*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75693 ***



=======================================================================

                     Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Die Schreibweise und Interpunktion
des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler sind
stillschweigend korrigiert worden.

Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~.

=======================================================================


                            [Illustration]




                            Vom köstlichen
                                 Humor


                         Eine Auslese aus der
                       humoristischen Literatur
                         alter und neuer Zeit


                           Herausgegeben von
                          Ludwig Fürstenwerth

                            [Illustration]

                                Leipzig
                         Hesse & Becker Verlag





                                Inhalt.


                                 Seite

       Über Verfasser und Inhalt                              7

       ~Carl Beyer~, Stanislaus Wetterwetzer                  9

       --"--, Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten          46

       ~Ilse Frapan~, Dat Undeert                            65

       ~Balduin Groller~, Die Tante und der Onkel           145

       --"--, Eine Entlarvung                               214

           ~Wolfgang Lenburg~, »Straße 27«. Aus »Oberlehrer
       Müller«                                              227

            ~Johannes Trojan~, Wie man einen Weinreisenden
       los wird                                             253

       --"--, Kleine Leiden auf einer Landpartie            260

       --"--, Drei Gedichte:

         Männertreue und Weiberkrieg                       275

         Der Glückstag                                     276

         Der Oberamtsrichter von Neckarsulm                280




                      Über Verfasser und Inhalt.


Auch in der schweren Zeit des Weltkrieges soll dem guten deutschen
Humor eine bescheidene Stätte gewahrt bleiben: das Bedürfnis nach
vorübergehender Entspannung wird sich immer wieder und bei vielen, im
Felde und daheim, einstellen; weder ätzende Satire noch gewöhnliche
Kalauer sind jetzt angebracht, wohl aber die harmlose Fröhlichkeit,
deren Reich sich in diesem Bande von der Wasserkante nach Berlin, an
den Rhein und die Donau erstreckt.

Viele fühlten sich berufen, aber wenige sind auserwählt, in Reuters
Fußstapfen zu treten. ~Carl Beyer~, der Pfarrer a. D., der in
Rostock lebt, darf sich zu den wenigen rechnen; obwohl er durchaus
nicht immer Dialekt schreibt und in den größeren Werken meist
historische Stoffe behandelt -- Reuters Geist und Humor steckt in dem
Pfarrer, tiefes Gefühl und derbrealistische Darstellung verbinden
sich, ihn zum rechten Volksschriftsteller zu erheben. Ein gutes
Beispiel bietet die rührendkomische Gestalt des Stanislaus Wetterwetzer
aus »Stane und Stine«, trefflich ergänzt durch den derbkomischen
Kriegshelden von 1870, Wilhelm Pickhingst, den wir ein gut Stück
auf seiner Fahrt nach dem Glücke, d. h. nach dem Eisernen Kreuze,
begleiten. Auch ohne verbindenden Text wird sich der Zusammenhang
leicht ergeben. --

~Ilse Frapans~ »Undeert« aus der Novellensammlung »Zu Wasser und
zu Lande« schließt passend an. Die Hamburger Meisterin niederdeutscher
Kleinkunst verleugnet sich nicht: keine Staatsaktionen und Impressionen
wirken aufregend, kleiner Leute Geschick wird ruhig erzählt, ohne
aufdringlichen Witz mit stillvergnügtem behaglichen Humor unter
glücklichster Verwendung des Dialektes, besonders lebendig in den
Kinderszenen -- am Schlusse »kriegen« sie sich. --

Noch harmloser gibt sich die Erzählungskunst des Wieners ~Balduin
Groller~ in der noch nicht in Buchform erschienenen humoristischen
Novelle »Die Tante und der Onkel«. Es steckt Wiener Blut in der
alltäglichen Geschichte, deren Kunst und Wirkung ausschließlich auf
dem flotten Vortrage des burschikosen Schwerenöters beruht. Seine
knappe Skizze »Die Entlarvung« behandelt ein gar bekanntes Thema,
den Hochstapler und das ewig Weibliche, so gewandt, daß die Aufnahme
gerechtfertigt scheint. In diesem Bande harmlos köstlichen Humors soll
etwas leichtes Gepäck nicht fehlen.

Dazu gehört auch ~Wolfgang Lenburgs~ Skizzensammlung »Oberlehrer
Müller« -- unter dem Decknamen hat sich der weitbekannte Berliner
Verlagsbuchhändler Wolfgang Mecklenburg verborgen --, aus der hier eine
Reihe Skizzen zusammengestellt sind, die unter das Stichwort »Straße
27« fallen. Der Außenseiter steht dem Zünftler weder an scharfer
Beobachtung noch an lebendiger Wiedergabe des Geschauten nach. Die
leichte Satire des gebildeten, gemütvollen Berliners verletzt nicht,
der Oberlehrerton ist echt.

~Johannes Trojan~, der gelehrte Altmeister des Kladderadatsch, der
auch für »kleine Leute« Ohr und Herz hat, wird mit dem ihm angewiesenen
Platze zufrieden sein. Als Gelehrter geht er auf die Grundbedeutung
des Wortes humor zurück: »Feuchtfröhlich und gescheut« ist Trojan,
und so sind die Proben seines Humors, die den würdigen Schluß des
Bandes bilden. Aus der Sammlung »Das Wustrower Königsschießen und
andere Humoresken« wird namentlich der Triumph der Beredsamkeit: »Wie
man einen Weinreisenden los wird« des Beifalls sicher sein; unter den
Gedichten mag der Heldensang vom trunkfesten Oberamtsrichter manch
bravem Zecher ein verständnisvolles Schmunzeln entlocken, auch die
Hansimglückbearbeitung hat ihren Reiz, und die Moral des Liedes von der
Männertreue und vom Weiberkriege wird Kennern und Kennerinnen, auch
solchen, die es werden wollen, des Beifalls würdig scheinen.




                              Carl Beyer,

                       Stanislaus Wetterwetzer.

                        Aus Wilhelm Pickhingsts
                            Kriegsfahrten.


        Mit Genehmigung des Verlages Fr. ~Bahn~ in ~Schwerin~ i.
        Meckl. aus »~C. Beyer, Stane und Stine~«, gbd. M. 1.--, und aus
        »~Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten~«, kart. M. 1.--.




                       Stanislaus Wetterwetzer.


»Guten Tag, Herr Pastor! -- Da bin ich, Herr Pastor!«

Der Angeredete, der bei einer schwierigen Synodalarbeit beschäftigt war
und in Gedanken versunken herein gerufen hatte, ohne den Eintretenden
zu beachten, wurde in unwillkommener Weise aufgestört, zog schnell
noch einige Male kräftig an seiner Pfeife, so daß sie unten in dem
Schreibtischdunkel sichtbar glühte und gemütlich knisterte (es mußte
also wohl ziemlich viel Stengeltabak drin stecken), stieß mächtig Rauch
wie ein Dampfer aus und tauchte nun langsam und majestätisch aus Wolken
auf. Er musterte den kleinen Mann, der ihn so vergnügt ansah, als wären
sie alte Bekannte, und entdeckte auf den ersten Blick, daß er einen
echten Landstreicher vor sich hatte.

»Da sind Sie,« sagte er ruhig, paffte noch ein paarmal nachdrücklich
und stellte bedächtig seine Pfeife beiseite. »Jetzt würde es sich nur
darum handeln: Wer sind Sie und was wollen Sie?«

»O Herr Pastor,« der Landstreicher nahm seine ihm entfallene Mütze
wieder auf und sandte dabei halb verschämt, halb lächelnd einen Blick
von unten auf in das ruhige, feste Gesicht des Geistlichen. »Wissen Sie
noch, Herr Pastor? -- In Altstädt, Herr Pastor? -- Weihnachten, Herr
Pastor? -- Da bin ich, Herr Pastor.«

Jetzt kannte der Angeredete ihn. Nach Altstädt war er aus seinem
Dorfe von dem dortigen Geistlichen zur Hilfe bei der gehäuften
Weihnachtsarbeit gerufen worden und hatte einen Gottesdienst für die
Gefängnisinsassen abgehalten. Er sah damals ein Dutzend Gesichter sich
gegenüber, alte und junge, wettergehärtete und abgemagerte, weiche und
leichtsinnige, finstere und gedankenlose; dann hatte er gesprochen,
wie ihm zumute war, in Ernst und Bewegung, hatte die tief Gefallenen
erinnert an ihre Jugend, an Mutter und Vater und die Weihnachten ihrer
Kindheit, hatte ihnen erzählt, daß und wie die Gefangenen frei und los
und ledig sein sollten, und sie aufgefordert, sich in neuer Geburt
aufzurichten. Die Tat müßten sie selbst besorgen und nächst Gott sich
auf sich selbst verlassen und nicht auf andere, den Rat würden gern
andere (er selbst unter ihnen) geben, so gut man es vermöchte. Dem
Willigen würde sich die hilfreiche Hand schon bieten usw. Über einige
Gesichter war die Bewegung wie plötzliches Blitzezucken gegangen, die
meisten Gefangenen hatten Tränen in den Augen gehabt, einige hatten
die Fäuste fest zusammengeballt; der kleine Mann, der jetzt vor ihm
stand, war zappelnd hin und her gerückt und hatte die Beine in solcher
Unruhe geschlenkert, daß der Gerichtsdiener, der neben ihm stand, ihm
beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Vier Wochen waren
seitdem vergangen, jene kleine Gemeinde der Armen und Gefangenen, der
die Weihnachten das angenehme Jahr des Herrn nahe gebracht hatten,
war seitdem aufgelöst oder abgelöst, der eine war hierhin, der andere
dorthin gegangen, der letzte stand jetzt vor ihm.

Die Prüfung hatte wohl etwas lange gedauert; ein feines Erröten
glitt über das kleine, magere Gesicht, kurz und hastig wurde die
Mütze geschlenkert, endlich sagte der Fremde: »Arbeiten möchte ich,
Herr Pastor, bitt' schön. -- Auf mich selbst kann ich mich gar nicht
verlassen.« Es zuckte etwas von schmerzlicher Unruhe in seinen Zügen,
er sah ängstlich und bittend den Geistlichen an. Die Mütze wanderte
inzwischen von der rechten Hand in die linke, von dort hinten um
den Rücken herum zurück, verschwand in einer Rocktasche und kam
merkwürdigerweise aus einer Hosentasche wieder zum Vorschein.

Der Pastor, der inzwischen überlegte, mußte unwillkürlich lächeln, denn
offenbar hatte der Rock kein Taschenfutter. »Nehmen Sie bitte Platz,«
sagte er freundlich, denn er hatte seinen Entschluß gefaßt und griff
nun zu seiner Pfeife. »Sieh, sieh, sie ist doch ausgegangen,« murrte
er, zündete frisch an und schob dem Fremden einen Stuhl hin.

»Wollen Sie mir einen Einblick in Ihre Vergangenheit gönnen, das
heißt, nur soweit es Ihnen gut dünkt,« begann der Pastor, »und in der
Gewißheit, daß alles bei uns beiden allein bleibt?«

»Nichts zu verbergen, Herr Pastor, gar nichts Ehrenrühriges, Herr
Pastor, nicht ein einziges Mal, Herr Pastor.«

Dann sprudelte es heraus: Früh mutterlos -- gelernt beim Vater als
Kaufmann im Materialgeschäft -- nach dessen Tode hier und dort
beschäftigt, endlich dienstpflichtig -- gerade noch so eben das Maß
-- allzu krumme Knie, die nicht durchzudrücken waren -- stets Störung
einer tadellosen Front -- Strafen mit Nachexerzieren, -- schlecht
schießen, weil das Gewehr zu schwer -- Kugel suchen, Tornister mit
Steinen tragen -- »das war zu viel, Herr Pastor, das ließ ich mir nicht
gefallen, Herr Pastor, da ging ich weg, Herr Pastor.«

»Das heißt, Sie desertierten.«

»Herr Pastor, Herr Pastor, ich ging einfach weg, löste beim Pfandleiher
meine Zivilsachen wieder ein, zog sie an und ging weg, irgendwohin
auf ein Dorf, und fing an, als Hofgänger zu arbeiten. In zwei Tagen
hatten sie mich wieder. Natürlich steckten sie mich gründlich bei,
Herr Pastor. Und dann ging's wieder los, Herr Pastor; und das ließ
ich mir nicht gefallen und ging wieder weg -- nein, Herr Pastor,
nicht desertieren! Ich verkaufte meine Uhr und kaufte mir altes Zeug
vom Trödler, das gerade noch in den Nähten zusammenhielt, hütete
beim Bauern Schafe -- zwei Wochen nur, da saß ich hinter Schloß und
Riegel. Na, Herr Pastor,« der kleine Mann warf mit einer verächtlichen
Bewegung die Erinnerung an den strengen Arrest beiseite -- »als das
vorbei war, ging das andere wieder los. Da desertierte ich, bei einer
Felddienstübung an einem Waldrande, nahm alles mit, versenkte den
Tornister in einen Teich und steckte Gewehr und Säbel unter das Laub,
verschenkte den Rock an den ersten, der ihn haben wollte, und sodann
weg. Nach drei Tagen eingefangen. -- Fünf Jahre Zuchthaus, Herr Pastor!
Zwei Jahre sind mir nachher erlassen. Nirgends fand der Zuchthäusler
eine Stelle, Herr Pastor, lag auf der Landstraße, bettelte, wurde
eingesteckt -- dreimal -- Herr Pastor, Herr Pastor -- ~nur
dreimal~ in vier Jahren -- sonst kam ich immer durch -- und etwas
Ehrenrühriges, Herr Pastor? Nie, Herr Pastor! Da können sie bei allen
Gerichten herumfragen, Herr Pastor.«

»Und nun sind Ihnen die Augen aufgegangen über Ihre Lage?« fragte der
Pastor, der den Versuch zur Läuterung der sittlichen Anschauungen auf
später verschob.

»Seit Weihnachten, Herr Pastor. Ich hab's versucht mit der Tat -- das
ist nichts geworden, Herr Pastor, -- und nun komme ich um Rat, Herr
Pastor, bitt' schön.«

»Können Sie wohl einen Kuhstall ausdüngen?«

»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht,« sagte der kleine Mann,
indem er aufstand und seine Mütze aus dem Stiefelschaft herauszog.
Er war schon zur Tür hinaus und über den halben Pfarrhof, natürlich
in falscher Richtung, so daß der Pastor, der inzwischen seine Pfeife
bedächtig in die Ecke gestellt hatte, ihn abrufen mußte.

Beide gingen in das Viehhaus, wo zehn Kühe in zwei Reihen standen.
Ein warmer Dunst quoll ihnen entgegen, den der Kleine mit Wittern und
Schnüffeln begrüßte, als wäre er ihm höchst willkommen, dabei rieb
er sich äußerst vergnügt die Hände und stopfte dann beim Eintreten
seine Mütze hinter die Weste, als ob das die Höflichkeit vor den Kühen
erfordere.

»Stine!« rief der Pastor, indem er in der Tür stehend seinen Schlafrock
vorsichtig zusammennahm. »Dor bring ick di 'nen jungen Minschen, de
sall di hüt bi't Utmessen helpen. Lat de Dör ok nich tau lang apen,
dat de Käuh sick nich verküllen; tau Fierabend meld hei sick wedder bi
mi.« Mit diesen Worten ging er davon.

Die Gerufene, die offenbar beim Melken beschäftigt gewesen war,
tauchte hinter einer Kuh empor, und beide Arbeitsgenossen maßen sich
plötzlich mit weit aufgerissenen Augen. Stine war ein Mädchen im Anfang
der Dreißiger und hatte eine Größe, mit der sie den höchsten Mann in
der ganzen Gegend noch etwas überragte. Ihre Gestalt war ebenmäßig
und kraftvoll, nicht junonisch, nein, echt altgermanisch. So mochten
etwa die Zimbern-Weiber ausgesehen haben, die von der Wagenburg gegen
die anstürmenden Römer stritten, nur daß sie ihr gelbes Haar nicht
aufgelöst trug, sondern in dünnen Zöpfen und so aufgesteckt, daß es wie
ein zerdrücktes Sperlingsnest aussah; in den Händen hatte sie keinen
Wurfspieß und keinen Schild, sondern stützte sich auf eine nahestehende
Dunggabel und trug einen Milcheimer. Ihre Arme waren bis weit über die
Ellbogen zurück bloß, kräftig gerötet und im Umfange fast so stark wie
ein Mannsschenkel. Aus dem von Gesundheit strotzenden Gesichte starrten
ein Paar runde blaue Augen den Ankömmling an.

Der war in seiner Art auch sehenswert. Er war 27 Jahre alt und
dabei von Gestalt fein und zart wie ein Knabe, in allen Bewegungen
unglaublich geschmeidig und flink, jeden Augenblick Herr über alle
Gliedmaßen. Seine Haare waren glänzend schwarz, schwarz seine
lebendigen Augen und sein weicher Schnurrbart. Als er die mächtige
Frau, die Beherrscherin des Kuhstalls, so gebietend vor sich sah,
entfiel ihm fast das Herz. Endlich hörte er eine gutmütige Stimme: »Wo
heißt du denn, min Jung?«

»Stanislaus Wetterwetzer,« schoß es über seine Lippen.

»Woans?« Die höchste Verwunderung drückte sich in dem Gesichte der
Fragerin aus, denn ihr Mund stand etwas auf, so daß man die Zähne
schimmern sah, starke, gesunde, tadellos weiße, und ihre strotzenden
Wangen zogen sich in leisem Lächeln ein wenig breit.

»Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen.«

»Na, Stane Zedienen, nimm den Dunghaken, un denn man tau. Du kannst di
'n por von min Tüffeln äwertrecken, süß versüpst du mi noch hier in den
Stall. Un mak de Dör achter di tau.«

Immer noch schüchtern rückte der Kleine vor. Als er aber die mächtigen
Pantoffel sah, die wenigstens zwei Finger dicke Holzsohlen hatten (das
Mädchen aber trug sie beim Schreiten über den schneebedeckten Hof
noch mit leichtem, federndem Gang), fand er seine muntere Stimmung
wieder. Er besah sie von allen Seiten, fuhr mit der Hand hinein, als
müßte er sie erst aufweiten, hob dann einen mit beiden Fäusten in die
Höhe, anscheinend unter großer Anstrengung, und -- wupp stülpte er ihn
sich über den Kopf und sah unter dem Helm so harmlos vergnügt zu der
Gebietenden empor, daß sie die Forke vor Überraschung fallen ließ, eine
Hand in die Seite stemmte und herzlich lachte. Der kräftige Körper
bewegte sich so, daß scheinbar die Stallwände erschüttert wurden.
Stanislaus schoß vor, glitt anscheinend unter einer Kuh durch und
überreichte mit einer hübschen Verbeugung die aufgehobene Forke. Stine
sah ihn wohlgefällig an und faßte ihre freundliche Überzeugung zusammen
in das Endurteil: »Einen dwatschen Hamel.« Damit wandte sie sich ab und
ging wieder an die Arbeit.

»Jung, dor in de Eck steiht de Dunghaken,« sagte sie über die Schulter
vom Melkeimer her, als der Kleine unschlüssig stand. Er schoß darauf zu
und schlug alsbald den Haken ein.

Nachdem Stine die Kühe ausgemolken hatte, sah sie sich wieder nach dem
Gehilfen um. Er rollte aus der äußersten Ecke des Stalles den Dung
allmählich auf und zog mühsam an dem geballten Haufen.

»Stane Zedienen, du büst woll katholsch?« sagte sie verwundert. »Du
fangst dat jo ganz bi't verkihrte Enn an.«

Er stand still, sein Atem ging hastig, seine Augen musterten unsicher
die Walze, die stetig unter seiner Anstrengung gewachsen war, dann fuhr
er wieder über die Arbeit her. »Wird gemacht, Fräulein, wird gemacht,«
versicherte er eifrig, spreizte seine kleinen Beine, spie in seine
Hände und zog mit Leibeskräften.

Stine schüttelte bedächtig den Kopf und sagte: »Einen unklauken
Bengel.« Dann zündete sie die zwei Laternen an, hängte sie hier und
dort an die Wand und fütterte und tränkte ihre Kühe weiter.

Der Geistliche hatte sich inzwischen an seinem vom milden Lampenscheine
beleuchteten Schreibtische wieder behaglich eingerichtet und schrieb
soeben den Satz nieder: »Der Gedanke, daß ein ohne seine Schuld
ungetauft gebliebener Mensch sollte wegen solchen Mangels in die Hölle
verstoßen werden, ist für ein Christengemüt geradeso unerträglich
wie der Gedanke, daß Gott sollte unter den Menschen willkürlich eine
Auswahl treffen, die einen taufen lassen, um sie zu retten, die andern
ungetauft lassen, um sie zu verderben.« Da kamen eilige Schritte über
den Hof, er kannte schon dieses Klappern der Pantoffel, gleich darauf
stürzte Stine, das Anklopfen vergessend, aber alter Gewohnheit gemäß
auf Socken -- die Pantoffel blieben stets an der Haustür stehen -- in
die Stube und rief: »Herr Paster, kamens blot fixing nah den Stall.
Uns' Jung will uns dod bliewen.«

Die Pfeife fiel zu Boden, und der flatternde Schlafrock schien sich in
Schwingen zu verwandeln, die den Pastor über den Hof trugen.

»Ick kiek mi üm -- dor liggt hei up sinen Hopen un rallögt,« berichtete
Stine, gleichfalls beschwingt. »Nu heww ick em up minen Hüker in ein
Eck sett, von de Kist föll hei mi enfach wedder run.«

Die Laterne, die das rasche Mädchen eiligst in der Nähe aufgehängt
hatte, bewegte sich noch und warf schwankende Lichter auf das blasse
Gesicht des kleinen Mannes, der nur durch die Ecke aufrecht gehalten
wurde; seine Hände hingen schlaff an jeder Seite herunter. Er sah den
Pastor und Stine, die hinter diesem aufragte, mit traurigem Blick an,
hob mühsam die Rechte und legte die ausgespreizten Finger an die Brust,
schüttelte langsam den Kopf und ließ die Hand wieder sinken. Er wollte
sichtlich sprechen, aber es gelang ihm nicht.

»Hier kann hei nich bliewen,« sagte der Pastor, »wi will'n em up min
Sofa rupdrägen.«

»Herr Paster,« fiel Stine ein, »ick heww em twors hin'n und vörn irst
awwischt, ihre ick em hensett heww, äwer up Sei ehren Sofa ...«

»Stine, dit is'n Minsch un dat is'n Ding. För den Minschen sorg ick hüt
abend, un du sorgst woll för dat Sofa morgen früh.«

»Na, denn man tau,« sagte Stine und hob den Ermatteten mit Leichtigkeit
auf. In der Nähe der Stalltür hing eine reine Schürze, die sie mit
raschem Griff im Vorübergehen sich aneignete. »Dat is man blot Hut und
Knaken, un so wat ward rute stött up de Landstrat,« murrte sie, als
sie über den Hof ging, trotz ihrer Last und der großen Pantoffel mit
federndem Schritte, und das Haupt des kleinen Mannes lag gegen ihre
Brust gelehnt.

Mit raschem Schwunge warf sie ihre große Schürze über das Sofa und
bettete dann ihren Pflegling darauf. »Wes' man nich bang -- ligg ganz
stilling,« tröstete sie und streichelte mit ihrer harten Hand ihm
sachte die Backe. »Uns' Herr Paster versteiht sick dorup, an den is'n
Dokter verluren gahn. -- Schad is't eigentlich dorüm,« setzte sie im
Weggehen hinzu, sie meinte aber das Sofa.

Der Pastor faßte den Puls des Kranken, prüfte, ob Anzeichen von Fieber
vorhanden wären, fragte nach Schmerzen, der Kranke antwortete mit
Kopfschütteln und legte seine ausgespreizte Hand -- nicht etwa wieder
auf die Brust, sondern etwas tiefer.

»Haben Sie heute schon etwas gegessen?« fragte der Pastor alsbald
verständnisvoll. Ihm antwortete Kopfschütteln. »Gestern aber haben Sie
doch gegessen?« Abermaliges Kopfschütteln. »Aber, Mann, warum haben
Sie mir das nicht gleich gesagt?« rief der Pastor erschrocken. Ein
Achselzucken und ein sprechender Blick, das hieß offenbar: »Dann hätten
Sie mich für einen Bettler genommen.«

»Er hat recht,« sagte der Pastor vor sich hin, als er zur Speisekammer
eilte. Dort fand er seine Frau, die das Abendbrot rüsten wollte.

»Sophiechen,« sagte er, während er hastig drei tüchtige Scheiben von
dem breiten feinen Landbrot abschnitt, »hast du noch etwas von der
Mettwurst?«

»Aber wir essen ja gleich Pellkartoffeln mit Grieben, dein
Lieblingsessen.«

»Am Verhungern -- und das in meinem eignen Hause,« murrte er im Zorn
gegen sich selbst und fuhr tief in den Buttertopf.

»Na, ich denke, du hast heute mittag in Grünkohl und Schweinskopf
keinen Kummer kommen lassen.«

»Ja, das ist es ja gerade. -- Und dabei seit zwei Tagen nichts
gegessen!« Er strich die Butter einen halben Finger dick auf.

Die Frau sah ihn erschrocken an, er schwang das Messer heftig in der
Luft, sie wich unwillkürlich langsam zurück nach der Tür.

»Wo ist die Mettwurst?« Also er, zornig gegen sich selbst.

»Dort hinten -- hängt sie -- an der Wand.« Sie flüsterte es mit
absterbender Stimme.

»Gib mir einen Liter Milch, aber schnell! -- Verhungert und verdurstet
bei meiner Arbeit!«

»Ja doch -- um Gottes willen ja --« Sie trat in die Küche zurück und
füllte in der Verwirrung einen Topf mit Wasser. Er sah es, als er ihn
in die Hand nahm, und schleuderte ihn ohne zu überlegen in die Ecke.

»Milch, sag' ich! Soll einem Verhungernden nicht einmal ein Tropfen
Milch gegönnt sein?« Er erhielt aus zitternder Hand das Begehrte und
schoß mit dem Topfe zunächst davon, weil er bedachte, daß flüssige
Nahrung einem Verhungerten zuerst zu reichen sei.

Die junge Schwägerin der Pastorin, die gerade zum Besuch im Hause war,
kam trällernd die Treppe herabgehüpft und tanzte in die Küche, um
zu helfen. Da stand die Pastorin und rang die Hände, und die Tränen
schossen ihr die Backen herab. »Kann so etwas sein?« flüsterte sie ganz
kurlos. »Ich habe ihm niemals etwas angemerkt.«

»Was ist denn geschehen?«

»Ach, Anna, es liegt doch nicht etwa in der Familie? hast du je
davon gehört?« Sie erzählte hastig, was Fürchterliches über sie
hereingebrochen war. Beide erörterten noch mit zagenden Lippen den
Fall, da kam der Pastor wieder aus seiner Stube herausgestürmt, und
die Frauen flüchteten unwillkürlich in den Verschlag, in dem die Besen
usw. aufbewahrt wurden. »Schändlich, empörend!« sagte er, während er
Brot, Butter und Messer sammelte. »Dabei kann sich einem das Herz
umdrehen. Aber so geht es. Wir strömen über von Nächstenliebe mit
Worten und predigen jeden Sonntag davon, und doch kann jemand unbemerkt
neben uns verhungern. -- Dieses halbe Brot wird noch in seinen Magen
versinken, so schlingt der Mensch.«

Die Hausfrau, die bei den ersten Worten angstvoll den Arm ihrer
Schwägerin umklammert hatte, atmete auf und lachte plötzlich vergnügt:
»Anna, er hat wieder einen eingefangen, den er futtert. Nun wollen wir
nur gleich auf die Dachkammer gehen und das Bett in Ordnung bringen. Er
behält ihn sicherlich während der Nacht hier.«

Stanislaus Wetterwetzer saß inzwischen auf dem Sofa und spürte
allmählich mit Behagen, wie frische Blutwellen ihn durchrieselten. Als
er satt war, rieb sich der Pastor die Hände und wanderte auf und ab,
freute sich offenbar, daß seine Prophezeiung eingetroffen war, das
Brot war verschwunden. Nach einiger Zeit machte der Fremde den Versuch
aufzustehen, fiel erst noch einmal zurück, stand dann und ging, nein,
schlich zur Tür.

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte der Pastor erstaunt. »Wo ich her kam,«
lautete die Antwort, die mit trübseliger Stimme gegeben wurde. »Ich
bleibe doch nur ein Lumpenkerlchen.«

Da lachte der Pastor: »Ausdüngen können Sie nicht, das sieht jeder,
denn Sie tragen ja eine Stallschürze statt vorn auf dem Rücken. Aber
können Sie auf dem Kirchhofe graben?«

»Gruft graben, Herr Pastor? -- Totengräber, Herr Pastor?« Es machte den
Eindruck, als ob dem Entsetzten die Zähne klapperten.

»Würde Ihnen doch nur wieder einstürzen. Nein, wir halten es hier so,
daß die Nachbarn dem Verstorbenen die Gruft selber graben. Aber sehen
Sie nur aus dem Fenster. Dort hinten liegt der Kirchhof im Mondschein,
jener große Rasenplatz soll umgestochen und neu besamt werden, die
Arbeit kann sofort beginnen, weil der Boden offen ist.«

Stanislaus Wetterwetzer schnellte empor: »Wird gemacht, Herr Pastor,
wird gemacht!« Er drehte sich um sich selbst und suchte seine Mütze,
die er schließlich in einem Ärmel entdeckte, und schoß dann auf die Tür
zu. Sicherlich hatte er im Sinn, noch denselben Abend im Mondschein an
das Werk zu gehen.

Lächelnd faßte ihn der Pastor bei der Schulter und schälte ihn zunächst
aus der Hülle der Schürze, als hätte er eine große Zwiebel vor sich.
»Satt sind Sie, wenigstens bis morgen früh mag es wohl vorhalten. Nun
schlafen Sie auf Ihrer Dachkammer nur aus, und morgen fangen Sie mit
frischen Kräften an.« Er ging mit einem Lichte voran, und sein Gast
folgte, indem er vor Erstaunen den Hals fast ausreckte. Das Bett auf
der Dachkammer war fertig, der Pastor wies es an und drehte sich dann
rasch herum. »Diese Nacht muß ich Sie noch einschließen, denn ich kenne
Sie ja nicht genug. Aber lassen Sie es sich nur ohne Empfindlichkeit
gefallen.« Sprach's, verschwand und schloß die Tür schnell zu, froh,
daß er über eine unangenehme Erörterung rasch weggekommen war. Er stand
schon an der Treppe, da klopfte es drinnen, und Stanislaus Wetterwetzer
rief vergnügt: »Herr Pastor, Herr Pastor, das macht gar nichts. Ich
habe eben aus dem Fenster gesehen -- an der Dachrinne kann ich jeden
Augenblick hinabklettern, wenn Feuer kommt.«

Am nächsten Morgen gedachte der Pastor seinem Gefangenen nicht früh
aufzuschließen, sondern ihn erst ausschlafen zu lassen, und ging
in seinem Zimmer auf und ab. Da hörte er wiederholt einen Spaten
ausstoßen, trat an das Fenster und sah, daß Stanislaus Wetterwetzer
schon kräftig bei der Arbeit war. Unwillkürlich mußte er lächeln, und
als er hinausging, um sich nach ihm umzusehen, fand er Stine, wie sie
aus der Stalltür eifrig nach dem Kirchhof ausspähte. »Ick stah hüt
morrn in de Käkendör,« sagte sie, »dunn kümmt hei mit einmal von baben
an de Gat runmaracht, flink as 'n Kateiker. Ick denk, ick slah dreimal
verlangs hen. Äwer as ick nu losleggen will, Herr Paster, wat seggt
hei? ›Guten Morgen, Fräulein,‹ seggt hei, ›das machen Sie mal nach,‹
seggt hei. Denkens mal an, Herr Paster, wat hei mi anmoden is, un dorbi
so fidel as 'ne Maikatt. Ick wier as upn Mund slahn. Äwer Kaffee hett
hei all kregen. Un nu towt hei dor wedder los, dat ick all uppaß, ob
ick em nich wedder rin halen möt. Nimmt sön Jung äwer woll Vernunft
an? Das macht gar nichts, säd hei mi baw int Gesicht. Na, mie makt dat
nicks, äwer sön Jung kann einen doch duren in sinen Unverstand.«

»'N schönen Jung,« sagte der Pastor lächelnd.

»Nich wohr, Herr Paster? wat hett hei för swarte Ogen und wo glummen
sei em lustig in den Kopp, wenn hei einen von ünnen so ankickt, un sone
gnäterswarte Hor.«

»Stine, hei is all säbenuntwintig Johr olt, wat du woll glöwst.«

»Herr du meines Lewens, denn is dat jo woll 'n richtigen Mannsminsch?
Un de utverschamte Kirl mod mi tau, ick sall vör em de Gat
runklaspern?« Sie fuhr verlegen zurück und schloß die Stalltür
hinter sich, und der Pastor grüßte den fleißigen Arbeiter über die
Kirchhofsmauer hinüber. Der stieß den schweren Manns-Spaten in den
Grund und brach die Grassoden los, daß es aussah, als ob der Kirchhof
brannte und er sollte dem Feuer durch Abgraben wehren. Dabei lachte er
seelenvergnügt zu seinem Arbeitgeber hinüber, wenn er in die Luft oder
auf einen Stein stieß. Kopfschüttelnd ging der Pastor zurück und nahm
seine Arbeit auf. Als er nach einer halben Stunde zufällig aufhorchte,
war von Stanislaus Wetterwetzers Spaten nichts mehr zu hören. Besorgt
machte er sich auf, seinen Arbeiter aufzusuchen, und bemerkte, daß die
mütterliche Sorge Stine schon wieder getrieben hatte, durch die ein
wenig geöffnete Stalltür zu spähen. Aber den Fremden sah er nicht. Auf
dem Kirchhofe angelangt, entdeckte er ihn endlich hinter einer dicken
Linde, wie er mit jämmerlicher Miene seinen gekrümmten Rücken an dem
Stamme gerade zu biegen versuchte. Dabei zitterten die Hände, daß sie
den Spaten kaum halten konnten, auf den sie sich stützten.

»Das wird auch nichts, Herr Pastor,« sagte er, »so ein armes Luderchen
bin ich.« In seinen Augen blinkten Tränen.

»Nun, nun,« beruhigte ihn der Geistliche, »alles will gelernt sein, und
dazu gehört Geduld.«

»Ja, das ist es ja, Herr Pastor,« schluchzte Stanislaus, »meine Geduld
beim Arbeiten ist gerade so kurz und mürbe -- wie -- ein Regenwurm,
Herr Pastor. Wenn das nicht gleich geht, dann reißt sie ab, und ich
werde kratzbürstig, und aus ist es, Herr Pastor.«

»Einstweilen tragen Sie den Spaten wieder hin, wo Sie ihn hergeholt
haben, und dann kommen Sie dort hinten zu dem Buschhaufen, die Zweige
zu zerhacken, das ist etwas für Sie.«

»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht.« Stanislaus trottete noch
halb krumm, aber schon wieder getröstet ab und schwang bald ein
leichtes Beil am Haublock. Lange Zeit war noch nicht vergangen, da
sah der Pastor Stine über den Hof eilen und dann händeringend und
ratlos vor dem kleinen Mann stehen, der auf dem Haublocke saß. »De
unglücksel'ge Kretur hett sick jo woll de ganze Hand awhaugt,« rief
sie ihrem Hausherrn entgegen. So schlimm war es nun freilich nicht,
immerhin aber war die linke Hand zwischen Daumen und Zeigefinger drei
Zentimeter lang aufgespalten, und das Blut lief an der Rechten, die die
Wunde zusammenpreßte, in mehreren Rinnsalen herab.

»Das macht gar nichts, Herr Pastor,« versicherte Stanislaus und
versuchte krampfhaft zu lächeln, obwohl er ganz weiß aussah. »Der
Schulze gibt mir einen Schein an das Rostocker Krankenhaus mit, Herr
Pastor, denn eine Heimat habe ich nirgends, Herr Pastor. Wird alles
ersetzt, Herr Pastor.«

»Stine, segg Krischan, hei sall furts anspannen, wi führen nah'n
Dokter,« befahl der Pastor. »Sie kommen einstweilen in meine Stube,
Wetterwetzer, damit ich Sie, so gut es geht, verbinde. Sind Sie bei mir
krank geworden, so sollen Sie auch bei mir gesund werden.«

Stine wußte mit Pferden gerade so gut umzugehen wie ein Knecht, sie
schob den Wagen aus dem Schauer und half mit anspannen. Die Fahrt
ging ab, der Doktor nähte mit drei innern und fünf äußern Nadeln und
verhieß, da der Knochen nicht verletzt wäre, baldige Heilung. So war
Stanislaus einstweilen zur Untätigkeit verurteilt. Aber das war nicht
nach seinem Sinn. Am Nachmittage hörte die Pastorin ihre beiden Kinder,
einen Knaben von drei und ein Mädchen von zwei Jahren, auf dem Gange,
der das Haus der Länge nach durchzog, voll herrlichster Spiellust
jauchzen und schreien. Neugierig sah sie hinaus. Da hatte der Fremde
den Knaben auf seinem Nacken hocken, und dessen kleine Fäuste hatten
ihn gar kräftig bei den schwarzen Haaren gepackt, das Mädchen saß
im Wagen und lenkte ihr zweibeiniges Pferd am Zügel. »Hopp hopp --
hü hott.« Stanislaus sah in das verdutzte Gesicht der Mutter. »Frau
Pastor, Frau Pastor,« rief er eifrig, indem er den Wagen stehen ließ
und auf seinen Kopf mit der gesunden Hand zeigte, »ganz rein! ganz
rein! Hopp hopp -- hü hott!«

An der Gosse brauchte er am nächsten Morgen nicht mehr hinabzuklettern,
da er nicht mehr eingeschlossen wurde. Statt sich zu schonen, ließ er
sich vom Beschäftigungsdrange früh hinaustreiben. In der Küche war
große Unruhe. Die Hausfrau war in der Nacht von einem plötzlichen
Krankheitsanfall überwältigt, und wenn man auch die Ungefährlichkeit
kannte, so waren doch die Schmerzen groß, und das stillende Mittel,
das sonst Linderung brachte, war nicht mehr in der Hausapotheke, der
Knecht aber in der Morgenfrühe mit Korn abgefahren. Wer sollte nun zur
Nachbarstadt? -- Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen. Er stand schon
in der Haustür, so daß der Pastor ihn zurückrufen und zum Essen durch
Befehl zwingen mußte. Mit einem Briefe und einigen Markstücken trabte
der kleine Mann dann ab.

Es verging die Zeit, die für gewöhnlich ein Fußgänger gebrauchte,
um den Weg hin und zurück zu machen, und er kam nicht. Die Pastorin
krümmte sich vor Schmerzen, der Hausherr wanderte, ingrimmig auf sich
selbst und seine Vertrauenswilligkeit in so ernster Sache zürnend,
von einem Zimmer in das andere, über den Hof auf die Landstraße, um
Ausschau zu halten, und zurück. Mittag war längst vorbei, da kam
der Erwartete endlich an. Das Mittel war in der Altstädter Apotheke
nicht vorhanden gewesen, selbst auf telegraphische Bestellung konnte
es erst am nächsten Tage ankommen; da hatte sich Stanislaus nicht
lange besonnen und war nach Rostock getrottet, drei Meilen hin und
drei Meilen zurück in sieben Stunden. Und das Mittel war da und half
sofort. »Herr Pastor -- mit meinen Beinen -- gar nicht tot zu kriegen!
Das kommt vom Wandern. -- Nur die Arme -- Regenwürmer -- mürbe --« da
taumelte er dem zuspringenden Pastor in die Arme. »Blutverlust, Herr
Pastor -- armes Luderchen --, Herr Pastor -- ich will -- ich kann --«
Sein Einreden half nichts, wieder mußte er zu Bett.

Drei Tage lag er danieder. »Dor spelunkt Stane Zedienen warraftig all
wedder rüm,« schalt dann Stine, die sich die Pflege nicht hatte nehmen
lassen. »Süll dat einer woll glöwen, dat dat'n Mannsminsch is, dei
sin por Sinn würklich tausamen hett? Inspunnen müßt man em.« Dabei
schüttelte sie ihn gelinde am Schopf, als wäre sie der große Nikolaus
und er der Kaspar, in der Nähe war eine eingegrabene Tonne, in der der
Aufenthalt gewiß nicht weniger angenehm gewesen wäre, als in einem
Tintenfasse. Er gab gar keine Antwort, sondern lachte sie von unten her
vergnügt und vertrauensvoll an, und vor solcher Art von Beredsamkeit
verstummte sie errötend.

Stanislaus Wetterwetzer hatte eine gute Haut zum Heilen und wurde
gerade dann leistungsfähig, als der Pastor den letzten Satz seiner
umfangreichen Arbeit geschrieben hatte: »Und so kommen wir zu dem
Schlusse, daß wir bei Versuchen zur Lösung der schwierigen Frage uns
stets in eine Sackgasse verrennen, also klug tun, die Lösung dem zu
überlassen, den sie im Grunde allein etwas angeht. Gott hat schon
ganz andere Schwierigkeiten gehoben, er wird auch wissen, wie seine
Gerechtigkeit und Heiligkeit mit seiner Liebe und Güte im Einklang
bleibt bei Behandlung der ohne ihre Schuld ungetauft verbliebenen
Heiden und Kinder.« Sein viele Bogen langes Werk, in dem er von Petrus
und Paulus an über Hieronymus und Augustinus, Luther und Chemnitz
mühsam hinweggeklettert war, betrachtete er mit schiefen Seitenblicken.
Denn so behaglich er sich unter den Kirchenvätern und Dogmatikern
befunden hatte, jetzt entließen sie ihn aus ihrer würdigen Gesellschaft
und wiesen ihn an die Reinschrift, das gefiel ihm sehr wenig. Da kam
ihm der Gedanke, den Fremdling, der mit seinem Arbeitsdrange wieder
allerlei Unheil anzurichten drohte, vor das Tintenfaß zu bannen, und
der gelang. Der Abschreiber konnte und mochte Kladde lesen, zierlich
und sauber schreiben, ja er brachte noch einige Fähigkeit Latein zu
erraten aus seiner Schulzeit her zum Vorschein, nur griechische Schrift
mißlang und sah aus, als ob ein Sperling mit Tintenfüßen über das weiße
Papier gelaufen wäre.

Zwei Monate saß Stanislaus Wetterwetzer an den Tisch in der
Studierstube festgebannt. Er war während dieser Zeit mit allerlei
zurechtgeschneiderten abgelegten Kleidungsstücken sauber ausstaffiert,
Stine hatte ihm von der Wolle, die ihr alljährlich zukam, drei Paar
Strümpfe gestrickt und zwar unter großer Mühe, denn wiederholt war
der Füßling zu lang geraten, hatte sie sich doch heimlich geschämt,
Kinderstrümpfe zu stricken. Als ihr Schützling wieder auf den Hof
gelassen wurde, begann er ein seltsames Treiben. Überall machte er sich
Beschäftigung, nagelte hier Latten, befestigte da Riegel, besserte den
Steindamm, kalkte den Hühnerstall und brachte neue Stiegen an. Die
Kinder wartete und hütete er mit Eifer. Jeder nutzte ihn, und jedem
diente er. Aber seine Unruhe steigerte sich sichtlich, er bewegte sich
nur noch laufend, stand dann plötzlich still und sah zum blauen Himmel
auf, an dem die Sonne lachte, hielt die Hand vor die Augen und ließ den
Schein rötlich durch die Finger dringen, seufzte, fuhr sich mit der
Hand durch die Haare, horchte auf Meisen und Finken und warf plötzlich
mit Steinen nach ihnen.

»Herr Paster, ick glöw, nu knippt hei uns nächstens ut«, sagte Stine,
die mit wachsendem Unbehagen und Mißtrauen dieses Gebaren begleitete.

»Hei ward sick häuden,« lautete die Antwort, »em prickeln blot dei
Wäldag.«

»Herr Paster, hei hett nülich sin oll Lumpen utwuschen un dunn heimlich
flickt, ick heww dat woll markt, dat ick dat nich sehn süll.«

Eines Morgens war Stanislaus Wetterwetzer verschwunden. Sein neu
angeschafftes Zeug lag sauber und ordentlich auf seiner Kammer, nur
die geschenkten Strümpfe und seine alte Wanderkleidung hatte er
mitgenommen.

Stine hatte mit ihm ihre sonst unverändert gute Laune verloren und
besann sich erst auf sich selbst, als sie entdeckte, daß sie ihrer
Lieblingskuh Maikranz, die beim Melken nicht still stehen wollte, einen
solchen Schlag mit dem Hüker versetzt hatte, daß er mitten durchbrach.
Da erschrak sie von Herzensgrund, weinte sich aus und wurde wieder gut
und freundlich, wie sie gewesen war.

Der Sommer verging, die Herbststürme brausten über Land, und der Winter
trat sein Regiment an. Als der Pfarrherr am Anfang Februar eines
Morgens in seine Studierstube getreten war und eben den Stand des
Thermometers am Fenster nachsah, kam Wetterwetzer gesprungen, er mochte
ihn hinter den gefrorenen Scheiben erkannt haben und schwenkte von
ferne seine Mütze. Im nächsten Augenblicke schoß er schon durch die Tür
und tanzte bald auf einem, bald auf dem andern Bein und rief: »Nun hab
ich eins. -- Nun hab ich eins, Herr Pastor, -- ein so Kleines -- so --
so -- so Kleines.« Er zeigte immer kleinere Maße, bis endlich etwa auf
Handlänge.

»Eins nur?« sagte der Pastor enttäuscht, denn er dachte an gewisse
Vorgänge im Schweinestall. »Ich hatte auf ein Dutzend gerechnet.«

Stanislaus lachte ganz übermäßig und schnellte in Freuden im Sprunge
fast bis an die Decke. »Herr Pastor -- Herr Pastor -- Herr Pastor!«

»Ja, Sie lachen, aber ein Spaß ist das gar nicht. Das Stück gilt
zwanzig Mark heute, sage ich Ihnen.«

Da stand der Kleine wie festgewurzelt: »Nein, das wird nicht verkauft,«
sagte er langgezogen.

»Natürlich wird es verkauft.«

»Ich will alles tun, was der Herr Pastor sagt, aber das tu' ich nicht.«
Er sah in diesem Augenblick geradezu bejammernswert aus. »Herr Pastor,
mein Fleisch und Blut ...«

Plötzlich sah der Pastor ziemlich bejammernswert aus, aber er fand sich
schnell in die Lage, schüttelte die Schulter des Kleinen und machte
dazu ein so drolliges Gesicht, daß Stanislaus bei jedem Ruck seine
glückliche Laune wieder näher kommen fühlte, sie fuhr beim letzten Ruck
in ihn hinein, jetzt lachte er schallend über den Scherz, dessen Tiefe
er freilich noch nicht verstand, jetzt wollte er seine Mütze irgendwie
ein abenteuerliches Exerzitium durchmachen lassen, aber er schleuderte
sie nur zwischen den Beinen durch, daß sie ihm von hinten gerade auf
den Kopf flog, ohne daß er es recht merkte.

»Ein so -- so -- so Kleines, Herr Pastor. -- Ich bitt' schön, Sie
müssen's mal sehen, Herr Pastor, -- o bitt' schön, kommen Sie mit, Herr
Pastor, -- und Frau Pastorin auch und die Kinder auch.« -- Er lief
schon voran, aber besann sich: »Kühe sind besorgt, Herr Pastor. -- Ich
hab' eins, ich hab' eins. -- Gemolken habe ich, Herr Pastor -- ein so
Kleines -- ein so Kleines -- Stine hat's mir in den letzten Wochen
gezeigt, Herr Pastor, ein so -- so -- so Kleines, Herr Pastor -- und
alle haben sie zu fressen -- Frau Pastorin und die Kinder -- -- --.«
Er war nur still, weil er bei einem Sprunge mit dem Kopfe gerade gegen
die Tür, die Frau Pastorin öffnete, gerannt war, daß es so dröhnte,
als wollte er die bei Geburt eines Prinzen üblichen Kanonenschüsse
nachahmen.

Ob der Pastor nun wollte oder nicht, er mußte mit seiner Frau alsbald
bei Stine einen Wochenbesuch machen. Auf dem Gange drehte Stanislaus
sich um das Paar gerade so, wie der Mond sich um die Sonne dreht,
voraus ging er rückwärts und zeigte sein volles Gesicht, dann kam
letztes Viertel an der Seite der Pastorin, Neumond hinten, und mit dem
ersten Viertel tauchte er an der Seite des Pastors wieder auf, und
auf dem kurzen Wege zum Pfarrkaten hatte er alle Phasen mindestens
zwanzigmal durchlaufen und noch lange nicht heruntergeschwatzt, was
sein Herz füllte.

Stine sah ihn erwartungsvoll an, als er eintrat. »Alles in Ordnung,
Stine,« sagte er. »Kühe bis auf den letzten Tropfen ausgemolken. Darf
ich sie 'reinbringen, Stine? Sie sind draußen, Stine.«

Die glückliche Mutter machte ein ängstliches Gesicht, als wenn sie
erwartete, daß der abenteuerlich veranlagte Mann ein paar Kühe als
Abgeordnete des Stalles anbringen würde, aber glückstrahlend sah sie
dann ihre Herrschaften eintreten.

