Der deutsche Obstbau. Von F. Meyer.

»Der Obstbau ist ein Zweig der Bodenkultur, der heute mit besonderer Energie gefördert wird. Dieses Buch möchte weiteren Kreisen einen Einblick geben in die Betriebsweise des gegenwärtigen deutschen Obstbaues, es will insbesondere auch dem Besitzer des kleinen Gartens ein Ratgeber und Wegweiser sein.«

Chemisches Experimentierbuch. Von O. Hahn.

Das Buch will jedem, der Lust zum chemischen Experimentieren hat, mit einfachen Apparaten und geringen Mitteln eine Anleitung sein, für sich selbst im Hause die richtigsten Experimente auszuführen.

Die Photographie. Von W. Zimmermann.

»Das Buch behandelt die theoretischen und praktischen Grundlagen der Photographie und bildet ein Lehrbuch bester Art. Durch die populäre Fassung eignet es sich ganz besonders für den Anfänger.«

»Apollo«, Zentralorgan f. Amateur- u. Fachphotogr.

Beleuchtung und Heizung. Von J. F. Herding.

»Ich möchte gerade diesem Buche seiner praktischen, ökonomischen Bedeutung wegen, eine weite Verbreitung wünschen. Hier liegt, vor allem im Kleinbetrieb, noch vieles sehr im argen.«

Frankf. Zeitung.

Kraftmaschinen. Von Ingenieur Charles Schütze.

»Schützes Kraftmaschinen sollten deshalb in keiner Schülerbibliothek, weder an höheren noch an Volksschulen, fehlen. Das Büchlein gibt aber auch dem Lehrer Gelegenheit, seine technischen Kenntnisse schnell und leicht zu erweitern.«

Monatsschrift für höhere Schulen.

Signale in Krieg und Frieden. Von Dr. Fritz Ulmer.

»Ein interessantes Büchlein, welches vor uns liegt. Es behandelt das Signalwesen von den ersten Anfängen im Altertume und den Naturvölkern bis zur jetzigen Vollkommenheit im Land- und Seeverkehr.«

Deutsche Lehrerzeitung.

Seelotsen-, Leucht- und Rettungswesen. Ein Beitrag zur Charakteristik d. Nordsee u. Niederelbe. Von Dr. F. Dannmeyer.

»Mit über 100 guten Bildern interessantester Art, mit Zeichnungen und zwei Karten versehen, führt das Buch uns das Schiffahrtsleben in anschaulicher, fesselnder Form vor Augen, wie es sich täglich an unseren Flußmündungen abspielt.«

Allgemeine Schiffahrts-Zeitung.

Naturgeschichte einer Kerze. Von M. Faraday. 5. Aufl. Mit einem Lebensabriß Faradays. Herausgeg. v. Prof. Dr. R. Meyer. 202 S. mit zahlr. Abbildg. In Leinenbd. M. 2.50.

»Im übrigen ist ›die Naturgeschichte einer Kerze‹ geradezu zu einem klassischen Buche für die Jugend geworden, in dem der Verfasser an einem begrenzten Stoffe in lebendig wirkender, anregender Darstellung fast alle im Weltall wirkenden Gesetze behandelt und die Leser in das Studium der Natur einführt.«

Zeitschrift für lateinlose höhere Schulen.

Verlagskataloge, Verzeichnisse der Sammlungen

Wissenschaft und Bildung / Naturwissenschaftliche Bibliothek

versendet unentgeltlich und portofrei der Verlag

Quelle & Meyer in Leipzig, Kreuzstraße 14


Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

Die erste Katalogseite der »Naturwissenschaftlichen Bibliothek« wurde nach hinten zum restlichen Katalog verschoben.

Korrekturen:

S. 147: Baco → Bacon
mit dem des Roger Bacon

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KULTURGESCHICHTE DER DEUTSCHEN IM MITTELALTER ***