»Wasch di de Hänn, Stane.« Sie wußte ja sofort, was erfolgen würde. Er
gehorchte, roch alsbald kräftig nach grüner Seife und übernahm nun so
die Erklärung, indem er das Kind vorsichtig aufhob. »Herr Pastor, sehen
Sie nur die Hände -- wie eine Haselnuß -- Frau Pastorin, die Füße -- da
-- da -- da -- akkurat wie ein Frosch -- und hier die Haare, oh, lang
wie ein Finger und schwarz, ganz wie der Vater, ganz wie der Vater,
das bin ich nämlich, Frau Pastorin, und doch ist es 'n Mädchen, Herr
Pastor, und das ist deins, Stine!« Er übergab es seiner Frau in sehr
zarter Weise, damit sie es neben sich bette. Die Pastorin nahm ihn
nun vor und bedeutete ihm, daß er die Tür hüten müßte und niemanden
einlassen, wer es auch wäre. »Tu' ich auch nicht, tu' ich auch nicht,
Frau Pastorin, aber ich meinte, daß das Kleine doch auch eigentlich
Ihnen mit gehörte, Frau Pastorin.«

»Nu knippt hei mi nich mihr ut, Herr Paster,« flüsterte Stine
inzwischen dem Seelsorger zu.

Stane schien sich zu verdoppeln. Er melkte und fütterte in Vertretung
seiner Frau, kochte Wochensuppen, obgleich freundliche Nachbarinnen im
Anfang soviel zuschickten, daß die größte Familie sich hätte sättigen
können, rechnete, besserte aus, lief, schrieb -- er war sogar des
Nachts mehr außerhalb des Bettes als darin.

Aber Stine entdeckte bald, daß ihn der Erfolg seiner Arbeit nicht
befriedigte. Er saß eines Abends und rechnete mit Zahlenreihen auf
einer Tafel, die seine Frau zum Andenken an ihre Schulzeit aufbewahrt
hatte, löschte aus, rechnete von neuem und seufzte, ohne es zu wissen.

»Du hest jo woll gor de Sorgenstütt ansett,« sagte sie freundlich,
indem sie sanft seinen Ellbogen schüttelte, »wat is di? is di nich
gaud?«

»Mir?« Stane fuhr sich durch die Haare und lachte gezwungen. »Ich
rechnete nur aus, wie viel ich in der kommenden Woche zusammenbringen
könnte.«

»Dat 's doch kein grot Stück Arbeit? Mi dücht, dat schält nich väl,«
sagte sie harmlos.

Er errötete und sah Stine mit unsicherm Blick an. »Bei Leppelt eine
Stube tapezieren und ölen, bei Ganzow das Staket vor dem Hause
anstreichen, das sind so Nebeneinnahmen --«

»Dat glöw ick woll, Stane, dat sei di wedder mal to'm Herümdwätern
bruken willen, äwer dat büdelt nich. Ick heww mi dat so äwerleggt, ick
gah tokamen Mandag wedder up Arbeit.«

»Was willst du?« Er schnellte von seinem Sitz empor und trat hart an
seine Frau heran, ohne daß diese von dem nahenden Unwetter etwas ahnte.

»Ick kann hier doch nich ümmertau rümmer sitten, Stane, un mi utfaudern
laten, as wir ick 'n Kind, wat 'n Lutschbüdel krigt? Dortau hew ick di
doch nich friegt.«

»Was nicht? Wozu nicht? Wozu denn? Sprich doch! Wirst du gleich?«

»Äwer, Stane, wat tast du so an mi rümmer? du büst doch 'n richtigen
Quirrbregen.« Noch nahm Stine alles von der gemütlichen Seite auf und
erlustigte sich innerlich an seinen vergeblichen Versuchen, sie durch
Rütteln zu erschüttern. »Wotau ick di friegt heww? du süst mi nich up
de Landstrat vermisquemen. As du dat letzte Mal wedder kemst, haddst du
all orig 'n Knick weg.«

»Und ich? Und ich? Und ich? Ich soll hier sitzen und mich von dir
ernähren lassen? Das soll ich, Stine? -- Soll ich das, Stine?« Er fuhr
einige Male wie ein Rammbock gegen sie an, ihre Standhaftigkeit machte
ihn nur wütender.

»Ja natürlich, Stane. Dauh doch nich so, as sühst mi woll, hier steiht
de Pump!« Unwillkürlich nahm Stine einen festern Ton an, denn es reizte
sie sein unvernünftiges Gebaren, und sie fühlte sich unerschütterlich
im Recht, wenn sie beanspruchte, ihren Mann zu ernähren. Aber im
nächsten Augenblick fuhr sie erschrocken zusammen. Ihr Stane war drei
Schritte zurückgeprallt, seine Augen schossen Blitze. Wütend schlug er
mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Was soll ich, Stine? Meiner
Frau mein täglich Brot aus der Hand nehmen? Ein Kind in die Welt setzen
und seinen Unterhalt von mir abschieben? Ist das nicht so, als sollte
ich mit ihm um die Wette lutschen? -- Was soll ich, Stine? Mich vor
meiner eigenen Tochter schämen? Und alle Leute sollen mit Fingern
auf mich zeigen und sagen, daß ich ein Kerl sei, der sein Haus nicht
erhalten könnte? Ich sage dir, Stine, du bleibst zu Hause! -- Zu Hause
bleibst du! Weib, bin ich hier Herr im Hause oder du?«

Bei jeder Frage schien er zu wachsen, nach jedem Schlage auf den Tisch
schnellte er höher zurück, in seinen Augen loderte eine Glut, die
anscheinend alles um sich in Flammen setzen wollte. Stine sah das und
fiel immer kleiner und kleiner in sich zusammen.

»Äwer, Stane,« bat sie schließlich flehend, »so si doch nich so. Ick
bün jo ganz klicksch. Stane, ick bidd di um Gottes willen, ick dauh
jo allens, wat ick sall. Stane, min leiw Stane« -- die große Frau
schluchzte, und die Tränen rannen in Strömen über die Backen. Der so
dringlich Beschworene maß erst noch mit heftigen Schritten das Zimmer,
stand still, sah die Weinende an, ging wieder auf und ab, aber kam
allmählich näher, als ob ihn der Strudel unwiderstehlich anzöge, und
endlich glitt er in ihn hinein, und Stine war glücklich, daß sie ihren
Stane wieder hatte, und versicherte immer wieder von neuem, nun sei
alles wieder »will un woll«. Sie holte die Kleine herbei, damit diese
doch sähe, was für einen fleißigen Vater sie hätte; aber die Kleine
hatte auch schon ihren Kopf für sich, sah durchaus nicht auf den Vater,
sondern nur auf einen bestimmten Punkt an der Mutter; und als die
Mutter endlich auch von ihrer Tochter besiegt wurde, lachten die Eltern
schon einträchtig miteinander über ihr täglich sich erneuerndes Glück.

Stane ging wieder auf Arbeit und schonte sich nicht, aber er wurde
blaß und blasser, magerer, hinfälliger, so daß es allen Leuten auffiel.
Stine bat und flehte ihn an, sie arbeiten zu lassen -- nein, er sagte
bestimmt, er hätte eine Familie, und er als Mann müßte sie ernähren.
Da nahm sich der Schulze, der das Haus des Retters seines Sohnes nie
aus dem Auge verloren hatte, der Sache an. Er sprach eines Tages beim
Pastor vor und entwickelte den Plan, dem kleinen Mann eine für ihn
geeignete Arbeit zuzuweisen. Ein Kaufmann oder Händler wohnte noch
nicht in dem großen Dorfe, obwohl sich dort ein Geschäft recht gut
erhalten könnte, wenn es Stadtpreise für Ware nähme. Die Knechte würden
dann nicht mehr so oft sich im Stadtladen betrinken, die Mädchen nicht
am Abend spät noch mit dem Handkorb über die Landstraße gehen, das
Geld bliebe im Orte, jedermann wäre den beiden gut usw. Er wüßte, das
Stanislaus Wetterwetzer rechnen und schreiben könnte wie der Lehrer,
und Buch führen wie ein Kaufmann, und sich auf Waren gut verstände.
Darum wolle er, der Schulze, gern eine größere Summe für den Anfang
vorstrecken. Um die Zinsen und den Abtrag wäre ihm nicht bange. Die
Stube im Katen müßte allerdings zum Laden eingerichtet werden, aber es
ginge dem Sommer zu, da behülfen sich die Leute wohl, und Lagerraum
fände sich in der Nachbarschaft, wenn der Herr Pastor nur beim
Einrichten helfen wollte, dann müßte es gehen; aber die Schulzenfrau
dürfte ja nichts von dem Gelde wissen, nicht, als ob sie den beiden
Leuten nicht Vertrauen schenkte, aber die sollte ihr Gebiet frei haben
und mit Schweinsköpfen und Speckseiten und Würsten und Brot einstweilen
behaglich weiter an dem Glück des Paares bauen.

So wurde Stane ein Händler. Einige schlugen ihm als Firma vor
»Stanislaus Dasmachtgarnichts,« andere »Stane Wirdgemacht,« Stine
wollte am liebsten öffentlich den rechten Namen ihres Mannes
»Stanislaus Zedienen« auf dem Schilde anerkannt sehen.

Bald mußte ein größeres Haus bezogen werden, und in den dazugehörigen
Stallräumen quiekte und brummte es, dort hatte Stine das Regiment, vor
allem aber auch im Hause über die wachsende Kinderschar, über drei
Knaben, alle blond und groß wie die Mutter, so daß der älteste mit zehn
Jahren schon den Vater überragte, und zwei Mädchen, klein und zart und
schwarz wie der Vater. Und wer das Glück von Stane und Stine sehen
will, der muß sie besuchen, wenn der Vater die Kinder auf der Mutter
aufbaut, daß das Gebäude wie ein Turm dasteht. Stane lacht und Stine
lacht, dann aber fällt der Bau auseinander.




                Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten.


Mit solchen Betrachtungen ging Wilhelm Pickhingst von dannen in die
Winternacht hinaus und kam diesmal in die rechte Richtung und gerade
auf den gesuchten Ort zu. Er forschte nach dem Oberst, fand ihn aber
nicht und hatte damit seine Schuldigkeit seiner Meinung nach reichlich
getan.

Doch nun, wohin in der Nacht? Dort lag eine Scheune; aber als er die
Tür öffnete, sah er den Raum vollständig gefüllt, wie die Heringe lagen
die Soldaten da nebeneinander und schliefen oder hockten Rücken an
Rücken, die Füße nach allen vier Winden gekehrt, und putzten oder aßen.
Sein erster Versuch einzudringen wurde mit einem heillosen Donnerwetter
abgewiesen. Nun denn -- um die Scheune herum, um im Notfalle sich mit
einem Hofhunde um seine Hütte zu balgen. Halt! Da stöhnt etwas! Wilhelm
Pickhingst stand wie angenagelt und horchte. Doch nein, er irrte sich
wohl nur. Abermals ein Stöhnen, recht wie ein Mensch in großer Not.
Dort ermordete man wohl jemanden, der Ton kam aus einem Winkel, der
durch zwei Gebäude und einen Schuppen ganz versteckt gehalten wurde.
Vorsichtig hinan, dort liegt Stroh, unter dem Stroh bewegt es sich
und stöhnt, am Ende ein kranker Kamerad, der hier hilflos liegt. Ein
Griff -- und das Stroh fliegt beiseite. »Ist hier jemand krank?« Keine
Antwort. Eine leise Mahnung mit dem Kolben: »Oui iii ok, ok, ok!« Ein
Schwein fuhr heraus und grunzte ihn mißmutig an. Mit einer Verwünschung
sprang er zurück, aber überlegte bald, ob er nicht das Lager mit dem
Tiere teilen sollte. O nein, das wäre doch zu würdelos; was würde man
sagen, wenn man ihn hier am nächsten Morgen träfe. Halt, plötzlich
durchzuckte ihn ein prächtiger Gedanke.

Er drängte das Schwein in eine Ecke und kitzelte es mit dem
Seitengewehre, daß es sofort seine Willigkeit zu allen Zumutungen
mit hallendem Ouiiiii bekräftigte. Auf dem Hofe blieb noch alles
still. Abermals etwas kräftig die Spitze angewandt. Ein entsetzlich
gellender Schrei, der nachdrücklich in die Länge gezogen wurde. Da
öffnete sich plötzlich die Scheunentür, und ein Dutzend Soldaten
sprang heraus und schaute neugierig über den Hof. Jetzt galt's! Das
Schwein schlug auf seine Ermunterung einen Triller nach dem andern.
Von allen Seiten stürzten Mannschaften herbei in der Annahme, daß hier
beim Schweineschlachten noch irgendein gutes Stück zu erschnappen
sei. Als sie suchend ihm nahe waren, ließ er das Tier los, es fuhr
wie aus dem Lauf geschossen über den Hof, und Wilhelm Pickhingst
drückte sich an den Wänden davon und suchte sich unter den leeren
Plätzen in der Scheune einen passenden aus, während nach einiger Zeit
die übrigen zurückkamen, murrend, daß die leichtfüßige Bestie ihnen
ins Feld entkommen sei. Anscheinend lag Wilhelm Pickhingst schon in
tiefem Schlafe und ließ sich durch einige redlich gemeinte Püffe nicht
ermuntern. »Ich habe Schwein gehabt«, dachte er vergnügt. »Jetzt mag
ich das Pech damit dauernd los geworden sein.«

Am nächsten Morgen machte er sich zunächst hinter die Mauer, wo er
allein war, und verzehrte seine Vorräte bis auf eine letzte Rinde,
denn wer konnte wissen, wann sich wieder die Gelegenheit zum Essen
fand. Dann meldete er sich bei dem Grenadierbataillon, da niemand mit
Sicherheit angeben konnte, wohin von Les Cohernieres aus zunächst sein
Bataillon gehen würde, und erhielt Erlaubnis, sich bis auf weiteres
anzuschließen. Lombron war schon geräumt, es ging nach St. Corneille
vorwärts. Unterwegs zogen sich die Marschierenden in langen Kolonnen
auseinander, weil es galt, sich zwischen den Hecken durchzuwinden. Als
bei dieser Gelegenheit sich einmal vorne irgendein Hindernis, eine
Barrikade oder ein Verhau zeigte, versuchte man Umgehung, und der Zug
erklomm infolgedessen den nächsten nördlichen Abhang.

Oben angekommen, ergab sich auch hier die Unmöglichkeit, weiter zu
rücken, man mußte sich also aufs Warten legen, bis das Hindernis
weggeräumt war. Da erblickte man in ziemlicher Entfernung einen
französischen Reiter, offenbar einen Kürassier, der unbeweglich still
auf seinem Platze hielt und fortwährend die Reihen musterte. Die
übrigen kümmerten sich nicht um ihn, aber Wilhelm Pickhingst hatte
auf die Reiter seit einem bestimmten unvergeßlichen Abenteuer bittern
Haß geworfen. Er drängte sich also zu dem Hauptmanne durch und bat um
Erlaubnis, den Burschen auf den Trab zu bringen. »Meinetwegen!« hieß
es. »Aber halten Sie sich nicht zu lange auf, es geht weiter, sobald
da vorne aufgeräumt ist.« Mit einigen Sprüngen nahm Wilhelm Pickhingst
vollends die Höhe und marschierte nun gerade auf seinen Gegner zu.
In Schußweite stellte er sich an und hob sein Gewehr und zielte. Der
Bedrohte rührte sich nicht. »Ha,« dachte Wilhelm Pickhingst, »der hat
am Ende das Schießen nur bei den Franzosen kennen gelernt, da soll er
einmal einen Mecklenburger sehen. Will ihm lieber noch etwas näher
rücken.« Abermals hielt er und zielte. Der andere dachte nicht an den
Rückzug. »Das scheint ein mutiger Bursche. Um den wäre es schade.
Ich will mir diesmal aber sicher einen Gefangenen greifen. Noch etwas
näher -- und dann dem Pferde, das ohnehin nur ein elender Schinder ist,
gerade auf den Kopf!« Getan, wie gedacht. Ein Knall. Der Gaul lag mit
dem Reiter am Boden. Jetzt fing Wilhelm Pickhingst an zu laufen, denn
der Kürassier zappelte gewaltig und sprang auf, und als er den Feind
sein Gewehr wieder laden und mutig anrücken sah, rückte er aus. Die
Treffsicherheit schien Eindruck auf ihn gemacht zu haben.

Nun war die Strecke, über die er fliehen mußte, vom Sturme der letzten
Tage ganz kahl geweht und, da es am Morgen stark geglatteist hatte,
sehr unsicher für den Fuß, er glitt aus und strauchelte und kam
schlecht fort. Das Pferd hatte gewiß mit geschärften Eisen besser
laufen können. Wilhelm Pickhingst konnte noch schwerer auf seinen
Holzschuhen vorwärts dringen, plötzlich warf er sie beiseite, alle
beide fast mit einem Wurfe, und nun ging es auf stumpfen Socken hinter
dem andern drein. Der erkannte seine Bedrängnis und strebte mit Hast
einer Hecke zu, die sich in seiner Nähe entlang zog, dachte wohl,
sich hinter ihr zu verbergen und am Ende gar durch eine Lücke sich zu
verteidigen. Plötzlich fuhr Wilhelm Pickhingst etwas durch den Sinn,
und er beflügelte seinen Fuß zu rasender Hast, daß er wie der Wind
dahin flog, hier war ja eine Gelegenheit -- der Kürassier war ein
baumlanger Kerl mit mächtigen Beinen -- sollte er ihn niederschießen?
Haben mußte er ihn jetzt, es koste, was es wolle -- doch nein, so
von hinten, das ging nicht an. Wenn der Kerl nur standhalten wollte,
Bajonett und Pallasch gegeneinander war ein ehrlicher Kampf. »Halt,
Feigling!« schrie er. Der andere sah sich um, Wilhelm Pickhingst drohte
ihm mit angelegtem Gewehre und brüllte: »Steh', du Hund!« Hui, hatte
der andere noch nicht gelaufen, so setzte er jetzt an. Nun kletterte er
den Wall hinauf, er glitt zurück, ein zweiter Anlauf brachte ihn besser
auf die Krone, nun kroch er in eine Lücke. Wilhelm Pickhingst machte
einen verzweifelten Sprung und packte mit beiden Fäusten die Hacken
der großen Stiefel und hielt sie wie mit eisernen Klammern fest und
stemmte sich mit der ganzen Leibeswucht gegen den Wall. Der andere aber
zog auch, nur nach entgegengesetzter Richtung, was er konnte. Da gab
es nur eine Vermittelung, die Stiefel übernahmen sie, sie ließen die
langen Beine frei. Wilhelm Pickhingst schoß rücklings auf dieser, der
Kürassier kopflings auf jener Seite vom Wall.

Aber die kostbaren Stiefel, das Ziel seines Angriffs, hatte Wilhelm
doch erobert, ein Blick, oh, sie hatten eine wunderbare Größe! Und
die Schäfte waren noch weit länger als an seinen unvergeßlichen
früheren Stiefeln, und so heil und ganz und so vorzüglich geschmiert!
Er vergaß in der Bewunderung völlig den Franzosen, nahm sein Gewehr
auf und ging davon, mit den Stiefeln immer liebäugelnd. Da weckte
ihn ein Ruf aus seiner Betrachtung. Jenseits auf der Höhe stand der
Kürassier, und diesseits stand er. Und der Franzose tanzte und sprang
auf seinen Socken, als wollte er sagen: Ȁtsch, ich bin doch noch
davon gekommen.« Und Wilhelm Pickhingst war so überglücklich, daß
ihn die Sache eigentlich freute, er nahm sein Gewehr in die eine und
beide Stiefel in die andere Hand und tanzte und sprang auch, als wenn
er sagen wollte: »Ätsch, ich habe doch deine Stiefel!« Den Franzosen
schien das zu ärgern, er machte allerlei höhnische Bewegungen, und den
Deutschen schien das zu reizen, denn er stellte seine Stiefel nieder
und nahm ihn aufs Korn. Der Franzose schämte sich wohl jetzt seiner
früheren Flucht, er schlug die Arme ineinander und schaute verächtlich
drein, und der Deutsche schämte sich, den Wehrlosen abzutun, obwohl er
ihn prächtig vor dem Rohre hatte, er setzte sein Gewehr bei Fuß. Der
Franzose hob die Faust und tat so, als wenn er jemanden durchdreschen
wollte, und der Deutsche winkte ihm, er sollte nur kommen. Der
Franzose schnallte seinen Pallasch ab, hob ihn hoch und legte ihn auf
den Boden, den Küraß dazu. Der Deutsche verstand ihn sehr schnell, hob
sein Gewehr und legte es nieder. Der Franzose nahm sein Messer aus der
Tasche, zeigte es und warf es fort; der Deutsche machte es mit seinem
Messer auch so. Jetzt schüttelte der Franzose die Hände und zeigte,
daß er nichts mehr habe und deutete auf seine Faust als einzige Waffe.
Der Deutsche machte es genau nach, dann gingen beide in angemessene
Entfernung von ihren Waffen, und als der Franzose sich erst überzeugt
hatte, daß er es mit einem ehrlichen Gegner zu tun hatte, da war er
auch schon wie der Blitz von seiner Höhe herunter und zurück durch die
Hecke und auf den freien Platz, den das Glatteis so schön deckte. Beide
waren auf Socken, und so standen sie fest, und die Bedingungen waren
gleich, nur daß der Kürassier einen Kopf länger war als der gedrungene
Deutsche. Jetzt maßen sie sich mit den Blicken, plötzlich fuhren sie
aufeinander zu wie zwei bissige Hunde. Im nächsten Augenblick hatte der
Franzmann den Boden unter sich verloren, ein Ruck, und er saß auf --
nun -- Wilhelm Pickhingst sah kaltblütig an seinen schmerzverzogenen
Lippen, daß er unter dem oberen Ende seiner Schenkelknochen durchaus
kein richtiges Polster hatte. Der Geworfene erwartete offenbar, daß
er erbärmlich durchgebläut würde, aber Wilhelm Pickhingst dachte in
seinem ehrlichen Gemüte gar nicht daran, seinen Sieg auszubeuten.
Ein brüllendes Gelächter aus mehreren hundert Kehlen erschallte, das
Bataillon konnte den Kampfplatz recht gut überschauen, kleinere Leute
kletterten größeren auf die Schulter, einige erstiegen Bäume, und alle
riefen und jauchzten vor Vergnügen. Da schnellte der lange Bursche mit
einer erstaunlichen Gewandtheit wieder in die Höhe, sprang hierhin und
dorthin und schüttelte mit dem Kopfe und schlenkerte mit den Armen und
gab durch sehr seltsame Stellungen zu verstehen, daß er noch einen
regelrechten Ringkampf begehrte. »Na, denn man zu, Kamerad!« sagte
Wilhelm Pickhingst und zog seinen Mantel aus, wobei der Franzose sehr
höflich ihm behilflich war. Beide traten sich noch einmal gegenüber,
der Franzose verneigte sich, und Wilhelm Pickhingst machte einen
Kratzfuß, und dann kamen sie mit angezogenen Ellbogen sich näher, oh,
Wilhelm Pickhingst war in diesen Dingen nicht unerfahren, er wußte, daß
sein Gegner auf seine Größe und seine unglaubliche Gewandtheit rechnete
und seinem Griffe möglichst ausweichen würde, er stellte sich also
fest und paßte scharf auf, und als der Kürassier nun plötzlich anfuhr,
duckte er sich, faßte dessen dürre Schenkel, ganz gleich, ob Hose oder
Haut, hob ihn mit seiner Bärenkraft, und hup -- da machte er ihm
einen regelrechten Hosenlupf und hatte ihn hoch und warf ihn auf den
Rücken, daß es krachte. Abermals tosender Beifall, der den Unterlegenen
auffallend schnell auf die Beine brachte.

»+Ah, grand respect! -- Une main vigoureuse! Dans le monde entier
on ne trouve pas son pareil+«[1], sagte er würdevoll grüßend,
nahm die mächtige, breite Faust in seine Rechte und betrachtete sie
staunend. Wilhelm Pickhingst schüttelte ihm die Hand und entgegnete:
»Na, Kamerad, darum keine Feindschaft nicht!« Wie es gemeint war, sagte
der treuherzige Klang, der Franzose verstand's genau, wurde plötzlich
wieder gelenkig, legte die Hand aufs Herz, schüttelte gleichfalls
dem Gegner seine Rechte, sprang wieder zurück und begann nun in der
genauesten Weise das Bild des Kampfes zu wiederholen, nur daß er
versuchte, seinen Gegner darzustellen, legte an, setzte ab, schüttelte
mit dem Kopfe, zum Schluß hob er seine langen Arme bewundernd hoch.
Er wußte also ganz genau, daß der Deutsche nur aus Großmut nicht
geschossen hatte. Plötzlich besann er sich und fragte etwas, was wie
+Cognac+ klang und sicher so wie +boire+. Wilhelm Pickhingst
spitzte die Ohren, zeigte durch Achselzucken, daß er nichts zu trinken
besaß. Der Franzose schob ihn in seinen Mantel zurück, gab ihm sein
Gewehr in die Hand, hob ihm das Messer auf, faßte ihn beim Arm und
trottete mit ihm ab, dorthin, wo das Pferd erschossen lag. An einer
Satteltasche hing eine bauchige Kürbisflasche unversehrt, die schwang
er triumphierend in die Luft, entkorkte sie, trank und reichte sie
dem Mecklenburger. O ja, das war ein Tropfen! Der Franzose sah ihn
erwartungsvoll an, und als Wilhelm Pickhingst nickte und sich die Brust
klopfte, lachte er vergnügt aus vollem Halse, trank und gab und gab
und trank, und im Handumdrehen war die Flasche, die sicherlich einen
Liter faßte, leer. Wilhelm Pickhingst mußte es dulden, daß ihm die
Flasche zur Erinnerung an seinen Riemen gehängt wurde. Nun aber, als
das Feuer durch die Adern rann, ward der Franzose springend lebendig;
Wilhelm Pickhingst saß, ehe er es sich versah, auf dem Gaul und mußte
es leiden, daß der andere ihm die Stiefel anzog. Er ließ es sich
gravitätisch gefallen wie ein Pascha von drei Roßschweifen, der über
zehn Sklaven zum Ankleiden verfügte; es war ihm ein unbeschreibliches
Wohlbehagen, als er die Stiefel an seinen Füßen fühlte und bemerkte,
daß sie paßten und gar nicht drückten. Aber er mußte zurückkehren zum
Bataillon, der Hauptmann wurde sonst ungeduldig; verlegen sah er auf
die Socken seines Gegners, da fielen ihm seine Holzschuhe ein; jetzt
faßte er den andern bei dem Arm und brachte ihn zu der Stelle, wo er
sie abgeworfen, und zog sie nun seinerseits ihm an. Hui, welche Freude
für den Kürassier! Er tanzte wahrhaftig mitten auf dem Feld, he, hup,
da hatte er beide Schuhe in den Händen, nachdem er sie mit geschickten
Würfen in die Luft geschleudert hatte, und klappte sie zusammen und
flötete eine lustige Melodie dazu. Wilhelm Pickhingst hatte aber keine
Zeit mehr, er bot ihm die Hand und sagte adieu. Ja, da kam er schön an!
»+Qu'est-ce que vous voulez? Moi, je suis votre prisonnier, monsieur!
Pourquoi pour moi cette honte? En face de votre bataillon?+«[2]
und dabei warf der Franzose sich in eine Haltung, als müßte er mit
seinen Blicken seinen stämmigen Gegner niederstrecken. Prisonnier! Das
eine Wort verstand Wilhelm Pickhingst, und das übrige dachte er sich
hinzu. Er nickte gemütlich und sagte: »+Eh bien, allons, camerade,
vous êtes mon prisonnier.+«[3] Der Franzose zog die Schuhe wieder
an, und so wanderten beide Arm in Arm dem Bataillon zu, bei dem man
sie mit dem tollsten Jauchzen begrüßte. Der Franzose neigte sich wie
ein Schauspieler, der gebührende Huldigungen entgegennimmt -- gleich
darauf ging der Zug vorwärts, er immer mitten drin, wie wenn er schon
lange in den Reihen der Deutschen gefochten habe. Nachdem nun aber
aus allen kleinen Gehöften am Wege die Marodeurs und entmutigten
Franzosen massenweise zusammengetrieben waren, sollten die Gefangenen
nach rückwärts geschafft werden, und der Kürassier mußte sich trennen,
umarmte den neuen Freund, schüttelte die Hände dutzendweise und
schied offensichtlich ungern. Wie ein Marschall ging er zwischen den
Jammergestalten seiner Landsleute und warf nur verächtliche Blicke um
sich.

St. Corneille und das davor liegende Schloß wurden gestürmt, und als
Wilhelm Pickhingst gerade in der besten Arbeit war, sah er seitwärts
sein Bataillon auftauchen. -- »Kiek mal, Wilhelm Pickhingst hett sin
Kriegsstäwel wedderfunn!« sagte Jochen Langpaap, der ihn zuerst gewahr
wurde, und verzog seinen Mund von einem Ohr zum andern, während er
lud und gleich darauf schoß. »Un ick segg: Wat tom Daler slagen is,
kann up dei Dur nich vörn Schilling utgäwen warrn.« -- Abermals ein
Schuß. Die Kunde pflanzte sich mit Windeseile fort, alle wollten
Wilhelm Pickhingst sehen, aber Wilhelm Pickhingst ging im Kampfe
nach vorne. Darum mußten alle folgen, und nicht eher fand man Muße,
sich seine Erfahrungen auftischen zu lassen, als bis man in einem
Chateau am späten Abend zur Ruhe kam. Einige Grenadiere konnten die
Wundergeschichte vom Erwerbe der Stiefel, die er erzählte, bestätigen,
und Wilhelm Pickhingst versicherte schließlich, getragen durch die
allgemeine Anerkennung, unermüdlich, nun stände es baumfest, daß sein
Pech endlich von ihm weichen werde, das Eiserne Kreuz sollte und mußte
sein werden.

Auf einer Grenzstation mußte der Zug halten und erst die sich
verzögernde Abfahrt eines andern abwarten. Wilhelm Pickhingst
kletterte mühsam aus dem Wagen und ging vor demselben auf und ab im
Sonnenschein, während aus dem andern Zuge Hunderte von neugierigen
Franzosengesichtern schauten. Dort gingen Gefangene zurück in die
Freiheit.

Am Zuge entlang marschierten Männer aus der Bedeckungsmannschaft,
offenbar mit geladenen Gewehren, um etwaigen feindseligen Ausbrüchen
der zügellosen Gesellschaft, die niemals freiwillig Gehorsam leistete,
nachdrücklich begegnen zu können. Spottreden über den kranken Prüssien
flogen hinüber, Schimpfworte, die Wilhelm Pickhingst wohl verstand,
aber nicht beachtete. Plötzlich wurde es an dem einen Wagen laut.
Mit flinkem Griff öffnete ein langer Franzose die Tür, sprang hinaus
und eilte, beide Arme hoch wie Mühlenflügel schwingend, auf Wilhelm
Pickhingst zu. »Halt!« und ein bedenklicher Anschlag des Gewehres
ertönte hinter ihm -- es kümmerte ihn nicht -- »Halt!« unmittelbar
darauf zum zweiten Male, die Franzosen schrien warnend aus dem Wagen
heraus. Wilhelm Pickhingst verstand den furchtbaren Ernst der Lage,
vergaß seine Schwäche, und mit der alten Behendigkeit stand er bei dem
Franzosen und wollte ihn aufhalten, als dieser ihm plötzlich um den
Hals fiel und küßte und küßte und klopfte und die Hand schüttelte. --
Mit Geistesgegenwart drängte ihn Wilhelm Pickhingst sofort so, daß er
ihn gegen eine nachgesandte Kugel, die das letzte Halt nur zu schnell
rufen konnte, deckte und winkte dann der Wache ab. Und nun ergab sich
ein lebendiger Vorgang. Der Franzose machte in einer Minute den ganzen
Kampf auf dem Felde draußen noch einmal durch, legte an und schoß das
Pferd tot, warf seine Holzschuhe aus (er trug sie immer noch) und
lief auf Socken, ergriff die Stiefel (Wilhelm Pickhingst hatte nicht
von ihnen gelassen, selbst nicht, als die Truppe neu eingekleidet
war) und zog sie aus, d. h. bildlich, eröffnete die Herausforderung
zum Ringkampf, ließ sich werfen, d. h. auch nur bildlich, denn
der Bahnsteig war hart gepflastert. Schließlich entdeckte er die
Kürbisflasche -- da wurden seine Augen hell, und jetzt hielt Wilhelm
Pickhingst, der sich vor Freude über seinen Gefangenen ganz gesund
fühlte, es an der Zeit, seinerseits in die Handlung einzugreifen. Er
trank ihm zu und gab die Flasche hin, und der andere trank sie mit
einem Zuge leer, schüttelte sich aber heftig; der eine gab, was er an
Zigaretten hatte, und das war nicht wenig, weil seine Kameraden ihn
beim Abschiede im letzten Liebesdienste versorgt hatten, und der andere
steckte alles ein. Inzwischen war einer aus der Begleitungsmannschaft,
die verwundert dem Schauspiele zugesehen hatte, herangekommen und
winkte dem Franzosen. Der tat, als ob er nichts sähe, sondern
schauspielerte weiter. Der Soldat faßte ihn bei der Schulter und drehte
ihn herum, aber der Franzose glitt, nachdem er kaum einige Schritte
gemacht hatte, unter der Hand weg, holte aus irgendeiner Tasche einen
schmutzigen Fetzen Papier und rief: »+Votre nom, votre nom, mon brave
camerade!+«[4] Wilhelm Pickhingst begriff ihn und schrieb Namen und
Adresse genau auf, dann ein rascher Abschied fürs Leben, der eine ging
hierhin, der andere dorthin, und die Züge dampften davon.

Auf der nächsten Station konnte Wilhelm Pickhingst nicht mehr
aussteigen, auf der dritten schüttelte ihn das Fieber, auf der vierten,
auf der ein Lazarett sich fand, wurde er zurückgelassen, weil er
phantasierte.

Mehrere Monate rang seine kräftige Natur gegen die Krankheit, bis er
endlich derselben Herr wurde und nun in die Heimat entlassen werden
konnte. -- In Schwerin mußte er kurzen Aufenthalt nehmen, und als er so
durch die Straßen ging, dachte er daran, wie er sich früher in Gedanken
seinen Einzug in die Residenz vorgestellt hatte und wie ihn eigentlich
alle seine Hoffnungen betrogen hatten. Die Begegnenden standen still
und sahen ihm nach, er trug seine hohen Stiefel und die Kürbisflasche
und den Schnurrbart, und er glaubte, daß alle ihm seine trüben
Erfahrungen von der Stirn lesen könnten. Endlich mußte das Unglück
ihm noch jenen guten Freund, den er einst beim Anfange des Krieges im
Garnisonsorte angetroffen hatte, in den Weg führen, und dieser konnte
es sich nicht versagen, mit etwas anzüglichem Tone zu fragen: »Na,
Wilhelm, wo ist denn das Eiserne Kreuz?«

Er sah den Mann an und sah um sich -- es war am Markte, und viele
Menschen standen in der Nähe -- am liebsten hätte er ihn durch das
Asphaltpflaster hindurch mitten in den Grund getrieben. »Du Hans
Narr,« zischte er grimmig, »das wartet wohl nur darauf, daß du deine
langen Ohren in ihrer natürlichen Größe ausreckst, um sofort daran
gehängt zu werden, denn die Dümmsten haben ja immer das größte Glück.«
-- Weg war er in die Seitengasse hinein und dann zum Bahnhofe und so
nach Hause.

Wenn er nun auch nicht durch bekränzte Pforten einzog, so doch durch
ein Spalier von glückseligen Mienen und offenen Armen. Und als er,
schon etwas sanfter gestimmt, seine Stube bezog, fand er dort zunächst
eine sehr große Kiste mit Kognak, die von seinem Kürassier-Freunde über
England geschickt war, und sodann einen dicken Brief vom Regimente, der
ihm, weil man nicht erfahren hatte, wo er unterwegs geblieben, hierher
nachgesandt war. Mit Befremden öffnete er ihn, da fiel ihm das Eiserne
Kreuz entgegen. Die Offiziere und seine ganze Kompagnie gratulierten.
Er aber fühlte, daß seine Knie zitterten, und setzte sich und küßte es
und zerdrückte eine Träne in seinem Auge.

Das ist die Geschichte von Wilhelm Pickhingst, und wer sie nicht
glaubt, der mag ihn selbst fragen (aber vorsichtig, denn der hat noch
heute allerlei empfindliche Stellen, und das nicht bloß an den Füßen).
Er kann sich die Siegeszeichen ansehen, aber mag ja nicht glauben, daß
noch etwas von dem Kognak übrig ist; ein gut Teil hat Jochen Langpaap
zugesandt erhalten. Und der Rest? Nun -- man frage sich selbst, wie man
es mit demselben an seiner Stelle würde gemacht haben.




                             Ilse Frapan,

                             Dat Undeert.


Mit Genehmigung der Verleger ~Gebrüder Paetel~ in ~Berlin~
aus ~Ilse Frapan~ »~Zu Wasser und zu Lande.~«

                             Geb. M. 5.50.




                             Dat Undeert.


»Hurra! hurra! hurra! das' recht, Mietje, schrei du man orrendlich mit!
Un nu mal op engelsch: +hep! hep! hep! hurrah!+«

»Nee, Hinrich, auf engelsch kann ich das nich,« riefen ein paar
Kleinkinderstimmen aus dem dicht am Gartenzaun zusammengedrängten
fröhlichen Haufen.

Der größte Junge beugte sich zu den kleineren Geschwistern: »Kannst es
nich, Mietje? kannst es nich, Jasper? Na, denn man wieder auf deutsch:
ein, zwei, drei, hurra! Mußt auch orrendlich deinen Hut schwenken,
Jasper! Süh, so gehört sich das! Und noch einmal: ein, zwei, drei,
hurra!«

Sechs weiße Strohhüte mit flatternden schwarzen Bandendchen wurden von
sechs hellen, rundlichen Flachsköpfen gerissen und im Kreise geschwenkt
und gedreht. Die drei Mädchen unter ihren sechs Brüdern streckten die
Puppen in die Höhe und salutierten damit hinaus auf die in hohlen
Wellen gehende blauschwarze Elbe, über die wie weiße Silberpunkte die
Möwen hin und her schossen. Ein starker Sturm aus Süd fegte über den
Blankeneser Strand, und unter dem grollenden grauen Gewitterhimmel
standen unbekümmert die hurraschreienden Kinder auf ihrem kleinen,
festuntermauerten Bollwerk über dem Fußweg.

»Und noch einmal! Und noch einmal!«

Die neun jungen Kehlen, zwischen zwölf und zwei Jahren, klangen
schon etwas rauh von Wind und Wetter und dem angestrengten Rufen. Es
galt, den lauten Zusammenhall von schlagenden Wellen und rauschenden
Bäumen und flirrendem Sand zu überschreien. Ein wuchtiges Klatschen
und Flügelschlagen klang über ihren Köpfen: das war die aufgezogene
Flagge vor dem Hause. Wer unten an dem Bollwerk vorüberging, sah nur
einen Augenblick verwundert auf die geputzte jubelnde Gruppe; dann,
mit einem verständnisvollen Lächeln schritt er weiter. Eben schob sich
der dicke Polizeidiener heran: die Hände auf dem Rücken gefaltet,
das behagliche Bäuchlein voraus, und vorn, im geöffneten Rocke,
allerlei bedeutungsvolle weiße Papiere, auf denen der unstet zuckende
Sonnenschein glänzte. Er blieb stehen, blickte lachend hinauf und
sagte: »Na, Vadder schall woll hüt opkamen, un ji wölt em herschreen,
wat?«

»Ja!« erwiderte der hellstimmige Chor, und Hinrich, der Sprecher und
Älteste, setzte hinzu: »Wir üben uns da nu 'n büschen auf ein; die
Kleinen können das je sonst nich.«

»Ja, Mietje hat woll vorig Jahr noch nich mitgerufen.«

»Nee! da war sie je man fünfviertel!«

»Na, Gören, denn gröhlt man nich to dull, -- sünst sünd ji an' Enn'
hesch[5], wenn't an't Klappen kummt! Wanneer[6] schall Vadder denn
opkamen?«

»Hüt Nahmiddag oder morgen fröh, mit de Tide[7].«

»Nee, nee, heut Nachmittag soll er kommen,« riefen die älteren Mädchen
und drängten sich heran, und Mietje schüttelte den großen weißlichen
Lockenkopf und wiegte mütterlich ihre unförmliche Plünnenpuppe[8] in
den dicken rotmarmorierten Ärmchen.

»Morgen früh släft sie noch, denn tann sie ihn nich dut'n Tag sagen.«

»Giev mi 'mal so'n lüttje Mettwust her,« scherzte Petersen und griff
nach dem Arm der Kleinen.

»Nee! Sie is mich andewachsen! Laß sie man gern los, sie tönnt man
leicht 'mal abreißen,« sagte Mietje ängstlich und versteckte sich
hinter dem Ältesten. Der schlug ihr seinen Jackenflügel übern Kopf und
drückte sie zärtlich an sich. »Dumme Mietje!« Und dann kommandierte er
ungeduldig von neuem: »Ein, zwei, drei --«

»Na denn man los, Gören! Aber die Flagge habt ihr 'n büschen zu früh
aufgezogen, die reißt noch entzwei bei dem Wind!«

All die neun Augenpaare flogen zu dem schlanken Fahnenschaft, der sich
palmengleich elastisch hin und her bog.

»Die deutsche Flagge reißt nich!« Hinrich steckte beide Hände in die
Hosentaschen und stellte sich breitbeinig auf. »Und wenn Sie die
Stange meinen, das 'n echten Bambus, den hat mein Onkel Hartig selbst
mitgebracht.«

Eins der Mädchen steckte den Fuß halb durch den Zaun: »Herr Petersen,
wir haben alle neue Stiefel an.«

»Und neue Hüte auf!« rief die Schwester.

Hinrich schob sie auf die Seite: »Ach was, die Deerns klöhnen immer
so'n Unsinn, -- nee, Herr Petersen, ich krieg' 'n kleinen wilden Hund
von Feuerland, wo die Lehmänner[9] wohnen!«

»Mama steckt reine Gardinen auf.«

»Ach, Anna immer mit ihrem Kram! Nee, Petersen, hören Sie 'mal, der hat
denn gar keine Haare.« Aber Anna ließ sich nicht abweisen. »Wir essen
denn Rochen mit Specksauce, das mag Papa so gern.«

»Dat glöw ick woll, ji könt woll lachen. Wie heißt denn dein Papa sein
Schiff, lütt Jung?«

»Maria da Gloria,« schrie blitzschnell der neunstimmige Chor, sogar
Mietje hatte keinen Augenblick gezögert, wenngleich der Name etwas
undeutlich herauskam.

Gewichtigen Schritts spazierte Petersen weiter, während die Kinder nun
zur Abwechselung ein Lied intonierten: »Ich hab' mich ergeben mit Herz
und mit Hand!«

»O, da kommt Fräulein Dehn, Hinrich, laß doch, i gitt[10], sei doch
'mal still, wir wollen doch Tante Manga guten Tag sagen.«

Es war ein schlankes junges Mädchen, das in einem hellblumigen
Musselinkleid und kleinem weißen Strohhut herangeflattert kam. Die
Kinder, voran Anna, die elfjährige, stürzten ihr so stürmisch entgegen,
daß sie sie fast umrannten. »Kommen Sie zu uns?«

»Tante Manga, kommst du zu uns?«

»Nein, ich will den Schirm tragen.«

»Und ich trag' die Tasche, nich?«

»Fräulein, Tante, Papa kommt heute auf!«

»Papa und Onkel Hartig!«

»Heute Nachmittag oder morgen früh!«

»Komm mit 'rein! Komm mit 'rein.«

»Nein, pfui, nich stehn bleiben, Tante Manga! Warum willst du denn nich
'rein kommen?« so rief und schwirrte es durcheinander.

Das junge Mädchen war stehen geblieben, eine plötzliche
Unentschlossenheit lag auf ihrem lieblichen, weichen Gesichtchen, das
ganz rot übergossen aussah.

»Nein, pfui, ich ruf' Mama, wenn du nich 'rein kommen willst!« Mit
eigensinnigem Kopfnicken lief Anna durch den Garten und ins Haus,
während sich die Gruppe der Kinder mit Manga Dehn in der Mitte langsam
der Gartentreppe zuschob.

Eine junge Frau in einem blauen Morgenkleide, dem man es ansah, daß es
für festliche Zeiten gespart ward, kam mit einem Hammer in der Hand
hinten ums Haus herum und blickte suchend und etwas ängstlich über den
Garten.

»Da steht sie, Mama, da unten, und nu will sie nich herein,« rief
Anna in angeberischem Ton. Die gesunden roten Backen der jungen
Frau erbleichten: »Fräulein Dehn, Sie bringen doch keine schlechten
Nachrichten?« Und hastig eilte sie auf die Plattform und blickte
hinunter.

»Ach Gott nein, wieso denn?«

Manga Dehn kam ihr nun schnell entgegen und schüttelte ihre Hand. »Ich
wollte nur 'mal mein Versprechen wahr machen und auf ein paar Tage
heraus kommen, aber jetzt -- und nun haben Sie gedacht -- o wie dumm
von mir.«

Frau Tönnies lachte schon wieder. »Wissen Sie, wenn ich jemand von der
Dampfergesellschaft seh', krieg' ich's immer mit der Angst, und weil
Ihr Vater doch nu der Inspektor is -- das geht uns Seemannsfrauen allen
so, 'n büschen bange is man doch immer.«

Das junge Mädchen entschuldigte sich mit herzlichen Worten. Auf der
Schwelle wollte sie nicht weiter.

»Die Kinder sagen, Ihr Mann kommt -- sehn Sie, Frau Tönnies, darum
wollt' ich gleich wieder umkehren. Ich komm 'n andermal.« Sie streckte
ihr die Hand hin. Die Kapitänsfrau errötete leicht, sie hatte ehrliche
dunkelblaue Augen, und die wurden ein bißchen unsicher.

»Ja, mein Mann kommt heute.«

»Denn will ich Sie auch gar nicht aufhalten.«

»Ach was, nu kommen Sie man 'rein, Sie kommen ja ganz von Altona,
nich?« Sie zog die schwach Widerstrebende hinter sich drein ins Haus
und gleich in die Stube, in der sie ohne viel Umstände flugs wieder die
Leiter bestieg.

»Setzen Sie sich man in die Ecke beim Ofen, da is es am kühlsten, ich
muß man noch oben die Falle an den beiden Fenstern aufstecken. Ja, was
glauben Sie woll, wie lange wir hier nu schon rein machen? Vierzehn
Tage sag' ich Ihnen! Aber nu is es auch pükfein. Alles abgeseift, bis
auf'n Boden! Nee, so'n Seemann is eigen, wissen Sie, und Mietje hat
noch miteins dazwischen die Wasserpocken gehabt -- na überhaupt, so
neun, das is 'ne kleine Horde!«

Plötzlich musterte sie von dem hohen Aussichtspunkt herunter den gelben
Fußboden, und Erschrecken flog über ihre Züge: »Herrjes, sind die Gören
das gewesen? Ich mein' die Tappsen[11] da bei der Tür und beim Sofa;
können Sie sie sehn, Fräulein Dehn? Wenn man eben meint, man hat nu
alles rein --«

»Kann ich das nicht aufwischen?« Dienstfertig stand das junge Mädchen
auf.

Die Frau lachte: »Je, Sie mit Ihren feinen Händen, und denn zu Besuch
gehn und Stuben fäulen[12]!«

»Ich tu' es furchtbar gern!« beteuerte errötend die Kleine, und ehe
eine Antwort kam, war sie schon draußen und kehrte mit Leuwagen[13] und
Fäuel[14] zurück.

Wohlgefällig blickte Frau Tönnies auf die nette zierliche Figur, die
entschlossen ihr Kleid aufschürzte und das feuchte Geschäft gewandt
beendete.

»Is mir aber wirklich unangenehm, und ich hätt' es auch nicht gelitten
-- bloß, weil mein Mann kommt --«

»Wie Sie sich wohl freuen!« rief das junge Mädchen mit leuchtenden
Augen. Frau Tönnies kam von der Leiter herunter und atmete tief auf.

»Oha!« sagte sie, »je das is wahr, das Kommen is immer schön, wenn man
das alte Weggehn nicht wär! Nu noch das andere Fenster.«

Plötzlich klopfte sie aufgeregt an die Scheibe. »Es regnet! Große
Tropfen. Hereinkommen!« Sie winkte den Kindern zu, die sämtlich ihre
rotkarierten Taschentücher gezogen und sie sich über die Hüte gebunden
hatten. »Herrjes, und sie haben alle neues Zeug an!« rief anteilsvoll
das junge Mädchen, »ich hol' sie!«

»Aber man ja nich in die Stuben! Sie können in die Küche gehn, da wird
zuletzt aufgescheuert«, schrie die geschäftige Hausfrau hinter ihr her.

Kathrin, die in der Küche an einem großen Grapen[15] klärte, war nicht
sehr erbaut über das Getrappel, das da auf einmal zur Tür herein kam.
»Ick kann se hier nich brucken! Se fat allens an! Kiek, Jasper het
all de Hann' an de Wichsschachtel swatt makt, un Mietje geiht an de
Watertünn! Wat schall ick denn egentlich? Schall ick hier klären, oder
schall ick Gören möten[16]?« fragte sie mürrisch.

»Und in die Stuben tragen sie zu viel Sand hinein!« sagte Manga
gedankenvoll und blickte auf die roten Klinker des Küchenbodens. Dann
auf einmal lachte sie und rief: »Zieht 'mal alle eure Stiefel aus!«

»~Was~ sollen wir?« Nur die älteren begriffen sofort den Grund
dieser Verordnung. Aber Friedje, Phitje, Jasper und Mietje wollten die
neuen Stiefel durchaus nicht hergeben und schrien und strampelten, als
Kathrin Gewalt anwendete.

»So, und jetzt 'mal alle ganz leise auf Strumpfsocken hinter mir her,
wir wollen Mama überraschen,« befahl Fräulein Dehn. Das sah schon
spaßhafter aus, und die Überraschung gelang fast nur zu gut, denn Frau
Tönnies wäre beim Anblick der geisterhaft leise heranschleichenden
Kinderschar fast von der Leiter gefallen. Aber Manga beruhigte sie und
versprach, auch die Kinder ruhig zu halten, indem sie ihnen Geschichten
erzähle. Die Frau war mit den Gardinen fertig geworden; sie kam heran
und drückte die Hand der Helferin. »Nu sehn Sie 'mal, wie sich das
alles so macht!« sagte sie. »Was hätt' ich bloß anfangen sollen, wenn
Sie nicht gekommen wären! Wußten Sie denn gar nicht, daß die Maria da
Gloria heute aufkommt? Ihr Vater hat doch gewiß auch 'ne Karte aus
Antwerpen gekriegt?«

Manga Dehn blickte zu Boden. »Ach, meinen Sie, daß Papa mir alle Karten
zeigt, die er kriegt? Aber nun muß ich weg, -- es wäre rücksichtslos --
wo Sie sich so lange nicht gesehen haben --«

»Nein, Tante Manga soll hier bleiben!« riefen die Kinder.

Die Kapitänsfrau nickte ihr zu: »Na, Sie können sich woll denken, daß
ich doch nich viel von meinem Mann hab'. Die vierzehn Tag', drei Wochen
sind immer gleich um, und die neun Gören lassen mich gar nicht an ihn
'ran.« Sie breitete ihre Arme aus, so weit sie reichten, die drei
Jüngsten und der Älteste gingen gerade hinein: »Wer sitzt woll auf Papa
sein Schoß?«

Hinrich rief: »Mietje!« Anna schrie: »Jasper!« Die übrigen sieben
riefen einfach: »Ich!«

Phitje gab Thedje einen Schubs: »Ich sitz' denn auf das eine Bein!«

Guschen stieß Klaus auf die Seite: »Und ich sitz' auf das andere Bein!«

Friedje drängte Jürgen zurück: »Und ich sitz' denn auf das -- noch
andere!«

»He! he!« lachte Jürgen, »drei Beine hat Papa gar nich!«

Alle stimmten in das Gelächter ein, nur Friedje ließ die Lippe hängen.
Er wandte sich an seine Mutter: »Auf was für'n Bein soll ich denn
sitzen?«

Frau Tönnies streichelte seinen Kopf: »Friedje sitzt denn auf Onkel
Hartig sein', der hat ja gottlob auch noch zwei Beine.«

Klaus meldete sich schleunig für das vakante zweite, und nun hieß es:
»Mit mein' Onkel Hartig kann man überhaupt viel besser spielen, mit
dem kann man 'n büschen albern!«

»Kennst du Onkel Hartig auch, Tante Manga?« fragte Anna, sich an die
Besucherin schmiegend, die etwas verwirrt auf den hellen Scheitel des
Kindes niedersah, aber keine Antwort gab.

»Ja, Sie kennen ihn doch, meinen Bruder Hartig, nich Fräulein Dehn? Er
ist ja erster Offizier auf der Maria da Gloria.«

»Ich weiß wohl -- und der ist so vergnügt? Das hab' ich noch gar nicht
gewußt -- wenn ich ihn 'mal gesehen habe -- er kam ja öfter zu Papa,
denn hat er immer so ernst ausgesehen --«

»So ehrbar getan, nich?« lachte Frau Tönnies, »ja wissen Sie, Ihr Papa,
das is je auch gewissermaßen sein Vorgesetzter, und da in is mein
Bruder nu komisch -- sich annögeln[17] oder gute Worte geben, das kann
er nich, das kann ich auch nich.«

»Und ich möcht' es nicht leiden!« rief das Mädchen mit Überzeugung.

»Er steht sich da vielleicht selbst in Lichten mit,« sagte Frau
Tönnies eifrig, »aber so is er nu 'mal, er könnt' all lang drei Reifen
haben[18], wenn er da 'n büschen auf zu laufen wüßte, aber er sagt
immer gleich: meinst', ich will einem da um zu Füßen fallen? ich werd'
noch früh genug Kap'tän, -- besorg' du mir man 'n kleine nette Frau,
denn da kann ich mich nich mit abgeben.«

Manga Dehn hatte ganz vertieft zugehört und war mechanisch immer hinter
der Frau hergegangen, die mit einem Wischlappen noch einmal wieder über
die spiegelblanke Mahagonikommode fuhr und nun das sauber gearbeitete
Schiffsmodell, das darauf stand, einer vorsichtigen Reinigung unterzog.

»Das hat Hartig gemacht, das is der ›James Watt‹, wo er als
Schiffsjunge gedient hat.«

»O bitte, lassen Sie mich das abwischen,« sagte Fräulein Dehn schnell,
-- »die Kinder können wohl wieder hinaus, es regnet nicht mehr.«

»Ach ja, Mama, und denn ziehn wir die alten Stiefels an, und die neuen
Hüte setzen wir auch erst auf, wenn die Tide kommt, eher tut es ja gar
nich nötig!« Überglücklich liefen sie hinaus, als Kinder der freien
Luft, die sie waren. Ihr Jauchzen und Hurraschreien begann von neuem.

Bald war es Zeit zum Mittagessen, es hatte schon zwölf geschlagen;
freilich -- gekocht war nicht viel, nur ein großer Topf voll
Buchweizengrütze in Buttermilch, mit Sirup gesüßt; die Hauptmahlzeit
kommt erst, wenn Papa da ist!

Frau Tönnies genierte sich sehr, das junge Mädchen zu diesem
frugalen Mittagbrot einzuladen, aber gerade, als Fräulein Dehn den
Küchenzettel erfahren hatte, bat sie darum, einen Teller voll mitessen
zu dürfen. Der Geschmack ist ja so verschieden, und übrigens -- die
Schleswig-Holsteiner essen alle gern Buchweizengrütze. Frau Tönnies
faßte das hübsche bereitwillige Mädchen scharf ins Auge -- sie konnte
sich gar nicht recht erinnern, sie zum Bleiben eingeladen zu haben,
und Manga Dehn hatte doch nur einen Augenblick ins Haus treten wollen.
Sonderbar!

»Nu wird auch woll bald mein alter Onkel kommen,« sagte die
Kapitänsfrau, »dreimal hat er schon gefragt, ob Tönnies noch nich da
is. Gleich den ersten Abend stellt der Alte sich ein, und denn kommt er
jeden Tag, so lange mein Mann hier is. Mein Bruder hat ihm das schon
'mal gesagt: ›Onkel, sie müssen sich auch 'mal allein haben‹, aber
wissen Sie, was der Alte denn antwortet: ›Ach, dat is ehr[19] je nu
all wat Oles, dat hebbt se nu nich mehr nödig.‹« Verdrießlich kellte
die Frau ihrem Ältesten noch einen Löffel voll auf. »Mir auch noch
'n orrendlichen Klacks[20],« riefen die anderen. Klatsch, klatsch,
klatsch, einen Löffel Grütze auf jeden Teller, bis die große Terrine
leer war.

»Nu muß ich aber wirklich weg,« sagte Manga Dehn, der es bei der
Erzählung sehr ungemütlich geworden war, »seien Sie mir nur nicht böse,
daß ich so lange geblieben bin.«

»Im Gegenteil war mir sehr angenehm; 'n Tasse Kaffee sollten Sie man
noch mittrinken, Fräulein, Sie haben mir ja so wunderschön geholfen.«

Fräulein Dehn steckte mit niedergeschlagenen Augen ihre langen
Filethandschuhe wieder in die Tasche.

»Ja, wenn ich Ihnen noch 'was helfen kann, Frau Tönnies, denn kann ich
am Ende noch 'n Augenblick bleiben. Wann läuft das Wasser auf?«

Frau Tönnies blickte unwillkürlich durchs Fenster; die Weiden mit
ihrem grauen, dünnen, kritzlichen Astwerk wurden wild hin und her
geschleudert, es donnerte fast ununterbrochen in der Ferne.

»Um drei,« sagte sie nachdenklich, »vor fünf kann die Maria da Gloria
nich hier sein, -- das heißt, wenn sie hier vorbeikommt, denn is sie je
noch lang nich hier, denn muß sie je noch nach Hamburg rauf, und bis
mein Mann denn hier is und mein Bruder, kann das sieben, nee, acht,
neun werden.«

»Ach, die armen Kinder!« murmelte das Mädchen, »die freun sich ja ganz
ab.«

»Das tut ihnen nichts, das müssen sie von früh auf gewohnt werden, --
ja, ich hab' doch die letzte Nacht nicht so recht geschlafen. Können
Sie sich das denken?«

Die hübschen braunen Augen des jungen Mädchens bekamen einen warmen
Schein; sie nickte eifrig.

»Wenn er man bloß heut abend noch kommt, sonst geh' ich heut nacht gar
nich zu Bett. Nee, denn zieh' ich mich nich aus. Denn bin ich doch zu
hiddelig[21], was soll ich denn im Bett tun.«

»Es muß schrecklich ängstlich sein!« Manga seufzte, und so natürlich,
als ob sie diese Angst schon vollkommen teile. Frau Tönnies sah sie
wieder prüfend an.

»Heiraten Sie man keinen Seemann, Fräulein Dehn.«

Ein schuldbewußtes Rot stieg dem Mädchen in die Wangen. »Warum meinen
Sie?« -- »Bitte, Frau Tönnies, kann ~ich~ nich heute aufwaschen?«
bat sie dann mit Innigkeit, »Kathrin braucht auf die Art nicht vom
Klären wegzugehn.«

Was will sie? dachte die Frau. Laut sagte sie: »Mit dem Kleid? Na,
freuen Sie sich, daß Sie keine Mama zu Hause haben, die Sie ausschelten
kann.«

»Sie leihen mir eine Küchenschürze! O ich wollte, ich hätte meine Mama
noch, Sie können sich gar nicht denken, wie still es bei uns zugeht;
Papa ist nicht für Geselligkeit, manchmal kommt die ganze Woche kein
Mensch, und meine zwei Schwestern sind noch so dumm.«

»Na, Sie werden doch nicht weinen?«

Frau Tönnies faßte das Mädchen freundlich in den Arm: »So'n kleine
resolvierte fixe Deern! Nee, es is wirklich schön, daß Sie hier sind,
der Tag war nich so lang, und man spricht sich die Aufregung 'n büschen
vom Herzen 'runter.« Manga blickte sie dankbar an.

»Nu sollten Sie 'n kleine Idee schlafen, Frau Tönnies. Wenn die Ewer
sich drehn[22], sag' ich Ihnen Bescheid. Ich will unter der Zeit Kaffee
machen.«

Die Frau legte sich wirklich aufs Sofa, doch sprang sie bald wieder auf
und ging zu dem jungen Mädchen in die Küche. »Ich hab' doch keine Ruhe.
Wenn sie man nich Nebel gehabt haben heut nacht. Ende August geht das
schon los! Na, Sie werden ja auch ganz blaß, -- ist da woll am Ende 'n
Passagier mit, der -- --.«

Fräulein Dehn schüttelte den Kopf: »Ich glaube auch, man muß immer was
um die Ohren haben, dann vergeht die Zeit am besten. Wenn er nur erst
da wäre, nicht?«

Frau Tönnies rief die Kinder zum Kaffee, Jürgen legte eine rotbraune
Krebsschale vor das Fräulein hin.

»Kiek, du, das 'n Tasch[23], die schenk' ich Onkel Hartig. Was schenkst
du ihm, Tante Manga?«

»Ich habe nichts.« Fräulein Dehn zeigte ihre leeren Hände, die der
Kleine aufmerksam betrachtete.

»Aber du hest Geld ~in~ de Tasch!« platzte lachend Hinrich heraus,
»das' noch besser.«

»Hinrich!« rief die Mutter verweisend, »sei doch nich so vorlaut!«

Der Junge war in einer Laune des Übermuts. »Je, nu rufst du Hinrich,
und dabei hast du es selbst gesagt, Mutter.«

Frau Tönnies wurde blutrot.

»Zu wem sollt' ich das woll gesagt haben?«

»Zu Onkel Hartig! das letztemal, als er hier war, ich weiß es ganz gut,
hab' es selbst gehört.« Der Junge war nun auch rot geworden, seine
weiße Stirn bis unter die Haare; trotzig hielt er den zürnenden Blick
der Mutter aus. Als sie ihn über den Tisch hinüber schlagen wollte,
faßte Fräulein Dehn ihre Hand. »Ach, Frau Tönnies, es tut ja nichts, --
lassen Sie ihn doch, er ist ja gar nicht unartig gewesen.«

Hinrich sprang mit Tränen in den Augen von seiner halbgeleerten Tasse
auf und stellte sich in die Ecke.

»Das is recht, da gehörst' auch hin!« rief die Frau. Nun lief der
Gekränkte zur Tür hinaus. Mietje schrie: »Hinrich,« und wollte ihm
nach, aber die Mutter führte das Kind an der Hand zurück.

»Er is 'n büschen verzogen, weil er der Älteste is,« Frau Tönnies
blickte verstimmt nach der Tür, »er is je auch sonst ganz vernünftig
soweit, aber -- wenn man kein Wort sprechen kann -- ohne daß die Gören
--«

»Ich will ihn hereinholen, heute ist doch solch'n Festtag!« bat Manga,
und eh' die Mutter es hindern konnte, war sie ihm nach. Er stand am
Gitter des Hühnerstalles, die Hände in den Hosentaschen geballt.
Tränenspuren im Gesicht. Das junge Mädchen wollte ihm den Arm um den
Hals legen, er schob sie weg, ohne sich umzusehen. »Ich meinte all, es
wär' Mama,« murmelte er, »sie hat es doch gesagt.«

»Komm, Hinrich, sei artig! Du -- wenn du es doch so gut gehört hast --
was hat denn Onkel Hartig geantwortet?« Sie zog ihn an der Hand zu sich
heran.

»Onkel hat bloß gesagt, das wär' ihm Pudding.« Der Junge lachte
unwillkürlich, tat aber gleich wieder ernst.

Manga Dehn sah ihn mit einem befriedigten Lächeln an; plötzlich nahm
sie seinen runden Kopf in beide Hände und küßte ihn herzhaft auf die
glatte Stirn zwischen den Augen.

»Sag' du nur immer die Wahrheit, mein Jung! Mama is gar nicht mehr
böse.«

Hinrich sah sie halb lachend, halb verschmitzt an: »Na, wat is nu los?«
brummte er, sich über die Stirn wischend.

»Sieh 'mal zu, Hinrich, ich glaube, nu kommt die Flut! Lauf 'mal voraus
an 'n Strand, wir kommen alle nach.«

Der Junge entsprang ihr in großen Sätzen, obgleich es noch zu früh
war; im Hineingehen kamen ihr auch schon die übrigen Kinder entgegen.
Fräulein Dehn ging gerade auf Frau Tönnies zu, die mit krauser Stirn
die Tassen ineinander stellte.

»Und nun machen Sie kein böses Gesicht, kommen Sie auf den Balkon;
haben Sie nicht eine Arbeit für mich?«

»Ach, Sie sind sehr freundlich; herrjes ja, ich hab' 'n Dutzend feine
Taschentücher für meinen Mann, aber Sie wissen woll, ich hab' sie auf
der Maschine gesäumt, und nu hängen noch all die alten Fäden beizu; die
muß ich befestigen.«

Auf dem Balkon über den Kronen der Espen, die keinen Augenblick Ruhe
gaben, war es windig, aber doch nicht schwül, wie im Zimmer. Und die
Luft war so schmeckbar frisch und so voll von Gerüchen. Teer, Laub,
Tang, nasser Sand, Heu, Fische, Reseda, Levkoyen und Tauwerk, -- alles
duftete durcheinander, so stark es konnte.

»Hier ist es schön!« Manga blickte entzückt über die weite, grün
umrahmte Wasserfläche, die dunkel und drohend genug aussah. »Ich möchte
immer in Blankenese bleiben.« Sie guckte schnell beiseite, als das
heraus war.

»Ja, Fräulein Dehn, heiraten Sie 'n Blankneser, das is die beste
Richtigkeit.« Frau Tönnies war auch befangen; nach einer Weile sagte
sie, die Augen fest auf ihrer Arbeit: »Nee, ich muß Ihnen noch sagen,
wie das zusammenhängt! Das scheniert mich, daß Sie nu am Ende denken --
-- und sehn Sie 'mal, mein Bruder Hartig is je so'n komischer Mensch!
Wenn nu mein Mann ankommt, und ich lauf' ihm denn entgegen, -- drinnen
auf 'n Vorplatz, denn '~raus~kommen darf ich nich, nee -- das mag
er nich, -- denn spitzt mein Bruder immer von junges Brautpaar und
so, und es is ja auch wahr, bei uns Seemannsfrauen bleibt es immer
neu, weil wir man immer so'n kurze Zeit zusammen sind, und denn in 'n
Ruff[24] wieder weg. ›Nimm dir auch eine,‹ sag' ich denn immer, und er
sagt denn: ›Da hew ick keen Tied to.‹«

Manga Dehn hatte ganz das Aufziehen des Fadens vergessen, und ihre
kleine feste Hand zitterte.

»Hat er denn so schrecklich viel zu tun?« fragte sie halblaut.

»Ach, keine Idee! Er is 'n Bangbüx! Er is man bloß ängstlich, daß er
sich 'n Korb holen könnte; 'n büschen großschnutig is er immer gewesen,
aber so ganz in aller Heimlichkeit.« Frau Tönnies griff verstohlen nach
Mangas Arm: »Na, Sie wissen woll, man macht 'mal Spaß, und so sagte ich
denn: Wenn du die kleine Dehn, den Inspektor seine Tochter, kriegen
könntest, das wär' 'mal nett.«

»Ach, Frau Tönnies, er mag mich ja nich leiden,« flüsterte das junge
Mädchen, und große Tränen traten ihr in die Augen; sie wendete sich ab.

Die Frau hatte gar nicht den Kopf erhoben, hatte nichts gesehn.

»Ich kann nich klug aus dem Jung werden, -- ich glaube, es is bloß,
weil Sie nu die Tochter von dem Inspektor sind! ›Meinst, ich will mich
da anschmeicheln?‹ sagt er, ›komm mir nich mit so'n Kram. Lieber bleib'
ich Junggesell, als daß ich mir nachsagen laß, ich bin einem darum zu
Füßen gefallen.‹«

Das junge Mädchen klappte die Schere auf und zu, sie sah sehr traurig
aus.

»Na, Frau Tönnies, nu will ich nach Hause gehn. Ich glaube, die Ewer
drehn sich schon.« Sie stand auf und zog ihre schwarzen Filethandschuhe
aus der Tasche.

Die Kapitänsfrau erhob sich gleichfalls. »Herrjes, is' wahr? Kommen
Sie, wir holen 'mal flink das Fernrohr, -- ach, bleiben Sie man, bis
das Schiff vorbeikommt! was wollen Sie nu miteins weglaufen!«

Die Kinder riefen und winkten vom Strand herauf. Frau Tönnies zog das
Mädchen eilig an der Hand nach: »Wir setzen uns in'n Sand, zwischen
die Weiden, kommen Sie.« Ein paar seegrasgefüllte Bankkissen wurden
auf den feuchten Strand gelegt, das niedrige Weidengesträuch, an dem
schon viele gelbe Blätter hingen, deckte den Rücken. Der Wind war
hoch. Abgerissene Kirschbaumzweige und Grasbüschel wurden in Menge
angetrieben. »Die kommen von der Lühe, gegenüber, ja das heißt mit
Recht: Kirschenland.«

Die Kinder umringten sie, wollten alle zugleich durchs Fernrohr
sehen. Zwischen der Mutter und Hinrich hatte eine stumme Aussöhnung
stattgefunden, der Junge ließ sich jetzt dienstfertig als Tisch und
Stützpunkt für das Teleskop gebrauchen.

»Fräulein, Sie müssen aber orrendlich mit Hurra schreien!«

»Und tüchtig wedeln!«

»Ob Papa woll'n +blue-light+ abbrennt, wenn er vorbei kommt?«

»Ach, Schnack, das tut er ja bloß nachts.«

»Mama, ich möcht gern 'n paar Steine in die Elbe smeißen, aber denn
geht es nich, denn wird sie zu voll!«

»Läuft die ganze Elbe über,« meinte der kleine Jasper.

»Paßt auf, jetzt kommt 'n großer Kasten! Ach so, es is bloß die
›Cobra‹! Hui, wie voll: das krimmelt und wimmelt orrendlich! Wahrt jug,
die macht Wellen! Dat giwt natte Fäut!«

Alles flüchtete zwischen die Weiden hinein, der älteste Junge aber
sprang plötzlich in ein kleines Fischerboot auf dem Strande, das mit
zwei Knaben besetzt war und trieb es mit ein paar kräftigen Stößen
weiter ins Fahrwasser hinaus.

»Hinrich! Hinrich! was machst du?« rief Manga Dehn. Frau Tönnies
lächelte wohlgefällig.

»Lassen Sie ihn man, wenn die Wellen so hohl gehn, denn hätt' das Boot
leicht umschlagen können hier im flachen Wasser. So was muß er all
wissen, dafür is er 'n Seemannssohn.«

Als die Brandung vorüber war, die hoch hinauf ein schäumendes
lehmfarbenes Wasser trieb, kehrte der Junge mit dem Boot zurück.

»Kiek, Mutter, wieviel Land uns das abreißt! Unser Stack[25] liegt
schon ganz draußen. Onkel Hartig sagt es auch immer. Du, wenn Vater
jetzt grade gekommen wär', ich wär' dreist 'n büschen nach ihm 'ran
gerudert.« Schiffe auf Schiffe kamen, atemlos pustende Schlepper,
hinter denen herrliche Vollschiffe entlang glitten. Lange, langweilig
aneinandergekoppelte Schuten voll Sand, -- Schlick, der weiter drunten
im Strombett ausgebaggert worden, kaum mit dem Bord übers Wasser
ragend, eine eintönige graue Linie. Der kleine weiße Stader Dampfer,
als richtiger Elbomnibus voll von Passagieren, kam zweimal, abwärts und
aufwärts vorüber; die Finkenwärder Fischerewer mit ihren roten, die
Blankeneser mit ihren weißen Segeln huschten mit schnellem Flügelschlag
hin und her.

»Das ist 'n Woermannscher, 'n Afrikaner, der große graue Dampfer, der
da kommt! Wenn nu man endlich auch die ›Maria da Gloria‹ käme!« Die
Kinder traten von einem Fuß auf den andern, um ihre Ungeduld irgendwie
auszulassen, nur die kleinsten wühlten friedlich im Sande, und die
Mutter blickte fast ununterbrochen durchs Fernrohr. Das junge Mädchen
hatte sich unbemerkt in den Hintergrund zurückgezogen und sah in
sehnsüchtiger Erwartung nach Westen, da wo der Himmel mit dem Wasser
zusammenrann. Ein lichtes, gelblich-graues Gewölk schwebte dort umher,
durch das von Zeit zu Zeit die Sonne heiß leuchtend hervorbrach.

Schräg fielen ihre Strahlen über die Wolken, es sah aus, als regne
es in der Ferne. Wo der Schein durch die Lücken der Dunstmassen das
Wasser traf, bildete er glänzende Lichtinseln, so scharf umgrenzt,
so blendend, daß die Augen tränten, wenn sie darauf trafen. Endlich
verschwammen alle Lichtflecke ineinander, und die ganze ferne Elbe
erschien wie ein geschliffener Schild von Stahl. Ein leichtes schwarzes
Rauchfähnchen kräuselte empor, als ob dort hinten der alte Stromgott
sich eine Nachmittagszigarre angezündet habe, -- der Himmel war klar
geworden.

»Papa kommt! Papa kommt! das is die ›Maria da Gloria!‹ Gewiß, Mutter,
das sind die zwei Schornsteine, siehst du's denn nicht? Die zwei
schwarzen Schornsteine! Anna, hol' unsre neuen Hüte, aber schnell!
Die ›Maria‹ hat Fahrt! Der Wind hilft auch mit, der is ganz westlich
geworden.

Sollen wir auf das Bollwerk laufen oder hier stehen bleiben, Mutter?
Da, jetzt grüßt sie schon! Junge, wie fein sie sich gemacht hat!
Mietje kuck, da kommt Papa! Lauter Wimpel und Flaggen! Kriegt eure
Taschentücher raus! So, nu man los: Hurra! hurra! hurra! Und noch
einmal -- -- und noch einmal! Siehst du Papa? Mutter, ich kann sehn,
wie er den Mund aufmacht, wenn er hurra schreit! Da, auf 'm Achterdeck!
Und Onkel Hartig schwenkt seinen Panama, siehst es woll, Jürgen? Hurra!
hurra! hurra!«

Es war ein herzerquickender Anblick, das sauber gemalte, schwarz
und rot leuchtende Dampfschiff, tief im Wasser, denn es kam voller
Fracht, alle Rahen behangen mit Wimpeln und Fähnchen, die in der
Abendsonne strahlten. Es war ein herzerquickender Lärm, das Heulen
der Dampfpfeife, und das Hurraschreien hüben und drüben, dort aus den
kräftigen Männerkehlen, die jubelnd den grünen Heimatstrand begrüßten,
hier die hellen Kinderstimmen, in die sich die der Mutter zaghaft nur
mischte, denn Frau Tönnies weinte dabei und hielt Mietje empor, hoch
auf dem Arm, und das waren zwei gewichtige Hindernisse zum vollen
Ausschreien, die Rührung und das unruhig sich hin und her werfende
Kind.

Ganz langsam, unter fortwährendem Hurrarufen zog sich das Schiff
heran; nun war es gerade der Gruppe am Strand gegenüber, nun schon
ein bißchen weiter links, nun immer mehr links, nun war nur noch der
hintere Schornstein unverkürzt zu sehen, nun glühte die Sonne auf der
Reederflagge am Toppmast, nun auf der Hamburger am Hintersteven, daß
die drei Türme auf dem blutroten Grunde wie Silber glänzten, nun
verhallte allmählich das Pfeifen der Sirene, nun kamen langsam die
ersten Wellen vom Schlag der Schraube herübergerollt, und nun war bald
alles versunken in dem goldgrauen Nebel, hinter dem Hamburg liegt, und
nur ein dünnes schwärzliches Rauchwölkchen stand jetzt noch eine Weile
im Osten, wie es vorher im Westen gestanden.

»Na, gottlob, gottlob!« seufzte Frau Tönnies und drückte Mietje noch
einmal an sich, ehe sie das Kind auf den Boden setzte. »Nu man flink,
Kinder, daß ihr die neuen Stiefel ankriegt, und ich muß den Rochen
aufsetzen -- in zwei Stunden kann Papa und Onkel Hartig hier sein.«
Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie kehrte auf halbem Wege um.
»Hinrich, mein guten Jung, wo is denn Fräulein Dehn geblieben?«

Als ob sie die Frage gehört, tauchte Manga Dehn aus dem Weidengestrüpp
weiter oben auf. Ihre Backen waren glühend rot, und die Sonne machte
ihre braunen Augen ganz durchscheinend; Hinrich starrte sie bewundernd
an.

»Frau Tönnies, ich bin auch so -- so recht glücklich. Sie haben solchen
guten Mann, Frau Tönnies.«

»Ach ja, einen guten Mann habe ich,« sagte die Kapitänsfrau und
lächelte tränenselig, »und sehen Sie, man kann doch jedesmal von
Glück sagen, wenn einer wohl und munter wiederkommt von das alte
Zentral«[26]. Sie mußte ihre Tränen abwischen. »Und Sie sind auch so'n
liebevolles Fräulein, und wenn das nach mir ginge -- haben Sie meinen
Bruder gesehen? Er hatte 'n weißen Hut auf.«

»Ich hab' alles gesehen! Das ganze Schiff! Adieu, Frau Tönnies, nu
wünsch' ich viel Vergnügen, und grüßen Sie Ihren guten Kapitän, und
wenn Sie allein sind« -- Manga blickte blinzelnd zu Boden -- »denn
komm' ich 'mal wieder.« Sie drückte ihr die Hand, küßte Mietje und
streichelte die andren. »Halt' dich gut, Hinrich, 'djüs Anna! Nein,
nicht mitgehn, seht lieber zu, daß ihr Mama was helfen könnt, die hat
noch viel zu tun! Meinen Sonnenschirm? Ach laßt nur, den kann ich mir
'n andermal holen.«

Einen Augenblick stutzte sie bei ihren eigenen Worten, ein schelmischer
Blick flog aus ihren hübschen klugen Augen in das arglose gesunde
Frauengesicht vor ihr, das zu allem »ja« nickte. Dann flatterte das
sommerliche Kleidchen wieder den Strandweg entlang, leuchtete noch
einmal als weißrosige Blüte zwischen den schwarzen Männerröcken auf der
Dampfschiffbrücke, und dann nahm der kleine Stader Dampfer sie auf, der
sich eben mit einem klagenden Abschiedswinseln in Bewegung setzte.

»Schade, Hartig is man dumm, sonst so'n kleine nette Deern,« sagte Frau
Tönnies vor sich hin, während sie den ungestalten eckigen Fisch in
Stücke zerhieb und große Hände voll Salz in den bereitstehenden Grapen
mit siedendem Wasser warf. »Wenn der Rochen nu man nich zäh is! Wenn
sie nu man nich eher kommen, als bis er gar is!«

Nein, Frau Tönnies hatte alles gut berechnet -- der Fisch war
butterweich, und das erste Lob des Kapitäns bei seiner Heimkehr galt
der Kochkunst seiner Blankeneserin, die doch einzig in der Welt solche
Fische zu kochen verstehe! Es war ein beglücktes Wiedersehn und ein
prächtiges gemeinsames Mahl; alle Kinder mit um den Tisch und Mietje
auf ihres Vaters Schoß; das wollte der Kapitän nicht anders, denn die
»kleine dumme Deern« hatte sich vor seinem großen Bart gefürchtet und
durchaus Onkel Hartig Papa nennen wollen. Onkel Hartig hatte zwar auch
einen großen blonden Bart, aber seine lustigen blauen Augen hatten
nicht den durchdringenden Blick des Kapitäns Tönnies, und seine Stimme
war weich und leise, während der Schwager auch zu Hause und mit den
Kindern das Kommandieren nicht lassen konnte. Neben dem kurzbeinigen,
braunen Tönnies sah der lange und breitschulterige Hartig Holert wie
ein großer Junge aus, obgleich sein Kopf mit dem krausen blonden Haar
etwas Löwenartiges hatte. Nur in der Haltung, hintenüber gebeugt,
die Hände in den Taschen, lag ein eigensinniges Selbstbewußtsein,
daß seinem Fortkommen von Jugend auf hinderlich gewesen. Die Furcht,
daß er irgend jemand »zu Füßen fallen solle«, wie er es ausdrückte,
um eines Vorteils willen, hatte zur Folge, daß er auch die kleinste
Verbindlichkeit des Benehmens scheute und wortkarg und trotzig vor
allen denen begegnete, die seine Vorgesetzten waren und ihn hätten
fördern können. So war es denn auch gekommen, daß er nun unter dem
Schwager als erster Steuermann diente. Hier war wenigstens keine
Gelegenheit, »sich anzuschmeicheln«.

»Smart is er nich, dein Bruder Hartig,« sagte Tönnies oft zu seiner
Frau, »wenn er nich so'n fixer Kerl wär', mit ›+Smartness+‹
hätt' er sich nich bis zum Offizier gebracht; aber da wird er nu woll
auch stehn bleiben.« Aber wenn seine Frau dann bekümmert aussehen
wollte, strich er ihr übers Gesicht: »Sei man still, das' all man
halb so schlimm, du bist je auch nich smart und hast mich doch zum
Mann gekriegt.« Und dann lachten sie zusammen und erzählten sich zum
wievielten Male die Geschichte ihrer Liebe am Bord des »Fotheringay«,
wo er noch zweiter Steuermann war und sie nach Plymouth fuhr, um ihre
Verwandten zu besuchen.

»Wenn du denn morgens so früh schon auf Deck warst und immer so
patent angezogen und mit 'n Arbeit in der Hand, -- Junge, sag' ich zu
mir, das' n' kleine süße, stille Deern, das gibt 'n saubere, fleißige
Frau. Kein büschen seekrank, keine Anstellerei, wie die meisten
Passagierinnen das machen, die immerlos stöhnen oder kreischen oder
lachen wie die richtigen Grienaapen[27], -- du, solche hätt' ich
nich genommen, und wenn sie 'n Sack voll Geld gehabt hätt'! Morgens
Klock zehn noch in der Kabine auf der faulen Haut, und um Mittag kaum
die Nase 'rausgestreckt, mit ungemachtem Haar und Morgenrock und
Schlarren[28] auf'n Deck 'rumzufaulenzen, wie wir diesmal 'n paar
wieder gehabt haben! ›Kapitän, hier zieht es! und hier rollt das Schiff
zu sehr, und hier stößt die Maschine,‹ weet Gott wat all! -- Bloß 'n
büschen freundlicher hätt'st mit mir sein können, ich wußt' ja gar
nich, wie ich da eigentlich an war. Ich hab' immer an meinen Knöpfen
abgezählt: mag sie dich leiden oder mag sie dich nich. Aber zuletzt im
Kartenzimmer --«

»Wie du die Sonne genommen hattest[29],« fiel Frau Tönnies glücklich
ein.

»Ja, daß du da immer 'reinkamst -- wo du nichts verloren hattest, und
denn gleich weggeguckt, wenn ~ich~ die Tür aufmachte -- schwubb
den Kopf umgedreht! Aber daß du rot geworden warst, hatt' ich doch
gesehen.«

Viel Zeit freilich zu diesen vergnüglichen Rückblicken und vertrautem
Beisammensein hatte das Ehepaar nicht. Die ersten vierzehn Tage
vergingen wie ein Tag und waren reich durch Bewegung und Arbeit
ausgefüllt. Tönnies und Holert hatten mit dem Löschen der Fracht
vollauf zu tun, mußten täglich an der Hamburger Börse erscheinen
und wegen neuer Ladung mit den Reedern verhandeln, es gab neue
Anmusterungen zu besorgen, -- endlich mußte das Schiff ins Dock
gebracht werden, weil es gar zu stark »angewachsen« war.

»Ganze Buschen sitzen an'n Boden, daß man das Schiff gar nich mehr
durchs Wasser schleppen kann«, erzählte Hartig seinem ältesten Neffen,
der immer um ihn herum war. »Weißt nich, was das is? Na, ihr könnt
uns 'mal morgen an Bord besuchen, mit alle Mann hoch. Wat seggst du,
Kaptein?« Er schlug seinem Schwager kräftig auf die Schulter. Ein
weniger gedrungener Mann als Tönnies wäre wohl unter der Liebkosung
zusammengeknickt. Der aber wandte sein braunes Gesicht lächelnd herum:
»+All right+, wenn Onkel Holert euch da traktieren will?«

»Ho, das wollen wir woll kriegen! Was, Hinrich?«

Hartig war den Kindern gegenüber von unerschütterlicher Munterkeit.
Sie waren seine Lieblinge, denn zu ihnen durfte man freundlich sein,
ohne daß es aussehen konnte, als »würfe man mit der Wurst nach dem
Schinken«. Sie vergaßen zu danken, wenn er ihnen etwas schenkte, aber
sie sprangen vor Freude, wenn er sie mitnahm oder sich sonst mit ihnen
beschäftigte. Dagegen war der Riese machtlos. Auch heute war großer
Jubel. Frau Tönnies strahlte mit ihren Kindern um die Wette. Ein
Besuch an Bord der »Maria da Gloria« gehörte zu den seltenen Genüssen
ihres einfachen Lebens, aber unerbeten, ganz von selbst mußte es
kommen. Darin war sie wie ihr Bruder. »Wenn ich das Papa sag', und
nachher is ihm das nich recht, und er sagt am Ende doch ja, weil er
uns das nich abschlagen mag, denn is mir das furchtbar unangenehm;
ich tu' das ja tausend gern, und die Kinder sind da ja ganz auf
versteuert, daß sie ihrem Papa sein Schiff besehn wollen, aber den
Mund mag ich mir da nich um verbrennen.« Frau Tönnies graute vor der
Möglichkeit des »Mundverbrennens« ebensosehr, wie ihrem Bruder vor dem
Fußfall; man sah es auch ihren Lippen an, sie waren immer ein bißchen
schmal zusammengedrückt, was ihrem sonst so offenem Gesicht einen
ängstlich-vorsichtigen Ausdruck gab. Nun aber legte sie mit großer
Genugtuung die Ausgehkleider der Kinder zurecht und prüfte ihr eigenes
neues Schwarzseidenes, das, wie sie lobend hervorhob, so »dick und so
hart wie'n Brett sei, was den Stoff anbetreffe«.

Hartig Holert guckte gedankenlos mit in den Kleiderschrank; auf
einmal aber bekamen seine Augen Leben. Er faßte mit der breiten Hand
vorsichtig in die Ecke des Schrankes und brachte zwischen Daumen und
Zeigefinger ein zierliches, spitzenbesetztes Sonnenschirmchen mit einem
weißen Griff heraus, auf dem ein goldenes +M. D.+ glänzte.

»Hallo!« sagte er, und eine Art von Rührung, von Wiedersehensfreude lag
in dem Ausruf.

Frau Tönnies nahm ihm das kleine Ding mit ängstlicher Eile ab.
»Herrjes, Hartig, brich man bloß den Schirm nich kaputt. Der hört
Fräulein Dehn zu.«

Hartig fuhr von dem Schrank zurück und schüttelte erschrocken seine
Hand. Ob im Ernst oder Scherz, das war seinem Gesichte nicht anzusehen.

»So is dat! Na, kannst es je man gleich sagen, Stine.« Und mit großen
Schritten machte er sich aus dem Staube. Die Treppe knarrte unter
seinem Gewicht. Plötzlich schien seiner Schwester ein Einfall zu
kommen.

»Hartig, hör doch 'mal!« Obgleich er schon auf der vierten
Treppenstufe hielt, reichte sein großer heller Kopf doch noch bis in
den dämmrigen Vorplatz, als er sich umwandte.

»Na, Stine, min Deern?«

»Du, ich denk' eben, sie hat ihn hier vergessen, aber nu braucht sie
ihn am Ende -- du bist ja bei Inspektor Dehn bekannt.«

Hartig sah sehr einfältig drein. »Ja, denn laß sie ihn man holen. Wat
geiht mi dat an?«

»Kannst ihn nich mit hin nehmen, Jung?«

Holert kam eine Stufe näher. »Ja, das wär' nüdlich, Stine, ich nu so
mit'n seidenen Sonnensegel überm Kopf! Haben Sie sonst noch Smerzen,
Madam?« Er lachte, daß die Bruthenne, die im oberen Bodenraum auf ihren
Eiern saß, vor Schrecken vom Nest flog und laut gackerte. Frau Tönnies
lachte auch, wollte sich's aber nicht merken lassen.

»Achhott, Jung, wenn ich ihn dir nu fein in Seidenpapier einwickel',
und du gibst ihn bloß ab?«

Holert wurde ernst. »Stine, du büst je woll 'n beten dull! Wat hew ick
mit so'n Kram to kriegen? Mit den Inspektor dor heet dat: goden Dag und
goden Weg.« Er zog mit der Hand eine schnurgerade symbolische Linie
zwischen sich und dem Inspektor durch die Luft. »Adjüs, Stine!«

Er ging aber nicht, sondern wiegte sich, die Hände in den Taschen, auf
den Zehenspitzen auf und ab.

Seine Schwester stellte sich ganz mit dem Gesicht in den Schrank hinein
und strich an ihrem seidenen Kleide herum.

»'n kleine nüdliche Deern is das so weit, Hartig.«

Der Seemann legte die Hand ans Ohr und kniff ein Auge zu. »Wokein[30],
Stine?«

»Herrjes, Jung, Inspektor Dehn seine Tochter.«

»Er hat ja drei Stück, Deern.«

»Ach, Hartig, die zwei andren gehn ja noch in Schule.« Frau Tönnies
sprach beharrlich in den Kleiderschrank, so daß ihre Stimme einen
dumpfen fernen Klang bekam.

Hartig Holert rüttelte am Treppengeländer und pfiff gedankenvoll vor
sich hin.

»Du, Jung, ich glaub', sie mag dich leiden.« Der Steuermann brach in
ein heftiges gezwungenes Lachen aus.

»Wat du klok[31] büst.«

»Ich glaub' das ganz gewiß.« Stine hätte ihre Mitteilung unterstützen
können, wenn sie zu Hartig hingegangen wäre und den Arm um seinen
Hals gelegt hätte, -- aber sich mit seinem Bruder handgemein machen,
das war in ihrer Familie keine Mode. Er schien auch schon übergenug
von der Vertraulichkeit zu haben, denn er machte ein paar Schritte
treppabwärts. Doch kehrte er noch einmal um und sagte obenhin: »Na,
heb' den Schirm man gut auf -- wenn die Gören bei den Schrank gehn --«

Frau Tönnies warf sich in die Brust: »Meine Gören sollten bei meinen
Kleiderschrank gehn? Der is ja immer zugeschlossen.«

Der große Mensch sah vor sich nieder. »Sonst, wenn er da am Ende nich
sicher steht -- --«

»Herrjes, setz' du ihn weg!« rief die Schwester erfreut, und eilig
wollte sie ihn ihm in die Hand drücken. Aber, sei es, daß er aus
Verlegenheit nicht zugreifen mochte, oder daß ihm das Ding zu
zerbrechlich aussah, -- das Schirmchen fiel zu Boden, und der hübsche
weiße Griff mit den goldenen Anfangsbuchstaben sprang entzwei. Frau
Tönnies schlug die Hände zusammen, Hartig wurde blaß und blickte
hilflos auf das Unheil. Dann sah er seine Schwester an, und eine rote
Wolke zog über seine ungebräunte Stirn.

»Bün ick dat west?« murmelte er sehr erschrocken. »Is dat lüttje
nüdliche Dings ganz entzwei?«

Er getraute sich nicht, die Stücke aufzusammeln, Frau Tönnies tat es
und stieß dabei bedauernde Seufzer aus. »Er stand da nu so gut! Hätt'
ich ihn doch stehn lassen!« Dann, als sie ihres Bruders reuevolle Miene
sah, der den Kopf hängen ließ, als sei ihm ein Unglück widerfahren,
richtete sie sich stramm auf: »Dat kann woll wedder makt warr'n. Komm,
mein Jung, bring' ihn man miteins hin! Bei Klintwort im Laden, oben in
der Hauptstraße.« Sie suchte hastig ein Papier hervor.

Der Seemann stand noch eine Weile bedenklich und kopfschüttelnd. »Ick
wull dat nu recht good maken, und nu mutt mi düt passieren.« Die
Schwester schob ihm das Päckchen untern Arm. »Je, denn mutt ick da je
nu doch woll mit los.« Seufzend und mit spitzen Fingern trug er das
verhängnisvolle Paket in seine Kammer.

»Tönnies,« sagte abends die Kapitänsfrau, als sie mit ihrem Mann allein
war, »is es dir recht, wenn ich morgen die kleine Dehn mitnehmen tu'?
Sie hat mich da all immer um gebeten.«

Der Kapitän nickte bereitwillig. »Ein Frauenzimmer mehr oder weniger,
da kommt es denn auch nicht auf an. Und Dehn seine is 'n kleine hübsche
Deern, das bringt Glück an Bord.«

Frau Stine räusperte sich: »Wenn das so meinem Bruder seine Frau werden
täte, Tönnies?«

Der Mann lachte. »Aha, nu soll der auch dran glauben. Je, hör' 'mal,
Stine, er sagte neulich, er hätte schon 'ne Braut.«

»Wo kann's angehn!« Die Frau wurde rot vor ärgerlicher Überraschung.
Sie wollte es durchaus nicht zugeben. »Er hat da woll man seine
Putzen[32] mit betrieben; er kann das so natürlich machen, als wenn das
sein Ernst is, und denn nachher is' doch man all 'n Jux gewesen.«

Das nahm nun der Kapitän beinah krumm, daß Hartig Holert, der so gar
nicht smart war, ihn hätte zum Narren haben können! »Stine, was ich dir
sag', er hat da 'ne Photographie in seinem Taschenbuch und beguckte sie
gerade sehr genau, als ich in seine Kammer kam.«

»Hast du sie denn gesehn? Wie sah sie denn aus, Tönnies?« Stine rückte
unruhig näher.

»Je, zeigen wollt' er sie ja nich, er is ja so'n ollen
Dwarsdriever[33], de ümmer na sin eegen Kopp gahn mutt. Als ich da mehr
von wissen wollte, sagte er, die Sache wär' nämlich, die Braut wüßte da
noch gar nichts von ab, aber mit ihm wär' allens in Richtigkeit.« Die
Gatten lachten um die Wette.

»Wenn du auf der ›Maria da Gloria‹ 'n Heiratskontor einrichten willst,
denn such' dir man 'n ander Paar aus -- din Broder hett all sin
Bekummst[34],« meinte Tönnies.

»Ehe er die drei Reifen nich hat, eher heirat' er nich,« sagte Stine
zuversichtlich, »dafür kenn' ich ihn.«

»Denn ward he woll sitten blieben, -- he hett dulle Küren[35].« Mit
einem bedeutsamen Gähnen unterbrach der Kapitän die Unterhaltung. -- --

Am andern Morgen wanderte ein langer Zug, Frau Tönnies mit allen
Neunen, nach dem Pinnasberge am Hamburger Hafen, um Fräulein Dehn
abzuholen. Der Kapitän und der Steuermann, die schon um sieben Uhr
früh nach Hamburg gefahren waren, wollten sie auf den Vorsetzen an
der Landungsbrücke treffen, wie die Kinder dem jungen Mädchen jubelnd
entgegenschrien.

»Erst sind wir mit 'n Stader Dampfer von Blanknese 'raufgefahren, und
nu fahren wir mit der Ringbahn nach'm Steinhöft, und denn fahren wir
mit 'n Fährdampfer nach'n Dock auf'n Reiherstieg 'rüber! Mit drei
Dinger fahren wir heute, Tante Manga!«

»Junge, das is fein!« rief Klaus und schnalzte mit der Zunge.

»Ja, ich freu' mir da auch recht zu«, sagte der kleine stämmige Jasper
mit bedächtigem Händefalten.

»Jasper Dickwust[36]!« lachten und spotteten die Kinder und tanzten um
den drolligen Kleinen herum.

Manga Dehn war fast ebenso wirbelig wie die Kinder. Sie sagte nicht
viel, aber in ihren braunen Augen sprühten helle Goldpünktchen, und
ein lebhaftes Rosenrot färbte die runden Wangen. Im Nu hatte sie ihr
graues Hauskleidchen abgestreift und das blumige, helle übergeworfen.
Ein weißer Strohhut mit einer schönen Straußenfeder, die einmal ein
seefahrender Onkel direkt aus Afrika mitgebracht, deckte den glänzenden
Flechtenknoten; die weiße Stirn mit den krausen braunen Löckchen war
frei.

»Wie süß von Ihnen, daß Sie mich mitnehmen wollen!« Manga umarmte
Frau Tönnies, aber die Sache gelang nur zur Hälfte; die Gegenbewegung
fehlte, Stine war nicht impulsiv.

»Na, fragen brauchen Sie gar nich, ob Sie mit dürfen, nich?« fragte sie
etwas abwehrend. »Ihr Papa is im Kontor und Ihre Schwestern in Schule,
und das Mädchen kocht das Mittagessen! Süh so, Fräulein Dehn kann woll
lachen.«

Manga entschuldigte sich sehr wegen ihrer bequemen Verhältnisse. »Schön
soll es sein? Furchtbar langweilig ist es, Frau Tönnies! Aber ohne
Mädchen, das will Papa nicht, dann wär' ich ja ganz allein.«

Das halbdunkle, steifmöblierte Zimmer war kein richtiger Hintergrund
für die helle mädchenhafte Gestalt; das fiel wohl auch Frau Tönnies
auf. Sie musterte bedenklich das sommerliche Kleid.

»Herrjes, so hell sind Sie? Nee, ich bin ganz dunkel, ich bin immer für
das Praktische. Ziehn Sie man lieber 'n Regenmantel über, auf den alten
Fährdampfern is das immer furchtbar schmutzig, nichts wie Sott[37]!«

Das junge Mädchen ließ die Lippe hängen; schönes Wetter, eine liebe
Begegnung in Aussicht, und dazu -- einen Regenmantel! »Ich nehm' ihn
übern Arm,« sagte sie mit abbittendem Lächeln, -- »und nun noch den
Sonnenschirm!«

Frau Tönnies wurde verlegen. »Je, mitgebracht hab' ich ihn nich,«
platzte sie heraus, »weil --«

Aber natürlich nicht! Wer konnte Frau Tönnies so etwas zumuten!
Fräulein Dehn war ganz entsetzt bei dem bloßen Gedanken daran und sah
durchaus keine Notwendigkeit ein, den Sonnenschirm fürs erste wieder zu
bekommen.

»Nehmen Sie meinen so lange«, bemerkte die Frau, die von der
Vorstellung des zerbrochenen Schirms gepeinigt wurde, und durch
dies Anerbieten, das natürlich nicht angenommen ward, einen wahren
Dankeswirbel in der bewegten Seele des jungen Mädchens verursachte.

Mietje zwischen den zwei Erwachsenen, Jasper zwischen den ältesten
Kindern, die fünf anderen im Gänsemarsch hinterdrein, so langten sie
endlich bei den Männern an, die mit etwas genierten Gesichtern den Hut
zogen.

»Mama, Onkel hat zwei große weiße Tüten, da sind gewiß Kuchen in«,
flüsterte Anna.

»Rohmtorten[38]«, sagte Jürgen in Phitjes Ohr. Ein erwartungsvolles
Lächeln sprang von einem Kindergesicht aufs andere über. »Jasper,
Dickwust, zieh' deine Beine 'n büschen nach, Onkel hat Rohmtorten.«

Kapitän Tönnies begrüßte Fräulein Dehn mit viel Galanterie, trat sofort
an ihre Seite und nahm sie, lebhaft sprechend und lachend, ganz in
Beschlag. Nach den Kindern sah er nicht viel hin -- auf der Straße und
vor Fremden fand er oft, daß neun Kinder zu haben doch ein bißchen
unschicklich sei. Hartig war halb durch Tönnies', halb durch eigene
Schuld weit hinten geblieben und steckte mit befangener Miene seiner
Schwester die Kuchentüten zu: »Nu trag' du sie man, nu mag ich das nich
mehr.« Und dann flüsterte er, ganz beklommen: »Du, sag' ihr man nich,
daß ich ihren Schirm kaputt gemacht hab', sonst geh' ich direkt nach
Hause.«

Beim Einsteigen ins Fährboot waren Tönnies und Manga Dehn die ersten;
sie saßen schon auf den niedrigen Holzbänken, über deren Unsauberkeit
der Kapitän eine laute Rede hielt, als die übrigen dazu kamen. Hartig
mit Mietje auf dem Arm warf einen kurzen unmutigen Blick auf Tönnies'
glänzendes Antlitz, dann stellte er sich am entgegengesetzten Ende des
kleinen Dampfers mit dem Rücken gegen die Maschine und sah starr in das
gelbgraue Wasser, das hier und da von schwimmendem Petroleum in allen
Regenbogenfarben spielte. Hinrich stand neben ihm, aber heute bekam er
nur kurze Antworten. Er folgte mit den Augen einem winzigen Fahrzeuge,
das schnell wie ein summender Käfer mit rotstreifigen Flügeldecken
zwischen den massigen, schweren, dunklen Schiffskörpern dahinschoß.

»Guck 'mal, Onkel, so'n kleine Petroleumbarkaß[39], die möcht' ich
woll haben, kost' man 12 bis 15000 Mark, sagt Papa.« Und als der sonst
so freundliche Hartig stumm blieb, verstummte auch der Knabe, bis das
Boot am Werftplatz landete. Immer noch war der Kapitän mit dem Fräulein
voran -- Manga aber verlangsamte zuweilen ihren Schritt und schien nur
mit halbem Ohr zu hören. Sie blickte nicht mehr so munter wie vorhin;
oft wandte sie den Kopf. »Ihre Frau ist so weit zurückgeblieben, wir
müssen wohl 'n bißchen warten.«

»Ach, Stine läuft mir nicht weg,« lachte Tönnies, »die Frauenzimmer
sind anhängliche Geschöpfe, kommen Sie man.«

»Die kleinen Kinder --« begann das Fräulein und sah sich abermals um.

»Die sind auch an Brot gewöhnt, die wollen woll zulaufen, +go
ahead, go ahead+!« Er machte eine seiner kurzen energischen
Kopfbewegungen, die sowohl ihr wie den Kindern galt. Das Mädchen
gehorchte mechanisch, mußte auch, um Tönnies' Worte zu verstehen,
dicht neben ihm bleiben. Denn der ohrenbetäubende Lärm, der von den
vielen Ambossen, besonders aber vom Maschinenhause hertönte, zerriß die
Unterhaltung, wenn man sich nur ein wenig voneinander entfernte. Dazu
zwangen die Schienengeleise, die quer über die Arbeitsstätte liefen,
die aufgestellten Maschinen in vollem Betriebe, die Eisenplatten und
Schraubenschäfte, die den nassen Boden bedeckten, fortwährend zum
Ausbiegen, Sichbücken, Zurseitespringen. »Wir machen das so«, sagte
der Kapitän zuletzt und zog Manga Dehns Arm, den er schon längere Zeit
festgehalten, durch den seinigen, ohne die allerliebste Schmollmiene
der Kleinen zu beachten. »So können Sie nich fallen und mir nich
auskratzen, was Sie, glaub' ich, furchtbar gern möchten. Nu, Augen
geradeaus, da haben wir die ›Maria da Gloria‹, da steht sie, frei auf
den eisernen Schlagbetten, -- en anständiger Kasten, was?«

Beim Anblick des riesigen, in frischem rotem und schwarzem Anstrich
leuchtenden Dampfers, der sich wie ein hohes Haus vor ihren Augen
aufbaute, brachen die Kinder in ein verwundertes Jubeln aus. Nun blieb
auch der Kapitän stehn und lachte den Nachkommenden entgegen: »Na, wie
gefällt euch das junge Brautpaar?« sagte er mit einem schadenfrohen
Blinzeln zu Hartig hinüber, indem er Mangas widerstrebenden Arm mit
Herausforderung fester unter den seinen schob.

Frau Tönnies nickte süßsäuerlich. »Süh, das is ja nett, denn bin ich
woll ganz ausgetan?« Es sollte ein Scherz sein, aber er wäre ihr besser
gelungen, wenn das junge Mädchen nicht das helle Kleid angehabt hätte,
-- sie sah ein bißchen zu niedlich aus. Hartig Holert aber, mit vor
Unmut wetterleuchtender Stirn, wandte die Augen ab, als ob ihm der
Augenblick weh tue.

»Komm, Hinrich, du wolltest ja sehen, was an so'n Schiff anwächst,
guck, hier liegt es noch, all die rötlichen Dinger, Seepocken heißen
sie.«

Er nahm den Jungen an die Hand, und der ganze Zug marschierte rund um
den Kiel, zuletzt drunter durch, um die Kalkgehäuse aufzusammeln, die
muschelartigen feingerippten Zapfen, die den Kupferboden des Schiffes
bedeckt hatten und nun abgekratzt worden waren. Mit einem plötzlichen
Entschlusse, der ihr alles Blut ins Gesicht trieb, zog Manga Dehn ihren
Arm aus dem des Kapitäns und trat zu den Kindern.

»Zeigt mir das auch 'mal, bitte, Hinrich.«

Tönnies tat, als wolle er sie wieder einfangen: »Fräulein Dehn, wahren
Sie sich bloß vor meinem Steuermann«, warnte er laut.

»Warum?« rief das junge Mädchen, den Kopf aufwerfend, daß all die
Löckchen um ihre Stirn bebten.

»O, das is'n böser Mensch, der is so furchtbar hinter den nüdlichen
Mädchen her. Is' nich wahr, Hartig?«

»Gott sei Dank, nee!« brummte Holert mit grober Stimme, indem er
die Handvoll Balanusschalen zurückzog, die er gerade dem Fräulein
hatte zeigen wollen. In etwas gesunkener Stimmung gingen sie den Weg
zurück, bis zu der Treppe, die über eine hohe, lange, frei in der
Luft schwebende Brücke auf das Schiff führte. Stine trug Mietje,
Hartig hob Jasper auf seinen Arm, der Kapitän, die Hände auf dem
Rücken, marschierte voran, Manga Dehn führte Phitje und Jürgen und
klammerte sich mehr an die Kinder, als daß es umgekehrt gewesen wäre.
Als sie das Deck betraten, kam ihnen bellend und freudewinselnd der
kleine graubraune fuchsköpfige Hund entgegen, den sie aus Südamerika
mitgebracht hatten.

»Die Feuerländer Hunde bellen auch? Wie merkwürdig! Alle Hunde sprechen
eine Sprache! Denk' 'mal, Mama.«

»Nu trinken wir 'mal erst Kaffee,« sagte der Kapitän, der mit dem
Betreten seines schwimmenden Hauses auch die Vaterrolle wieder aufnahm,
»nu man alle in den Speisesaal; Stine, gib den Kuchen her, der Steward
kann ihn auf'n Teller legen.«

Hartig schmiß eine Tüte klatschend auf den Tisch, Tönnies lachte
spöttisch und mißbilligend. »Was spielst du denn heute für 'n
Zwickel[40]?« sagte er halblaut zu ihm.

Ein breites: »Lat mi in Ruh'!« war die Antwort. Verstohlen blickte er
dabei nach dem Mädchen, das die Schlingpflanzen auf dem Marmortischchen
bewunderte und sich gleichzeitig vor dem Spiegel, den die grünen
Blätter einrahmten, den Hut abnahm und das Haar glättete.

Plötzlich hörte er ihre Stimme in ganz ergriffenem Tone sagen: »Bitte,
was sind denn das für Gewächse, Herr -- Herr Holert?«

Er blinzelte heftig vor Überraschung, sein Gesicht erhellte sich.
»+Sweet potatoes+[41], Fräulein Dehn«, sagte er unbehilflich über
die Schulter weg.

Manga steckte einen losgegangenen Zopf fest. »Sehn Sie 'mal, kommen sie
aus ~diesen~ Knollen?«

Nun mußte er doch an ihre Seite treten. »Ja, da wachsen sie 'raus,
und denn so hoch.« Beide erhoben die Augen und erblickten sich
nebeneinander im Spiegel, beide mit errötenden, frohbeklommenen
Gesichtern. Einen kurzen, verräterischen Augenblick sahen sie sich in
die Augen, prüfend, vorsichtig.

Da schlug Kapitän Tönnies seinem Schwager von hinten auf den Rücken.
»Junge, verguck' dich nich! Fräulein Dehn, lassen Sie sich nichts
weismachen, he lüggt[42].«

Der Steuermann sah Tönnies ins Gesicht, als könnt' er ihn erwürgen.
Sein Humor war ihm gänzlich abhanden gekommen. Es war gerade keine
Liebkosung, was er murmelte, wie er beiseite trat.

»Pfui, Kapitän Tönnies,« sagte Manga leise, »das ist gar nicht nett von
Ihnen. Herr Holert hat es übelgenommen.«

Diese Vorstellung amüsierte den kleinen braunen Mann außerordentlich.
»Na ward' good! Nu krieg' ich noch Ausschelte zu! Was ich Ihnen sag',
Fräulein, der Mann is gefährlich! Wenn er so steht und die Zunge im
Mund hält, -- denn is das viel ärger, als wenn ein anderer Ihnen den
Sirop fingerdick aufstreicht, glauben Sie mir.«

Der Kaffee erschien, hereingetragen von einem freundlich grinsenden
jungen Mulatten, über dessen Anblick die Kinder fast die Rahmtorten
vergaßen. Fräulein Dehn setzte sich dicht neben Frau Tönnies mit dem
unerschütterlichen Vorsatz, ihr nicht wieder von der Seite zu weichen,
ein Vorsatz, der in Gestalt eines kleinen trotzigen und kampfmutigen
Lächelns gegen den braunen Kapitän beständig um ihre roten Lippen
schwebte und sie für Hartig zu einem reizenderen Anblick machte als je.

Tönnies war sehr liebenswürdig nach rechts und links. »Stine, dein
Kaffee schmeckt besser, alles was recht is«, bemerkte er zu seiner
Frau. »Junge, bedien' dich, du weißt ja selbst, daß es bezahlt is«,
damit schob er seinem Schwager den Kuchenteller zu. --

»Das haben wir schon wieder 'mal gehabt«, seufzte Stine, als sie sich
erhoben. Mit aufmerksamen Blicken, wie um sich alles recht einzuprägen,
ging sie umher. Der Kapitän hatte sich allmählich zu ihr gefunden. »Ich
muß auch 'mal in deine Kammer, Tönnies«, sagte sie sanft.

»Ja, das tu' du man, da find'st du 'n ganze bekannte Gesellschaft.« Er
öffnete die spiegelblanke Tür und zog sie mit sich herein. Manga sah
das Ehepaar vor dem bankartigen Sofa stehen; die Wand darüber war ganz
mit Photographien bepflastert.

»So sahst du damals aus, Stine.«

»So sah ich damals aus.«

»Und das kriegte ich mit auf meine Hochzeitsreise, die ich man leider
allein machen mußte.«

»Und da bist du als Bräutigam.«

Leise schlich das junge Mädchen von der Tür weg und zog ein paar der
Kinder mit sich, die hineingewollt hatten.

»Scht! Papa und Mama haben was zu sprechen.«

Bald aber wurde sie gerufen: »Fräulein Dehn, gucken Sie 'mal, da war
Hinrich zwei Jahr, sieht er nich ganz aus, wie Mietje jetzt?« Und der
Kapitän hielt sein jüngstes Kind auf den Armen und wiegte es auf und
ab, und Stine verglich es mit der Photographie.

Inzwischen schlenderte der Steuermann auf dem Deck umher und witschte
alle Augenblicke in seine Kajüte. Dort auf dem festgeschrobenen
Tischchen lag ein Paket, ein Gegenstand in rosa Seidenpapier
gewickelt, länglich schmal. Den mußte er immer betrachten, betasten,
-- zweimal hatte er ihn schon draußen gehabt, ihn aber immer wieder
zurückgetragen. Als er das geheimnisvolle Etwas wieder einmal mit
zärtlichen und doch scheuen Blicken liebkoste, stolperte Anna herein
und wollte durchaus wissen, ob das etwas Mitgebrachtes für sie sei. Mit
desperater Miene drängte er das Kind hinaus und verschloß die Kammer
hinter sich, -- den Schlüssel versenkte er tief in die Tasche. Anna
betrachtete ihn aufmerksam: »Onkel, du hast heute immer 'n roten Kopf,
und Tante Manga hat auch 'n roten Kopf, -- ich weiß aber woll warum!«
setzte sie mit schlauem Gesicht hinzu.

Ungnädig schob der Mann die Kleine beiseite: »Klooksnut[43].«

»Ich weiß es doch! Ich weiß es doch! Von Tante Manga weiß ich es doch!
Etsch, etsch, Tante Manga!« Sie umsprang das Fräulein, das zufällig
herangekommen war und eine Belehrung über den Schraubenschaft haben
wollte, dessen Tunnel drunten im Schiffsraum aufgedeckt lag, weil daran
gearbeitet wurde.

»Ich weiß, warum du so'n roten Kopf hast!« schrie ihr das Kind
entgegen, »soll ich es 'mal sagen?«

»Komm, du bist unartig!« Aber es war vergebens, daß ihr der Mund
zugehalten ward. »Weil du all den Rohm[44] in deine Tasse gegossen
hast, und weil Onkel gar nichts gekriegt hat, kein büschen Haut«,
rief Anna mit vor Bosheit funkelnden Augen. Aber nun setzte es einen
Klaps. Wenn Hartig einmal zuschlug, geschah es nicht allzu sanft, -- --
weinend zog sich der Naseweis hinter einen der Ventilatoren zurück, die
wie Riesentrompeten aus dem Deck aufragten.

»Hab' ich Ihnen wirklich alles weggenommen?« fragte Manga und machte
ein ganz verlegenes Gesicht. Aber der Steuermann ging gar nicht auf den
Unsinn ein.

»Nee, Fräulein, das kriegen wir woll, fallen Sie bloß nicht über
den Kohlenbunker! Je, was ich sagen wollte, möchten Sie nich mal
mitfahren?« Der bewegte Ton sagte viel mehr, als die Worte.

»O, Herr Holert --« sie legte die Hände zusammen.

»Wollen Sie mal das Navigationszimmer sehen? Ach -- aber das kennen Sie
ja alles! Na, schad't nix -- sehn Sie, hier sitzt man oft eingesperrt,
fünf, sechs Tage, Tag und Nacht, wenn wir Nebel haben auf der Nordsee
oder im Kanal, oder wenn sonst schlechtes Wetter is. Und schlecht
Wetter is ja Gott sei Dank oft, sonst wär' es auch zu langweilig.« Er
lächelte sanft, während er seine große Gestalt kampfbereit reckte. Dann
schlug er die Augen nieder. »Die Sache is man, solange einer nich als
Oberster auf der Kommandobrücke steht, solange darf er ja nich seinen
Mund aufmachen.«

»O darum --« fiel Manga ein. Ein dankbarer Blick traf sie warm und
verwirrend.

»Und sehn Sie, Fräulein, das kommt ja vor, daß einer kein Glück hat und
bleibt sein lebelang auf denselbigen Stand bestehn --«

»Harrijees!« erscholl plötzlich die joviale Stimme des Kapitäns, »der
is all wieder bei dem jungen Mädchen! Nu guck einer den Steuermann an,
der hat's hintern Ohren, dat segg ick ja.« Stine wollte ihren Mann
zurückzupfen, aber er ließ sich nicht halten. »Nee, laß mich doch,
jetzt muß der Fuchs aus'm Loch heraus! Fräulein Manga, soll ich Ihnen
was sagen? Ihnen geht er mit Rohmtorten unter die Augen und spielt hier
Musche Nüdlich, sowie man den Rücken dreht, und in seinem Taschenbuch
auf dem wärmsten Platz hat er ein Bild von --«

»Halt deinen Mund, Kaptein!« rief Hartig drohend und fäusteballend.

Tönnies rümpfte die Lippe: »Hier bin ich Herr, min goode Jung! Kannst
keinen Spaß verstehn, Stüermann? Jawoll, Fräulein, er hat 'ne Braut,
tun Sie man nich, als wenn Sie mir dafür den Kopf abreißen wollten.«

»Du lügst ja«, sagte Holert mit weißen Lippen.

»Hartig, mußt nich!« bat ihn seine Schwester.

»Wenn es nich wahr is, denn zeig' doch 'mal das Bild in deinem
Taschenbuch!« reizte der Kapitän.

Hartig unterdrückte einen Fluch. »Es is ja man Spaß gewesen.« Er
versuchte zu lachen.

»Dat segg ick ja, Tönnies«, fiel ängstlich die Frau ein.

»Spaß? Na, denn zeig' doch das Bild!« Hartig warf einen flehenden Blick
nach dem jungen Mädchen, aber Manga guckte über den Schiffsbord nach
dem Werftplatz, als gehe ~sie~ nicht im geringsten an, was hier
gesprochen wurde.

»Dat muchst du woll, -- ward aber nix ut!«

»Denn zeig' es Fräulein Dehn mal!« höhnte der Kapitän. Das Mädchen
wendete sich halb gegen sie.

»O meinetwegen sollen Sie sich nicht bemühen.« Eine hastige kleine
Handbewegung nach der Uhr: »Ich muß auch wohl nach Hause, sonst kommt
Papa früher als ich zu Tisch.«

»Ja, so bei kleinem müssen wir auch woll --« begann Stine
niedergeschlagen. Die großen starren Augen der Kinder, die wohl auch
fühlten, daß hier aus dem Scherz Ernst geworden war, trieben sie zum
Aufbruch.

Manga Dehn ging eiligen Schrittes hinunter in den Speisesaal, wo noch
ihr Hut lag. Auf der Treppe sah sie sich ein ganz klein wenig um, ob
ihr niemand folge, doch war keiner zu sehen. Sie schluchzte ein-,
zweimal, rieb heftig ihre Augen, drückte sich den Hut auf den Kopf und
stieg wieder aufs Verdeck, geblendet von der Sonne, wie es schien, denn
sie hatte nun die Krempe tief in die Stirn geschoben. Diesmal hatte
sie nicht in den Spiegel gesehen. Der Kapitän und seine Frau schienen
inzwischen auch eine kleine Auseinandersetzung gehabt zu haben, Tönnies
sah nicht ganz so selbstgewiß aus wie gewöhnlich, und auf Stines Backen
brannten zwei hochrote Flecken.

»Danke vielmal! Danke für alles«, sagte Manga herantretend. Ihre
forschenden Augen hatten schon bemerkt, daß die Hauptperson
verschwunden war. »Nun will ich den Regenmantel überziehen. Danke, Herr
Tönnies, Sie brauchen mir nicht zu helfen, ich kann ganz allein.« Auch
die Rückbegleitung über den Werftplatz verbat sie sich. Sie finde schon
allein zurück und wolle Frau Stine nicht hetzen. Sowie sie freie Bahn
vor sich sah, brachen die Tränen hervor, aber zwischen den schwarzen,
sie neugierig anstarrenden Schiffsbauleuten schluckte sie tapfer
hinunter, was ihnen hätte auffallen können. Auch auf dem Fährboot galt
es, sich zusammennehmen, und nun gar zu Hause, wo der Vater mit ihr
zusammen eintraf. Und dann waren die Schwestern da, und sie mußte ihnen
bei den Schularbeiten helfen und mit ihnen Puppenzeug nähen. Erst als
alles in der Wohnung schlief, hätte sie Zeit zum Weinen gehabt, aber
da war der erste Kummer vorbei, und ganz andere Gedanken kamen ihr, die
gar nicht traurig waren. Sie wollte den Mann, den sie nun einmal lieb
hatte, lieb behalten, das schwor sie sich zu mit gefaltenen Händen. Er
würde doch nicht schlechter darum, weil er eine andere liebte? Und am
Ende ist es nicht einmal wahr, dachte sie zuletzt in neu erwachender
oder nie ganz erstorbener Hoffnung. »Wenn einer von den beiden gelogen
hat, warum soll es gerade Hartig gewesen sein, der so offene Augen
hat, wie ein Knabe, und der überhaupt der allerbeste Mensch ist, den
ich kenne! Kapitän Tönnies dagegen ist durchaus nicht so nett, wie ich
immer gedacht habe, und wenn er doch 'mal mein Schwager werden sollte«
-- hier mußte Manga Dehn über sich selbst lachen, und so kam es, daß
auch die letzte Spur der Tränen von ihren Wimpern verschwand, und daß
der Morgen ein heiteres Gesichtchen vorfand, dem die warme Innigkeit
einen vertieften Reiz verlieh.

Die Frauen wissen sich eben am besten mit der Liebe abzufinden. Lieben
sie nicht für einen andren, so lieben sie für sich und sind glücklich
dabei, wenigstens in der Jugend. Die Männer dagegen --

»Wo ist Onkel?« riefen die Kinder, als sie zögernd und unwillig von
dem schönen Schiffe Abschied nehmen sollten. »Wo ist Onkel Hartig
geblieben?« Und sie guckten in den Maschinenraum, den der Schornstein,
bis auf einen Gang rundherum, mit seinem großen roten Schmerbauch
ausfüllte, in das Rauchzimmer mit den bequemen Ledersofas, ja sogar
in die luftige, aus Sparren zusammengeschlagene Fruchtkammer auf dem
Halbdeck und in die schwarzen Kohlenbunker. Plötzlich lief Anna mit der
Miene eines horchenden Kobolds an seine Kammer und legte ihr Ohr ans
Schlüsselloch, dann auch das Auge.

»Onkel hat sich eingeschlossen, er macht gar nicht auf! Der Schlüssel
steckt inwendig, ich hab' es ganz deutlich gesehen«, berichtete sie,
glücklich über ihre Schlauheit.

»Er hat woll was zu tun«, sagte die Mutter und trieb die Kinder
vorwärts. Daß sie nicht sehen konnten, was Hartig Holert zu tun
hatte, war freilich gut. Längelang ausgestreckt lag er auf seinem
niedren Bette und weinte wie ein kranker Säugling. Freilich besaß er
mächtige Glieder und ein unerschrockenes Herz. Mehr als einmal war er
in Lebensgefahr gewesen, -- mit kaltblütiger Entschlossenheit hatte
er schnell das Zweckmäßige erkannt und ausgeführt. Mit Gefühlen zu
kämpfen, statt mit widrigem Winde, blindmachendem Nebel und brüllender
See, das war er nicht gewohnt. Hier war er wehrlos.

»Wo is Onkel Hartig?« fragten die Kinder, als daheim, beim Abendbrot,
sein Platz am Tische leer blieb und Stine schweigend seinen Teller
beiseite stellte. Es war nicht so heiter wie sonst; die Mutter saß
still und der Vater machte viele laute Witze, über die er nachher ganz
allein lachen mußte, denn die Kinder verstanden sie nicht. Tönnies
zog seiner Frau, da sie nicht hinhörte, alle Nadeln aus dem wollenen
Gestrick und schlug Anna mit der halbfertigen Unterjacke um die Ohren,
aber es half alles nicht, sie wurden nicht lustiger davon. »Wo ist
denn eigentlich Onkel Hartig?« fragten den nächsten Tag und immer
eindringlicher die Kinder, und schließlich kam es heraus, daß er sich
in St. Pauli ein Zimmer für vierzehn Tage gemietet habe, -- dann ging
die Maria da Gloria wieder auf ihre weite Fahrt. Über den Grund zu
einer so außerordentlichen Maßregel sprachen die Gatten nicht, aber der
Kapitän wurde »quirrig[45]« und Stine hatte oftmals rote Augen. Holert
besaß ja ein eigenes Haus in Blankenese, -- warum konnte er nicht dort
wohnen, wenn er seinem Schwager aus dem Wege gehen wollte? Vielleicht,
weil das Haus nur einige Treppen höher lag, als Tönnies', weil die
Gärten beinahe aneinander stießen? Es war nur gut, daß Stine so wenig
Zeit zum Grübeln hatte, -- die bevorstehende Abreise hielt sie in
Atem. Da gab es zu bessern, zu flicken, Strümpfe zu stopfen, vor allen
Dingen zu waschen. Was sich in acht Monaten in der Wäschekammer des
Kapitäns angesammelt hatte, es war unglaublich -- zumal, da die Tropen
täglich doppelt das frische Weißzeug verlangen. Das tanzte und blähte
sich im Winde auf den Leinen an der Strandbleiche, das schimmerte in
augenblendendem Weiß von dem kurzen Grase, das quoll immer von neuem
aus der Waschbalje[46] der zwei eifrigen Helferinnen hervor, das
füllte die Umgebung des Hauses mit Seifengeruch und feuchtem Qualm und
brenzligem Plättdunst, und immer war noch der Boden der Kisten nicht
zu sehen, -- der ~Kisten~, denn der guten Schwester erschien es
selbstverständlich, daß sie auch den Bruder versorgte, bis einmal
eine junge Frau die Last auf ihre Schultern nähme. Und immer wieder,
wenn sie an diese Zukünftige dachte, kehrte ihr Wunsch zu Manga Dehn
zurück. An die Braut im Taschenbuch hatte sie keinen Glauben, und daß
Hartig das besprochene Bild trotzdem nicht zeigen wollte, konnte sie
ihm völlig nachfühlen. Freilich hätte er sich damit von all den halb
scherzenden Anschuldigungen seines Schwagers sogleich reinigen können,
aber -- und darin teilte sie ihres Bruders Empfindung -- wenn man einem
Menschen gut ist, fordert man von ihm keinen Beweis der Ehrlichkeit.
Das hatte Fräulein Dehn auch nicht getan, Fräulein Dehn war überhaupt
eine kleine fixe Deern, die so leicht nicht irre zu machen war --
Fräulein Dehn -- und mitten in diesen Gedankensprüngen, denen sich
Stine überließ, während sie die blauen Tuchröcke und Westen ihres
Mannes von der Zeugleine nahm -- stand plötzlich Manga Dehn vor ihr auf
der Bleiche und sah sie mit ihren klugen braunen Augen schelmisch und
freundlich an.

»Herrjes, wo kommen Sie her!« rief Frau Tönnies in angenehmer
Überraschung. »Nee, mich müssen Sie nich angucken, ich seh' so aus!«

Das junge Mädchen begann trotz der Handschuhe beim Wäscheabnehmen zu
helfen.

»Sind Ihre Herren schon wieder weg, Frau Tönnies?«

Sie hielt zwar den Beweis in Händen, daß dem nicht so war, aber
ein ganz klein wenig Heuchelei ist doch am Ende keine Sünde. Ihre
Überraschung war auch nur mäßig, als Frau Stine die Frage verneinte.
»Mich wundert bloß, daß Sie über die Ankunfts- und Abgangszeiten der
Dampfer von Ihrer Linie so wenig unterrichtet sind.«

Ja, wie sollte Manga Dehn das wissen? »Ist das der Beutel für die
Kneifen[47], Frau Tönnies?« fragte sie eifrig. »Mein Gott, was ist denn
das für'n Riesenrock, der hier hängt? Das is ja 'n wahres Gebäude.«

Die Kapitänsfrau seufzte, während sie das unendlich lange und schwere
Kleidungsstück aus blauem Tuch, mit Flanell gefüttert, sorgfältig
befühlte.

»Gottlob, endlich is er trocken! Der hat 'n Gewicht! Na, wissen Sie
nich, was das is, Fräulein Dehn? Das is meinem Mann sein Südwester.
Wenn das Wetter so recht furchtbar schlecht is, auf der Nordsee und
in der Magelhanstraße, dann wird der angezogen! Wenn mein Mann so'n
ganzen Tag auf der Kommandobrücke steht und die Seen man immer so auf
Deck sprützen! Der is immer ganz steif von Sott und Seewasser, wenn er
ihn mitbringt. Wissen Sie, wie meine Waschfrauen ihn nennen? Die sagen
da bloß ›dat Undeert‹ zu, weil sie ihn so schlecht regieren können, da
waschen sie immer mit zwei Mann an, 'n halben Tag. Und nu hab' ich noch
so'n Ärger --«

Frau Tönnies brach plötzlich ab, das junge Mädchen von der Seite
musternd, das spielend die Hand in den dicken weiten Ärmel gesteckt
hatte.

»Hat Ihr Bruder keinen solchen Rock? Haben den nur die Kapitäne?«

»Na, wenn Sie selbst von ihm anfangen, Fräulein Dehn, denn is das gut
-- ich dachte, das wär' Ihnen vielleicht unangenehm.«

»O, warum meinen Sie das, Frau Tönnies?«

»Ja, ich mein' man! Mein Bruder is ganz komisch seit dem Tag auf dem
Schiff! Wir haben immer soviel von'nander gehalten, aber nu -- nich mit
Augen kriegt man ihn zu sehen, und wenn er 'mal kommt, denn guckt er
die ganze Zeit nach der Uhr oder nach der Tür, immer als wenn da was
'reinkommen soll, und sprechen tut er nich ~so~viel.« Die Frau tat
einen tiefen Seufzer. »Wenn sie man erst in gutem wieder weg wären, man
hat bloß sein Unangenehmes von den Mannsleuten.« Sie wischte sich die
Augen.

»O, Frau Tönnies, Sie hatten sich doch so gefreut!« rief Manga mit
sanftem Vorwurf.

Die Frau setzte die Arme in die Hüften. »Mein liebes Fräulein, Sie
haben gut sprechen, Sie sitzen da nich so zwischen wie ich. Ich soll
das doch man all bereißen, und ich tu' das ja auch von Herzen gern, all
die Jahre, was sag' ich, all die Jahren hab' ich das für meinen Bruder
mit getan.«

»Was ist denn passiert, liebe Frau Tönnies?« Das junge Mädchen legte
ihr freundlich den Arm um die Schultern. Die Frau sah weinerlich zu
ihr auf: »Gestern abend -- in vier Tagen wollen sie weg -- kommt
mein lieber Hartig angewackelt: ›Ja, Stine, so und so, und eine Kiste
Wäsche, die hab' ich rein vergessen, aber nu mach' man zu, daß du
sie noch gewaschen kriegst.‹ Rehrsch stand dabei: ›Ick kunn mi rein
dodargern,‹ sagt sie, ›nu kummt de ook noch an mit sin ol Undeert, un
ick kann nich, ick mutt op'n Süllbarg ut Waschen gahn.‹«

»Aber er muß den Rock doch haben,« fiel das Mädchen voll Eifer ein.
Frau Tönnies schnäuzte sich bekümmert.

»Is all recht gut, aber das geht man nich. Erst stolpert er 'rum wie
so'n Drömklas, und nu kommt er damit zu Gange. Die zwei Waschfrauen
sind die ganze Woche versagt, und ich mit Kathrin haben noch reichlich
zu plätten --«

»Aber was soll er denn in dem schlechten Wetter ohne den Südwester
anfangen?« Mitleid und Unruhe spiegelten sich in Mangas zärtlichen
Augen. »Er hat es doch nu 'mal vergessen --« sie errötete und spielte
mit einer Windenranke, die an der Dornhecke aufgeklommen war. »Frau
Tönnies, bitte, lassen Sie mich das Untier waschen.«

»Achhott, Fräulein Dehn,« rief die Kapitänsfrau und gab ihr einen
kleinen Stoß, »schnacken Sie doch nich.« Aber das Mädchen sah sie voll
liebreicher Entschlossenheit an. »Es ist mein Ernst, und Sie sollen
sehen, daß ich es ganz gut machen werde. Wenn ich will, kann ich den
ganzen Tag hier bleiben, Papa kommt nicht zu Tisch, und Berta und Minna
sind heute bei Großmutter eingeladen. Geben Sie mir nur ein altes
Kleid und eine große Schürze -- ist schon Feuer im Waschhaus?« Und mit
eiliger Miene riß sie den Hut herunter. Frau Tönnies sträubte sich
sehr. »Wenn Sie doch helfen wollen, denn plätten Sie mit, denn wasch'
ich den Rock«, sagte sie endlich.

Aber Manga Dehn schüttelte eigensinnig das Köpfchen. Nein, das Plätten
verstand sie weniger, dagegen würde ihr's gar keine Mühe sein, den
Südwester rein zu bekommen. »Mit dem größten Vergnügen,« wiederholte
sie fröhlich, »o ich habe Kräfte, das wissen Sie nur nicht.«

Die Kapitänsfrau ließ sie endlich gewähren. »Ich denk' auch so,« sagte
sie, »wenn Sie nu 'n Seemann geheiratet hätten, -- Gott, es hätt'
ja doch angehen können -- und da wär' gerade keine Hilfe zu kriegen
gewesen, dann hätten Sie das am Ende auch 'mal selbst getan.«

Manga nickte aus Leibeskräften. Eh' eine Viertelstunde verging, stand
sie, in ein Aschenbrödel verwandelt, im luftigen Waschhause und
bürstete und seifte an dem ungebärdigen Kleidungsstück mit sprühenden
Augen und dunkelroten Backen. Sie hatte durch eine sinnreiche
Vorrichtung die dicken Falten ausgebreitet vor sich, und wenn Frau
Tönnies zuweilen nach ihr sah, freute sie sich, wie die »kleine fixe
Deern« so gut allein fertig wurde. »Na, wenn das Hartig sähe«, sagte
sie.

Die niedliche Wäscherin hielt inne. »Bitte, das versprechen Sie mir,
Ihr Bruder soll es nicht wissen! -- Ist er schon öffentlich verlobt,
Frau Tönnies?«

»Ach, glauben Sie doch den dummen Kram nich, Fräulein Dehn«, war die
ärgerliche Antwort. »Hartig hat 'mal wieder Jux gemacht! Er is 'n
großen Slöpendriwer[48].«

Ein befreites heiteres Lachen scholl hinter der Waschbalje vor.

»Was er nicht sagen will, das kriegt man, glaub' ich, nicht aus ihm
'raus.«

»Hat er Ihnen schon den Sonnenschirm wiedergebracht?« sagte die Frau.

»Den Sonnenschirm? Nein!« versetzte hocherstaunt das Mädchen. »Ich bin
eigentlich deswegen hergekommen. Und den hat Herr Holert?«

Frau Tönnies fühlte nach ihren Lippen, sie hatte das Gefühl, sie sich
verbrannt zu haben. »Na so«, sagte sie, schnell weggehend, und ließ die
Kleine mit ihrer Arbeit und ihrem Grübeln zurück. Es war am Ende gar
kein Grübeln zu nennen, so wenig wie ihr die schwere, anstrengende,
langwierige Wäscherei eine Mühe deuchte. »Er hat meinen Sonnenschirm,
und ich wasche seinen Rock«, weiter war es nichts, und diese zwei
nüchternen Sätze bedeuteten ihr gleichwohl einen wahren Abgrund von
Seligkeit, und sie ward nicht müde, sie sich immer wieder vorzusagen.

Kaum gönnte sie sich Zeit zum Essen, als Frau Tönnies zu Mittag rief.
Der Kapitän war zum Glück nicht da, so kurz vor der Abfahrt hatte
er bis gegen Abend in Hamburg zu tun. Die Sonnenstunden waren heiß.
Gerade aufs Waschhaus fielen die senkrechten Strahlen, und in den
Blättern des Efeus, der das kleine weiße Bauwerk umrankte, rührte sich
kein Lüftchen. Die Tür stand weit offen, über den Waschtrog hinweg
sah man bei jedem Aufblick den glanzumflossenen bläulichen Strom,
der hinauszieht, hinaus ins Meer, mit seinen großen breiten Wellen.
Bald wird er auch die »Maria da Gloria« wieder dort hinuntertragen,
und Kapitän und Steuermann werden an der rechten Stelle sein. Vor
Blankenese wird die Dampfpfeife grüßen, die Mannschaft wird Hurra
schreien, -- aber die Nachgebliebenen am Strande, die werden weinen.
Das Mädchen fühlte ihre Augen übergehen. Sie mußte sie abwenden von
der glitzernden Fläche, die so viel Frohsinn und Kraft gleichgültig
weggleiten ließ in das rauhe, verräterische Meer.

Ein Schritt auf der Gartentreppe erschreckte sie, -- das waren keine
Kindertritte, die dort den ganzen Vormittag herauf- und hinabgelaufen
waren. Mit der nassen Hand zog sie die Tür zu und spähte durch die
Ritze. Ach so, der Briefträger war's, -- sie hörte ihn ans Fenster der
Wohnstube klopfen und Frau Tönnies rufen. Bald darauf erschien die
Kapitänsfrau bei der Waschbalje, eine Karte schwenkend.

»Fräulein Dehn, nu denken Sie 'mal, nu soll ich mit meinem Mann nach
der Elbschloßbrauerei. Er schreibt mir eben, wir wollen uns da treffen!
Wenn Sie fertig wären, könnten Sie 'n büschen mitgehn, denn nehm' ich
Hinrich und Anna auch mit; sonst laß ich die Gören zu Haus.«

»Nein, ich bin nicht fertig, Frau Tönnies, ich hab' noch 'n paar
Stunden hier an den Ärmeln zu tun.«

»Na, und ich soll nu so vom Plätten weglaufen!« Die Frau lachte
aufgeregt. »Wissen Sie, ich würd' es gar nich tun, aber denn denk'
ich wieder so: wie selten kannst 'mal mit deinem Mann ausgehn, und nu
sollst ihm das abschlagen? Und denn kann ich das nich und kann das
nich!« Sie lachte wieder. »Ach Gott, und wenn ich das nu geradeaus
sagen soll, -- ja, ich geh' gern 'mal mit meinem Mann los! Besonders,
wenn die Gören nicht mit sind! Das is denn, als wenn wir wieder jung
verheiratet wären. Tönnies sagt das auch immer.«

Manga blickte sie freundlich und verwundert an. So vergnügt hatte sie
die gute Frau noch gar nicht gesehen.

»Wie freut mich das für Sie!« rief sie warm.

»Aber Ihretwegen, Fräulein, is mir das furchtbar unangenehm, -- es is
ja die verkehrte Welt, die Hausfrau geht aus Schwieren[49], und der
Besuch muß die Arbeit tun! Nee, es geht nich.«

Natürlich überzeugte das Mädchen sie, daß es ausgezeichnet gehe. »Nach
dem Abendbrot, -- ich esse mit den Kindern, und Kathrin ist ja so
zuverlässig, fahr' ich nach Hause und werde wohl wie ein Dachs schlafen
nach der Arbeit«, lachte sie.

»Und ich plätt' gern 'mal die Nacht durch, da kommt es mir denn auch
nich auf an!« Leichtfüßig wie ein ganz junges Mädchen hüpfte Frau
Tönnies davon, um sich anzukleiden.

Manga Dehn hörte sie zum Abschied die Kinder ermahnen, Kathrin
Verhaltungsregeln geben und sah noch einmal ihre geputzte Gestalt zu
sich hereingucken.

»Heute bin ich auch in Hell, nich einmal den ganzen Sommer hab' ich
dies lila Kleid angehabt! Schade, daß Sie nich mitgehn. Lassen Sie sich
man nich die Zeit lang werden, -- mein Bruder is das gar nich wert, daß
--«

»Ich tu' es gern! Viel Vergnügen!« Dann blieb die kleine Wäscherin
wieder allein.

Herrlich wurde der Himmel, wie die Sonne sich senkte. Gradeaus, nach
Süden, stand er voll roter Wolken, klar und hochgelb war er im Westen.
Wie ein ungeheurer, in schönen Falten wogender, seidener Mantel war die
Elbe; hier blau mit kupferroten Punkten, dort seegrün mit Goldstaub
bestreut. An der Brüstung des Gartens versuchten die Wellen eine kleine
Brandung zu schlagen und plätscherten und spritzten hoch hinauf. Die
Stimmen der Kinder verklangen in der Ferne, in den hohen Birnbäumen
hinter dem Waschhaus zwitscherten die Spatzen, eine Walzermelodie vom
Süllberg tänzelte durch die Stille wie ein ausgelassener Schmetterling:
die schrillen Töne einer Handharmonika fuhren manchmal dazwischen aus
einem der verankerten Fischerewer, an denen die bleichen Lichtlein wie
zitternde Sterne entglommen. Manga Dehn horchte, wusch und träumte
dabei. -- --

»Na, Fräulein, was machen Sie denn da?« fragte es plötzlich zum kleinen
oberen Fenster herein. Hartig Holert war über den Berg gekommen und
stand auf den letzten Stufen der Treppe, die am Waschhaus vorüber
führte. Ein zufälliger Blick hatte ihm den von Abendlicht übergossenen
Kopf da drinnen gezeigt.

Das Mädchen stand sprachlos, -- das blaue Tuchgebäude war ihren Händen
entglitten, Tränen der Scham und des jähen Erschreckens traten ihr
in die Augen. Ihr Herz war schwer, als sei sie über einem Verbrechen
betroffen worden.

»Das is doch keine Arbeit für Sie!« sagte der Steuermann, nun am
Türeingang. »Was haben Sie da vor?« Er sprach leise, ungläubig, mit
belegter Stimme.

Manga erhob zaghaft den Blick. »Ich wollte Ihrer Schwester helfen«,
stotterte sie.

»Und Stine leidet das?« Er versuchte die Stirn zu runzeln, aber ein
unwillkürliches Lächeln umspielte seinen Mund. Es war die Freude, die
hervorbrach.

»Stine ist aus.«

»Auch noch! Süh, das is ja nett! Und Sie können hier waschen!«

»Sie müssen das Un-, -- den Südwester ja doch haben --«

»Was?« rief der Steuermann und trat einen Schritt näher, nun auch rot
und bestürzt, »Sie sind bei ~meinem~ Rock zu Gange?«

Eine lange Pause folgte. Das Mädchen blickte zu Boden, und der
Steuermann sah stramm und unentwegt in die Waschbalje, als ob nun er
der Ertappte sei. »Sehn Sie 'mal! Das hatt' ich ja gar nich gedacht,
daß Sie auch waschen können,« murmelte er vor sich hin.

»Die Ärmel sind noch nicht ganz rein«, war die ebenso gemurmelte
Antwort.

»Achhott, das kann ich ja gar nich verlangen!« Die ungeschickten Worte
waren von einem so warmen Ausblick begleitet, daß sie dem Mädchen sehr
schön vorkamen. Sie lächelte. Hartig legte die Hände auf den Rand der
Waschbalje, hinter der sie stand.

»Darum sind Sie nich zu Hause gewesen heute!«

»Ach, Sie waren bei uns?«

»Ich mußte Ihnen doch endlich 'mal -- allmählich 'mal -- Ihren
Sonnenschirm wiederbringen -- sechsmal bin ich all auf Ihrer Treppe
gewesen,« -- er errötete wie ein Knabe -- »ich mocht' immer nich
'reinkommen.«

»Ach, Herr Holert!« rief Manga froh überrascht.

Er guckte angelegentlich in die Seifenlauge.

»Ich weiß nämlich nich, ob Sie Ihren Sonnenschirm nu so leiden mögen,«
platzte er endlich heraus, »am Ende mögen Sie das nich!« Und als das
Mädchen ihn fragend ansah, erhob er beschwichtigend die Hand: »Denn
müssen Sie das nich für ungut nehmen, denn kann das leicht geändert
werden, -- das is all zum Abschrauben.«

»Wie?« lispelte das Mädchen. Er fuhr aus der Tür, kam mit einem
schmalen, langen Paket zurück, drückte es Manga in die Hände und
stürmte mit einem Seufzer davon.

Lächelnd und zitternd riß die Kleine die Hülle herunter, -- richtig, da
war ihr Schirm, ihr Schirm mit dem weißen Griff und dem Monogramm. Aber
was für Buchstaben waren denn das? Ein goldenes verschlungenes +M+
und +H+? Überrascht wiederholte sie laut: »+M. H.+? +M.
H.+?«

Zum Fenster herein kam eine Hand, ein Päckchen darin -- die andere
Krücke.

»Hier ist das andere -- wie Sie das nu wollen«, sagte eine erstickte
Stimme. Sie nahm es -- aber sie öffnete kaum, an ihrem erglühten
Gesichtchen erkannte er, daß sie begriffen hatte. Nun hob sie mit
einem Schelmenblick die weiße Krücke mit dem blanken, nagelneuen
+M. H.+ zu dem Fenster empor und machte eine kleine winkende
Bewegung. Augenblicklich war er drinnen, ihre Augen suchten sich, ihre
Arme streckten sich einander entgegen, mit einem Laut zwischen Weh
und Entzücken fielen sie sich hinter der Waschbalje um den Hals. Sie
hatten sich zu lange nacheinander gesehnt, um nun nicht die Gewißheit
stürmisch festzuhalten. Das Mädchen richtete sich zuerst auf. »Nun muß
ich aber den Rock fertig waschen.« Hartig hielt sie fest.

»Das Beste weißt du noch nich.«

»Doch, das Beste weiß ich!« Und sie schmiegte sich wieder an ihn.

»Ich fahr' nich mit der ›Maria‹. Der Rock hat noch drei Tage länger
Zeit.«

»Ach, das Weggehn!« seufzte das Mädchen verwirrt.

»Ich komm' wieder, Manga! Du, Kaptän Sundblad is krank, alt is er ja
auch, ich fahr' probeweise als Kapitän der ›Holsatia‹, und man kann ja
nicht wissen -- das kann ja sein -- vielleicht hab' ich Glück, daß sie
mich ganz behalten!« Enttäuscht blickte er sie an: »Und nun freut sie
sich nich mal, daß ihr Mann Kaptän is! Meinst, ich wär' sonst mit dem
Monogramm angekommen?« Er rüttelte sie ein bißchen am Arm. »Wenn ich
mit dir könnte!« sagte sie mit fließenden Tränen. Dann, als auch ihm
die Augen naß wurden, ermannte sie sich.

»Ich muß wohl ins Haus jetzt --« sie blickte an sich nieder -- »ich
will mich schnell umziehen.«

»Kommst du gleich wieder? Ich zeig' dir noch was.«

Und als sie in ihren eigenen zierlichen Sommerkleidern zum Vorschein
kam, wies er die Stufen hinter dem Waschhause hinauf: »Da oben.«
Neben einander erklommen sie die schiefen holprigen Steinstufen, bis
sie zu einem großen grünen verwilderten Garten anlangten, ohne andere
Blumen, als ein paar wilde Mohnkelche, die sich im Abendwind wiegten.
Aber an der Hecke standen große Obstbäume und in der Mitte, unter
Obstbäumen, ein niedriges weißgraues Häuschen mit einer grünen Tür und
grünen Fensterladen. Lebhafter aber, als der tote Anstrich schimmerte
das moosige Schindeldach, gelbgrün und bräunlich, und gerade auf dem
First blühten zwei Kornblumen, und Hartig faßte nach der kleinen
rotgewaschenen Hand: »Guck, Manga, das is dein Haus. Klein und einfach,
aber solide. Alles im Tagelohn gebaut, hat mein Vater gesagt.«

Ein unvergleichlicher Rundblick tat sich auf. Rechts am Strande
die grünen und roten Dächer des Dorfes, in Terrassen aufsteigend.
Nach links, halb versteckt von den Baumkronen des Bauerschen Parks,
das Dörfchen Mühlenberg. Vorn aber der große, still flutende,
verkehrsreiche Strom, dunkelblau jetzt, nach Sonnenuntergang, mit
den ziehenden Schiffen und den sternengleich leuchtenden verstreuten
Lichtern an den vor Anker liegenden Fischerewern. In stiller
Feierlichkeit, mit verschlungenen Armen stand das junge Paar und
staunte hinunter und drückte sich fester die Hände.

»Anderswo is all nich Blankenese,« sagte Hartig kopfnickend,
nachdenklich -- »das is es, darum kommen wir auch immer wieder.« -- --
-- --

Der Vater des Mädchens gab unverhofft schnell seine Einwilligung, Stine
war so glücklich, als habe sie statt des Bruders einen Sohn verlobt,
die Kinder bejubelten die neue Tante -- nur Kapitän Tönnies zeigte
sich äußerst verdutzt und infolgedessen bedenklich. »Der Mensch hat ja
schon eine Braut,« rief er endlich erbost, »visitieren Sie doch sein
Taschenbuch, das ist ja woll das wenigste, was Sie verlangen können.«

Aber Hartig ließ sich nicht wieder aus der Fassung bringen. Er steckte
beide Hände in die Taschen, machte eine Schelmenmiene und sagte:
»Wokein? Ick? As ick? Ach, Tönnies, dat bün ick je gor nich west.«

Auch Manga Dehn hatte lächelnd und zuversichtlich abgewehrt. Ein
bißchen ernster wurde ihr Gesicht, als sie mit ihrem Verlobten allein
war.

»Was hat er eigentlich damals und heute mit dem Bilde gemeint?« fragte
sie befangen.

»O gor nix! Mußt nich so neugierig sein, Manga. Soll ich denn gar
nichts für mich behalten?« Seine blauen Augen flimmerten. Da zog
sich das Mädchen in eine Ecke zurück und brach in Tränen aus. Eine
Weile ging er mit großen Schritten hin und her und ließ sie weinen.
Plötzlich riß er seine Brieftasche heraus, gab sie Manga und wollte die
Stube verlassen. Aber Manga litt es nicht. Ohne das Taschenbuch weiter
anzusehen, drängte sie es ihm wieder auf: »Bitte, sei mir nicht böse,
ich will es gar nicht.« Mit freudiger Genugtuung nahm er sein Eigentum
zurück.

»Zu unserer silbernen Hochzeit sollst es haben! Das' früh genug. Was
Unrechtes is es nich.«

Und dabei hat sich Manga Dehn beruhigt und weiß noch heute nicht,
wer es ist, dessen Bild ihr hartnäckiger Mann auf dem Herzen trägt.
Es könnte sie nur ~glücklich~ machen, wenn sie's sähe, dies
freundliche Mädchenbild mit den hängenden Zöpfen, das Hartig Holert in
heimlichem Übermut seiner Schwester einst aus dem Album genommen --
aber der Kapitän zeigt's nicht -- er ist eben noch nie jemandem, auch
seiner Frau nicht, zu Füßen gefallen.




                           Balduin Groller,

                       Die Tante und der Onkel.

                           Eine Entlarvung.




                       Die Tante und der Onkel.


                                  I.

»Lieber Alter! Es ist hohe Zeit, vernünftig zu werden. Meine
Examina habe ich, wie Du weißt, längst mit Glanz bestanden, auch
die Spitalspraxis habe ich glücklich hinter mir. Nun will ich mich
auf eigene Rechnung und Gefahr als Heilkünstler seßhaft machen,
und nicht länger soll der großen Öffentlichkeit der Segen meiner
ärztlichen Kunst vorenthalten bleiben. Wo läßt man sich nieder? Ich
stimme für Gerolstein; dort bist wenigstens Du, das ist schon etwas.
Wäre dort etwas zu machen? Erfreut Ihr Euch eines recht zahlreichen
Krankenbestandes; gibt es erfreuliche Aussichten auf irgendwelche
Pestilenzien, oder seid Ihr dort alle beklagenswert gesund? Es bittet
um einige beruhigende Zeilen

                                        Dein alter treuer
                                                       Fridolin.«

Der »liebe Alte«, an den vorstehende Zeilen gerichtet waren, war
ein junger Rechtsanwalt, Verteidiger in Strafsachen, +Dr.+
Arnold Winter, der dem verbrecherischen Teile der Menschheit von
Gerolstein seine guten Dienste zur Verfügung hielt. Im Hinblick auf
die Zukunftshoffnungen der beiden Freunde muß es aber hier schon mit
Betrübnis ausgesprochen werden, daß im Großherzogtum Gerolstein die
Menschen nicht nur von einer unausstehlich robusten Gesundheit waren,
sondern daß sie sich auch einer Tugendhaftigkeit befleißigten, die
auf die Dauer einen jungen ungeduldigen Verteidiger in Strafsachen
unfehlbar zur Verzweiflung bringen mußte.

+Dr.+ Arnold Winter setzte sich nach Empfang des Schreibens sofort
hin, um es zu beantworten -- Zeit hatte er ja. Er schrieb:

      »Mein lieber Junge!

Als ich den Ausdruck Deiner Herzensmeinung las, daß es hohe Zeit sei,
vernünftig zu werden, habe ich mich einer lebhaften Besorgnis nicht
erwehren können, daß Du nun wieder einen tollen Streich vorhast.
Die Sache war von vornherein verdächtig, und daß meine Besorgnis
eine nur zu wohlbegründete war, das zeigte sich dann sofort, als
Du die Absicht aussprachest, Dich in Gerolstein anzusiedeln. Wäre
ich selbst ein vernünftiger Mensch, so müßte ich Dir folgendes
antworten: Trinke zunächst einige Gläser Wasser, und dann verschreibe
Dir ein beruhigendes Mittel, hierauf begib Dich freiwillig aufs
Beobachtungszimmer. -- Ich halte den Fall für keinen unheilbaren und
hoffe noch auf eine gute Besserung.

Da ich aber in erster Linie Dein Freund und Gesinnungsgenosse, also
~nicht~ ein vernünftiger Mensch bin, so sage ich einfach: komm!
Ich müßte ein schlechter Freund sein, wenn ich Dir bei einem dummen
Streiche meine schätzbare Mithilfe versagen wollte. Auch bei mir ist
der Wunsch der Vater des Gedankens; ich möchte Dich bei mir haben.
+Solamen miseris socios habuisse malorum.+ Ich weiß, man kann
statt +miseris+ auch +miserum+ sagen; Du siehst also, ich
bin ein gemeldeter Binsch. Letzteres soll ein Witz sein und eigentlich
›gebildeter Mensch‹ heißen. Du rümpfst die Nase und findest den
Witz etwas mäßig, aber ich versichere Dich, für unsere Gerolsteiner
Verhältnisse ist er gerade großartig genug.

Ich werde Dich also hier haben, und ›das freut dem Schwerte sehr‹ --
das Schwert bin ich. Vor gar zu argen Enttäuschungen möchte ich Dich
aber doch bewahrt wissen. Der allgemeine Gesundheitszustand ist ein von
Deinem Standpunkte aus überaus beklagenswerter und wenn nicht von Zeit
zu Zeit ein paar ~Ärzte~ Hungers stürben, so käme die Statistik
gar nicht zu ihrem Recht, die mit Fug beanspruchen darf, daß auch das
Großherzogtum Gerolstein sein Kontingent zur allgemeinen Sterblichkeit
stelle.

Wir sind aber unserer so wenige der getreuen Untertanen unseres
erlauchten Herrscherhauses, daß es höchst unpatriotisch von uns wäre,
wegzusterben wie die Fliegen. Das tun wir nicht; und das darfst
auch Du uns nicht verargen; denn mit ganz toten Gerolsteinern ist
auch Dir nicht gedient. Ganz und gar aussichtslos ist die Sache doch
nicht für Dich, nur muß sie richtig in die Hand genommen werden. Wir
müssen uns von vornherein auf den Standpunkt stellen, das Du die
Gerolsteiner nicht brauchst, sondern daß sie sich eine Ehre daraus zu
machen haben, wenn Du die Gewogenheit hast, ihnen ein Purgiermittel zu
verschreiben. Du bist jung und hast die Mittel, mit einem gediegenen
Glanz aufzutreten, dann mit einem gewissen Glanz zuzuwarten, und das
heißt nichts anderes, als sich mit einem gewissen Glanz den Anschein
geben, als hätte man furchtbar viel zu tun. Es gibt gewisse kleine
Vorbedingungen -- dann geht alles. Jung muß man sein, schön muß man
sehn, und Glück muß man haben. Jung bist Du; die Schönheit -- nun, wir
wollen nicht streiten, sagen wir also: so so! -- aber Glück hast Du
entschieden, denn Du bist vollständig unvermählt. Dir zuliebe werden
also die töchtergesegneten Mütter Gerolsteins zwar auch krank werden
und mit Vergnügen auch ihre Männer und Kinder krank machen. Es sind
sogar künstlich erzeugte Epidemien nicht ganz ausgeschlossen.

+Quae cum ita sint+ -- komm, siehe, siege! Du siehst, ich bin Dein
würdiger Freund, und es fehlt mir nicht an Argumenten, eine große
Dummheit, die Du vorhast, zu beschönigen. Ich mache mich sogar auf
weitere und größere Dummheiten gefaßt, wenn Du einmal hier sein wirst,
und erkläre jetzt schon meine freundschaftliche Bereitwilligkeit, Dir
wacker zur Seite stehen und tapfer mittun zu wollen. Solltest Du es zu
arg treiben, so weißt Du, daß ich Verteidiger in Strafsachen bin, und
kennst meine Adresse. Ich garantiere Dir eine Verteidigungsrede vor dem
Schöffengericht, die Dir einen hohen künstlerischen Genuß bereiten
soll.

+Ad vocem+ Verteidiger in Strafsachen! Du hast mich gar nicht
gefragt, wie's mir geht. Oh, mein Freund! Wenn ein Verteidiger in
Strafsachen so lange und so schöne Briefe schreibt!! Glaubst Du, daß
sich hier die Leute zu einem halbwegs anständigen Meuchelmord aufraffen
können oder wenigstens zu einem reputierlichen Totschlag unter
erschwerenden Umständen? Keine Idee! Unsere Gauner bringen unsere ganze
Rechtswissenschaft in Mißkredit, und mein großartiges Talent ist in
Gefahr, zu verkümmern. Haben die Römer die Rechtswissenschaft darum auf
eine so hohe Stufe gebracht, haben Savigny, Mittermayer, Glaser, Unger,
Ihering darum gelehrt und gewirkt, daß ich mich, wenn's hoch kommt, mit
einer nächtlichen Ruhestörung, mit einer in der Hitze des häuslichen
Gefechtes von der Hausfrau in ihrer Ehre gekränkten Köchin oder mit
einem Schafskopf, der ein Taschentuch zieht, wo er eine eiserne Kasse
erbrechen könnte, herumschlagen muß? Ich sage Dir, mein Junge, ich habe
massenhaft Zeit, und wenn ein Verteidiger in Strafsachen so viel Zeit
hat, so sollte er sich eigentlich aufhängen, oder er muß seine Zuflucht
dazu nehmen, sehr lange und sehr geistreiche Briefe zu schreiben. Ich
habe mich, wie Du siehst, zu letzterem entschlossen.

Noch ein Argument für die Dummheit, an welcher ich mich nun mitschuldig
mache: Du kommst aus der Reichshauptstadt. Das wird den guten
Gerolsteinern riesig imponieren. Mehr weiß ich mit dem besten Willen
zugunsten Deiner Absichten und meiner Wünsche nicht vorzubringen. Also
die Erfolge warten auf Dich: Komm und hole sie!

          Dein schiefgewickelter Freund

                                                     Arnold.«

Zwei Tage später erhielt Arnold folgende Karte:

»! Jeder Mensch hat das Recht, einmal im Leben einen entscheidenden
dummen Streich zu begehen. Es ist beschlossene Sache, ich komme nach
Gerolstein. Nächste Woche wird gestartet.

                                                     Dein F.«

Die umgehende Antwort lautete:

»!! Gewiß hat jeder Mensch gewisse Rechte, aber es gibt gewisse
Menschen, die von ihren Rechten einen unbescheidenen Gebrauch zu
machen pflegen. Versuche doch nicht, mir einzureden, daß es bei dieser
~einen~ großen Dummheit sein Bewenden haben werde. Man kommt nicht
ohne Grund nach Gerolstein, um sich da seßhaft zu machen. Da steckt
etwas dahinter, und ich sehe in der zukünftigen Zeiten Schoße noch
weitere pyramidale Dummheiten schlummern. Je ärger, desto besser; wofür
wäre ich sonst

                                              Dein Freund A.«

Darauf kam noch eine Erwiderung:

»Es ist doch gut, daß Du Dich nicht aufgehängt hast. Wäre schade
gewesen! Deine Vermutungen zeigen, daß Du ein brauchbarer Kriminalist
zu sein scheinst. Dein Verdacht ist vollkommen begründet; es steckt
wirklich etwas dahinter. Was kann das sein, Du großer Kriminalist?

           Auf Wiedersehen!

                                                     Dein F.«

Abgeschlossen wurde dieser Briefwechsel durch folgende Zeilen:

»Ich weiß genug. Wenn sie nur wenigstens schön ist. Diskreten Rat und
Hilfe sollst Du bei mir finden. Die mildernden Umstände willst Du mir
wohl mündlich auseinandersetzen.

  Ich drücke dich an meinen Busen!

                                                     Dein A.«




                                  II.

+Cherchez la femme!+ hatte sich Arnold gedacht, als er, nach
den Motiven für einen hervorragend dummen Streich forschend, zu dem
Schlusse kam: Da steckt etwas dahinter, und das war so gekommen:

+Dr.+ Friedrich Bruckner -- von seinen Freunden immer nur Fridolin
genannt -- hatte seine Zeit als Sekundar-Arzt im städtischen Hospital
abgedient, und aus Freude darüber bewilligte er nun sich selbst einen
Urlaub. Man war im Hochsommer, das Wetter war schön, und alles war dem
Unternehmen günstig. Das Unternehmen aber sollte in einem achttägigen
großen Nichtstun bestehen. Fridolin -- wir zählen zu seinen Freunden
und haben das Recht, ihn so zu nennen, -- Fridolin hatte sich für eine
Reise in die Sächsische Schweiz entschlossen.

Er war allein ausgezogen, hatte die Bastei »bestiegen« und den
Lilienstein, hatte sich persönlich von der Uneinnehmbarkeit der Festung
Königstein und von der Tiefe des Festungsbrunnens überzeugt und hatte
aus wissenschaftlichem Interesse sogar das große Irrenhaus besucht,
das dort irgendwo bei Pirna auf oder an dem Sonnenstein liegt. Dort
irgendwo herum muß es liegen; ich habe es selbst gesehen, es ist nur
schon ein bißchen lange her.

Die Nachmittagssonne brannte heiß hernieder; ein Interesse, scharf
auszuschreiten, hatte er nicht; denn die Sächsische Schweiz gefiel ihm
ganz gut, und er war nicht sicher, ob er sie nicht durch einen scharfen
Marsch sehr bald hinter sich haben würde; so gab er denn gern einem
Ruhebedürfnis nach, als er ein verlockendes Plätzchen entdeckte, wo es
sich voraussichtlich gut ruhen ließ. Es war ein winziger Rasenfleck,
von Haselstauden umgeben, die genügenden Schatten boten. Das Plätzchen
lag in einer Vertiefung ganz in der Nähe der wohlgepflegten Bergstraße,
die aber von Buschwerk an der Seite bestanden und so von Fridolins
Ruhestätte aus für das Auge verdeckt war. Ebenso war sein stilles
Versteck in der Tiefe neben der Straße von dieser selbst aus nicht zu
erblicken.

Da lag er nun auf dem Rücken im Grase, blickte zum wolkenlosen
Himmel empor und machte sich im übrigen ganz vernünftige Gedanken.
Er überlegte, wie und wo er nun seine ärztliche Praxis beginnen und
sich auf die eigenen Füße stellen solle. In der Hauptstadt gab es
Ärzte genug, und er hatte verhältnismäßig wenig Bekanntschaften. Sehr
verlockend waren da die Aussichten nicht. Sollte er irgendwo aufs Land
ziehen oder Badearzt werden? Beides hatte vieles für und noch mehr
gegen sich.

Während er so nachsann, begab sich etwas Sonderbares und Unerwartetes:
in den Sträuchern ihm zu Häupten raschelte es plötzlich, und im
nächsten Augenblicke fiel oder sprang etwas mit voller Wucht auf ihn
herab, was sich bei näherer Besichtigung als eine junge Dame entpuppte.
Der Anprall, den Fridolin auszuhalten hatte, war kein sehr sanfter, und
so klang denn auch seine Stimme nicht sehr freundlich, als er ausrief:

»Erlauben Sie, mein Fräulein, man springt doch nicht den Leuten so auf
die Bäuche!«

Die junge Dame war neben ihm ins Gras gesunken und blickte mit dem
Ausdruck der Todesangst und des Entsetzens auf ihn.

»Um Gottes willen!« rief sie atemlos. »Ich bitte um -- schützen Sie --
ach, ich kann nicht mehr!« Dann schloß sie die Augen, und ihr Kopf sank
ins Gras; sie war ohnmächtig.

Fridolin erhob sich rasch und bettete sie bequem auf jene Stelle, wo
er selbst gelegen; dann warf er einen Blick hinauf, ob da noch ein
weiterer Segen von oben nachfolgen werde, und wandte sich nun, als
alles still blieb, der Ohnmächtigen zu. Das Unerwartete der Lage und
ihre Abenteuerlichkeit beschäftigte ihn zunächst gar nicht, er fühlte
sich in diesem Augenblicke nur als Arzt. In weniger als einer Minute
hatte er die Bewußtlose wieder zu sich gebracht.

»So, mein Fräulein«, sprach er sie an, als sie die Augen aufschlug.
»Jetzt nehmen Sie ein Tröpfchen Kognak aus meiner Feldflasche. So
ist's gut! Und nun machen Sie es sich so bequem als es nur geht.«

»Ich danke, mir ist jetzt schon wieder ganz wohl«, erwiderte die junge
Dame mit matter Stimme.

»Sie sehen mich doch noch immer an wie ein abgestochenes Hühnchen, mein
Fräulein. Lockern Sie nur ruhig am Kleid, was Sie noch lockern können
-- ich bin Arzt. Einen Knopf am Halse da habe ich Ihnen ohnedies schon
abgerissen.«

»Es ist wirklich nicht mehr nötig; es wird mir schon besser. Ich war
nur so fürchterlich erschrocken.«

»Nun, Gott sei Dank,« sagte Fridolin beruhigend, »jetzt kehrt schon die
Farbe wieder. Wer wird denn auch gleich so erschrecken! Haben Sie mich
denn für einen Mörder gehalten?«

»Es war nicht nur das, obschon ich auch darüber zu Tode erschrocken
bin, sondern was vorhergegangen ist -- es war entsetzlich!«

»Beruhigen Sie sich nur, Fräulein«, sagte Fridolin lächelnd. »In
der Sächsischen Schweiz wandelt man doch etwas sicherer, als in den
Abruzzen. Es gibt hier wirklich keine Räuber und Mörder, und jetzt bin
endlich auch ich da, -- mein Name ist +Dr.+ Friedrich Bruckner --
und mein starker Arm wird Sie vor allen weiteren Gefahren beschützen.
Es scheint aber, daß mein Heldenmut und meine besten Absichten, für Sie
zu sterben, vollkommen überflüssig sind. Denn ich sehe -- leider! --
keine Gefahren; es rührt sich nichts weit und breit.«

»Ich heiße Käthe Selters«, erwiderte die junge Dame, zunächst Fridolins
Vorstellung beantwortend; dann fuhr sie ängstlich fort: »Hören Sie
wirklich nichts? Ach, ich habe eine solche Angst ausgestanden! Ich weiß
nicht, soll ich Ihnen erst danken oder erst um Entschuldigung bitten --
ich bin ganz verwirrt. Vor allem aber: wo ist meine Tante; was ist aus
meiner Tante geworden?«

»Eine Tante haben Sie auch? Da wollen wir doch gleich nach der Tante
sehen!« Fridolin kroch die Böschung zur Straße hinauf und ließ seine
Blicke nach allen Richtungen hin schweifen.

»Fräulein Käthe!« rief er hinunter. »Es ist weit und breit weder eine
Tante noch sonst irgendein Menschenskind zu sehen.«

Käthe wollte sich darauf rasch erheben, aber Fridolin, der mit einem
Sprunge wieder bei ihr war, verhinderte das.

»Sie dürfen jetzt nicht aufstehen, Fräulein Käthe«, dekretierte er.
»Ihr kleiner Ohnmachtsanfall hat nicht viel zu bedeuten, aber jetzt
müssen Sie doch ein Viertelstündchen ruhig sitzen bleiben. Wenn Sie
sich jetzt gleich wieder gewaltsam aufraffen, dann werden sich sehr
heftige Kopfschmerzen einstellen, die Sie heute den ganzen Tag und
vielleicht auch noch morgen quälen werden, während die Sache ganz
bedeutungslos und ohne Nachwirkung bleiben wird, wenn Sie sich jetzt
genügend ausruhen.«

»Aber meine Tante --.«

»Ihre Tante ist gewiß eine ausgezeichnete Dame und wird nicht wollen,
daß Sie sich krank machen.«

»Es könnte ihr aber etwas geschehen sein!«

»Tanten geschieht gewöhnlich nichts; ich weiß das.« Käthe mußte lachen
über den mit solcher Sicherheit vorgebrachten Erfahrungssatz. So gern
sie nun auch gleich wieder aufgebrochen wäre, so taten ihr doch die
Ruhe und das Gefühl der Sicherheit nach dem Schrecken so wohl, daß sie
sich bestimmen ließ, noch ein Weilchen sitzen zu bleiben.

»Dazu kommt noch,« fuhr Fridolin fort, »daß ich Ihnen einfach befehle,
sich vor allen Dingen erst ein bißchen zu erholen, ehe wir wieder
aufbrechen. Ich bin Arzt, und in gewissen Fällen hat der Arzt mehr zu
befehlen als der Kaiser. Einen solchen Fall haben wir hier, also: schön
sitzen geblieben! Wollen Sie noch einen Schluck Kognak?«

»Nein, ich danke. Mir ist jetzt wirklich schon ganz gut.«

»Das sehe ich. Ihr Aussehen -- alle Achtung, Fräulein Käthe! Als Arzt
kann ich nur noch ein geringes Interesse für Sie aufbringen, aber zum
Glück ist man nicht nur Arzt -- +homo sum+!«

»So heißt ein Roman von Ebers.«

»Allen Respekt vor Ihrer Literaturkenntnis, Fräulein Käthe, aber mein
Roman hier ist mir lieber!«

»Wenn nur die Tante --«

»Ja, die Tanten! Ich kann der Tante nicht helfen, weil ich jetzt Sie
retten muß. Jetzt verlange ich nur noch zehn Minuten Aufenthalt. Man
kann doch nicht bescheidener sein. Jetzt erzählen Sie, aber ruhig und
ohne sich aufzuregen, was Sie eigentlich so in Schrecken versetzt hat.«

»Ach, es war schrecklich, und den ganzen Ausflug hat es uns verdorben.
Wir wollten uns die Festung Königstein ansehen. Sie wissen, daß sie
sehr merkwürdig ist. Sie ist nämlich uneinnehmbar --«

»Jawohl, und hat einen sehr tiefen Brunnen.«

»Richtig; und ein Fenster hat sie auch --«

»Allerdings ein Fenster, bei welchem August der Starke zwei Trompeter
mit je einer Hand über den Abgrund hinausgehalten hat.«

»Und dann die Geschichte mit den silbernen Kanonenkugeln!«

»Die kenne ich noch nicht«, gestand Fridolin beschämt.

»Die war so -- ach Gott, wenn nur die Tante --!«

»Die Geschichte von den silbernen Kanonenkugeln will ich wissen!«

»Als Napoleon I. die Festung Königstein beschie ßen wollte, da trugen
die Kanonen nicht bis hinauf zur Festung. Da dachte sich Napoleon, daß
es vielleicht mit silbernen Kanonenkugeln besser gehen werde, und er
ließ silberne Kanonenkugeln gießen, aber die flogen auch nicht so weit,
sondern fielen alle in die Elbe, wo sie jetzt noch liegen.«

»Das ist ja eine ungemein belehrende Geschichte; ist sie auch wahr?«

»Unser Führer aus Schandau hat sie uns erzählt.«

»Er persönlich? Dann wird sie wohl wahr sein. Nun und weiter?«

»Wie wir nun den Weg hinaufgingen, die Tante und ich, -- ach, du meine
Güte, da fällt mir wieder die Tante ein!«

»Jetzt hübsch bei der Stange geblieben! -- Was geschah da?«

»Da hörten wir von weitem schon ein unaufhörliches, entsetzenerregendes
Geschrei. Die Tante meinte, daß da wahrscheinlich ein Wahnsinniger
transportiert werde, denn es gäbe hier in der Nähe ein großes
Irrenhaus. Wir waren sehr erschrocken und wußten uns nicht zu helfen,
denn das markerschütternde Geschrei kam immer näher. Zurücklaufen
konnten wir nicht, denn der Wagen, in welchem der Irrsinnige gebracht
wurde, war schon sichtbar, und er hätte uns sicher eingeholt, und so
mußten wir dem Wagen entgegengehen, um ihn an uns vorüberziehen zu
lassen. Wir zitterten beide, und die Tante war ganz blaß. Da, als der
Wagen in unsere Nähe kam, da entsprang der Wahnsinnige plötzlich seinen
Wärtern und lief auf uns zu. Weiter weiß ich eigentlich nichts mehr.
Ich hörte noch die Tante aufschreien, und dann lief ich, was ich laufen
konnte, -- wie weit und wie lang, das weiß ich nicht -- und ich kam
erst zu mir, als ich hier neben Ihnen im Grase lag.«

»Der Himmel meint es gnädig mit mir,« sagte Fridolin, »er läßt mir die
Patientinnen in den Schoß fallen.«

»Ach, ich bin so glücklich, daß Sie da sind, Herr Doktor!« erklärte
Käthe treuherzig. »Vollenden Sie Ihr gutes Werk und helfen Sie mir
jetzt die Tante suchen.«

»Ihr Aussehen zeigt mir, Fräulein Käthe, daß meine ärztliche Mission
beendet ist. Lassen Sie sich den Vorfall nicht zu nahe gehen und --
jetzt wollen wir die Tante suchen!«

Das Aussehen Käthes! Fridolin hatte sich jetzt erst volle Rechenschaft
darüber gegeben. So jung er war, so hatte er sich doch schon ganz in
die richtige ärztliche Anschauungsweise eingelebt, und er sah, wo
seine Hilfe in Anspruch genommen wurde, immer nur mit dem Auge des
Arztes, der im Dienste selbst ästhetischen oder sonstigen subjektiven
Regun gen sehr wenig zugänglich ist. Jetzt aber, da der schwierige
medizinische Fall als vollkommen abgetan und erledigt anzusehen war,
drang es ihm doch ins Bewußtsein, was das für ein gottbegnadetes,
liebliches Geschöpf sei, das ihm da der Himmel von oben herab gesandt
hatte.

Er war sich früher nie recht klar darüber geworden, ob seine
Schwärmerei für Blond größer sei oder für Schwarz. Er selbst hatte
einen kastanienbraunen Vollbart und kastanienbraunes Haar und wußte
nur das eine, daß er sich für seine Person niemals in eine Dame mit
kastanienbraunem Haar verlieben könnte, aber ob Blond für ihn die
richtige Komplementärfarbe sei oder Schwarz, darüber hatte er zu
keiner Entscheidung gelangen können. Nun war ihm plötzlich ein Licht
aufgegangen, und das gleich in voller Glorie. Er begriff nicht, wie
es da überhaupt ein Schwanken habe geben können. Blond allein ist das
Richtige, und Schwarz ist vollkommen überflüssig auf der Welt. Aber
auch Blond an sich tat es nicht; es gehörten die herrliche, anmutvolle
Gestalt Käthes, ihre lieben, guten, blauen Augen, ihre blühende
Gesichtsfarbe und der süße Mund dazu.

Mit einem Male war es ihm ungeheuer klar geworden, daß er ein
unglaublicher Esel gewesen sei, wenn er in diesem Punkte habe
schwanken können. Er hatte nur die eine Entschuldigung für sich, daß
er es nicht besser gewußt habe; jetzt aber wußte er es.

Sie machten sich jetzt also auf, die Tante zu suchen. Die Sächsische
Schweiz ist nicht groß, aber deshalb ist es doch keine so einfache
Sache, in ihr Tanten zu suchen. Straße auf und Straße ab war nichts
zu sehen, und Käthe vermochte durchaus nicht anzugeben, nach welcher
Richtung die Tante wohl gelaufen sein konnte. Man mußte also
kombinieren.

Eine Kavallerieabteilung, meinte Fridolin, würde sowohl beim Angriff
wie auf der Flucht, wenn sie die freie Wahl hat, lieber bergauf als
bergab dahinstürmen; man hat aber keinen Grund, dasselbe auch von
fliehenden Tanten vorauszusetzen. Man muß im Gegenteil eher annehmen,
daß eine in die Flucht geschlagene Tante sich lieber bergabwärts wenden
wird.

Käthe konnte gegen diese Annahme keine stichhaltigen Argumente
vorbringen, und so schritten denn die beiden zu Tale, immer scharf
auslugend, ob sie die Verlorene nicht erspähen könnten; aber die
Bemühungen blieben erfolglos. Fridolin tat noch ein übriges und ließ,
so laut er nur konnte, seine schöne Stimme erschallen, aber es war
immer nur das den Reisenden der Sächsischen Schweiz nicht einmal
separat aufgerechnete Echo, das seine zärtlichen Rufe »Tante, teuerste
Tante!« beantwortete.

Einmal, wo der Weg sich gabelte, da zeigte sich zur Linken in der
Ferne, wie Käthe wahrnahm, etwas, was ganz gut eine Tante hätte
sein können, aber -- der Genius der Menschheit wird ersucht, hier
sein Antlitz zu verhüllen, -- Fridolin erklärte dagegen auf das
bestimmteste, daß zur ~Rechten~ etwas durch die Zweige geschimmert
habe, was ganz und gar einen tantenmäßigen Charakter gehabt habe.
Die Menschen sind schlecht. Was Fridolin gesehen hatte, das war ein
Omnibus, aber keine Tante, und Fridolin, der Ruchlose, hatte es in
Wahrheit überhaupt nicht sehr dringend mit der Auffindung der Tante.

So sind die Männer! Und so ist die Welt!

Als man dann endlich nach einem längeren Dauerlauf darauf gekommen
war, was die Weisen aller Zeiten schon wußten, daß zwischen einer
Tante und einem Omnibus ein großer Unterschied ist, da war Fridolin
sofort dienstfertigst bereit, umzukehren und auf dem anderen Wege der
von Käthe angedeuteten Spur nachzugehen. Er glaubte, das beruhigt tun
zu können; denn inzwischen war viel Zeit vergangen, und er taxierte
die Schnelligkeit einer fliehenden Tante ziemlich hoch. Es war alles
in allem ziemlich unwahrscheinlich geworden, daß sie noch ein geholt
werden könnte. Dabei tat Fridolin doch immer ungeheuer eifrig im
Suchen, und er verfehlte nicht, jedes sächsische Bäuerlein, das ihnen
begegnete -- es verschlug ihm auch nichts, wenn es gerade eine Bäuerin,
alt oder jung, oder sonst ein Menschenskind war --, zu fragen, ob sie
keine Tante gesehen hätten. Käthe schämte sich dann immer furchtbar und
bat ihn schließlich, diese Nachforschungen freundlichst einstellen zu
wollen.

So dämmerte der Abend heran, und die Tante war noch immer nicht
gefunden. Käthe war dem Weinen näher als dem Lachen, aber Fridolin
tröstete sie tapfer, und er konnte es leicht tun; denn er war
bei weitem nicht so wehmütig gestimmt wie sie. Sie waren von dem
langen Suchen müde und hungrig geworden, und so konnte Käthe
nichts Ernstliches dawider haben, als Fridolin vorschlug, in einer
freundlichen Gastwirtschaft an der Elbe, die jetzt in Sicht war, das
wohlverdiente Abendbrot einzunehmen. Dabei könne man ja ganz gut
beraten, was nun weiter zu geschehen habe.

»Das sage ich aber gleich,« erwiderte Käthe auf diesen Vorschlag, »ich
habe nicht einen Pfennig bei mir!«

»Das tut nichts; dann werde eben nur ich gut essen und trinken, und Sie
werden mir zusehen!«

Käthe sah ihren Begleiter an. »Etwas werden Sie mir aber doch auch
geben«, sagte sie schüchtern. »Ich bin sehr hungrig und sehr durstig!«

»Wenn Sie brav sind, dürfen Sie schon mithalten, Fräulein Käthe.«

»Die Tante wird Ihnen dann schon alles --«

»Jetzt lassen Sie mir endlich die Tante aus dem Spiel! Wir werden
zusammen essen, und bei dieser Gelegenheit werde ich gleich Erfahrungen
darüber sammeln, was es heißt, eine Frau ernähren!«

Fridolin hatte lauter gute Sachen bestellt, und sie waren auch gut, und
die Flasche Moselblümchen, die sie zu ihrem herrlichen Mahle tranken,
mundete ihnen auch ganz ausgezeichnet. Sie saßen an einem Tische im
Freien unter einer Linde und hatten freien Ausblick auf die Elbe.

»Schön ist's da!« rief Käthe, die in voller Lebensfreudigkeit auf
einige Minuten all ihre Sorge samt der Tante vergessen hatte. »Gefällt
Ihnen die Sächsische Schweiz auch so gut?«

»Oh, auf die Sächsische Schweiz lasse ich nichts kommen! Sie ist
klein, aber so nett und reinlich! Sie nimmt, immer innerhalb ihres
Taschenformates, so kühne und so romantische Anläufe. Wenn man ihre
gewagten Formationen ansieht, möchte man immer die +p. t.+
Reisenden ersuchen, nichts von der Sächsischen Schweiz abzubrechen.«

»Sie schneiden wenigstens nicht auf,« sagte Käthe lachend, »Sie
schneiden herunter!«

Fridolin erklärte: »Wenn ich bei der Regierung etwas dreinzureden
hätte, so würde ich ein großes Etui machen lassen, und damit die
Sächsische Schweiz jeden Abend sorglich zudecken lassen, daß ihr in der
Nacht nichts geschieht.«

»Und den Mond würden Sie wahrscheinlich frisch versilbern lassen«,
meinte Käthe, auf den gerade mit voller roter Scheibe am Horizont
aufsteigenden Mond deutend.

»Nein, der ist echt und dauerhaft genug versilbert, Fräulein Käthe.
Warten Sie nur noch ein Viertelstündchen, und Sie werden sehen, was für
prächtigen silbernen Schein er auf die Elbe werfen wird.«

Jetzt, da vom Mond gesprochen wurde, fiel Käthe ihre Lage wieder aufs
Herz.

»Um des Himmels willen!« rief sie, »die Nacht bricht heran, und ich
weiß nicht, was mit mir geschehen soll.«

»Das müssen wir eben jetzt vernünftig überlegen. Denn daß wir die Tante
heute noch finden, das glaube ich nun selber nicht mehr.«

»Glauben Sie wirklich?«

»Ich möchte sagen, ich ~weiß~ es. Um diese Zeit werden Tanten
nicht mehr gefunden.«

»Was soll ich nun aber tun?« sagte das junge Mädchen verzweifelt.

»Vor allen Dingen nicht weinen! Bin ich denn nicht da?«

»Das ist ja nur um so schlimmer!«

»Ah, um so schlimmer? Das wußte ich nicht. Dann habe ich die Ehre, mich
höflichst zu empfehlen!«

»Aber, Herr Doktor, so bleiben Sie doch sitzen! Mein Gott!«

»Sie haben mich beleidigt; ich gehe!«

»Ich habe Sie nicht beleidigt; ich bin Ihnen ja so zu Dank
verpflichtet! Sehen Sie denn nicht ein --«

»Ich sehe alles ein, wenn Sie mir versprechen, nicht wieder so ein
desperates Gesicht zu machen, wie eben jetzt. Wir müssen jetzt ins
klare kommen, was wir mit Ihnen anfangen, und wo wir Sie unterbringen
sollen. Stellen wir einmal den Tatbestand fest: Sie kamen mit Ihrer
Tante aus Dresden. Wir fahren nach Dresden zurück, und ich bringe Sie
heim. Sie sehen, das Unglück ist nicht gar so groß!«

»Ich habe ja gar kein Heim in Dresden! Ich war in Dresden in einem
Pensionat, und da ich diesem nun entwachsen war, ist die Tante
gekommen, mich herauszunehmen«, erklärte das junge Mädchen.

»Wo ist sie denn hergekommen, die Tante?«

»Aus Gerolstein; wir sind Gerolsteiner. Warum verbeugen Sie sich denn?
Da ist doch nichts so Großes dabei!«

»Alle Achtung vor Gerolstein! Weiter; Sie könnten doch auf einen Tag
zurück in die Pension?«

»Das geht nicht; die Ferien haben begonnen, das Pensionat ist
zugesperrt.«

»Die Sache wird kritisch. Wo hat denn Ihre Tante residiert, als sie Sie
abholte?«

»In einem Hotel; ich glaube, es hieß ›Zum Kronprinzen‹.«

»Und wohin wollten Sie jetzt, nach genossener Sächsischer Schweiz;
zurück nach Gerolstein?«

»Oh, bewahre! Da wollten wir nach Wien, dann nach Salzburg, nach
Tirol, dann in die wirkliche Schweiz, darauf nach Paris und London und
schließlich über Holland und die Rheinstädte zurück nach Gerolstein.«

»Es ist nicht wenig, was Sie da vorhaben! Und da irgendwohin soll ich
Sie nun bringen: nach Tirol, nach London oder nach Holland? Die Sache
ist nicht so einfach!«

Käthe bot das Bild der vollsten Ratlosigkeit; unschlüssig sah sie zu
ihrem Gefährten auf, und dabei schossen ihr die Tränen in die Augen.

»Nicht weinen, Fräulein Käthe!« rief Fridolin verweisend, »sonst gehe
ich sofort auf und davon! Untersuchen wir weiter: Wo hatten Sie hier
in der Sächsischen Schweiz Station gemacht?«

»Nirgends; wir sind heute früh von Dresden abgefahren, und wir wollten
heute in der Sächsischen Schweiz übernachten.«

»Sie wissen nicht, wo?«

»Nein. Die Tante war die Reisemarschallin; sie hatte alles bestimmt,
und ich hatte nach nichts gefragt.«

»Ihr Gepäck ist inzwischen nach Wien vorausgeschickt worden?«

»Jawohl!«

»Sie wissen aber nicht, an welches Hotel?«

»Ich weiß es nicht! Ich war so kindisch, mich um gar nichts zu
kümmern; ich habe mich von der Tante einfach mitnehmen lassen.«

Fridolin überlegte; er wußte in der Tat nicht, was nun geschehen
sollte.

»Wenn man nur«, nahm er nach einer Weile wieder das Wort, »das
Vergnügen hätte, die Frau Tante zu kennen, dann könnte man auf Grund
der Kenntnis ihrer Charakteranlage vielleicht auf eine richtige
Vermutung kommen, was ~sie~ nun wohl anfangen wird. Was glauben
Sie, Fräulein Käthe, daß die Tante jetzt tun wird?«

»Ängstigen wird sie sich!«

»Das dürfte richtig sein, aber diese Vermutung wird nicht ausreichen,
uns auf ihre Spur zu leiten. Überlegen wir: Sie kann verschiedenes tun.
Die Sächsische Schweiz noch weiterhin zu besichtigen, dazu dürfte ihr
die Lust vergangen sein. Sie könnte also die Reise fortsetzen und nach
Wien fahren, in der Hoffnung, daß Sie nachkommen würden. Das hätte ja
etwas für sich. Wenn man aber bedenkt, daß Sie vollständig mittellos
und dann auch im unklaren über das eigentliche Wiener Reiseziel sind,
und die Tante das auch wohl weiß oder doch vermuten kann, so muß man
es als nahezu gewiß ansehen, daß sie nicht nach Wien gefahren ist
oder fahren wird ohne Sie. Sie könnte auch auf den Gedanken gekommen
sein, nach dem verunglückten Anfang den ganzen großen Plan aufzugeben
und direkt nach Gerolstein zurückzufahren. Damit hätte sie die Flinte
ins Korn geworfen, und das tun Tanten gewöhnlich nicht. Ich glaube
vielmehr, daß auch sie überlegen wird, worauf wohl ihre geliebte Nichte
zunächst verfallen könnte, und da, denke ich, liegt nichts näher,
als daß die geliebte Nichte mit möglichster Beschleunigung dahin
zurückkehren wird, von wannen Sie beide heute morgen aufgebrochen sind.
Ich denke demnach, daß wir jetzt nach Dresden zurückfahren, und daß
wir Sie zunächst der Obhut der Gattin des Hoteliers vom ›Kronprinzen‹
übergeben. Da in der Regel jeder Hotelier verheiratet ist, wird sich
dort gewiß eine solche Gattin vorfinden.«

Käthe hatte in ihrer Trübsal nichts Besseres vorzuschlagen, und so
wurde denn der nächste Zug bestiegen, der sie nach kurzer Fahrt nach
Dresden brachte.

»Wenn nun aber die Tante nicht auf den Gedanken verfällt, nach Dresden
zurückzufahren?« meinte Käthe ängstlich, als sie in Dresden vom
Bahnhof ihre Schritte nach dem Hotel lenkten; Käthe hatte es nämlich
entschieden abgelehnt, für die kurze Strecke einen Wagen zu benutzen.

»Dann ist das Unglück noch immer nicht groß,« beruhigte sie Fridolin,
»für die Nacht werden Sie bei der Wirtin geborgen und behütet sein.
Kommt bis morgen von der Tante kein Lebenszeichen, dann wird wohl
nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie nach Hause, nach Gerolstein
reisen. Das ist eine Fahrt von wenigen Stunden, und übrigens bleibe ich
immer in der Nähe zu Ihren Diensten bereit. Jedenfalls werden wir aber
morgen in aller Frühe an Ihre Eltern in Gerolstein telegraphieren, ob
sie etwas vom Verbleib der Tante wissen.«

»Ich habe keine Eltern mehr.«

»Aber ein Heim haben Sie doch dort?«

»Ja, bei meinem Onkel.«

»Ach, beim Gatten unserer vortrefflichen Tante?«

»Nein, sie ist die Schwester meines Onkels.«

»Sie sind so allein auf der Welt, Fräulein Käthe! Und nun haben Sie
sogar nur noch mich als Beschützer!«

»Es ist ein Glück, daß Sie sich meiner angenommen haben, Herr Doktor.
Ich wäre sonst in einer fürchterlichen Verlegenheit gewesen. Sie waren
so lieb zu mir -- wie soll ich Ihnen nur danken?«

»Zu bedanken habe ich mich bei Ihnen, Fräulein Käthe!«

»Sie? Wofür denn?«

»Oh, für eine ganze Masse! Zunächst dafür, daß Sie überhaupt auf der
Welt sind; das ist ein ausnehmend hübscher Zug von Ihnen. Und damit ist
eigentlich alles gesagt.«

»Sie machen sich lustig über mich, Herr Doktor!«

»Bin ich ein Unmensch? Nein, Fräulein Käthe, mir ist sehr ernst zumute.
Ich werde Ihnen eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens zu danken
haben. Der Tag war so schön! Sagen Sie selbst, Fräulein Käthe, wenn
Sie von der Tante absehen, tut es Ihnen leid, diese Stunden mit mir
verbracht zu haben?«

»O nein, Herr Doktor, leid tut es mir gar nicht, ich fürchte mich nur
so!«

»Es ist doch schade, daß die Welt so groß ist. Morgen fahren Sie nach
Gerolstein oder, wenn es gut geht, nach Wien, nach Frankreich, -- Gott
weiß, wohin noch? -- mich wird mein Beruf nach irgendeinem anderen
Erdenwinkel verschlagen. Wir werden uns also höchstwahrscheinlich nie
wiedersehen!«

»Das ist aber schade!« sagte Käthe leise, und dann erschrak sie über
ihre Worte und wurde ganz rot. Fridolin konnte letzteres aber nicht
bemerken, denn sie schritten nun durch ein kleines Birkenwäldchen,
durch welches der Weg vom Neustädter Bahnhof nach der Stadt führte. Den
Sinn der Äußerung griff aber Fridolin doch auf, und er erfüllte ihn mit
stiller Freude.

»Sie werden drei Monate auf der Reise sein«, nahm er nach einer
Weile wieder das Wort. »Bis Sie zurückkommen, werden Sie mich längst
vergessen haben.«

»Nein, Herr Doktor, das werde ich nicht!« erklärte Käthe bestimmt.

»Sie werden!«

»Gewiß nicht!«

»Ist es nun nicht jammerschade, Fräulein Käthe, daß wir so auf
Nimmerwiedersehen auseinander sollen?«

»Können Sie nicht einmal nach Gerolstein kommen?« fragte die kluge
Käthe.

»Wer weiß, ob das jemals möglich sein wird!« erwiderte Fridolin mit
sehr tragischem Ausdruck, obschon ihm gerade in diesem Momente die
Idee blitzartig auftauchte, daß er früher in Gerolstein sein werde
als Käthe. Sein Freund Arnold fiel ihm ein; damit war eine Anknüpfung
geboten, und so reifte in einem Augenblicke ein Entschluß in einer
Lebensfrage, die ihn so lange beschäftigt hatte, ohne daß er zu einer
Entscheidung hätte kommen können. Er war sehr rasch mit sich im klaren,
daß er seine Zelte in Gerolstein aufschlagen werde, aber er hielt es
für angemessen, darüber jetzt noch nichts verlauten zu lassen. Mit
einer Regung von Entzücken hatte er es wahrgenommen, daß Käthe durch
den bevorstehenden Abschied von ihm selbst elegisch gestimmt wurde,
und er war nicht selbstlos genug, sich die Freude dieses Eindrucks zu
verkümmern.

»Wer weiß, ob wir uns im Leben jemals wiedersehen!« rief er mit
einem Seufzer, trotzdem er sich im stillen schon jubelnd die sichere
Freude des Wiedersehens ausmalte. »Ihnen freilich ist das vollkommen
gleichgültig, Fräulein Käthe; Sie werden in Wien und in Paris an ganz
andere Dinge zu denken haben als an Ihren armen Reisegefährten, dem
eine freundliche Laune des Geschickes gestattete, einige Stunden in
Ihrer Nähe zu sein; und wenn Sie zurückkommen, dann wird auch die
letzte Erinnerung an mich verwischt sein!«

»Ich werde Sie wirklich nicht vergessen, Herr Doktor, ganz gewiß
nicht!«

»Oh, ich weiß das besser!«

»Das können Sie nicht besser wissen!«

»Es ist doch so, wie ich sage. Ich bin ein phänomenaler Pechvogel! Das
Schicksal hätte Sie mir nicht über den Weg schicken sollen!«

»Jetzt bedauern Sie es auch noch!«

»Habe ich nicht alle Ursache dazu?«

»Ich denke und fühle anders als Sie, Herr Doktor. Ich mache mir das
Herz nicht schwer mit dem, was vielleicht hätte sein können; ich freue
mich an dem, was ist und was wirklich war.«

»Fräulein Käthe?«

»Herr Doktor?«

»Ich möchte Ihnen etwas sagen.«

»Ich fürchte mich in diesem Wäldchen, es ist so finster.«

»Jetzt fürchten Sie sich schon wieder! Bin ich denn nicht da?«

»Ich weiß nicht, ich möchte wieder unter Menschen sein.«

»Und gerade davor fürchte ich mich! Fräulein Käthe! Wir kommen ja
gleich unter Menschen! -- Ich glaube, wir sollten Abschied nehmen
voneinander, bevor wir unter all die fremden Leute kommen, die uns so
gar nichts angehen.«

»Herr Doktor, Sie waren bisher so ritterlich mit mir --« sagte Käthe
nun ängstlich stockend.

»Ist das unritterlich, wenn ich Ihnen zum Abschied sagen möchte:
Fräulein Käthe, Sie sind das reizendste Menschenskind, das mir bisher
vorgekommen ist. Ist das unritterlich? Antworten Sie!«

»Nein, das ist noch nicht unritterlich.«

»Ist es unritterlich, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie sehr lieb habe?«

»Herr Doktor!«

»Ist es unritterlich?«

»N--ein -- ich glaube, -- es ist nicht unritterlich.«

»Wenn ich Sie frage, ob Sie mir ein wenig -- ein ganz klein bißchen --
gut sein können?«

»Herr Doktor, -- ich bitte Sie --«

»Ist es unritterlich?«

»Ich weiß nicht, ob --«

»Sie können sich's ja vereinfachen, können sagen, daß ich Ihnen
gleichgültig bin; dann sind Sie von aller Verlegenheit befreit!«

»Das möchte ich nicht sagen, Herr Doktor!«

Damit hatte er aber auch schon ihre Hand gefaßt und flehte nun um einen
Abschiedskuß.

»Das geht nicht!« erklärte Käthe auf das bestimmteste.

»Ich versichere Sie, es geht; es kommt nur auf einen Versuch an! Sehen
Sie, weit und breit ist kein Mensch, und stockfinster ist es auch.
Käthe!«

»Ich sage ja so schon nichts mehr«, erwiderte sie und hielt zitternd
still, als er seinen Arm um ihre Schulter legte und sein Gesicht dem
ihrigen nahebrachte.

»Jetzt wäre es unritterlich, wenn ich ihn mir nehmen wollte,« sprach er
leise zu ihr, »du mußt ihn mir freiwillig geben, Käthe!«

Und sie gab ihn, zitternd zwar, aber doch freiwillig, und als er
dann sich noch einige dazu nahm, da war das weder ritterlich noch
unritterlich, sondern einfach natürlich. --

»Jetzt bist du mir verfallen, Käthe! Jetzt mußt du mich lieb haben, ob
du willst oder nicht. Nun, habe ich recht?«

»Vielleicht!«

»Ist dir nicht bange, Käthe, daß wir jetzt weltenweit auseinandergehen
sollen?«

»Wenn du mich lieb hast, dann wirst du mich suchen -- und mich finden!«

Als sie dann nach einigen Minuten im Hotel anlangten, da war die Tante
schon da. Sie war ganz munter und hatte nur etwas verweinte Augen.


                                 III.

So war Fridolin nach Gerolstein geraten. Man wird seinen Entschluß
begreifen. Der Himmel hatte ihm, gerade da er schwankte und im Zweifel
war über seine Zukunftspläne, ein zu deutliches Zeichen herabgesandt.
Er hatte Käthe von seinen Absichten nichts verraten; sie hatten auch --
von wegen der Tante! -- nicht verabredet, sich zu schreiben. Sie waren
voneinander geschieden in gegenseitigem Vertrauen, daß sie doch wieder
zusammenkommen würden. Käthe hatte für das zuversichtliche Vertrauen
die Formel gefunden: Du wirst mich suchen -- und mich finden!

Sehr entzückt war Fridolin von Gerolstein, der Hauptstadt des
berühmten Großherzogtums, gerade nicht. Er hatte sich dort mit Hilfe
seines Freundes eingerichtet und gab sich alle Mühe, sich ordentlich
einzuleben, um nach Verlauf von drei Monaten, wenn Käthe zurückkehren
sollte, schon ein vollkommener und gerechter Gerolsteiner zu sein.
Vor Arnold, seinem besten Freunde, hatte er aus seinem sommerlichen
Abenteuer in der Sächsischen Schweiz, dem eigentlichen Beweggrund
des raschen Entschlusses seiner Übersiedelung, und aus seinen
Glückshoffnungen kein Geheimnis gemacht; nur den Namen Käthes wollte
er nicht preisgeben, so sehr auch sein Freund Arnold, aus praktischen
Gründen, wie er sagte, ihn zu wissen begehrte.

Es ging also soweit ganz gut in Gerolstein, nur etwas langweilig fand
es Fridolin. Aber die Zeit verging doch, und als drei Monate um waren,
da war er ganz gewaltig aufgeregt; denn nun konnte ihm jeder Tag eine
Begegnung mit Käthe bringen. Gerolstein war nicht so groß, daß ein
schönes Mädchen dort lange unentdeckt hätte bleiben können. Die wird
Augen machen! Fridolin lächelte, als er sich die Überraschung Käthes
ausmalte, wenn sie ihn so ganz unvermutet in Gerolstein wiedersehen
würde.

In seiner Unruhe und Aufregung der Erwartung kam ihm ein Zwischenfall
sehr gelegen, der nicht nur seinen Gedanken eine Ablenkung schaffte,
sondern auch günstige Aussichten für die Zukunft bot. Schon war es ihm
allerdings gelungen, sich für die verhältnismäßig sehr kurze Zeit eine
ganz annehmbare ärztliche Praxis zu verschaffen, aber die Gelegenheit,
die sich ihm nun eröffnete, war ganz danach angetan, ihn mit einem
gewaltigen Ruck vorwärts zu bringen.

Er sah gerade zum Fenster seines Ordinationszimmers hinaus, als er eine
herrschaftliche Equipage vor seinem Hause halten sah. Ein livrierter
Bedienter sprang vom Bock und stand zwei Minuten später vor ihm, um
ihm einen Brief zu überreichen. Schon der Umschlag verriet, daß der
Brief aus dem Ministerpräsidium herrühre, und der Briefbogen trug den
offiziellen Vermerk des hohen Ministerpräsidiums. Geschrieben war aber
der Brief nicht vom Ministerpräsidenten, sondern von seinem Freunde
Arnold. Das Schreiben lautete:

»Ich bin soeben beim Ministerpräsidenten und mit ihm in einen
großartigen Kriminalfall vertieft. Zur vollständigen Vernichtung des
Übeltäters brauchen wir aber auch einen ärztlichen Befund. -- Der Geh.
Hof-, Staats- und Medizinalrat, der hier zu intervenieren hätte, ist
glücklicherweise auf Urlaub, und da habe ich mir denn erlaubt, Dich als
eine wahre Leuchte der Wissenschaft zu empfehlen. Wirf Dich also in
Deinen schönsten Frack, sodann in den Galawagen, den wir Dir hiermit
schicken, und lasse Dich schleunigst bei Sr. Exzellenz dem Herrn
Ministerpräsidenten Besenbeck melden, wo wir Dich erwarten.

                                    Dein wohlaffektionierter F.«

Sr. Exzellenz dem Herrn Ministerpräsidenten war am Tage vorher zu
später Abendstunde etwas sehr, sehr Unangenehmes passiert. Er hatte
darauf eine schlechte Nacht verbracht und ließ gleich am Morgen den
Rechtsanwalt +Dr.+ Arnold Winter zu sich bescheiden, den er im
Bette empfing.

Der Fall war kritisch: Ein Radfahrer hatte den generalgewaltigen Lenker
der inneren und äußeren Politik Gerolsteins über den Haufen gerannt
und ihm dabei nicht nur einen unheilbaren Riß in die ministerielle
Hose beigebracht, sondern auch wahrscheinlich -- er hatte solche
Schmerzen in der Seite -- eine Rippe gebrochen. Er hatte die Radfahrer
schon lange auf dem Zuge, und das nicht ohne Grund; denn alles Böse im
Staate kam von den Radfahrern. Der Bestand des dortigen Radfahrerklubs
war eine stete Verhöhnung der Großmachtsstellung Gerolsteins. Alle
Augenblicke hatten sie Gerolsteiner Meisterschaften auszuschreiben, und
das waren lauter Infamien. Einmal war es die Meisterschaft »Quer durch
Gerolstein«, dann die Meisterschaft »Um das Großherzogtum herum«, und
wenn sie des Morgens gestartet hatten, so waren sie mit ihren Kämpfen
immer so rasch fertig, daß sie die Siegesfeier noch immer an demselben
Tage bei einem ~Früh~schoppen begehen konnten. Solche Bosheiten
begeht man nicht in einem Kulturstaate, der sich der Segnungen der
Zivilisation erfreut.

Das war aber noch nicht einmal alles. Gerolstein besaß zwei Zeitungen:
den »Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger« und das »Morgenblatt«. Den
»Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger«, der so gut ministeriell gesinnt
war, wollte aber kein Mensch lesen, und das kam wieder dem unbequemen
»Morgenblatt« zugute. Und wie ein Unglück nie allein kommt, mußte der
Redakteur des »Morgenblattes« gleichzeitig auch der Präsident des
Gerolsteiner Radfahrervereins sein. Man mußte nur wissen, was das
heißt! Damit war die ganze Radfahrerei eine politische, und zwar eine
oppositionelle Sache geworden, die Sr. Exzellenz Tag für Tag das Leben
verbitterte.

Wissen Sie, welchen Namen die Radfahrer ihrem Vereine beigelegt hatten?
»Gerolsteiner Radfahrerklub ›Die Numidier‹!« »Die Numidier?« Warum
»Die Numidier«? Die alten Numidier an der Nordküste Afrikas hatten
sicher keine Ahnung vom Veloziped, und ganz gewiß hatten weder König
Masinissa, noch Jugurtha und Juba Radfahrer als Ordonnanzen mit im
Felde. Warum also »Numidier«? Ein vernünftiger Mensch konnte von selbst
gar nicht darauf kommen, aber in Gerolstein wußte man es ganz gut, --
es steckte eine große Bosheit dahinter.

Se. Exzellenz der Ministerpräsident war bei der Opposition nicht
beliebt -- das ist nun einmal nicht anders; Ministerpräsidenten sind
bei der Opposition niemals beliebt -- und sie setzte ihm zu mit
Keulenschlägen, wo es anging, und wo das nicht anging, wenigstens mit
Nadelstichen. Keine historische Persönlichkeit wurde im »Morgenblatt«
so oft und mit solcher Vorliebe erwähnt wie der wackere +Numa
Pompilius+, der zweite König Roms, und so oft +Numa Pompilius+
im Leitartikel oder im Feuilleton oder unter den Tagesnotizen erwähnt
war, lachte ganz Gerolstein, und nur Se. Exzellenz war über alle
Maßen wütend. Denn unter +Numa Pompilius+ war immer ~er~
gemeint. Die verruchten Zeitungsschreiber hatten ihm den Spitznamen
aufgebracht und diesen auch gleich eingebürgert; dabei waren aber ihre
Beziehungen immer so fein und immer auch scheinbar so harmlos, daß
eine hohe Behörde ihnen nicht recht zu Leibe konnte. Es war geradezu
niederträchtig.

+Numa Pompilius+ wäre ja an sich ein Ehrentitel gewesen, aber man
hatte dem Herrn Minister diesen Titel nicht darum taxfrei verliehen,
um damit seine staatsmännische Einsicht zu kennzeichnen, sondern mehr
um die Quelle seiner politischen Weisheit anzudeuten. +Egeria+
war eine sehr geschätzte Quellgöttin des römischen Altertumes, und
man wußte, daß auch der Gerolsteiner +Numa Pompilius+ von einer
Gerolsteiner +Egeria+ beraten wurde.

Ministerpräsident Besenbeck war Witwer; die schöne Baronin Waltersheim
war Witwe. Der Ministerpräsident hatte ein etwas zur Verfettung
neigendes, im übrigen aber tieffühlendes Herz, und die schöne Witwe
hatte es ihm angetan.

Er hätte ihr auch schon längst die Hand zum ewigen Bunde gereicht,
wenn seine zarten Beziehungen zu ihr nicht voreilig ruchbar geworden
wären. Man kannte die schöne Baronin in Gerolstein und wußte, daß sie
eine geistvolle Frau sei, die Neigung zur Politik habe. Das wußte man;
das übrige war Kombination, daß nämlich sie den Minister beherrschte
und daß so eigentlich sie über Gerolstein herrschte. Also nur, weil
eine weise +Egeria+ da war, wurde ~er~ +Numa Pompilius+
genannt, aus keinem anderen Grunde. Als aber der Name einmal
aufgekommen war, da tat der Exzellenzherr in seiner Erbitterung, wie
schon so oft in seinem Leben, das Ungeschickteste, was in dem gegebenen
Falle zu tun war. Anstatt kurzen Prozeß zu machen und die Dame seines
etwas zur Fettsucht neigenden Herzens vom Fleck weg zu heiraten,
glaubte er seine Beziehungen zu der schönen und klugen Frau, ohne sie
aufzugeben, möglichst verheimlichen zu sollen. Als ob das in Gerolstein
nur so gegangen wäre!

Jetzt war die Analogie mit +Numa Pompilius+ und +Egeria+ erst
recht hergestellt. Unter solchen Umständen erregte es ein heiteres
Aufsehen, als sich eines schönen Tages der Radfahrerklub »Die Numidier«
auftat. Man wußte zwar auch in Gerolstein, daß die Numidier mit +Numa
Pompilius+ nichts zu tun hatten, aber die Ideenverbindung war doch
durch den Klang der Namen hergestellt, und das genügte. Die hohe
Behörde hatte allerdings den Versuch gemacht, der Konstituierung des
Klubs Schwierigkeiten in den Weg zu legen und Einsprache gegen die
seltsame Bezeichnung der »Numidier« zu erheben, aber die Proponenten
bestanden auf ihrem Vorhaben unter dem Hinweis, daß sie ebenso
streitbar und tapfer »im Dienste des Vaterlandes« sein wollten wie die
wirklichen Numidier, über welche sie die erforderlichen historischen
Kenntnisse bei der hohen Behörde in vollem Umfange mit patriotischer
Befriedigung voraussetzten -- und da war dann eigentlich nichts mehr
zu machen. Der Verein mußte bewilligt werden. Die guten Gerolsteiner
unterhielten sich aber vortrefflich bei dem Gedanken, daß sich die
»Numidier« nun als eine Art Leibgarde für +Numa Pompilius+
aufspielten, obschon sie dieser bitter haßte. Nach alledem kann man
sich denken, wie der Herr Ministerpräsident es aufnahm, als ihn einer
der »Numidier« nächtlicherweile über den Haufen rannte, ihm die Hose
zerriß, wobei auch noch das ministerielle Knie aufgeschunden wurde, und
ihm nicht nur eine Rippenverletzung beibrachte, sondern ihn zu alledem
auch noch grob anfuhr.

Der Ministerpräsident war in einer Stimmung, die den Radfahrern
nichts Gutes verhieß. Das eine stand bereits fest, daß das Radfahren
in Gerolstein eingeschränkt, die Fahrfreiheit zugestutzt, der Verein
unter scharfe polizeiliche Kontrolle gestellt werden sollte. Das
erforderte das öffentliche, das Staatsinteresse Gerolsteins. Das war
alles selbstverständlich und sollte von Amts wegen besorgt werden.
Damit sollte es aber nicht abgetan sein. Der Ministerpräsident gedachte
auch als Privatkläger und Privatbeschädigter aufzutreten. Er war
verletzt, beschädigt, beleidigt worden, und er sah gar nicht ein, warum
er sich das von einem »Numidier« gefallen lassen sollte. Er hatte
an der Laterne des Fahrrades durch welches er umgestoßen war, eine
Nummer bemerkt, es war die Nummer 88; der Mann zu dieser Nummer war
polizeilich leicht zu ermitteln, und an diesem Unglücksmenschen wollte
nun der Generalgewaltige von Gerolstein seinen Zorn auslassen; er war
ganz in der rechten Stimmung dazu.

So ward am Morgen nach dem Zusammenstoße Arnold zum Ministerpräsidenten
berufen, damit er die Vertretung des Privatklägers und
Privatbeschädigten vor den Gerichten übernehme. Arnold nahm die
Sache sehr ernst. Der Fall bot zwar kein besonderes juristisches
Interesse, aber man bekommt doch nicht alle Tage die Vertretung
eines Ministerpräsidenten. Er ließ sich von dem im Bette liegenden
Privatbeschädigten den Vorfall genau erzählen und besah sich dann das
ministerielle Knie. Es war tatsächlich ganz erheblich aufgeschunden.
Auch an die Untersuchung der lädierten Rippe machte er sich, aber es
war da ein so starkes Bäuchlein über dieselbe gelagert, daß er bald
einsah, daß er als Doktor +juris+ hier nicht zu dem gewünschten
Resultate gelangen werde.

»Exzellenz!« sagte er feierlich, »da muß ein +Medicinae+ Doktor
her! Wir brauchen ein ärztliches Zeugnis, das wir den Akten beilegen.«

»Mein Hausarzt ist leider verreist«, erwiderte der rachedürstende
Ministerpräsident.

»Das tut nichts, Exzellenz. Es ist vielleicht sogar besser, wenn hier
nicht der Hausarzt interveniert. Darf ich für diesen Fall den jungen
Arzt herzitieren, der sich vor einigen Monaten erst in Gerolstein
niedergelassen hat und dessen wissenschaftliche Bedeutung so auffallend
rasch auch in Hofkreisen anerkannt und gewürdigt worden ist; ich meine
+Dr.+ Bruckner?«

Exzellenz nickte Gewährung, und Arnold ging darauf an den Schreibtisch
und fertigte das Schreiben an Fridolin ab.

Während man nun auf den Arzt wartete, wurde der Fall weiter besprochen.

»Über die Körperverletzung«, äußerte Arnold, »werden wir ja bald im
klaren sein. Darf ich Exzellenz nun bitten, Näheres über die erlittene
Ehrverletzung mitzuteilen. Welcher Art waren die Ehrenbeleidigungen?«

»Als wir beide auf der Straße lagen, da schimpfte ich natürlich ganz
gewaltig!«

»Natürlich! Das muß auch der Prozeßgegner begreiflich finden. Exzellenz
haben die Rechtswohltat der mildernden Umstände im weitesten Maße
für sich; der Schrecken, die Aufregung, der Unmut über die mutwillig
zugefügten Verletzungen, der körperliche Schmerz -- es ist nur
natürlich, daß man da nicht erst nach gewählten Ausdrücken sucht. Was
aber sagte der Attentäter?«

»Das weiß ich eigentlich nicht mehr genau. Er schrie und schimpfte
genau so wie ich, nur viel gröber.«

»Viel gröber! Das ist ganz gut; damit kommt er uns in die Laube. Wie
lauteten die zu inkriminierenden Beschimpfungen?«

»Das weiß ich so genau nicht mehr. Eigentlich hat er nicht so sehr
geschimpft, als mich, nachdem er mich schon über den Haufen geworfen,
auch noch verhöhnt!«

»Verhöhnt! Das ist ausgezeichnet! Auch Verhöhnungen brauchen wir uns
nicht gefallen zu lassen.«

»Er meinte, ich solle nicht so schreien, als ob ich am Spieße stäke, er
liege auch nicht auf Rosen.«

»Unverschämt! Aber es kam dann wohl noch ärger?«

»Und ob! Dann sagte er: mit so einem Bauche sollte man überhaupt nicht
auf die Gasse gehen!«

»Das ist stark!«

»Und dann -- sagen Sie einmal, Herr Doktor, was ist denn das
eigentlich, ein Pneumatik?«

»Soviel ich weiß, nennt man die mit der Luftpumpe aufgeblähten
Hohlreifen so, auf welchen die Radfahrer neuestens fahren.«

»Dann verstehe ich die Sache nicht recht. Und dann sagte er nämlich,
das nächste Mal, wenn ich abends wieder ausginge, sollte ich mir eine
Laterne an meinen Pneumatik hängen! Was hat der Mensch nur gemeint,
da ich doch keinen Pneumatik habe?«

»Exzellenz, ich wage kaum anzudeuten -- ich glaube, der Mensch hatte
die Vermessenheit, auf das -- das Embonpoint Ew. Exzellenz
anzuspielen!«

»Was? Der Schuft will doch nicht etwa, daß ich mir eine Laterne an den
Bauch hängen soll?«

»Es scheint in der Tat, daß so etwas Ähnliches gemeint war.«

»Lieber Doktor, den Menschen müssen wir festsetzen!«

»Ich glaube wohl, daß wir ihm die Lust zu schlechten Witzen vertreiben
werden; er soll an uns denken! Wir werden die Ehrenbeleidigung, obschon
sie sonnenklar ist, nicht einmal so dringend brauchen. Wir kommen
schon mit der Sach- und Körperbeschädigung durch. Wir werden die Hose
Ew. Exzellenz als +Corpus delicti+ produzieren, und +Dr.+
Bruckner wird uns hoffentlich ein ärztliches Parere aufsetzen, über
welches jener gemeingefährliche Mensch nichts zu lachen haben wird.«

In diesem Moment meldete der Lakai, daß +Dr.+ Friedrich Bruckner
um die Ehre bitte, vorgelassen zu werden.

»Ach, +lucus in fabula+!« sagte der Exzellenzherr, er sagte
wirklich »+lucus+«. »Ich lasse bitten!« fügte er dann wohlwollend
hinzu.

Fridolin trat ein. Er war mit seinem schönsten Fracke angetan, und
seine Krawatte strahlte in blütenweißer Pracht und Herrlichkeit. Er
verneigte sich sehr tief, und als er sich wieder aufrichtete, da
richtete sich auch Se. Exzellenz im Bette auf und schrie nur das eine
Wort:

»Hinaus!«

Fridolin stand wie angedonnert da, dann sagte er resigniert:

»Der Mann mit dem Pneumatik!«

Der nächste Moment fand ihn wieder im Vorzimmer draußen, wo ihn sofort
eine junge Dame mit der Frage bestürmte:

»Nun, Herr Doktor, wie steht es mit dem Onkel?«

Er stand bei diesen Worten noch einmal wie angedonnert da, und die
junge Dame erklärte, als sie ihn erkannte, daß sie umfallen müsse -- es
war Käthe.

»Käthe! Du -- Sie -- gnädiges Fräulein -- hier?«

»Jawohl, ich bin hier zu Hause!« entgegnete das junge Mädchen.

»Und der da drin ist dein -- Ihr -- unser Onkel?«

»Natürlich!«

»Bitte! Gar so natürlich ist das meiner Ansicht nach nicht!«

»Er ist aber einmal mein Onkel, und mein Vormund dazu.«

»Und die Tante?«

»Ist seine Schwester«, lautete die ebenso überraschende Antwort.

»Das ist schön von ihr. Was aber den Onkel und Vormund betrifft, so bin
ich soeben von ihm mit Glanz hinausgeworfen worden!«

Das Erscheinen eines Lakais im Vorzimmer bereitete dieser Konversation
ein vorzeitiges Ende.


                                  IV.

»Aber, du Unglücksrabe!« rief Arnold, als er bald nach der im Keime
steckengebliebenen ärztlichen Konsultation zu Fridolin hereinstürmte.
»So etwas muß einem Menschen doch gesagt werden! Wie kommst denn du zum
Velozipedfahren?«

»Ich bitte dich -- in Gerolstein!«

»Gut, aber dann sagt man mir's doch wenigstens!«

»Ich hatte dich in den letzten Tagen nicht gesehen, und tatsächlich
bin ich erst seit einigen Tagen Radfahrer. Ein großer Künstler bin ich
allerdings noch nicht; ich hatte erst drei Lektionen genommen und an
dem kritischen Abend allein meine erste Ausfahrt versucht.«

»Ein Anfänger fährt doch nicht im Finstern spazieren!«

»Ich tat es absichtlich, um nicht durch meine vorauszusehenden Stütze
der lieben Straßenjugend von Gerolstein ein erfreuliches Schauspiel
darzubieten. Ich hatte mir auch nur entlegene, menschenleere Straßen
ausgesucht.«

»Was gedenkst du nun zu tun?«

»Ich gedenke Se. Exzellenz gerichtlich zu belangen!«

»Mensch, bist du verrückt?!«

»Durchaus nicht. Der Ehrenbeleidigungsprozeß wird ihm angehängt! Ich
bin ›Numidier‹, und das bin ich der Radfahrerschaft schuldig. Es muß
dem Pöbel, stehe er so hoch wie er wolle, beigebracht werden, daß der
Radfahrer nicht vogelfrei ist, und daß nicht der erste beste das Recht
hat, einem harmlosen Radfahrer in den Weg zu laufen und ihm dann gar
noch, wenn ein Zusammenstoß erfolgt ist, eine Injurie an den Kopf zu
werfen.«

»Mein lieber Fridolin, ich glaube, es rappelt bei dir! Der
Ministerpräsident ist der erste beste, und du, der ihm die Rippen
bricht, bist ein harmloser Radfahrer. Wirklich, ein angenehmer
Radfahrer!«

»Ich bin unschuldig. Mich zwingt die Polizei, eine Laterne mit einer
Nummer an mein Rad zu hängen, aber sie kümmert sich nicht um den
miserablen Stand der Straßenbeleuchtung in der Schleiermachergasse,
und wenn der Herr Ministerpräsident seinen ausführlichen Bauch im
Finstern spazieren führen will, so soll er das auf dem Bürgersteig
tun, nicht aber auf der Fahrstraße, auf der er nichts zu suchen hat.
Oder wenn er doch dort lustwandeln will, so soll er sich wenigstens
auch eine Laterne an den Bauch hängen. Ich bin nicht verpflichtet, die
Ministerpräsidenten auch im Finstern von weitem zu erkennen.«

Arnold schlug bei diesem respektlosen Bericht die Hände über dem Kopf
zusammen.

»Aber, Menschenskind!« rief er entsetzt. »Ich glaube, du rasest!«

»Nicht im mindesten! Er hat mich einen ›Schafskopf‹ genannt und einen
›unverschämten Menschen‹. Das lasse ich mir unter keinen Umständen
gefallen!«

»Du wirst dir eben auch kein Blatt vor den Mund genommen haben.«

»Oh, ich war sehr höflich. Ich habe mich mit einem ›alten Esel!‹
begnügt; das reicht ja aus für solche Fälle.«

»Oh, du heiliger Strohsack! Wir kriegen den schönsten Hochverratsprozeß
auf den Hals!«

»Ich will nicht hoffen, daß ich durchaus etwas verraten habe.«

»Fridolin, man wird dich einsperren!«

»Oho! Für eine Ehrenbeleidigung wird man nicht gleich eingesperrt!
Übrigens -- die beste Art der Verteidigung ist -- anzugreifen. Ich
werde ihn zuerst verklagen, lasse ihn verurteilen, und dann --«

»Und dann?«

»Und dann werde ich ihn um die Hand seiner Nichte bitten!«

»Nur?« Arnold glaubte vom Sessel fallen zu müssen. »Also darum --
Gerolstein?!«

»Jawohl, nur darum! Jetzt weißt du wenigstens alles.«

»Das ist in der Tat ungemein sinnreich. Ihn erst verklagen und
verurteilen lassen und ihn dann um die Hand seiner Nichte bitten!«

»Eins schließt doch das andere nicht aus!«

»Höre, Fridolin, du gehörst wirklich in ein Tollhaus!«

»Warum denn? Ich lasse mich auch von meinem zukünftigen Schwiegeronkel
nicht einen Schafskopf heißen!«

»Da muß etwas geschehen; die Sache muß beigelegt werden. Schade,
daß gerade du der Übeltäter bist. Ich hätte da einen so schönen
Sensationsprozeß daraus gemacht!«

»Das kannst du ja noch, -- nur zu! Ich spreche ganz im Ernst. Für
mich wäre es ja auch sehr nützlich gewesen, wenn ich da als Arzt
angekommen wäre. Der großartige Hinauswurf hat die schönsten Hoffnungen
zunichte gemacht. Du bist ja aber nicht auch hinausgeworfen worden,
du sitzest jetzt im Rohr, schneide Pfeifen! Bausche die Sache nur zu
einer imposanten Affäre auf. Dir wird's nützen, und mir kann es nicht
schaden.«

»Nein, lieber Freund, gegen dich führe ich keine Prozesse!«

»Das wäre ein lächerliches Opfer. Die Ministerpräsidenten liegen doch
nicht alle Tage so auf der Straße herum. Sei froh, daß du einmal einen
aufgelesen hast!«

»Das verstehst du nicht. Es hat auch vieles für sich, einen
Ministerpräsidenten zum Prozeßgegner zu haben. In Gerolstein ist es
sogar für mich gewiß praktischer, gegen den Ministerpräsidenten zu
prozessieren als für ihn.«

»Ich könnte« -- fuhr der Rechtsanwalt fort -- »nun ganz gut das mir von
ihm verliehene Mandat in seine Hände zurücklegen und deine Vertretung
übernehmen, aber das, was für mich praktisch und nützlich wäre, kommt
hier nicht in Betracht. Wir müssen trachten, daß die Sache beigelegt
werde und sich in Wohlgefallen auflöse.«

»Den ›Schafskopf‹ lasse ich aber nicht auf mir sitzen.«

»Der ist, meine ich, hinlänglich kompensiert. Man wird sich gegenseitig
entschuldigen.« --


                                  V.

So leicht war aber der Ausgleich doch nicht, wie Arnold sich ihn
gedacht hatte. Herr Besenbeck, der gebietende Staatsmann, wollte
von einem Ausgleich nichts wissen. Die Radfahrer waren ihm an sich
verhaßt, und mit den »Numidiern« traf er die Opposition so recht ins
Herz, ohne daß man ihm dabei eine politische Absicht hätte nachweisen
können. Jetzt war der Tag der Vergeltung für die zahllosen Nadelstiche
gekommen, mit welchen ihm die boshafte Rotte arg und lange genug
zugesetzt hatte. Den Redakteur des »Morgenblattes« hatte er nicht zu
fassen vermocht; aber der Präsident des Radfahrklubs, der sollte ihn
kennen lernen.

Der Arzt, der sofort nach dem unglücklichen Debut Fridolins
geholt worden war, hatte über die Verletzung der Rippe noch kein
abschließendes Urteil fällen können. Besenbeck erklärte, daß er an der
kritischen Stelle geschwollen sei, während der Arzt eher der Meinung
zuneigte, daß man dort nur die natürliche Rundung und Wölbung der edlen
Körperformen Sr. Exzellenz zu konstatieren hätte. Es täte ihm weh,
meinte Besenbeck, wenn er sich auf die rechte Seite legte. Der Arzt
riet nach längerem Nachdenken, er möchte sich nicht auf die rechte
Seite legen, dann empfahl er kalte Umschläge und schließlich sich
selbst.

Arnold fand den hohen Patienten in sehr schlechter Laune und gar nicht
zu einer milderen Auffassung des Falles geneigt.

Unter so bewandten Umständen hielt es Arnold doch für rätlich, die
Vertretung des Ministerpräsidenten noch nicht zurückzugeben.

»Wir müssen uns auch beizeiten über die etwaigen Einwendungen des
Gegners Klarheit zu verschaffen suchen«, begann Arnold, nachdem er sich
umständlich wegen seines Mißgeschickes entschuldigt hatte, daß gerade
der Delinquent von ihm als Arzt empfohlen worden sei.

»Es gibt keine Einwendungen«, entgegnete Se. Exzellenz ziemlich
schroff. »Die Sache war so, wie ich sie geschildert habe, und dagegen
gibt es keine Einwendungen.«

»Gewiß nicht, Exzellenz, aber die Gegner werden doch solche zu erheben
versuchen. Sie werden beispielsweise betonen, was sie freilich nicht
retten wird, daß die öffentliche Beleuchtung in der Schleiermachergasse
--«

»Woher wissen Sie,« sagte der Ministerpräsident zu dem jungen
Rechtsanwalt, »daß der Zusammenstoß in der Schleiermachergasse
stattgefunden hat?«

»Der Fall wird bereits in der Stadt besprochen, und so sind auch mir
gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen.«

»Hm?« Se. Exzellenz ward nachdenklich. »Wird schon gesprochen davon?
Das tut nichts; jedenfalls darf im Verlaufe des Prozesses die
Schleiermachergasse nicht genannt werden.«

»Wie Sie befehlen, Exzellenz. Ich meinte nur, daß eine böswillige
Gegnerschaft vielleicht den Anlaß benutzen dürfte, Kritik zu üben
an unseren öffentlichen Zuständen. Die Straßenbeleuchtung wird als
naheliegender Vorwand dienen müssen, und man wird, weil die Beleuchtung
in der Schleiermachergasse --«

»Ich wiederhole, daß die Schleiermachergasse in den Verhandlungen
nicht vorkommen darf«, unterbrach der Präsident seinen Rechtsbeistand
noch einmal, und dieses Mal in ungeduldigem Tone. »Der Ort des
Zusammenstoßes ist ganz nebensächlich; die Hauptsache ist, daß ich
beleidigt und verletzt worden bin; alles andere hat aus dem Spiele zu
bleiben. Ich muß Sie dringend bitten, sich lediglich an den Tatbestand
und an meine Instruktion zu halten.«

»Also gut; lassen wir sie beiseite, die Schleiermachergasse.«

Als nun der Name dieser Gasse doch wieder ausgesprochen wurde, zeigte
sich der Ministerpräsident sehr nervös, und ein unwilliges Zucken mit
den Schultern verriet, wie unangenehm ihm die Nichtbeachtung seines
Befehles sei. Arnold sah ihn befremdet an, aber dann ging ihm plötzlich
mit einem Male ein ganzes Meer von Licht auf. Ach so!! Also darum!! In
der Schleiermachergasse lag der heilige Hain der Quellgöttin Egeria,
-- die schöne Baronin Waltersheim wohnte in der Schleiermachergasse!
Arnold atmete auf; nun konnte die Sache für seinen Freund Fridolin
nicht mehr schlimm werden.

»Ich habe den ganzen Schlachtplan fertig, Exzellenz!« rief er nach
einigem Nachdenken zuversichtlich. »Es wird ein Sensationsprozeß
von höchster politischer Bedeutung werden! Es sind schon aus
geringfügigeren Anlässen große Dinge hervorgegangen. So wird auch
manchem unser Fall im Anfang nicht sehr erheblich erscheinen wollen,
und doch dürfte die Welt eines schönen Tages erwachen und die Tatsache
vorfinden, daß wir aus diesem scheinbar geringfügigen Anlaß -- die
Opposition zerschmettert haben!«

Der Ministerpräsident hörte das nicht ungern, und er nickte seinem
eifrigen Anwalt ermunternd und verständnisinnig zu. Das war ja auch
sein geheimer staatsmännischer Gedanke gewesen. Der Sack sollte
geschlagen werden, aber nicht der Sack war es, der gemeint war.

»Exzellenz sind zu gut!« rief Arnold, immer wärmer werdend. »Nachsicht
wäre hier nicht am Platze; es stehen hohe Interessen auf dem Spiele.
Lassen Sie nur mich machen. Die Welt soll etwas erleben! Wir wollen
doch sehen, ob Stadt und Staat einer Rotte von Übermütigen preisgegeben
sein soll! Wir werden den öffentlichen Verkehr sichern und säubern und
das Land von einer Landplage befreien. Der Dank der Patrioten soll der
Lohn für unsere Mühe sein!«

Arnold wurde mit den nötigen Vollmachten zur Vertretung des
Präsidenten in dieser Sache versehen, und als er sich darauf von ihm
verabschiedete, um sofort an die Arbeit zu gehen, da blieb jener in
zuversichtlicher und gehobener Stimmung zurück, die höchstens dadurch
einigermaßen getrübt wurde, daß die Rippe doch nicht mehr so recht weh
tun wollte.

Aber auch die Gegner waren nicht müßig geblieben. Der Ausschuß der
»Numidier« hatte sich sofort, nachdem der fatale Zwischenfall bekannt
geworden war, zu einer Beratung zusammengetan und eine Reihe sehr
ernster Beschlüsse gefaßt. Das ausführliche Schreiben, durch welches
Arnold als der Vertreter des Privatklägers von den Ergebnissen der
Ausschußberatung verständigt wurde, wurde ihm von Fridolin selbst
überbracht, der an den Beratungen natürlich auch teilgenommen hatte.

Mit diesem Schriftstück bewaffnet, erschien er zwei Tage nach seiner
letzten Unterredung mit dem Ministerpräsidenten im Präsidialbureau.
Es hatte diesen nicht länger im Bette gelitten, und in heroischem
Pflichtbewußtsein hatte er, nachdem die Sache mit der Rippe sich
noch immer nicht aufgeklärt hatte, erklärt, daß er nun doch wieder
»regieren« gehen müsse.

»Das ist unser erster Triumph!« rief Arnold, indem er dem Präsidenten
das Schriftstück vorwies. »Die Radfahrer kriechen schon zu Kreuze!
Unsere Sache steht ausgezeichnet!«

Der Exzellenzherr schmunzelte vergnügt und bat Arnold, ihm das
Schriftstück vorzulesen, und Arnold las:

                     »~Gerolsteiner Radfahrerklub
                           ›Die Numidier‹.~

  An Se. Hochwohlgeboren Herrn +Dr.+ Arnold Winter,

  Rechtsvertreter Sr. Exzellenz des Herrn Tobias
  Besenbeck, Ministerpräsident des Großherzogtums
  Gerolstein

                                                in Gerolstein.

          Hochgeehrter Herr!

Mit tiefer Entrüstung und aufrichtiger Teilnahme haben wir Kenntnis
erhalten von dem beklagenswerten Unfall, dessen Opfer Se. Exzellenz
der Herr Ministerpräsident infolge sträflicher Fahrlässigkeit und
Ungeschicklichkeit eines unserer Klubmitglieder geworden ist. Es
hieße unsere hohe Mission verkennen, wenn wir hier versuchen wollten,
ein strafwürdiges Mitglied in Schutz zu nehmen. Wir haben eine hehre
Aufgabe zu erfüllen; diese besteht aber nicht darin, daß wir ein
einzelnes Mitglied schützen, das sich gegen die Gesamtinteressen
vergangen hat, sondern darin, dem Staate zu dienen, indem wir unserem
Sporte dienen. Gewiß sind auch Sie, hochgeehrter Herr, nicht minder wie
Ihr hoher Auftraggeber von der großen kulturellen und militärischen
Bedeutung des Radfahrsportes für den Staat durchdrungen.«

»Das ist ein Unsinn!« erklärte hier Se. Exzellenz. Arnold aber las
weiter:

»Ihnen brauchen wir also all das nicht zu erläutern, und wir
begnügen uns daher mit der Erklärung, daß wir das schuldige Mitglied
~preisgeben~, und daß wir uns, soweit es nur gesetzlich zulässig
ist, dem ~Strafverfahren anschließen~!«

»Sie sehen, Exzellenz,« unterbrach hier Arnold die Lektüre, »schon
haben wir die Herren von der Opposition zu uns herübergezogen!«

»Das ist in der Tat gar nicht so übel«, meinte Besenbeck, wohlgefällig
lächelnd; »doch lesen Sie weiter!« Und Arnold las:

»Es ist der dringende Wunsch des ergebenst unterzeichneten Ausschusses,
daß der schuldige Radfahrer bestraft, möglichst strenge bestraft
werde, und auch wir wollen unserseits alles tun, was zur Klarstellung
des Sachverhaltes dienen kann. Nichts soll in diesem Falle den Lauf
der Gerechtigkeit hemmen. Wir wollen beweisen, daß, wenn ~ein~
Radfahrer schuldig ist, es doch nicht ~alle~ sind; wir wollen
zeigen, daß wir mit einem wirklich Schuldigen nicht gemeinsame Sache
machen. Mit Rücksicht auf den hier erwähnten Zweck haben wir uns zu
zwei Kundgebungen entschlossen. Es soll erstens ein Aufruf an unsere
Mitglieder erlassen und zweitens ein Artikel über den Vorfall in der
nächsten Sonntagsnummer des ›Morgenblatt‹ veröffentlicht werden. Zur
gerechten Beurteilung der ganzen Angelegenheit ist es unumgänglich
nötig, daß ein Lokalaugenschein aufgenommen werde. Es wird sich
dabei bis zur Evidenz herausstellen, daß es bei auch nur einiger
Aufmerksamkeit dem schuldigen Radfahrer ein leichtes sein mußte, der
Persönlichkeit Sr. Exzellenz auszuweichen, beziehungsweise sie zu
umfahren; es wird sich herausstellen, daß auch für eine solche Kurve
die Straße noch breit genug ist. Es muß also eine Gerichtskommission
in die ~Schleiermachergasse~ entsendet werden, damit sie den
Schauplatz der Tat studiere. Das Unglück geschah vor dem Hause Nr. 12
in der ~Schleiermachergasse~.«

»Das ist eine freche Lüge!« rief der Präsident wütend. -- In dem Hause
Nr. 12 wohnte nämlich die schöne Baronin Waltersheim. -- Der junge
Rechtsanwalt aber verlas das Schriftstück weiter:

»Der Lokalaugenschein muß ferner, um allen Parteien gerecht zu werden,
des Abends in der Dunkelheit vorgenommen werden, und unser Aufruf an
die Mitglieder bezweckt nichts anderes, als sie aufzufordern, sich der
Gerichtskommission zur Verfügung zu stellen. Sie sollen vollzählig zur
festgesetzten Stunde am Schauplatz der Tat erscheinen, und zwar, um die
Arbeit der Kommission nach jeder Richtung zu erleichtern, mit Fackeln.
--«

»Die Schufte werden doch keinen Fackelzug vor dem Hause Nr. 12
veranstalten wollen?« rief der Präsident förmlich atemlos in seinem
Ingrimm. -- Arnold las weiter:

»Wir können versprechen, daß der Aufruf an unsere Mitglieder recht
warm gehalten werden soll, und daß eine recht zahlreiche Beteiligung
zu erhoffen sein wird. Der Aufruf wird mit dem Appell schließen: Auf,
Sportgenossen, es gilt die gemeinsame große Sache! Auf, alle pünktlich
in die ~Schleiermachergasse~! Sammelpunkt vor dem Hause Nr. 12.«

Se. Exzellenz schnappte erneut nach Luft.

»Dabei soll es aber nicht sein Bewenden haben. Am nächsten Sonntag
soll auch ein Artikel erscheinen, der insbesondere unsere jüngeren
Fahrer belehren soll. Der Artikel wird den Fall, wie sich's gebührt,
kraß, aber natürlich wahrheitsgetreu schildern. Er wird den Titel
führen: ›~Die Katastrophe in der Schleiermachergasse~‹ -- denn
eine Katastrophe bedeutet der Fall für unseren Sport. Die Radfahrer
müssen eindringlich gemahnt werden, in den Straßen der Stadt mit
Vorsicht und Besonnenheit zu fahren; es soll ihnen gesagt werden, daß
jeder Staatsbürger das verfassungsmäßig gewährleistete Recht habe,
nicht umgerannt zu werden, und daß der Bauch eines Ministerpräsidenten
nicht vogelfrei sein darf. Es muß ihnen gesagt werden, daß sie unseren
Sport schädigen, wenn sie unseren Ministerpräsidenten beschädigen. Wie
Harun-al-Raschid in den Straßen Bagdads, wie Numa Pompilius durch die
Straßen Roms, wenn er heimlich seine Egeria aufsuchte, so wandelte
er still und unerkannt durch die Schleiermachergasse, das Wohl des
Staates erwägend -- und dabei sollte er seines Lebens nicht sicher
sein? Das wäre ein ganz unhaltbarer Zustand, und das muß unseren
Radfahrern gesagt werden. Sie sehen, hochgeehrter Herr, wir sind ganz
auf Ihrer Seite und bereit, alles zu tun, um Sie in Ihren Bemühungen,
den Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen, nach jeder Richtung
hin zu unterstützen. Wir sind weit entfernt davon, etwas vertuschen zu
wollen, und werden Ihnen immer gerne behilflich sein, die Sache nicht
einschlafen zu lassen.

  Mit sportlichem All Heil!

  +Dr.+ A. ~Wohlrab~, Präsident.
  +Dr.+ Fr. ~Bruckner~, dzt. Schriftführer.«

»Was?« rief der Präsident, als Arnold zu Ende gelesen hatte, »der
Schriftführer heißt +Dr.+ Bruckner?! Ist das am Ende gar derselbe,
der --«

»Es scheint.«

»Das ist stark!«

»Es ist jedenfalls ein Zeichen von hoher Objektivität, wenn er selbst
den Stab über sich bricht.«

Der Präsident sah sich Arnold etwas genauer an. Ob der junge Mann wohl
etwas gemerkt hat? Arnold bestand die Prüfung zur Zufriedenheit des
Präsidenten, der nun überzeugt war, daß er nichts gemerkt hätte. Das
nahm ihn für den jungen Rechtsanwalt ein.

Der Ministerpräsident nahm eine Miene der Überlegenheit an, als
ihn Arnold zu dem bisher schon erreichten prozessualen Erfolge
beglückwünschte, und sagte dann, zwar noch immer ernst, aber doch sehr
leutselig:

»Leider habe ich jetzt doch nicht die Muße, den Prozeß weiter zu
verfolgen. Es zeigen sich ernste Verwickelungen in unserer auswärtigen
Politik, und da habe ich nicht die Zeit, meinen Privatpassionen
nachzugehen.«

Arnold tat sehr betrübt, als der weitblickende Staatsmann das
Schriftstück der »Numidier« in den Papierkorb warf und ihn beauftragte
»abzurüsten«, da es nicht zum Kriege kommen solle, -- die Sache sei es
ja doch nicht wert. Wenn man den Kasus genau betrachte, müsse man ihn
für einen geringfügigen halten. Arnold stimmte auch dem mit Wärme bei;
er hätte das gleich und immer gesagt. Merkwürdig! Exzellenz konnte sich
daran doch gar nicht erinnern!

Arnold wurde aber von seinem hohen Auftraggeber mit noch einer
weiteren, mehr diplomatischen Mission betraut. Er sollte auch bei der
gegnerischen Seite abwiegeln. Das müßte natürlich klug angestellt
werden. Es sollte so herauskommen, als ob er, der Ministerpräsident,
die kleine Torheit gnädigst verzeihen wolle, und daß er es für
wünschenswert halte, daß von dem Vorfalle nichts in die Öffentlichkeit
dringe; das sei schon notwendig mit Rücksicht auf seine Autorität.
Arnold könne auch versprechen, daß, falls diese Wünsche die
entsprechende Beachtung fänden, der Radfahrsport, dem tatsächlich eine
hohe Bedeutung nicht abzusprechen sei, von Seite der Obrigkeit stets
eine nachdrückliche Förderung erfahren solle.

»Sehen Sie, mein junger Freund,« schloß der Präsident, »so macht man
Politik! So gewinne ich die Opposition viel sicherer, als durch Zank
und Streit. Es ist besser, die erregten Gemüter zu beruhigen, als die
Leidenschaften zu entfesseln.«

Arnold ging, um seine Mission zu erfüllen, während der zurückbleibende
und nun von jedem Zwange befreite Präsident in seinem tiefen Ingrimm
nur bei dem Gedanken einige Beruhigung fand, daß es auf jene
gottvergessene Rotte Korah einmal doch noch Pech und Schwefel regnen
müsse.

Das Resultat seiner Bemühungen, das Arnold am nächsten Tage Sr.
Exzellenz zu berichten hatte, war kein durchaus befriedigendes. Die
»Numidier« als solche waren zwar gewonnen, der Ausschuß ebenfalls,
nicht minder der Klubpräsident und Redakteur des »Morgenblattes«, aber
der eigentliche Schuldige selbst, der war durchaus nicht zur Vernunft
zu bringen.

»Ja, was will denn der Mensch?« fragte Besenbeck erstaunt.

»Exzellenz, er behauptet, ein ›Schafskopf‹ genannt worden zu sein!«

»So, so; behauptet er das? Dann wird es wohl auch richtig sein.«

»Und den möchte er nicht auf sich sitzen lassen.«

»Dann werden wir den ›Schafskopf‹ zurücknehmen.«

»Damit will er sich nicht mehr begnügen.«

»Was meint der Narr noch? Soll ich mich mit ihm schlagen?«

»Das würde er für ungesetzlich halten.«

»Ja, was in aller Welt will er sonst?«

»Er will seinen Prozeß.«

»Was?« schrie nun Se. Exzellenz wütend. »Seinen Prozeß mit Fackelzug
und berittenen Bannerträgern vielleicht?!«

»Er ist so furchtbar starrköpfig,« klagte Arnold, »und wir haben kein
Mittel, ihn von der Klage abzuhalten.«

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich jetzt zu solchen Dummheiten
keine Zeit habe. Die Sache muß hintertrieben werden um jeden Preis,
hören Sie -- um jeden Preis?!«

»Exzellenz, einen Ausweg hat er mir allerdings angedeutet, aber ich
wage nicht --«

»Nur heraus damit; die Sache muß hintertrieben werden!«

»Exzellenz, es ist so seltsam, was er verlangt, daß ich wirklich
kaum den Mut finde, sein Ansinnen hier zu wiederholen. Er meint, die
Beleidigung, die ihm hier widerfahren sei, könne ein Ehrenmann sich
höchstens von einem ihm sehr nahestehenden Manne, so gewissermaßen nur
von einem Familienmitgliede gefallen lassen.«

»Ich kann doch ihm zuliebe jetzt keine Verwandtschaft zwischen ihm und
mir herzaubern!«

»Derselben Ansicht war auch ich, Exzellenz, er aber meinte, daß dies
doch möglich wäre.«

»Das ist ja ein kompletter Narr!«

»Gar so unmöglich ist die Sache auch wirklich nicht, das heißt --
sofern Exzellenz nur zuzustimmen geneigt sein sollten. -- +Dr.+
Bruckner liebt nämlich das gnädige Fräulein, Ihre Nichte, und wird von
ihr wiedergeliebt.«

Der Herr Ministerpräsident schnappte nach Luft und blies sie dann
wieder von sich wie ein Blasebalg. Die mächtige Präsidentenglocke
wurde in Schwung gesetzt und dem sofort eintretenden Lakai bedeutet,
daß Fräulein Käthe sofort in der Präsidialkanzlei zu erscheinen habe.
Käthe kam auch hereingewirbelt wie ein Frühlingssonnenstrahl.

»Sage mal, Käthe,« begann der gestrenge Leiter der politischen
Geschicke des Großherzogtums Gerolstein, »was würdest du sagen, wenn
wir dich aus Gründen der Staatsräson verheiraten wollten?«

»Aus Gründen der Staatsräson heiratet man gewöhnlich einen Prinzen«,
erwiderte Käthe.

»Ja, einen Prinzen! Den würdest du allerdings nehmen!«

»Den würde ich allerdings nicht nehmen!«

»Nicht?! Warum nicht?«

»Weil ich keinen Prinzen will.«

»So -- das ist ein Grund; dagegen läßt sich nichts sagen. Wenn es nun
aber kein Prinz wäre -- aber lassen wir das vorläufig. Sage mal, Käthe,
-- wir wollen jetzt von etwas anderem sprechen, -- kennst du einen
Herrn +Dr.+ Friedrich Bruckner?«

Käthe wurde feuerrot im Gesicht, aber sie nickte tapfer ein Ja!

»So! Davon weiß ich ja gar nichts! Woher denn? Wenn ich fragen darf?«

»Ach, Onkel, das erzähle ich dir ein anderes Mal. Wenn aber die
Staatsräson da verlangen sollte --«

Käthe vollendete den Satz nicht. Sie sah, wie ihr der Onkel und Vormund
aufmunternd zulächelte, und sie warf sich ihm in stürmischer Freude an
die Brust.

»O, du süßer, du lieber, du guter, guter Onkel!« rief sie, indem sie
ihn küßte.

Der Präsident war ganz gerührt und rief dann wohlwollend zu Arnold
hinüber, der sich diskret in eine Fensternische zurückgezogen hatte:

»Sehen Sie, mein junger Freund, so arrangiert man schwierige Dinge, und
so löst man bedenkliche Konflikte. Benachrichtigen Sie den jugendlichen
Starrkopf, und sagen Sie ihm, ich hoffte, daß wir noch gute Freunde
werden würden!«




                           Eine Entlarvung.


Erich Rodebach, der deutsche Stahlmagnat, auf dessen Wink zehntausend
Arbeiter und Beamte einzuschwenken hatten wie die bestgedrillten
pommerschen Füsiliere, war aus dem Wuppertale, in dem sich sein
industrielles Königreich ausbreitete, in einem Zug nach Nizza gefahren,
um doch selber nach dem Rechten zu sehen. Frau und Tochter -- seine
einzige Tochter -- hatten einige Wochen vorher eine Vergnügungsreise
angetreten und weilten nun an der Riviera. Ihre Briefe aus Nizza waren
einigermaßen beunruhigend gewesen. Da ward viel phantasiert von einem
entzückenden exotischen Prinzen, den sich Alma, sein Herzenskind,
im Fluge erobert hätte. Alma erwiderte seine Liebe, und ein stilles
Verhältnis besiegelte vorläufig den schönen Bund. Ein stilles
natürlich, denn offiziell sollte die Sache erst werden, wenn Papa erst
selbst gesehen und seinen Segen dazu gegeben haben würde.

Rodebach hatte einen instinktiven heillosen Respekt vor entzückenden
exotischen Prinzen, die in Nizza in so naher Nachbarschaft von Monte
Carlo auftauchen. Er machte sich also schleunig auf und kam und
sah und forschte und ließ forschen, und er fand seine schlimmsten
Befürchtungen nicht nur bestätigt, sondern durch die Tatsachen
noch weitaus überboten. Das Frauenzimmervolk ist doch von einer
unglaublichen Naivität! Er hatte in wenigen Tagen die Wahrheit
herausgebracht, und nun war er daran, Schluß zu machen. Dazu fühlte
er sich Mannes genug, ohne erst die Hilfe der Behörden in Anspruch
zu nehmen. Er war ein weltkundiger Mann, ein Mann der Praxis. Jetzt
wollte er Ordnung machen. Er fühlte sich sicher. Das Material, das
er in der Hand hatte, war ein erdrückendes. Nun hatte er sich den
»Prinzen« vorgeladen und nun sollte die Entlarvung und darauf prompt
der Hinauswurf erfolgen.

Der Prinz, der mingrelische Prinz Bradian, wurde gemeldet, und in
der nächsten Minute standen sich die beiden Männer in dem eleganten
Salon des vornehmen Hotels gegenüber. Ein starker Kontrast, die
beiden Erscheinungen. Rodebach wuchtig, in schier überlebensgroßen
Dimensionen gestaltet, mit angegrautem, aber dichtem Haupthaar und
starkem Knebelbart, buschigen Augenbrauen, wulstigem, gerötetem
Gesicht; der Prinz eine zarte, zierliche Figur, jugendlich schlank, mit
gescheiteltem, glänzend schwarzem Haar und kleinem Schnurrbärtchen,
mit wunder hübschen schwarzen schwärmerischen, wie in schwermütiger
Träumerei aufblickenden Augen, das Antlitz ein wenig bleich, etwa von
der Farbe des nachgedunkelten Elfenbeins. Er verneigte sich stumm und
machte nicht den Versuch, seinem Partner die Hand entgegenzustrecken.
Rodebach hieß ihn mit einer Gebärde Platz zu nehmen.

»Sie können sich denken, weshalb ich Sie herbeschieden habe.«

»Ich habe allerdings so eine dunkle Ahnung, Herr Rodebach, möchte
aber nicht vorgreifen. Bitte!« Und er lud mit einer Handbewegung den
gebietigen Mann ein, vorzubringen, was er auf dem Herzen habe.

»Gut. Wie Sie wünschen. Sie wissen, daß ich Sie vom Fleck weg verhaften
lassen kann.«

»Das können Sie nicht, Herr Rodebach. Aber Sie gestatten ja, daß ich
mir eine Zigarette anzünde. Das Gespräch scheint interessant werden zu
wollen, und unter Männern spricht es sich angenehmer, wenn man dabei
raucht. Vielleicht angenehm? Nicht? Schade!«

Und damit steckte er die goldene Zigarettendose wieder ein, die er
dargeboten hatte, und versorgte sich aus einem gleichfalls goldenen
Zündhölzchenbehälter mit Feuer.

»Ich wiederhole, daß ich Sie sofort verhaften lassen kann.«

»Ich wiederhole, daß Sie das nicht können, mit dem besten Willen nicht.
Sie sind da vollständig im Irrtum, Herr Rodebach; ich weiß das besser!«

»Sie sind nicht das, wofür Sie sich ausgeben.«

»Ich könnte zwar durch meine Papiere, die vollständig in Ordnung sind,
beweisen, daß ich wirklich Prinz Bradian von Mingrelien bin, aber ich
lege auf solche Kleinigkeiten kein Gewicht. Ich gebe Ihnen ohne weiters
zu, daß ich kein angeborenes Recht habe, als Prinz aufzutreten. Man hat
manchmal so seine kleinen Launen!«

»Herr, Sie sind ein Unverschämter! Ich werde Sie aber zwingen, von
Ihrem hohen Roß herabzusteigen.«

»Ganz wie ich vermutet; die Sache verspricht interessant zu werden.«

»Ihr wahrer Name ist Moriz Hofmann; geboren und zuständig zu Nikolsburg
in Mähren.«

»Vollkommen richtig. Ich bin stolz darauf und denke nicht daran, es in
Abrede zu stellen.«

»Sie sind vierzig Jahre alt und nicht, wie Sie sich ausgegeben haben,
achtundzwanzig.«

»Ich betrachte es als einen hübschen persönlichen Erfolg, daß man mir
die achtundzwanzig geglaubt hat.«

»Sie sind ein berüchtigter Verbrecher. Von den vierzig Jahren haben Sie
zwölf in den Zuchthäusern verschiedener Herren Länder verbracht!«

»Sie sehen, wie die Rechnung stimmt. Diese zwölf Jahre habe ich aus
meinem Leben gestrichen, -- bleiben genau achtundzwanzig. Ich war
berechtigt dazu. Denn -- sagen Sie selbst, Herr Rodebach -- so ein
Leben in den Gefängnissen -- ist denn das wirklich ein Leben?!«

»Ich bin also hinreichend berechtigt, Sie nun mit Fußtritten aus meinem
Zimmer zu jagen!«

»Nicht so, Herr Rodebach! Mir wäre das ja ein ganz erwünschter Vorgang,
und ich habe ihn auch schon in ernste Erwägung gezogen. Wenn Sie
also durchaus wollen -- bitte, bedienen Sie sich. Ich möchte Ihnen
abraten, obschon ich keinen Versuch der Gegenwehr machen würde. Das
wäre nicht nur unnütz, es wäre auch unklug. Warum soll ich nicht einmal
die Treppe hinunterstiegen? Wenn ich Glück habe, setzt es dabei eine
bessere Verwundung ab. Für einen Nervenschock garantiere ich, -- und
Nervenschocks sind nicht billig!«

»Ich muß sagen, einer solchen Frechheit gegenüber bleibt mir der
Verstand stehen!«

»Und ich, Herr Rodebach, muß wiederholt andeuten, daß Sie den Ton, auf
den Sie unsere Unterhaltung zu stimmen versuchen, recht unglücklich
gewählt haben. Ich fühle mich -- Sie wissen sehr wohl, aus welchen
zarten Rücksichten --«

»Ich verbiete Ihnen, auch nur ein Wort ~davon~ zu sprechen.«

»-- verpflichtet, Ihre Interessen zu wahren. Sie reiten sich ja immer
tiefer hinein und liefern sich mir förmlich in die Hände. Alles, was
Sie sinnen und reden, drängt in schnurgerader Linie zu einem großen,
europäischen Skandal, den zu vermeiden Sie dringendere Gründe haben
als ich. Nichts kann klarer sein. Auf der einen Seite meine Ehre, --
ich beschönige nichts -- die Ehre eines Hochstaplers, auf der andern
der Name Ihres Hauses -- reden wir nicht weiter! Die Partie steht zu
ungleich zu Ihren Ungunsten.«

»Darin haben Sie allerdings recht!«

»Wie ich denn überhaupt Wert darauf lege, immer korrekt zu denken und
korrekt zu handeln.«

»Der edle Stolz eines Gauners!«

»Herr Rodebach, ich kann Ihnen den sanften Vorwurf nicht ersparen, daß
Ihr Diapason noch immer falsch gestimmt ist. Es ist ausschließlich
~Ihr~ Interesse, mich nicht zu verstimmen. Je höher ich als
Ehrenmann vor Ihren Augen und jenen der Welt dastehe, desto besser
für Sie. Rekapitulieren wir einmal, um zu sehen, wie sich die Dinge
ausnehmen würden, wenn alles nach Ihrem Kopfe ginge. Mit Ihrer gütigen
Erlaubnis zünde ich mir dazu eine frische Zigarette an. Sie wissen ja,
es spricht sich besser, wenn --«

»Also gut; dann rauche ich auch eine Zigarre. Das Vergnügen, einen
philosophischen Betrüger anzuhören, ist ein seltsames und will mit Muße
genossen sein.«

»Die starken Ausdrücke tun mir weh, Herr Rodebach, weil Sie Ihre
Position verschlechtern. Also fassen wir zusammen: Erst wollten Sie
mich nur gleich ins Loch stecken lassen, weil ich mir den Titel
eines Prinzen beigelegt habe. Das geht nicht. In Deutschland oder in
Österreich hätte ich wegen Falschmeldung eine kleine Geldstrafe, immer
noch keine Verhaftung, zu gewärtigen. Auf französischem Boden kümmern
sich die Gerichte um solche Albernheiten nicht. Da kann sich einer auch
einen Herzogstitel anmaßen und es kräht kein gallischer Hahn danach.
Während Sie aber bei diesem Versuche nur durchgefallen wären, würden
Sie mit Ihren andern Intentionen einfach reinfallen. Sie haben sich
damit ganz in meine Hand gegeben. Unbesorgt -- ich werde keinen unedlen
Gebrauch von Ihren Unvorsichtigkeiten machen! Sie wollen mich zwingen,
vom hohen Roß herabzusteigen. Was heißt das? Sie werden mich entlarven.
Aber ich bitte -- entlarven Sie! Wer hindert Sie? So schreien Sie es
doch hinaus in die Welt: Dieser Mann ist kein Prinz; er ist der größte
Hochstapler Mitteleuropas, und dieser Mann hat sich mit meiner Tochter
verlobt!«

»Das ist erlogen!«

»Pardon! In meinem Geschäfte habe ich immer auf Korrektheit gehalten.
Ich behaupte nichts, was ich nicht beweisen kann. Ich bin in der
angenehmen Lage, einem hohen Gerichtshofe eine ganze Anzahl von
schriftlichen Beweisen vorzulegen. -- Hat sich mit meiner Tochter
verlobt, hat sie geküßt --«

»Bube, ich schlage dich ins Gesicht!«

»Das würde nichts beweisen und wieder nur Ihre Lage verschlechtern.
Ich dagegen würde auch das beweisen, und zwar durch zeugeneidliche
Vernehmung der beiden Damen, Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin und
meiner nicht minder hochverehrten Braut.«

Wie von der Natter gestochen sprang Rodebach auf, als dieses letzte
Wort an sein Ohr schlug. Sein ungleicher Partner mahnte aber zur
Besonnenheit.

»Bleiben Sie ruhig sitzen, Herr Rodebach. Diese Erregungen erschweren
nur unsere Auseinandersetzung. Ich wollte nur dartun, daß Ihre Position
als Angreifer eine unhaltbare ist. Weiters aber will ich Ihnen
beweisen, daß Sie selbst ~mir~ die Mittel an die Hand gegeben
haben, zum Angriff überzugehen. Sie haben sich zu Ehrenbeleidigungen
hinreißen lassen, und nichts hindert mich nun, meinerseits mit einer
gerichtlichen Klage vorzugehen. Ich gebe mich keiner Illusion hin.
Ich würde mit der Klage nicht durchdringen. Es fehlt uns das Moment
der Öffentlichkeit, das zu einer regelrechten Ehrenbeleidigung
erforderlich ist. Sie würden freigesprochen werden, aber mir ist es
gar nicht um Ihre Verurteilung zu tun. Dazu habe ich ein zu gutes
Herz. Mir würde es vollständig genügen, unsere Angelegenheit vor der
Öffentlichkeit verhandeln zu lassen.«

»Auf alle Gefahr hin -- Hofmann, Sie sind wirklich ein ausgemachter
Schurke!«

»Halten wir uns nicht mit leeren Redensarten auf. Ich habe noch andere
Pfeile im Köcher. Wenn ich mit der Ehrenbeleidigung durchfiele, so
würde ich mit der ›gefährlichen Drohung‹ mehr Glück haben. Sie erinnern
sich der mir in Aussicht gestellten Gewalttätigkeiten. Ganz sicher aber
hätte ich Erfolg mit dem ›Vorwerfen der ausgestandenen Strafe‹. Da
würden Sie heilig eingehen.«

»Ich würde es darauf ankommen lassen.«

»Das glaube ich. Nicht aber auf die öffentliche Erörterung der
Umstände! Sie können beruhigt sein. Ich denke nicht daran, gegen Sie
irgendwie feindlich vorzugehen. Dazu schätze ich Sie und Ihre verehrten
Angehörigen viel zu hoch.«

»Wir fühlen uns außerordentlich geschmeichelt!«

»Diese Ironie soll der Ausdruck einer Verachtung sein, die mir nicht
ganz gerechtfertigt erscheint. Schließlich -- ich habe das Herz Ihrer
Tochter gewonnen!«

»Reden Sie nichts davon!«

»Ich bitte um Verzeihung, ich muß davon reden, weil es schließlich klar
werden muß zwischen uns. Sie hat mich liebgewonnen, und sie ist eine
Heilige. Sie hat mich liebgewonnen -- ich stelle es unter Beweis! --,
und das muß doch einen Grund haben. So ganz verwerflich kann ich nicht
sein. Ich habe keine Zauberkünste aufgewendet. Es war die einfachste
Sache von der Welt. Wir haben uns kennen und lieben gelernt. Mit meinem
Reichtum habe ich nicht geprunkt, und mein erborgter Titel kann sie
nicht geblendet haben. Sie verkehrt nur in aristokratischen Kreisen und
ist darüber hinaus, daß sie sich durch Titel blenden ließe. Sie werden
ihr zehn, zwanzig, vielleicht fünfzig Millionen mitgeben -- was weiß
ich! Ich war nie so gemein, danach zu forschen, -- da kann sie, wenn
sie will, sich jeden Titel kaufen. Da Sie nun ein Vorurteil gegen mich
haben ...«

»Ein Vorurteil -- gegen einen Betrüger?!«

»Allerdings, ein Vorurteil. Gegen einen Betrüger? Ich zweifle nicht,
daß in absehbarer Zeit eine vorgeschrittene und geläuterte Gesetzgebung
den Betrugsparagraphen einer Revision wird unterziehen müssen. Im Kampf
ums Dasein muß es Sieg und Niederlage geben. Siegen wird immer der
Stärkere über den Schwächeren, der Klügere über den -- Minder klugen.
Und jeder Sieg wird mehr oder minder ein Betrug sein. Es ist nicht
anders im Kampf ums Dasein.«

»Wie bereits erwähnt -- ein philosophischer Gauner!«

»Ich sehe, daß Sie von Ihrem Vorurteil nicht abzubringen sind, und
darum -- es mag Sie beruhigen, Herr Rodebach --, trete ich zurück und
gebe meine Ansprüche auf.«

»Reden wir deutlich. Was kostet das?«

»Ach, Herr Rodebach, zu Erpressungen habe ich mich nie erniedrigt.
Ferne sei es von mir --«

»Keine Redensarten! Was kostet's?«

»Ich will mein Leben ändern. Mein bisheriges Geschäft --«

»Der Hochstapelei!«

»Die Hochstapelei -- war ganz schön, aber die Betriebskosten sind zu
hoch. Man behält schließlich nie etwas übrig. Ich will ins bürgerliche
Leben, ich will in die Armut zurückkehren. Mit zweitausend Mark glaube
ich das Auslangen finden zu können.«

»Ich denke auch, daß ein alleinstehender Mensch damit leben könnte.«

»Mit zweitausend Mark monatlich --«

»Monatlich?!«

»Mit zweitausend Mark monatlich glaube ich in der Tat bei bescheidenen
Ansprüchen mein Leben fristen zu können. Es wäre Hochstapelei, Herr
Rodebach, wenn ich weniger angäbe. Ich müßte dann doch wieder kommen
und Ihnen Ungelegenheiten bereiten, und das möchte ich um keinen
Preis.«

»Hören Sie, das ist ein bißchen unverschämt, ein bißchen sehr!«

»Ich verlange nicht das Kapital; es wäre nicht sicher in meinen Händen.
Mir genügt es, wenn ich meine monatliche Rente pünktlich zugestellt
erhalte.«

»Unter der Voraussetzung, daß Sie als Moriz Hofmann untertauchen, nie
in meinem Hause sich blicken und von der ganzen Angelegenheit kein Wort
verlautbaren lassen!«

»Das ist die selbstverständliche Bedingung. Die Rente hört auf, wenn
ich diese Bedingung nicht einhalte.«

»Wünschen Sie etwas Schriftliches?«

»Nein, Herr Rodebach. Nicht etwa nur, weil mündliche Verträge dieselbe
bindende Kraft haben, sondern überhaupt, weil Ihr Wort mir die beste
Bürgschaft bietet, die es auf der Welt gibt.«

»Gut. Sie werden meinem Hause Ihre Adresse angeben, und die Sendungen
werden regelmäßig erfolgen. Und somit wären wir fertig. Sie reisen
sofort ab.«

»Sofort, Herr Rodebach, nur muß vorher noch anstandshalber eine kleine
Formalität erledigt werden. Hier meine Hotelrechnung, -- ich bin
momentan wirklich nicht in der Lage, sonst würde ich mir gewiß nicht
erlauben --«

»Geben Sie her; ich werde das Geld sofort hinüberschicken.
Donnerwetter! Dreitausendzweihundert Francs -- Sie haben nicht schlecht
gelebt, Hofmann!«

»Ich habe nie schlecht gelebt, Herr Rodebach, außer wenn ich -- auf
Ferien war.«

»Gut, soll auch gemacht werden. Adieu!«

Eine Verbeugung -- und von diesem Augenblick an gab es einen Prinzen
weniger auf der Welt.

                   *       *       *       *       *

Hinterher fiel Herrn Rodebach etwas ein -- +esprit d'escalier+!
Er hatte sich den Kriminaldetektiv Schulze IV aus Berlin verschrieben
gehabt, der die Tatsachen feststellte und Photographie und
Fingerabdrücke als Überführungsmaterial beschaffte. Nun erst -- zu
spät -- erinnerte sich Rodebach an Dagobert. Wenn er dem die Sache
übertragen hätte -- er wäre sicher besser weggekommen. Was tut's? Er
war's auch so zufrieden.




                           Wolfgang Lenburg,

                             »Straße 27«.

                       Aus »Oberlehrer Müller«.


      Mit Genehmigung der Verleger ~Gebrüder Paetel~ in ~Berlin~
                aus ~W. Lenburg~ »~Oberlehrer Müller~«.
                             Gbd. M. 3.--




                             »Straße 27«.

Wenn mich meine Bekannten jetzt fragen, wohin ich denn eigentlich seit
dem ersten April gezogen sei, so beschleicht mich immer ein Gefühl der
Beschämung.

Früher habe ich auf die Frage nach meiner Wohnung stets frohgemut sagen
können: Potsdamer Straße 73. Die »vier Treppen« schenkte ich mir, denn
wer mich alsdann besuchen wollte, fand mich ja doch schon mit Hilfe
des stummen Portiers. Nur bei solchen Menschen, deren Gehen mir lieber
war als ihr Kommen, fügte ich mit hohler Stimme unheilverkündend noch
hinzu: »Eigentlich sind es fünf, denn das Hochparterre ist so gut wie
erster Stock.«

Wer Berlin +W+, Potsdamer Straße wohnt, braucht sich nicht zu
schämen, vorausgesetzt, daß er sonst keinen Grund dazu hat. Aber die
Bezeichnung meines neuen Domizils, »Straße 27«, klingt denn doch gar
zu sehr nach unbezahlten Baumaterialien, Trockenwohnern auf Halbmiete,
Rückkompanie und Kulturmangel.

»Straße 27!«

Man sieht förmlich dabei im Geiste auf käfigartigen Balkons zum
Trocknen ausgebreitete Betten, Wäschestücke und Strümpfe, und
darüberlugend Leute in Hemdsärmeln und viele Kinder mit ungeputzten
Nasen.

Herr Kommissionsrat Bräuer, dessen zwölfjährigem Sohne ich ein
Jahr lang mit unbegrenzter Ergebnislosigkeit Nachhilfestunden im
Lateinischen gegeben hatte, meinte, als ich ihm meine neue Wohnung
nannte, in vorwurfsvollem Tone: »Sie hatten doch aber ein ganz gutes
Einkommen und manche Nebeneinnahmen!«

Und wie hört es sich nun gar an, wenn ich der Straßenbezeichnung noch
meine Hausnummer zufüge: »Straße 27-34!« Gerade als wenn man auf dem
Bahnhof eine Droschke nach der Blechkontrollnummer aufruft!

Eine Tante von mir hat sich übrigens mit vieler Mühe die Nummer 2734 in
der Königlich-Preußischen Klassenlotterie verschafft und ist ziemlich
sicher, mit einem nicht unerheblichen Gewinn herauszukommen.

Welch törichter Aberglaube!

Das ist auch noch eine, freilich sehr, sehr schwere Kulturaufgabe
der Schule, solch mittelalterlichen Köhlerglauben aus dem Herzen der
Menschen zu roden.

Die meisten meiner Bekannten sagen, wenn sie hören, daß ich jetzt in
der »Straße 27« wohne: »Nanu, warum denn?« oder »Achherrje, das ist
wohl da hinten?« oder auch bloß: »Oh!«

Nur Maler Rönne, mein alter, unentwegt manifestierender Schulkamerad,
fand in der Fülle des Beileids keine Worte, sondern drückte mir nur
stumm die Hand. Sonst gestaltete sich unser zufälliges Zusammentreffen
auf der Straße immer zu einer geschäftlichen Transaktion, in welcher
ich den Vorzug hatte, als »Selbstdarleiher« -- Rückzahlung bis 1930
ausgeschlossen -- zu figurieren. So unangepumpt wie diesmal bin ich
noch nie von Rönne losgekommen.

Jetzt habe ich mir schon angewöhnt, immer zu sagen: »Straße 27, -- aber
es ist gar nicht so schlimm!«

Und wirklich, so schlimm ist's auch gar nicht. Straße 27 liegt auch
nicht »da hinten«, sondern in Berlin +W+. Ja, ~wirklich~, in
Berlin +W+, und dicht am Kurfürstendamm.

Auch muß ich gestehen, daß die Häuser in Straße 27 mit ihren niedlichen
Erkern, verschiedenartig gestalteten Balkons und den lichtfrohen
Hausfluren einen gewissen Individualismus haben und recht anheimelnd
aussehen. Und mit einem Anflug von Stolz sehe ich noch einmal die
Straße 27 hinab, ehe ich meinem Hause zuschreite.

»Holla, siebenundzwanzig -- vierunddreißig,« ruft mich da plötzlich der
Vorsitzende unseres Literarischen Zentralvereins an, »wie geht's, wie
steht's?«

Im ersten Augenblick bin ich über das unerwartete Zusammentreffen mit
meinem Vereinspräsidenten, dem Amtsrichter +Dr.+ Scherbe, ebenso
überrascht, wie über meine »Numerierung«. Ja, ich lasse unwillkürlich
den Blick an meinem Anzug hinabgleiten, ob etwa die ominöse Zahl 27-34
mir aufgestempelt oder angeheftet sein könne.

+Dr.+ Scherbe bemerkt dies wohl und sagt, indem er mir lachend
die Hand schüttelt: »Nichts für ungut, daß ich Sie mit Ihrem neuen
Vereins-Spitznamen anrede. Jeder bei uns hat ja seinen, wie Sie
wissen, nur Sie sind bisher immer noch ohne solchen davongekommen.
Denn, wahrhaftig, bei Ihnen ist immer alles bisher so unauffällig, so
wohlgeordnet und so regulär gewesen, daß man für Sie gar keine recht
passende Bezeichnung hat finden können, wohlverstanden: ~bisher~.
~Jetzt~ aber verdanken Sie Ihren Spitznamen Ihrer werten Straße.«

»Hol' der Teufel die Straße,« sagte ich unwillig, »und den neuen
Spitznamen dazu! Ich hasse solche ›+nick-names+‹.«

»Na, Verehrtester,« erwiderte +Dr.+ Scherbe mit beschwichtigender
Handbewegung, »seien Sie darüber nur nicht so ungehalten. Wem anders
denn als Ihnen habe ich, der Amtsrichter Scherbe, den Beinamen
›Scherbengericht‹ zu danken? -- Übrigens hat solch eine Zahl 27-34 doch
als Spitzname unleugbare Mängel,« fuhr der Amtsrichter nachdenklich
und dozierend fort, »denn die meisten nannten Sie bald unter falscher
Nummer.«

»So«, sagte ich mit recht gemischten Gefühlen.

»Ja,« meinte Scherbe, »und solch einem unhaltbaren Zustande mußte ein
Ende gemacht werden. Ich selbst habe im geselligen Teil unserer letzten
Vereinssitzung die Einziehung Ihres eben erst aufgefundenen Beinamens
beantragt und durchgesetzt.«

»Ich danke Ihnen,« erwiderte ich mit Wärme, »mir wär's wirklich recht
fatal gewesen, und der Witz ist doch recht mäßig.«

»Fand ich auch«, sagte Amtsrichter Scherbe zustimmend. »Dafür ist aber
ein anderer, ~ganz~ neuer Beiname für Sie gewählt worden, und
zwar«, fügte er mit stolzem Bewußtsein hinzu, »von ~mir~.«

Meine eben noch aufkeimende Dankbarkeit fing plötzlich an, sich in
finsteren Haß zu verwandeln.

»Und wissen Sie, alter Freund,« fuhr der Amtsrichter mit großem
Selbstgefühl fort, »wissen Sie, wie ich dazu gekommen bin? Durch eine
merkwürdige, aber naheliegende Ideenassoziation. Nämlich, wenn ich Ihre
Zahl aussprach, mußte ich immer an Droschken denken, an Droschken, die
von den sogenannten Weißlackierten gelenkt werden. Ja, und da schlug
ich für Sie den Namen ›~Der Taxameter~‹ vor.«

»Und was sagten die Herren Vereinsgenossen dazu?« fragte ich mit
unverhohlenem Mißbehagen.

»Ach,« sagte der Amtsrichter, vor Vergnügen sich förmlich schüttelnd,
»die Kerls haben ja ~so~ gelacht!« -- -- --




                 Straße 27 erhält endlich einen Namen.

Die Debatte über die Straßenbenennung hatte sich an jenem Abend noch
bis nach Mitternacht hingezogen. Mein Kollege Schubert war auch bald
nach mir aus der Versammlung fortgegangen, und der vorsitzende Major
hatte, wie ich vom Schuhmacher Hegel bei der Ablieferung meiner neuen,
doppelsohligen Schaftstiefel erfuhr, wegen Meinungsverschiedenheit
hinsichtlich der Geschäftsordnung in galliger Stimmung das Präsidium
niedergelegt und mit Protest das Lokal verlassen.

Infolge der vorgerückten Stunde hatten nur noch Schuhmacher Hegel,
Kolonialwarenhändler Grabow, zwei Zigarrenhändler, ein Friseur, vier
von den fünf Fahrradhändlern der Straße und ein alter Kanzleisekretär
a. D. an der weiteren Sitzung teilgenommen.

Hegel leitete nun die Verhandlung und sprach zunächst sein Bedauern
aus, daß einige Herren so geringes Interesse der Sache entgegenbrächten
und vor der endgültigen Abstimmung schon aufgebrochen wären. Ebenso
bedauerlich sei es, daß der Herr Major und seine Partei wegen einer an
sich geringfügigen Differenz die Versammlung verlassen hätten. Man
solle doch nachgiebig und duldsam sein. Er selbst z. B. ziehe seinen
Vorschlag, die Straße »Hans-Sachs-Straße« zu benennen, gern zurück.
Er sehe ein, daß ein Straßenname hauptsächlich kurz und prägnant sein
müsse. »Sachsstraße« allein täte dem Namen des großen Poeten und
Schusters nicht die schuldige Ehre an, »~Hans~-Sachs-Straße«
aber wäre eben zu lang. Er sei ja auch eventuell erbötig, dem Herrn
Major zuliebe, der ein guter Kunde von ihm sei, und nach dessen
Leisten er nun schon seit zehn Jahren die Ehre habe zu arbeiten,
die Straße Trainstraße taufen zu lassen, obwohl er selber bei den
Schwedter Dragonern gestanden hätte, und schon aus dem Grunde eben die
Bezeichnung Trainstraße unzutreffend wäre. Jedenfalls aber müsse dem
bisherigen unhaltbaren Zustande ein Ende gemacht und noch heute die
Petition an den Magistrat mit einem bestimmten Vorschlage abgesandt
werden.

Der Kanzleisekretär meinte, daß er Artillerist gewesen wäre und gegen
eine Bezeichnung wie Kanonierstraße oder Artilleriestraße nichts
gehabt hätte. Aber die gäbe es ja schon. Für »Train«straße könne er
nicht stimmen. Man könne ja aber, schon um zu zeigen, daß man auch
die Wünsche der Abwesenden nach Möglichkeit berücksichtigen wolle,
den Vorschlag der beiden bebrillten Herren wieder aufnehmen und zum
Beschluß erheben, daß die Straße »Marlostraße« genannt werden solle. Er
selber müsse offen bekennen, daß er von der Mar~litt~ wohl schon,
aber noch nie von der Existenz eines Marlo oder so ähnlich etwas gehört
hätte. Der Name an sich wäre ihm aber nicht unsympathisch.

Darauf erhob sich wieder Schuster Hegel und erklärte, man könne ja
»einen Komponist schließen« und die Straße »~Marlitt~straße«
nennen. Wenn Oberlehrer Müller erwähnt hätte, daß Marlo ein
Schustersohn gewesen wäre, so könne er allerdings nicht sagen, ob
die ~Marlitt~ eine Schuster~tochter~ war, so sympathisch
ihm speziell dies sein und für Zurücknahme seines eigenen auf
»Hans-Sachs-Straße« lautenden Vorschlags Ersatz bieten würde.

Und in wohl schon recht bierseliger Stimmung fügte der Meister, dem gar
manchmal ein arger Schalk im Nacken saß, hinzu, daß die Herren Lehrer
vielleicht auch die Namen, die Geschlechter und die Nebenumstände
nur verwechselt hätten, und ~der Marlo~ und ~die Marlitt~
möglicherweise ~eine~ Person wären. Solche Zerstreutheiten kämen
gerade bei Gelehrten so häufig vor. Er selbst habe auch schon mal ein
Paar Stiefel, die für den Herrn Major bestimmt waren, dem Oberlehrer
Müller abgeliefert, der sie übrigens ruhig getragen hätte, obwohl
er einen ganz anderen Leisten habe. Nachher könne man es gar nicht
fassen, daß man wirklich so zerstreut gewesen sei. Unzweifelhaft
aber habe die Marlitt, deren Werke er selbst besitze, wie man so
sage, »einen guten Stiebel« geschrieben. Und was Oberlehrer Müller
und der andere Lehrer gesagt hätten, daß wir ihren Schriften eine
Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte
unserer Dichtkunst zu verdanken haben, so könne er, Schuster Hegel,
dies vollauf bestätigen. Er erinnere nur an »das Geheimnis der alten
Mamsell«.

Bei Erwähnung dieses Werkes wurde auch der Kanzleisekretär warm. Ja,
es stellte sich die für die Marlitt sehr schmeichelhafte, für Marlowe
aber tiefbeschämende Tatsache heraus, daß fast alle übrigen Anwesenden
irgend etwas von der ersteren schon gelesen, von Marlowes literarischer
Betätigung aber noch nie etwas vernommen hatten.

Der Friseur entpuppte sich sogar als Kenner ~sämtlicher~
Marlitt-Romane, und nur Poppelmann, der Radlerwirt, kennt weder Marlowe
~noch~ Marlitt, da er früher nie für Lektüre geschwärmt hatte und
jetzt auch nur die Inserate einer Radlerzeitung liest.

So wurde denn einstimmig die Benennung »Marlittstraße« beschlossen und
der hochwohllöbliche Magistrat der Haupt- und Residenzstadt Berlin
durch Schuhmacher Hegel in nicht ungeübter Schrift, aber mit zum Teil
schon recht fidelen Buchstaben namens der versammelten Bewohner der
Straße 27 ersucht, bewußte Straße in Zukunft »~Marlittstraße~« zu
benamsen, besonders »~in Hinsicht darauf, daß wir der Marlitt eine
Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte
unserer Dichtkunst zu verdanken haben~«.

Ich könnte über dies alles nicht so genau referieren, da ich ja nicht
selbst Augen- und Ohrenzeuge der weiteren Verhandlungen war; aber
Friedrich Hegel hat mir bei Überbringung meiner neuen Stiefel den
ganzen Hergang mit peinlichster Genauigkeit erzählt.

Wie der ~eigentliche~ und endgültige Schlußakkord jenes Abends
geklungen hat, kann ich freilich nur mutmaßen. Ich glaube aber, er ist
nicht ganz rühmlich für Schuhmacher Hegel gewesen und soll für ihn
noch ein polizeiliches Strafmandat wegen nächtlicher Ruhestörung und
Widerstands gegen die Staatsgewalt im Gefolge haben.

Tatsache ist, daß am folgenden Tage die Schuhmacherwerkstatt erst
am späten Nachmittag geöffnet wurde, und das Blau des Himmels sich
auf intensivste Weise in dem einen Auge des Philosophen Hegel
widerspiegelte. --

Mein Kollege Schubert wäre vermutlich zu jeder anderen Zeit über die
Umformung seiner Absichten vom Schlage getroffen worden. Statt des
alten Faustpoeten die ihm verhaßte Marlitt! Aber augenblicklich ist
er in einer so rosigen Stimmung, daß er die ganze Menschheit an seine
Brust drücken möchte. Es ist ihm ja ein großes Glück geworden, -- ihm
ist ein Söhnlein geboren.

Einen anderen Schuster will er sich aber doch nehmen, da er es dem
braven Hegel nicht verzeihen kann, wenn er durch dessen Schuld künftig
in der Marlittstraße wohnen muß.

Übrigens kann er sich darüber beruhigen und ebenso die anderen
Taufgevattern unserer Straße, denn keinem soll es nach Willen gehen,
und das versöhnt ja untereinander. Der hochwohllöbliche Magistrat
von Berlin hat aus eigener Entschließung die Straße mit einem Namen
versehen, der zwar die vom Schuhmacher Hegel verlangte drakonische
Kürze vermissen läßt, aber an sich auch recht hübsch wirkt.

Seit gestern prangen unsere Straßenschilder mit der Bezeichnung:
~Herzog Ernst II. von Sachsen-Koburg-Gotha-Straße~.




                          Wir müssen ziehen.

Schade!

Gerade jetzt, wo die Wohnung überall so hübsch trocken geworden ist!

Na ja, man hätte sich's ja denken können, daß man gesteigert werden
würde.

Aber schade ist's doch!

Wir hatten uns schon so an die Physiognomie der Straße und ihrer
Bewohner gewöhnt. Nun aber, das hilft dann nichts. Zweihundert Mark
mehr zahlen, -- das geht beim besten Willen nicht.

»Ei, Frauchen, du wirst doch nicht Tränen in deine lustigen blauen
Augen hineinlassen! Mir wird's ja auch nicht leicht, aus diesen Räumen
zu scheiden, in denen wir unser Nest gebaut und unser glückliches
Eheleben begonnen haben.«

Und da liegt unser Kleinchen im Bett und schläft sanft und sicher und
weiß nichts von Mietesteigern und Umzug. --

Es ist doch schön, ein Fleckchen Erde so ganz sein eigen nennen zu
können, das heißt -- noch bei ~Leb~zeiten.

Ach, wir modernen Nomaden!

Und ich ziehe meine Frau zu mir heran und sehe trübe mit ihr aus dem
Fenster, an dem gerade eine Schwalbe vorüberflattert, als wenn sie noch
einen Scheidegruß bringen wollte, bevor sie wieder zum Süden zieht.

Wo sie ihr Nest wohl hat? -- Sicher nicht an unserem Hause!

Großstadt und Schwalbennest!

Aber bei uns, im kleinen mecklenburgischen Heimatsstädtchen, ja,
~da~ war die Schwalbe heimisch, da nistete sie an meinem
grünumrankten Vaterhause.

Und ich erzähle meinem Frauchen aus meiner Kindheit, von meinem Vater,
der als Bürgermeisterlein mit seiner zahlreichen Familie friedlich,
wenn auch in wohlbegründeter Einfachheit lebte. Ja, ~der~ hatte
ein Heim, wie ich es mir ersehnte, eine Scholle, die ihm zu eigen
gehörte!

Und ich höre wieder das Windessäuseln in den beiden alten Pappeln, die
vor der Haustür wie zwei mächtige Riesen Wacht hielten, atme den Duft
der Blumen aus meiner Mutter Ziergärtchen und schmecke fast auf der
Zunge die rotbäckigen Borsdorfer, die Malvasierbirnen, die blauen und
gelben Pflaumen, die Erdbeeren und all die anderen Früchte, die unser
schöner, schattiger Garten so mannigfaltig bot. Ach, und du fröhlicher
gefiederter Sängerchor!

Wie herrlich war's im Elternhaus, und mein Vater war der glückliche
Mann, der in diesem Paradiese, weit ab vom Weltgetriebe, als Herr und
Gebieter hauste.

Welche Ruhe, welch Glück, welch tiefer Frieden über dem Bilde!

Wie goldener Sonnenstrahl zieht es an meinem Geiste vorüber und macht
mein Herz in Sehnsucht schwellen.

Und seltsam! Mein Vater wiederum sehnte sich hinaus aus dem Frieden
und empfand wie Fesseln die kleinen Verhältnisse, die ihn an die
Scholle bannten. Still für sich trug er die Sehnsucht nach dem
Weltgetriebe, und pochenden Herzens verfolgte er die Zeitläufe, wie
sie sich besonders in der Hauptstadt schnell und aufregend abspielten,
während zu unserem Erdenfleckchen nur langsam diese und jene unruhvolle
Kunde drang, so wie in geschützter Bucht kaum leichter Schaum von der
scharfen Brandung eines aufgepeitschten Sees zeugt.

Und jene Hoffnung, doch noch einmal nach der Residenz versetzt zu
werden, hielt ihn jung und jugendfrisch. Aber dann wurden seine
Wünsche ruhiger und immer ruhiger, -- bis sie ihn hinaustrugen aus dem
Hause, an den treuen, hohen Pappeln vorüber, von denen er sich oft
hinweggesehnt hatte nach dem herzlosen kalten Häusermeer. -- --

Und ~mich~ hat das Geschick nach der Großstadt geweht, und ich
sehne mich nach dem Rauschen der alten Bäume und habe Heimweh nach dem
sonnigen Garten meiner Kindheit.

Wenn aber mein Lebensabend herankommt, so will ich ihn in dem
Winkelchen jener kleinen Welt mit meinem tapferen Frauchen verleben und
ausruhen von dem täglichen Kampf ums Dasein. Aber eben darum heißt's
jetzt noch recht kämpfen.

Leicht möglich, daß uns in jener abgeschiedenen Stille dann tiefe
Sehnsucht nach der altgewohnten Großstadt beschleicht, so wie mein
Vater sich wohl gern wieder aus dem verwirrenden Lärm zurückgeflüchtet
hätte in die idyllische Ruhe der kleinen Stadt.

Das Verpflanzen bekommt doch nur den ganz jungen Bäumen. --

Sieh da, unser Visavis, Oberlehrer Schubert, am Fenster, seinem rosigen
Sprößling zunickend, den ihm die junge, glückstrahlende Frau lachend
entgegenhält.

Also wieder wohlauf, Frau Wöchnerin, und so heiter und froh
hinausgeschaut in den linden Septembertag?

»Morgen will ich ihr einen Besuch machen,« sagt meine Frau, nach drüben
hinüberschauend, »denn ihr Männer kennt euch doch nun, da ist's nicht
aufdringlich, wenn ich mich nach ihrem Befinden erkundige und mir das
Kleinchen ansehe. Meinst du nicht auch?« --

Die Schwalben haben ihren Flug längs der Straße aufgegeben und fliegen
nun quer über den Damm, von unserem Fenster zu dem gegenüberliegenden
von Schuberts, hinüber und herüber, leicht an der Mauer emporgleitend
und dann sich sanft wieder senkend, in fortwährendem Wechselspiel, als
wenn sie Grüße bringen und wieder zurücktragen wollten.

Schuberts fällt auch das Spiel der Schwalben auf, und sie blicken
nun zu uns grüßend herüber. Auch das junge Frauchen grüßt
»unbekannterweise« mit Kopfnicken, und als ihr Gatte ihr einige Worte
zuflüstert, da hebt sie mit holdem Erröten ihren kleinen Sprößling hoch
empor, als wenn sie uns ihr junges Glück so recht zeigen wollte.

»Liebchen,« flüsterte ich meiner Frau zu, »erinnerst du dich, wie
wir unser Klein-Mariechen triumphierend den jungen, damals uns ganz
unbekannten Eheleuten zeigten, und wie die junge Frau errötete und ihr
Haupt an der Brust des Mannes barg?«

»Ja, Lothar,« erwidert mein Frauchen leise, »ich weiß es noch sehr
wohl.«

»Auch ihnen ist bald ein holdes Glück erblüht, und hoffentlich scheint
ihnen so hell wie uns eitel Lust und Freude aus den Augen des kleinen
Weltbürgers entgegen. Und nun sieh nur, wie sie den Kleinen dir wieder
zuhält, ja, genau so, wie du unser Klein-Mariechen ihr entgegengehalten
hast. Und wie brennend rot sie damals geworden ist! Ist's nicht so? --
Nicht wahr, Frauchen, ist's nicht so?«

Ich blicke zu meinem Weibe lächelnd und fragend herab, um in ihren
Augen die Antwort zu suchen. Aber sie hat ihr glühendes Antlitz tief an
meiner Brust verborgen und antwortet nicht.

Und es entsteht plötzlich in meiner Seele ein merkwürdiges Klingen
und Singen, und ich halte mein Frauchen fest umschlungen und küsse
andächtig ihren blonden Scheitel. Und der Normaletat, der sich wie ein
dichter, grauer Schleier über die Zukunft senken will, wird von den
Strahlen der Sonne durchbrochen und weicht langsam von hinnen.

»Frauchen,« sage ich nach einer kleinen Weile, »wenn wir nach Friedenau
oder Steglitz hinaus ziehen, so zahlen wir weit weniger Miete und
haben sogar noch etwas von der Natur. Ei, wie ich mich auf solchen
Wohnungswechsel freue!

~Gewiß~ freue ich mich und rede nicht nur so. Du weißt doch, wie
ich die Natur liebe, das Grün der Wiesen und Bäume, die Alleen. Und
~das~ fehlt uns hier doch gänzlich. Und denk' einmal, wenn wir
eine Parterrewohnung mit einem Vorgärtchen bekommen könnten, wo ich
Blumen und Sträucher ziehen würde und du Petersilie.

Wie schön, und welche Ersparnis!

Oder wenn's nicht ~so~ ist, dann doch immerhin ~Aussicht~ auf
Bäume und Gärten. Oder wenn's auch ~das~ nicht ist, so könnten
wir doch uns ein oder zwei Blumenbretter anlegen und darauf deine und
meine Lieblingsblumen ziehen. Hier in Straße 27 wären die nie gediehen.
Und wenn's dann auch vier Treppen hoch sein sollte, so haben wir doch
unsere Blumen vor dem Fenster und sehen wie in einen Garten. Das ist
denn doch schon der Vorgeschmack von unserem einstigen Eden, vom Ziel
meiner Sehnsucht, vom alten grünumwobenen Vaterhaus.

Und dahin wollen wir uns durcharbeiten, langsam, Tag für Tag, froh in
der Arbeit, Frieden im Herzen, bis wir uns durchgerungen haben ~zur
großen Müdigkeit~, die ~erworben~ werden muß, um köstlich zu
erscheinen, die, um willkommen zu sein, uns nicht plötzlich überfallen
darf, sondern zu der wir hinübergleiten wie im seligen Traum.«

»Ach,« seufzt meine Frau liebevoll, »wenn du nur immer ums tägliche
Brot arbeiten mußt und durch die vielen Nachhilfestunden so ganz deiner
literarischen Arbeiten verlustig gehst, wie sollst du da froh und
glücklich aufatmen können! Du wirst es nie verwinden, daß die Not des
täglichen Lebens dich fern hält von deinen Zielen, deinen Liedern,
deinem Trachten. Und nur um des elenden Geldes willen!«

»Schätzchen,« sage ich ruhig und mit stillem Ernst, »ich bin innerlich
so von Herzen zufrieden, und wenn du's auch bist, so braucht es nicht
mehr. Es sind mir auch in letzter Zeit viele, leider zu berechtigte
Zweifel gekommen, ob mein Wollen nicht mein Können weit überragt.
~Doch, doch~, sprich nicht dagegen! Ach, und dich betrübt es
gewiß, wenn ich nicht, wie ich wahrlich selbst geglaubt und dir oft
zugeflüstert habe, im Parnaß meinen Platz suche und finde.«

»Lothar«, meint mein Weib, so recht froh und mit glänzenden Augen mich
anschauend, als wenn ich ihr ein großes Glück verkündet hätte, »Lothar,
ach, ~wenn's~ doch so wäre! Ich habe im geheimen immer Angst
gehabt, daß du mir durch den Ruhm entfremdet werden könntest. Ach,
und nun bleibst du bei mir, auf unserer lieben, lieben, schönen Erde?
Freilich würden wir ja durch deine Werke viel schneller zu Geld und
Macht gelangen. -- Ach, es ist gewiß nur eine vorübergehende Stimmung,
die dich niederdrückt?«

»Nein, nein! Sieh, wenn in den zehn Jahren, seit welchen ich mich
mit meinen ›unsterblichen Werken‹ befasse, nichts, gar nichts bisher
entstanden ist, so habe ich mich doch sicher überschätzt und kann
nur froh sein, wenn ich dies noch erkenne, ehe es zu spät ist. Ja,
~fühlen~ kann ich das Schöne, Gute, Edle in der Brust und mir
auch im Geiste gestalten, und ›das ist ein Gewinn, der niemals uns
entrissen werden kann‹. Aber so gestalten, daß es andere sehen wie ich,
~darstellend schaffen~ -- Frauchen, Frauchen, ich fürchte, ich
wollte über meinen Schatten springen. Viele sind berufen, aber wenige
sind auserwählt. Und ~doch~ sollen einmal meine Lieder erklingen.
Aber dir nur allein! Und du sollst sie mir mit deiner lieben Stimme
vorsingen, und unser Kleinchen soll sie nachsingen in deiner sanften
Weise. Und für diese Köstlichkeit der Gegenwart gebe ich dann allen
Glanz des Nachruhms hin.

Und Geld?!

Viel schneller zu Geld und Macht gelangen, wie du sagst? Ach, mein
kleines, leichtgläubiges, vertrauendes Närrchen! -- Sieh, wenn wir
uns wacker durchkämpfen, Schritt für Schritt, dann erglänzt unser
Lebensabend in so goldigem Schein, daß wir alles ~irdische~ Gold
entbehren können. Und nun fröhlich hineingeschaut in die Welt und mutig
voran!« --

                   *       *       *       *       *

Und als der Frühling wieder ins Land schaut, da räumen wir die Wohnung,
um unseren Nachfolgern Platz zu machen.

Aber wehmütig stimmt es uns doch, aus den vertraut gewordenen Räumen
ausziehen zu müssen. Und heute ist der letzte Tag! -- --

Da klingelt es.

Wer kann uns wohl noch aufsuchen wollen, wo es so unwirtlich überall
aussieht, Koffer und Kisten gepackt sind und ein wildes Chaos in allen
Räumen uns umgibt?

Soso, nur der Postbote ist's.

Aber welch offiziell aussehendes Schreiben mit großem Siegel übergibt
er mir?

»Lothar,« ruft meine Frau in freudiger Erregung, »du sollst sehen,
der letzte Tag in der alten, lieben Wohnung bringt uns noch Glück.
Vielleicht bist du zum Gymnasialdirektor ernannt worden. Man
~kann~ doch gegen deine Vorzüge nicht blind sein!«

»Du Närrchen, du, dazu bin ich noch lange nicht an der Reihe«, meine
ich lächelnd, aber doch auch in einer mir ungewohnten Erregung.

Nein, -- es ist eine Trauerbotschaft vom Gericht. Die alte Tante ist
verstorben, die einzige Verwandte, die ich noch hatte, obwohl ich sie
nicht einmal von Angesicht zu Angesicht kannte.

Meine Frau ist kleinlaut geworden und sieht in ihrer Enttäuschung ganz
blaß aus.

Daß mich die alte Dame, wie das Gericht mitteilt, zum Erben eingesetzt
hat, vermag mein Frauchen nicht freudiger zu stimmen; denn sie weiß
von mir, daß die Tante nur ein kümmerliches Witwengehalt bezog und nur
über ein paar alter gebrechlicher Möbel verfügte, die sicher kaum den
Transport verlohnen würden.

»Aber nein, was ist das? Herrgott, ist's nur möglich?! Weibchen,
Weibchen! Denke nur, die Tante hat auf ihr Lotterielos Nummer 2734
vierzigtausend Mark gewonnen, und die gehören ~uns~ nun.
~Uns!!~ Da soll noch einmal jemand gegen den törichten Aberglauben
reden!«

»Lothar«, sagt mein Frauchen mutwillig und erhebt ihren kleinen
Zeigefinger warnend, während in ihrer Stimme Freude und Glück zittern,
»Lothar, den mittelalterlichen Aberglauben aus dem Herzen der Menschen
auszuroden, soll und muß die hehre, wenn auch unendlich mühevolle
Kulturaufgabe der Schule sein!«

»Schatz,« erwidere ich jubelnd, »in diesem Falle plädiere ich für
mildernde Umstände. Aber wem verdanken wir dieses Glück? Doch unserer
alten, lieben Straße 27 und unserer braven Hausnummer 34. Da wär's
eigentlich recht und billig, wenn ich denen ein kleines literarisches
Denkmal setzte und über ›Siebenundzwanzig-Vierunddreißig‹ ein
Büchelchen schriebe, so wie ich's gerad' kann. Was meinst du?«

»Lothar,« ruft entzückt meine kleine Frau, ihre Arme um meine Schultern
legend, »ach, dann wirst du ~doch~ vielleicht noch berühmt.«

»Berühmt? Ei, ei, so leicht ist das Berühmtwerden nicht. Ich wäre schon
zufrieden, wenn das Publikum wirklich mein Büchlein lesen würde.«

»Du sollst sehen,« sagt mein Frauchen und sieht dabei so
überzeugungsdurchdrungen aus, als wenn sie es schon verbrieft hätte,
»das Publikum ~wird~ dich lesen.« Und dann fügt sie, sich zärtlich
an mich anschmiegend, mit kindlichem Vertrauen hinzu:

                        »Schon ~mir~ zuliebe.«




                           Johannes Trojan,

                 Wie man einen Weinreisenden los wird.

                  Kleine Leiden auf einer Landpartie.

                            Drei Gedichte.


Mit Genehmigung der ~J. G. Cotta~schen Buchhandlung Nachfolger
in ~Stuttgart~ und ~Berlin~: »Wie man einen Weinreisenden
los wird« und »Kleine Leiden auf einer Landpartie« aus »~Johannes
Trojan~, ~Das Wustrower Königsschießen~ u. a. Humoresken«.
Gbd. M. 3,--.

»Männertreue und Weiberkrieg« und »Der Glückstag« aus »~Johannes
Trojan~, ~Gedichte~«. »Der Oberamtsrichter von Neckarsulm« aus
»~Johannes Trojan~, ~Scherzgedichte~«. Gbd. M. 3,50.




                 Wie man einen Weinreisenden los wird.


Manche werden sagen, das sei überhaupt unmöglich, ich weiß aber, daß
es geht, denn ich habe es mit Erfolg probiert. Freilich war ich nicht
unvorbereitet, sondern hatte mir die Sache in Gedanken eingeübt. Die
Firma ~J. G. Pfropfenberg~ & Comp. in Frankfurt a. M. hatte mich
wissen lassen, daß in einigen Tagen ihr Vertreter die Ehre haben würde,
bei mir vorzusprechen und meine Aufträge entgegenzunehmen. Mit einiger
Spannung erwartete ich den jungen Mann.

Er kam, wurde mir gemeldet und in mein Zimmer geführt. Mit dem Ausdruck
lebhafter Freude trat ich ihm entgegen. »Sind Sie endlich da?« rief
ich. »Ich habe Sie mit Ungeduld erwartet. Bitte, nehmen Sie Platz!«
Dieser Empfang schien ihn ein wenig zu wundern, doch mochte er wohl
denken, ich sei in großer Weinnot. Auf meine wiederholte Aufforderung
setzte er sich und begann: »Ich komme im Auftrage des renommierten
Hauses ~Pfropfenberg~ & Comp. in Frankfurt a. M., um Ihnen unsere
edlen, wirklich reingehaltenen und höchst preiswürdigen ...«

»Halt!« fiel ich ihm ins Wort -- »aus Frankfurt a. M. kommen Sie?«

»Jawohl«, erwiderte er.

»Welch eine Stadt!« rief ich entzückt. »Die herrlichen Gebäude, unter
denen der Dom und der Römer in erster Reihe stehen! Die wundervollen
Denkmäler von Goethe und Gutenberg! Das Goethehaus! Der Palmengarten!
Das Ariadneum! Die historischen Erinnerungen an Karl den Großen und den
Bundestag! Und das Wasser! Ich halte den Main für einen der schönsten
Ströme. Nachdem er zusammengeflossen ist aus dem weißen Main, der im
Fichtelgebirge entspringt, und dem roten, der aus dem Rotmainbrunnen im
Westen von Kreusen herkommt, läuft er um den fränkischen Jura herum,
geht er vorbei an Bamberg, Würzburg und Aschaffenburg, endlich an
Frankfurt a. M., um dann bald darauf sich mit donnerartigem Brausen in
den Rhein zu stürzen.«

Die lebhafte Schilderung hatte mich außer Atem gebracht, ich mußte
einen Augenblick anhalten, um Luft zu schöpfen. Aber auch mein
Gegenüber gebrauchte einige Zeit, um sich von dem Eindruck, den mein
Vortrag auf ihn gemacht hatte, zu erholen. So kam ich ihm denn, als er
eben das Wort ergreifen wollte, zuvor.

»Sie sind«, sagte ich »nicht aus Frankfurt a. M. gebürtig?«

»Nein,« entgegnete er, »aus Offenbach. Ich habe die Ehre, Ihnen im ...«

»Aus Offenbach?« fiel ich schnell ein. »Das habe ich mir gleich
gedacht. Sie sind aber gern in Frankfurt, und Ihnen gefällt Ihr Beruf?«

»Im allgemeinen ja. Das Haus Pfropfenberg & Comp., in dessen Auftrag
...«

»Glücklich in Ihrem Beruf!« rief ich, ihm ins Wort fallend. »Wie
selten kann das einer von sich sagen! Die meisten wünschen sich einen
anderen Beruf, als den, welchen sie haben. Der Dichter beneidet den
Seifensieder, der Maler den Klempner, der Musikus den Schankwirt, der
Regierungsrat den Geistlichen, der Bankier den Seemann und so weiter.
Ich selbst -- Sie wissen, daß ich Käfersammler bin -- möchte manchmal
mit dem friedlich und harmlos von seinen Zinsen lebenden Rentier
tauschen.«

Ich war, nachdem ich dies gesagt hatte, so barmherzig, ihm einen
Augenblick Zeit zu lassen, und sofort schoß er los: »Erlauben Sie
mir, mein Herr, daß ich Ihnen im Auftrage der renommierten Firma
Pfropfenberg & Comp. unsere wirklich reingehaltenen ...«

Weiter kam er nicht, denn ich sah ihn plötzlich so fest und scharf
an, daß er unwillkürlich verstummte. »An wen,« sagte ich, indem ich
fortfuhr ihn anzusehen, »an wen erinnern Sie mich doch so lebhaft?«

»Ich weiß es in der Tat nicht«, sagte er verlegen.

»Halt, ich hab's!« rief ich. »Haben Sie Verwandte in Goldap?«

»Nein!« erwiderte er mit Entschiedenheit.

»Wie war doch nur Ihr geehrter Name?« fragte ich.

»~Meyer~ -- ~A. H. Meyer~!«

»Sonderbar!« rief ich, »auch die Namen stimmen. Ich lernte vor nun bald
siebzehn Jahren, als geschäftliche Angelegenheiten mich nach Goldap
führten, dort einen Herrn ~Meyer~ kennen, dem Sie sehr ähnlich
sehen, und ich hätte darauf schwören mögen, daß er mit Ihnen verwandt
sei, vielleicht ein Onkel von mütterlicher Seite. Also Sie stehen in
keinem Verwandtschaftsverhältnis zu diesem Herrn? Sehr auffallend,
besonders da auch der Name zutrifft. Dieser ~Meyer~ war
Holzhändler und damals ein angehender Sechziger. Seine Frau war eine --
warten Sie einmal -- richtig! eine geborene ~Kloppfleisch~. Ein
prächtiger Kerl war er und ein schneidiger Geschäftsmann. Unterdessen
ist er auch natürlich älter geworden.«

Während ich so sprach, war er sehr unruhig geworden, wie ich an den
eigentümlichen Bewegungen seiner Füße merkte. »Erlauben Sie mir --«
begann er noch einmal.

»Noch eine Frage!« unterbrach ich ihn. »Leben Ihre Eltern noch?«

»Ja!« stöhnte er.

»Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Es ist ein nicht gewöhnliches
Glück, in Ihren Jahren noch beide Eltern am Leben zu haben. Darf ich
mich weiter erkundigen, ob auch Ihre Großeltern noch leben?«

Ganz rot im Gesicht, war er aufgesprungen. »Ich muß mich« -- rief er
mit vor Ärger halb erstickter Stimme -- »ich muß mich Ihnen empfehlen.
Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen und ...«

»Sie wollen schon gehen?« rief ich. »Darf ich Ihnen nicht ein Glas Wein
anbieten? Es ist zwar nur Kutscher und etwas säuerlich, aber durchaus
rein und sehr gesund. Meine Frau würde sich freuen, wenn ich Sie ihr
vorstellte.«

»Es tut mir leid,« schrie er, »aber ich habe keinen Augenblick Zeit.
Wenn Sie einen Auftrag ...«

»O gewiß habe ich einen Auftrag. Wenn Sie das schöne Frankfurt
wiedersehen, grüßen Sie es tausendmal von mir. Aber ich hoffe, daß wir
uns hier noch sehen werden, beim Weihenstephan oder auf der Siegessäule
oder ...«

Er war schon draußen. »Herr Meyer! Herr Meyer!« rief ich, mich über das
Treppengeländer beugend. Er hörte nicht darauf. Schnell stürzte ich
in mein Zimmer zurück, riß das Fenster auf und schrie auf die Straße
hinunter: »Herr Meyer! Wenn Sie einmal nach Goldap kommen sollten ...«

Er wandte sich nicht mehr um, sondern lief unaufhaltsam dem nächsten
Halteplatz für Droschken zu.

Ob er wohl wiederkommen wird?




                  Kleine Leiden auf einer Landpartie.


Nein, meine Herren! pflegte der Doktor Sauerwein auszurufen, wenn
die Rede auf Landpartien kam -- nein! über diese Vergnügungen bin
ich hinaus für immer. Ich weiß ja nicht, meine Herren, was Sie unter
Landpartien verstehen, meinen Sie aber einen Ausflug in Begleitung von
Damen zu Wagen oder auf der Eisenbahn, an den sich ein Spaziergang
in einen Forst oder in eine Heide, meinetwegen mit Feueranmachen
und Kaffeekochen anschließt, dann muß ich gestehen, daß derartige
Vergnügungen sich für Leute von meinem Naturell durchaus nicht eignen.

Es liegt an mir, ich weiß es. Mir fehlt vor allem die notwendige
Geistesgegenwart, Besonnenheit und Erfindungsgabe.

Was soll zum Beispiel geschehen, wenn der rechte Schuh einer jungen
Dame an einer morastigen Stelle des Weges stecken geblieben und
versunken ist? Die junge Dame steht nun auf dem linken Fuße. Lange kann
sie so nicht stehen, also sagen Sie mir schnell: was soll geschehen?
Sie wissen es nicht? Natürlich! Ich habe diese Frage Leuten vorgelegt,
die durchaus nicht auf den Kopf gefallen waren, und habe doch keine
einzige befriedigende Antwort darauf erhalten. Der eine wollte einen
Notschuh aus Baumrinde zimmern, ein zweiter schlug eine Tragbahre von
jungen Baumstämmen vor, ein dritter meinte, man müsse für solche Fälle
auf jeder Landpartie einen eleganten zweirädrigen Karren mit sich
führen. Ein grausamer Barbar endlich -- ich verschweige seinen Namen,
obgleich er es verdient, daß ich ihn an den Pranger stelle -- gab den
Rat, man solle die junge Dame stehen lassen und ruhig weiter gehen, sie
werde schon von selbst nachgehüpft kommen!

Ist Ihnen das noch nicht genug? Gut! so will ich Ihnen die Geschichte
meiner letzten Landpartie erzählen.

Ich machte diese Landpartie mit der liebenswürdigen Familie Krusius.
Da war also Steuerrat Krusius, seine Frau, die beiden Töchter, Minna
und Elvira, und die Tante Sophie. Dazu kam Herr Knoppermann vom
Gericht, ein alter Hausfreund, und der junge Nathanael Semmlein, ein
Studiosus der Theologie und an die Familie empfohlen. Der achte war
ich und der neunte -- doch halt! Der fand sich erst unterwegs ein. Es
war beschlossen, mit der Bahn bis zur Station Dingelfeld zu fahren,
hinter welcher sich eine sehr romantische Wald-, Sand- und Moorgegend
ausbreiten sollte.

Wir nahmen im »Blauen Löwen« ein ländliches Mahl ein, und als dann
auch der Kaffee vorüber war, und der Steuerrat sein Mittagsschläfchen
absolviert hatte, wurde der übliche Spaziergang »in die Fichten«
angetreten.

In den Fichten war es, wie es dort häufig zu sein pflegt, sehr
romantisch, sehr heiß und sehr belebt von ausgezeichnet großen Ameisen.
Als wir nun ein Stück gegangen waren und um eine Waldecke bogen, bot
sich uns ein eigentümliches Schauspiel dar. Am Waldessaume stand eine
große Kiefer und unter der Kiefer stand ein Invalide, augenscheinlich
seines Zeichens ein Feldhüter, während ein großer Hund mit wütendem
Gebell um den Baum herumsprang. Oben aber, auf einem Aste des Baumes
saß ein junger Mann, der eine grüne Pflanzenkapsel an einem Riemen über
der Schulter trug, und zwischen dem jungen Manne oben und dem Alten
unten fand folgendes Wechselgespräch statt.

»Den Augenblick kommen Sie herunter!« rief der Alte.

»Ich bin noch immer nicht von der Notwendigkeit überzeugt!« schallte es
von oben.

»Meinetwegen bleiben Sie oben!« hob der Feldhüter wieder an. »Werfen
Sie gefälligst die fünfzehn Groschen herunter, dann will ich gehen.«

»Was für ein närrischer Kauz sind Sie doch!« rief der Botaniker
herunter. »Denken Sie, das Geld wächst hier oben auf dem Baume?
Oder meinen Sie, daß jemand so einfältig sein wird, auf eine
wissenschaftliche Landpartie sein Vermögen mitzunehmen? Ich kann es
mir gar nicht vorstellen, wie man dazu kommen kann, im Walde Geld
auszugeben. Ist es etwa gebräuchlich, daß die Vögel, wenn sie ein Stück
gesungen haben, mit dem Teller umhergehen? Oder ist es erhört, daß
man für das Hundert Brombeeren oder Haselnüsse, die man frischweg vom
Busche verzehrt, auch nur einen Pfennig bezahlt?«

Unterdessen waren wir näher getreten und erkundigten uns bei dem Alten,
um was es sich handle. Er erzählte uns, daß er den Botaniker auf der
an das Gehölz stoßenden Wiese, die zu betreten streng verboten sei,
betroffen habe. Als der junge Mann seiner ansichtig wurde, sei er
ausgerissen und habe sich auf diese Kiefer geflüchtet. Jetzt solle er
entweder festgenommen werden oder fünfzehn Groschen Strafgeld erlegen.

Wer weiß, wie lange der Botaniker noch oben hätte sitzen müssen, wenn
nicht der Steuerrat und der alte Knoppermann den Invaliden vorgenommen
und ein vernünftiges Wort mit ihm gesprochen hätten. Einem vernünftigen
Worte, wenn es durch Geld und Zigarren unterstützt wird, kann auch der
zornigste Feldhüter auf die Dauer nicht widerstehen, und so kam es
denn, daß der Alte, nachdem er noch dem Botaniker mit dem Wiedertreffen
»draußen im Freien« gedroht hatte, mit seinem Hunde den Rückzug antrat.
Als die beiden alten Herren diesen Akt der Menschlichkeit vollzogen
hatten, ersuchten sie den Naturforscher, herunterzusteigen und sich der
Gesellschaft anzuschließen.

Den jungen Damen schien der Zuwachs zu unserer Gesellschaft nicht
unlieb zu sein. Im Umsehen waren sie schon mit dem Botaniker in einem
eifrigen Gespräche über die einheimische Flora begriffen, wobei ich
den Verdacht nicht unterdrücken konnte, daß ein großer Teil der
lateinischen Pflanzennamen, die er den jungen Damen auftischte,
vollständig ausgedacht und erlogen war.

Ich ging an der Seite der Tante Sophie, die mir erzählte, daß sie
einmal in einer ähnlichen Gegend und an einem ähnlichen Tage Gott weiß
was erlebt habe. Ich war viel zu ärgerlich, um ordentlich hinzuhören.
Zu großer Freude gereichte es mir, als der Steuerrat den Vorschlag
machte, sich an einem hübschen Punkte niederzulassen und einen Imbiß
zu nehmen. »Unser neuer Freund«, sagte er, »wird sicherlich in der
Nähe einen dazu passenden Ort wissen.« Da hätten Sie sehen sollen, wie
die Augen des jungen Mannes aufleuchteten und mit welcher Eilfertigkeit
er uns nach einem geeigneten Plätzchen hinführte.

Nachdem auf Wunsch der Damen eine genaue Inspektion des Terrains
vorgenommen war und dasselbe sich als ziemlich ameisenfrei und
spinnensicher erwiesen hatte, lagerten wir uns ins Grüne und begannen
die mitgenommenen Vorräte auszupacken. Das Plätzchen war allerdings
recht artig auf einem Hügel am Rande des Waldes gelegen. Vor uns
öffnete sich ein kleines Tal, in dem mehrere Bürgerfamilien, die
gleich uns mit der Bahn gekommen waren, sich am Ringelspiel, Tanz und
anderen ländlichen Vergnügungen erfreuten. Der Anblick war allerliebst.
Munteres Gelächter und Geschrei schallte zu uns herauf. Wir unserseits
waren auch in der besten Stimmung. Die Flasche ging von Hand zu
Hand, und der Botaniker sprach unserem kalten Braten und unserem
Weine mit einem Appetit zu, der bei seinen Grundsätzen in bezug auf
das Mitnehmen von Geld und in Anbetracht, daß die Jahreszeit reife
Brombeeren und Haselnüsse noch nicht darbot, nichts Erstaunliches
hatte. Der Jubel erreichte den höchsten Grad, als der Steuerrat mit dem
alten Knoppermann und dem Botaniker ein Lied anstimmte, in dem zum
großen Verdruß des Theologen das Räuberleben als die einzig passende
Beschäftigung für lebenslustige und poetisch gesinnte Leute nach allen
Richtungen hin gepriesen wurde.

Ein Stündchen mochten wir so in der besten Laune zugebracht haben,
als der Steuerrat bemerkte, daß es nun wohl an der Zeit sei, nach
Dingelfeld zurückzukehren, wenn wir nicht den Abendzug versäumen
wollten. »Ich möchte Ihnen«, sagte der Botaniker, »einen anderen
Vorschlag machen. Es führt von hier aus ein sehr romantischer Weg über
Kuckucksweiler und Amselhagen nach der Bahnstation ...«

»Ich fürchte nur,« fiel ihm der Steuerrat ins Wort, »es wird zu weit
sein.«

»Durchaus nicht,« entgegnete unser Gast. »Warten Sie -- bis
Kuckucksweiler haben wir zwanzig Minuten, von da bis Amselhagen
höchstens fünfzehn und von Amselhagen nach Dingelfeld wieder zwanzig.
Das macht zusammen noch keine Stunde.«

»Wissen Sie aber auch den Weg genau?« fragte der Steuerrat.

»Ich?« entgegnete der Botaniker. »Ich? Auf fünf Meilen im Umkreise will
ich hier jedem Vogel, der sich etwa verflogen hat, sagen, wo sein Nest
ist. Wenn Sie es verlangen, will ich Ihnen einen Adreßkalender der in
hiesiger Gegend seßhaften Eichhörnchen schreiben.«

Die Damen stimmten sämtlich für den »romantischen« Weg, und so brachen
wir denn auf, voran ging der Botaniker mit den jungen Mädchen.

Es scheint mir nun, daß über dasjenige, was romantisch zu nennen ist,
sehr verschiedene Ansichten unter den Leuten existieren müssen. Wenn
es zum Romantischen gehört, öde, unbequem und gefährlich zu sein, so
war der Weg, den wir nunmehr machten, in der Tat sehr romantisch. Ich
erwähne nur, daß wir nacheinander ein Wildgatter, zwei Schluchten,
einen steglosen Bach -- den die Damen auf hineingelegten Steinen
überschreiten mußten -- und einen Bruchacker zu passieren hatten.
Eine gute Stunde waren wir so fortgegangen ohne einem menschlichen
Wesen zu begegnen, und es fing bereits an dunkel zu werden. Da sah der
Steuerrat nach der Uhr, und sich zu unserem Führer wendend, bemerkte
er: »Es scheint mir, mein Freund, als müßten wir doch schon lange über
Kuckucksweiler wenigstens hinaus sein.«

»Es ist mir auch unbegreiflich,« entgegnete der Angeredete, »daß wir
noch nicht am Ziele sind; indessen bin ich überzeugt davon, daß wir an
der nächsten Ecke den Kirchturm von Kuckucksweiler erblicken werden.«

Wir waren über die nächste Ecke hinaus, aber nichts, was einer
menschlichen Behausung ähnlich sah, ließ sich entdecken. Das Terrain
fing an unheimlich zu werden. Die Bäume wurden seltener und kleiner,
und endlich breitete sich vor uns eine mit spärlichem Gestrüpp bedeckte
Ebene aus, über der ein höchst verdächtiger Nebel lag.

Da bemerkte ich plötzlich, daß der Boden unter meinen Füßen zitterte
und schwankte. Ich hatte das Gefühl, als ob ich auf Gummi oder
Guttapercha träte. In demselben Augenblick mochten die anderen dieselbe
Wahrnehmung machen. Wir blieben sämtlich stehen und sahen den Botaniker
fragend an.

»Ich fürchte,« begann derselbe ziemlich kleinlaut, »daß wir uns etwas
mehr rechts hätten halten sollen. Wir sind hier in ein kleines Luch
oder Torfmoor geraten. Der nächste Weg würde nun allerdings quer durch
das Luch führen, und solange wir uns nur in der Nähe der kleinen
Gebüsche halten, ist meiner Ansicht nach die Gefahr des Versinkens eine
sehr geringe. Besonders finster wird es nicht werden, da wir einerseits
Mondschein haben, anderseits auch bald die Irrlichter aufgehen müssen.«

Das war uns zu stark. Den Damen kam das Weinen nahe, und wir allgesamt
erklärten, daß wir lieber die Nacht unter freiem Himmel zubringen, als
noch einen Schritt weiter in den abscheulichen Sumpf wagen wollten.

»Gut«, sagte der Botaniker, »dann ist es das beste, daß wir rechts
abbiegen.«

Was war zu tun? Nach kurzer Beratung bogen wir rechts ab, obgleich dort
ein eigentlicher Weg nicht vorhanden war. Nachdem wir uns eine tüchtige
Strecke durch Dickicht und Dornen durchgeschlagen hatten, bemerkten wir
in unserer Nähe Gebäude. Es wurde ausgemacht, daß die Gesellschaft, wo
sie eben stand, warten sollte; ich aber und der Botaniker, wir sollten
versuchen, eines Menschen habhaft zu werden, der uns zurecht wiese.
Gesagt, getan! Wir näherten uns den Häusern und gelangten an einen
kleinen Gartenzaun, den wir überstiegen. Wir riefen zu wiederholten
Malen, ohne Antwort zu erhalten. Wir marschierten weiter. Ich ging
voran, dem Hause zu, während mein Begleiter um ein weniges zurückblieb.
Plötzlich hörte ich, wie er einen Freudenruf ausstieß.

»Was haben Sie?« fragte ich. »Ach, Stachelbeeren!« antwortete er.
»Kommen Sie! Hier sind genug für uns beide.«

»Ei, zum --« wollte ich ausrufen, in demselben Augenblicke aber fühlte
ich, daß über meinem rechten Fuße etwas zusammenschnappte und daß
derselbe auf höchst schmerzhafte Weise eingeklemmt war. Auf mein
Geschrei sprang der Botaniker hinter dem Busch hervor. »Kommen Sie!
helfen Sie mir!« rief ich. »Ich bin im Fuchseisen gefangen!«

Auf mein Geschrei erschien an den Fenstern des Hauses Licht; wir hörten
Stimmen, Hundegebell, und alsbald näherte sich mir vom Hause her ein
Trupp Menschen. Voran schritt ein grimmig aussehender Mann, der in der
einen Hand eine Laterne und in der anderen eine Flinte trug. Ihm folgte
eine Anzahl von Knechten, welche mit Heugabeln, Ästen, Zaunlatten und
anderen lebensgefährlichen Werkzeugen bewaffnet waren. »Hurra!« rief
der Grimmige, indem er mir seine Laterne vors Gesicht hielt, »da haben
wir endlich den Spitzbuben gefangen!«

»Hurra!« riefen die anderen und schwangen ihre Waffen.

Ich hatte nun bald heraus, daß man auf einen Obst- oder Blumendieb
gefahndet hatte und daß für diesen das Fuchseisen, in welchem ich
festsaß, bestimmt gewesen war. Natürlich hielt man mich für den
Schuldigen, und augenscheinlich sollte an mir Lynchjustiz geübt
werden. Ich wäre verloren gewesen, wenn nicht im rechten Augenblicke
die Gesellschaft erschienen wäre und sich ins Mittel gelegt hätte. Es
war aber schwer, dem Grimmigen begreiflich zu machen, daß ich nicht
der Spitzbube sei und daß ich seinen Garten nur betreten habe, um
mich nach der Lage von Kuckucksweiler zu erkundigen. Er behauptete,
das sei eine leere Ausrede und es gäbe überhaupt keinen Ort namens
Kuckucksweiler. Nur auf flehentliches Bitten der Damen entschloß
er sich dazu, meinen Fuß aus dem Eisen zu lösen. Als er zu diesem
Behuf den Boden beleuchtete, fielen seine Blicke auf ein in der
Nähe befindliches Nelkenbeet, das arg zertreten und verwüstet war.
Ohne Zweifel rührte diese Verwüstung von dem Botaniker her, welcher
inzwischen die Flucht ergriffen haben mußte, denn wir sahen uns
vergeblich nach ihm um. Meine Vermutung, daß er während der ganzen
Dauer der Verhandlungen hinter den Stachelbeeren steckte, hat sich
nachher bestätigt.

Was half's, daß ich meine Unschuld beteuerte! Der Grimmige erlöste mich
nicht eher aus dem Eisen, als bis ich den ganzen Schaden, den er in der
Geschwindigkeit auf sieben Mark und fünfundzwanzig Pfennig abschätzte,
bezahlt hatte. Unter Schimpfreden und Hohngelächter wurden wir dann aus
dem Garten hinausgeleitet. Kaum erreichten wir es, daß uns der Weg nach
dem nächsten Wirtshause gezeigt wurde.

Eben hatten wir den ungastlichen Ort verlassen, als der Mond sich
mit Wolken bezog und es anfing zu regnen! Das fehlte noch zu unserem
Unglück! Schrecklich tönte durch die Stille der Nacht das Jammern und
Klagen der Damen. Der Regen wurde stärker, und schon ganz durchnäßt
waren wir, als wir in dem bezeichneten Wirtshause, einer elenden
Fuhrmannsschenke, anlangten.

Da saßen wir nun, eine verunglückte Landpartie, in der niedrigen,
dumpfigen Gaststube. »Herr Gott! wo ist Knoppermann?« rief plötzlich
der Steuerrat. Es wurde im Hause nach ihm gesucht, er war nicht zu
finden. Nun fiel es uns allen ein, daß wir ihn schon seit längerer Zeit
nicht mehr unter uns bemerkt hatten. »Wo kann er nur geblieben sein?«
sagte der Steuerrat.

»Das will ich euch sagen,« erklang aus dem Hintergrunde die harte
Stimme der Tante, »er wird mit dem Kopfe nach unten im Sumpfe stecken.«

»Ich wollte es nicht zuerst aussprechen,« nahm die Steuerrätin das
Wort, »aber ich fürchte sehr, daß er in der Tat versunken ist.«

Kaum hatte sie das gesagt, als die Tante, welche vermutlich noch
Absichten auf Knoppermann hatte, in lautes Weinen ausbrach.

»O, es ist entsetzlich«, jammerten die jungen Damen.

»O, Sie Unglücksvogel!« rief der Steuerrat, indem er auf den Botaniker
zutrat und ihn an den Schultern faßte, »was haben Sie angerichtet!
Schaffen Sie uns Knoppermann wieder! Sagen Sie uns, was wir tun
sollen!«

Es wurde beschlossen, das Moor mit Laternen zu durchsuchen, und die
Expedition sollte eben ins Werk gesetzt werden, als die Tür sich
öffnete und der Vermißte eintrat, oder vielmehr von einem alten
Reisigweiblein, welches hinter ihm kam, in die Stube geschoben wurde.
Er war das Bild des Jammers, ohne Hut, ohne Stock, vom Regen durchnäßt,
von Dornen zerzaust, über und über mit Fichtennadeln garniert.

»Gott sei Dank, daß Sie da sind!« riefen wir wie aus einem Munde.

»Also das Herrlein gehört zu Ihnen?« schmunzelte die Alte.

Anfangs war der arme Knoppermann unfähig zu sprechen. Nachdem er sich
durch ein Glas heißen Getränkes gestärkt hatte, erzählte er uns, daß
er, vor Ermüdung zurückgeblieben, die Gesellschaft verloren hätte.
Dann hätte er gerufen, niemand hätte geantwortet. Dann wäre er Hals
über Kopf einen Abhang hinabgerollt, von einem Baum zum anderen
geschleudert worden und unten bewußtlos liegen geblieben. Dort hätte
das Waldweiblein ihn gefunden, durch anhaltendes Schütteln ins Leben
zurückgerufen und glücklich hierher geleitet. »Meinen Hut und Stock«,
schloß er, »scheine ich verloren zu haben. Auch ist es mir so, als
hätte ich vorher einen Paletot über dem Arm getragen. Ich weiß nicht,
ob es der rechte oder der linke Arm gewesen; jetzt aber bemerke ich
ihn auf keinem meiner beiden Arme.«

»Lassen Sie uns froh sein,« sagte der Steuerrat, »daß Sie selbst sich
wiedergefunden haben. Was Ihre Sachen betrifft,« fügte er mit einem
strengen Blick auf den Botaniker hinzu, »so werden dieselben sich
möglicherweise in Kuckucksweiler oder in Amselhagen wiederfinden.«

Das war am Ende auch der beste Trost. Unterdessen hatte der Regen ein
wenig nachgelassen, und nachdem wir die Alte belohnt und vom Wirt eine
Mütze und einen Schal für Knoppermann geborgt hatten, machten wir uns
auf den Weg nach der Bahnstation.

Wir waren sämtlich in der schlechtesten Stimmung, und keiner von uns
hatte Lust ein Wort zu sprechen. Der Botaniker ging neben mir. Er hatte
die ganze Botanisiertrommel voll gestohlener Stachelbeeren und aß nun
eine nach der anderen. Da sie sämtlich noch unreif waren, so gab es, so
oft er ein Beerchen zerbiß, einen kleinen Krach, wie beim Nüsseknacken.

Wir trafen noch gerade zur rechten Zeit in Dingelfeld ein, um einen
Nachtzug zur Heimfahrt benutzen zu können. Todmüde, verstört, mit
ruinierten Kleidern und in der elendesten Gemütsverfassung langten wir
zu Hause an.

Vier Wochen lang lag ich zu Bett, acht Wochen ging ich am Stock, ein
ganzes Jahr lang blieb ich ein Hinkefuß.

Dies, meine Herren, war meine letzte Landpartie. Lassen Sie sich diese
Geschichte zur Warnung dienen. Ich weiß, Sie tun es doch nicht, Sie
werden sich wieder verleiten lassen. Dann bitte ich Sie nur um eines.
Sollten Sie irgendwo auf einer Landpartie unseren jungen Freund, den
Botaniker, treffen, und er sitzt wieder in einer Kiefer -- lassen Sie
ihn doch ja in der Kiefer sitzen!




                     Männertreue und Weiberkrieg.

              +Veronica chamaedrys+ und +Ononis spinosa+.


          ~Die Frau spricht~:

  Es ist ein Kräutlein, heißt Männertreu,
  In jedem Frühling blüht es aufs neu.
  Am Waldrand steht es und auf der Au
  Und Blumen trägt es, anmutig blau.
  Doch pflückst davon du dir einen Strauß,
  Nicht eine Blume bringst du nach Haus.
  Herunter fallen sie gar geschwind,
  Schon unterwegs weht sie ab der Wind.
  Des Kräutleins Name, der ist nicht schlecht,
  Und seinen Namen trägt es mit Recht.
  Den Männern sag' ich es ins Gesicht:
  ~So sind sie alle -- nur meiner nicht!~




          ~Der Mann spricht~:

  Ein Kräutlein ist Weiberkrieg genannt,
  Das wächst auf Anger und Heideland.
  Da siehst du blühen es weit und breit
  Schön weiß und rot um die Sommerszeit.
  Doch will ich raten dir: Laß es stehn!
  Mit hundert Häkchen ist es versehn,
  Verletzt die Hände dir, hemmt den Schritt,
  Viel Ärger hast du und Not damit.
  Das ist so recht ja der Weiber Art,
  Ob sie auch lieblich sonst sind und zart,
  Sie sind ein Kräutlein, das kratzt und sticht.
  ~So sind sie alle -- nur meines nicht!~




    Der Glückstag.


  Ich war am Morgen
  So frohen Mutes,
  Als müßt' begegnen
  Mir etwas Gutes.
  Wohlan, es komme
  Das Glück gegangen!
  Bereit hier sitz' ich,
  Es zu empfangen.

  Da kam ein Brief,
  Den die Post mir brachte,

  Ich brach ihn auf, sah
  Hinein und lachte.
  Logierbesuch will
  Ins Haus mir kommen:
  Sei er mit Jubel
  Denn aufgenommen!

  Drauf kam ein Mann, um
  Von mir zu borgen,
  Obwohl ich selbst war
  Bedrängt von Sorgen.
  Daß er auf mich sein
  Vertrauen setzte,
  Rührt' mich, ich gab ihm
  Sorglos das Letzte.

  Nun eine Zeitung
  Nahm in die Hand ich,
  Darin auf mich was
  Geschrieben fand ich,
  Was Böses, Arges.
  Wie das mich freute!
  Seht, so beachten mich
  Doch die Leute!

  Ich war noch immer
  Bei frohem Mute,

  Als müßte kommen
  Noch andres Gute.
  Um mehr des Glückes
  Noch zu empfangen,
  Bin aus dem Haus ich
  Hinausgegangen.

  Da überfiel mich
  Mit Donnerschlägen,
  Mich Unbeschirmten,
  Ein heft'ger Regen.
  Dem Himmel dankt' ich,
  Daß er uns schenkte
  Willkommenes Naß
  Und die Saaten tränkte.

  Von einem Fenster-
  Brett fiel ein bunter
  Tontopf mit Nelken
  Auf mich herunter.
  Doch meinen Hut nur
  Hat er zertrümmert,
  Heil blieb ich selber
  Und unbekümmert.

  Nach Hause eilt' ich,
  Da sah ich jagen

  Scharf um die Ecke
  'nen Schlächterwagen.
  Zu Boden riß er
  Mich freilich nieder,
  Doch kaum verletzt sprang
  Empor ich wieder.

  Allmählich wurde
  Der Himmel heller;
  Nach Hause hinkt' ich,
  Stieg in den Keller,
  Holt' eine Flasche
  Mit gutem Weine.
  Wohl mir, ich hatte
  Just noch die eine.

  Zusammen rief ich
  Darauf die Meinen,
  Mit mir im Jubel
  Sich zu vereinen.
  Kommt her und trinket,
  Seid frohen Mutes!
  Mir ist begegnet heut
  So viel Gutes.




                  Der Oberamtsrichter von Neckarsulm.

(Der Mann, von dem dieses Gedicht handelt, ist der vor einigen Jahren
verstorbene Oberamtsrichter Ganzhorn von Neckarsulm. Das Abenteuer
bestand er, als er auf einer Wanderung nach Aßmannshausen kam.)


  Das war ein kernfest tüchtiger Mann,
  Von dem man Bestes melden kann,
  Von Gliedern stark, an Geist gesund,
  Was Zier des Manns ist, war ihm kund.
  In mancher Kunst war er geübt,
  Und ob's noch solche Zecher gibt,
  Wie er war -- zweifelhaft ist das!
  Er saß so fest beim Römerglas,
  Er war von echter deutscher Art,
  So mild und doch wie Stahl so hart,
  ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.

  Einst kam er wandernd an den Rhein,
  Der war beglänzt von hellem Schein,
  Von untergehnder Sonne Glut.
  »Fürwahr, ein Bad wär' gar zu gut!
  Es kann ja gar so schlimm nicht sein,
  Heut noch zu schwimmen durch den Rhein
  Und wieder hier ans Land zurück --
  Das nenn' ich noch kein Wagestück!«
  Die Kleider wirft er ab sogleich

  Und birgt sie unter dem Gesträuch,
  Drauf in den Strom wirft er sich kühn,
  Der faßt mit starken Armen ihn.
  Er regt die Glieder frisch und keck,
  Kommt anfangs auch recht gut vom Fleck;
  Doch mählich wächst des Stromes Kraft,
  Gewaltig wird er, riesenhaft,
  Kämpft mit dem Mann und reißt ihn mit,
  Hinunter wohl manch hundert Schritt;
  Der wehrt sich auch, so gut er kann:
  So kämpfen beide, Strom und Mann,
  Und miteinander ringen sie,
  Bis daß zuletzt mit vieler Müh'
  Das andre Ufer er erreicht,
  Der Mann. »Das war, bei Gott, nicht leicht!
  Ich traf den Rhein nicht häufig so.«
  Er spricht es, seiner Landung froh,
  ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.

  Da steht er nun am Uferrand,
  Die Gegend ist ihm nicht bekannt.
  Schon dunkel ist's, er nackt und bloß!
  Traun, die Verlegenheit ist groß.
  Zurück zu schwimmen durch den Rhein,
  Darauf lass' sich ein andrer ein!
  Er spürt, er weiß, das wär' nicht gut,
  Ob's ihm auch sonst nicht fehlt an Mut.

  Die Kleider drüben und der Fluß
  Dazwischen -- o welch ein Verdruß!
  Wohin jetzt lenkt er seinen Lauf?
  Wer nimmt den neuen Adam auf?
  Da sieht ein Licht er gar nicht weit,
  Schleicht unterm Schirm der Dunkelheit
  Hinan sich. »Ha, ein Wirtshaus! Dort
  Helf' ich mir jetzt schon weiter fort.«
  Er lauscht. »Horch! Heller Gläserklang!
  Jetzt unverzagt! Jetzt nur nicht bang!«
  Ein wenig öffnet er die Tür
  Und ruft: »Ein Mann in Not ist hier!
  Reicht, Freunde, mir, ich bitt' euch sehr,
  Ein Bettuch oder Tischtuch her!
  Das reicht zu meiner Rettung hin.
  Habt keine Furcht vor mir, ich bin
  ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.«

  Das Linnen wird ihm hingereicht,
  Er hüllt sich ein darin -- nun gleicht
  Er einem alten Römer fast.
  Ins Zimmer tritt der werte Gast:
  »Ihr Herrn, die ihr da sitzt beim Wein,
  Verzeiht, daß ich so spät erschein'
  Und in so seltsamem Kostüm!
  Das macht des Rheines Ungestüm,
  Der her mich ließ, doch nicht zurück.

  Ein Licht erblickt' ich hier zum Glück
  Und lenkte zu ihm meinen Schritt.
  Wenn ihr's erlaubt, zech' ich jetzt mit.
  Mich hat das Schwimmen müd' gemacht,
  Mich überkam dabei die Nacht,
  Nun schaudert mich bis tief ins Mark.
  Wein her! Wein her! Mein Durst ist stark.«
  Da stehn sie all ehrfürchtig auf,
  Platz machend ihm. Der Wirt darauf
  Bringt ihm den Wein und füllt sein Glas:
  »Trinkt, lieber Herr! Wohl tu' Euch das!«
  Er hebt das Glas und leert's und spricht:
  »Der Rhein meint's doch so übel nicht,
  Daß er mich warf an diesen Strand!
  Hier fühl' ich mich in guter Hand;
  Der Ort gefällt mir und der Wein.«
  Er spricht's und schenkt sich fröhlich ein,
  ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.

  Da fiel beim Trunk manches gutes Wort,
  Denn wackere Zecher saßen dort.
  Der Wirt bedient mit allem Fleiß,
  Daß von der Stirn ihm troff der Schweiß.
  Sein Amt ihm harte Arbeit schuf,
  Denn unaufhörlich scholl der Ruf
  Von irgendeiner Seite her:
  »Wein her! Wein her! Ich hab' nichts mehr.«

  Als spät es ward, nach alter Sitt'
  Man zu den bessern Sorten schritt,
  Von Jahrgang sich zu Jahrgang schwang
  Bis zu dem Wein von erstem Rang.
  Da funkeln Augen, Wangen glühn,
  Weinrosen purpurrot erblühn.
  Nun sitzt erst da voll Herrlichkeit
  Der Mann im weißen Römerkleid.
  Vor sich die Flaschenburg erbaut,
  Stolz er das Ganze überschaut
  Und spricht mit Kraft und trinkt und trinkt.
  Wie wohlgemut das Glas er schwingt,
  ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~!

  Und wie es spät und später wird,
  Die Eule schon zu Neste schwirrt,
  Da wird doch manch ein Zecher still;
  Die Hand nicht mehr gehorchen will,
  Und wie ein Mohnhaupt regenschwer
  Zur Seite sinkt, so hält nicht mehr
  Sich aufrecht, von der Last gebeugt,
  Manch Haupt, vom Weine schwer; es neigt
  Sich auf den Tisch und ruht da fest,
  Und ungetrunken bleibt ein Rest.
  Die Hähne krähn, der Morgen graut,
  Der Tag fahl in die Fenster schaut.
  Da sitzt noch einer ganz allein,

  Der Weißumhüllte, wach beim Wein.
  Er füllt sein Glas und trinkt es leer --
  »Will denn kein andrer trinken mehr?
  Hat alles schon so früh versagt,
  Da es ja doch erst eben tagt,
  Und noch des Weins da ist genug?«
  Er sprach's und tat manch tiefen Zug,
  ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.

  Hell in die Fenster scheint der Tag,
  Sich schier darob verwundern mag,
  Was in der Gaststub' er erblickt.
  Da schlafen, übern Tisch gebückt,
  Alle bis auf einen -- dieser spricht:
  »Jetzt duldet's mich hier länger nicht.
  Kein Mensch ist da, der mit mir trinkt,
  Das Schnarchen mir unlieblich klingt,
  Des Weines find' ich auch nichts mehr;
  Den Wirt zu wecken, scheint mir schwer,
  Drum will ich gehn. Die hier ihr ruht,
  Ihr Schläfer all, bekomm's euch gut!«
  Er spricht's, von seinem Platze steht
  Er auf und ohne Schwanken geht
  Er hin zur Tür und tritt hinaus.
  Wie sieht die Welt seltsamlich aus!
  In Glut getaucht sind Wald und Bühl,
  Und doch weht es ihn an so kühl --

  Zum Ufer schreitet er sodann,
  Da steht bei seinem Kahn ein Mann.
  »Hier find' ich, was mir eben not,
  Schau' einen Fährmann und ein Boot!
  Freund, fahrt Ihr mich wohl übern Rhein?«
  Der staunt, doch sagt er: »Steigt nur ein!«
  Vollendet glücklich ist die Fahrt;
  Die Kleider hat der Strauch bewahrt.
  Sie anzulegen wird ihm leicht,
  Das Lailach er dem Schiffer reicht.
  »Bringt dies zurück dem Wirt im Stern,
  Grüßt ihn und grüßt die guten Herrn,
  Die ich dort antraf, jung und alt.
  Dem Wirte sagt, ich käme bald
  Ihm zu bezahlen meine Schuld --
  Ein wenig wohl hätt' er Geduld.
  Und dies hier ist für dich, mein Sohn!«
  Er gibt dem Mann gar guten Lohn
  Und geht davon aufrecht und stolz
  Durch Feld und Flur, durchs duft'ge Holz
  Grad' aus auf eine gute Stadt.
  Welch einen tücht'gen Schritt er hat,
  ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~!

  Er zecht nicht mehr vom vollen Faß,
  Er schwingt nicht mehr das Römerglas,
  Er atmet nicht mehr goldne Luft,

  Längst ruht er schon in kühler Gruft.
  Doch wo vereint beim goldnen Wein
  Sitzt eine Zecherschar am Rhein,
  Da wird um manche Mitternacht
  In Ehren seiner noch gedacht.
  Da heißt's: Klingt mit den Gläsern an!
  Ihm gilt's! Das war ein wackrer Mann,
  ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~!


           Druck und Einband von Hesse & Becker in Leipzig.




Fußnoten:

[1] »Ah, alle Achtung! Eine mächtige Hand! In der ganzen Welt findet
man nicht ihresgleichen.«

[2] »Was wollen Sie? Ich bin Ihr Gefangener, mein Herr! Warum mir diese
Beschimpfung? Vor Ihrem Bataillon?«

[3] »Nun denn, Kamerad, vorwärts! Sie sind mein Gefangener.«

[4] »Ihren Namen, Ihren Namen, mein tapferer Kamerad!«

[5] heiser.

[6] wann.

[7] Flut.

[8] Lumpenpuppe.

[9] Seemannsscherz, wegen der lehmgrauen Farbe.

[10] Scherzausdruck des Ekels oder der Abwehr.

[11] Fußspuren.

[12] naßwischen.

[13] Bürste.

[14] Lumpen.

[15] Kessel.

[16] steuern.

[17] anschmeicheln.

[18] Kapitän sein.

[19] ihnen.

[20] Haufen, aber nur von halbflüssigen Stoffen.

[21] unruhig.

[22] Zeichen, daß die Flut eintritt.

[23] Taschenkrebs.

[24] Übereilen.

[25] kleiner Damm.

[26] Mittelamerika.

[27] Affen.

[28] Pantoffeln.

[29] d. h. die Sonnenhöhe gemessen hattest.

[30] Wer.

[31] klug.

[32] Scherz.

[33] Der quer durch den Strom schifft.

[34] Teil.

[35] Launen.

[36] Dicker.

[37] Ruß.

[38] Rahmtorten.

[39] mit Petroleummotor.

[40] Wie siehst du aus?

[41] Bataten.

[42] lügt.

[43] Naseweis.

[44] Rahm.

[45] verdrießlich.

[46] Trog.

[47] Zeugklammern.

[48] Spaßmacher.

[49] schwärmen, herumlaufen.



*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75693 ***